Pablo Escobars verwaiste Kindersoldaten

Der neunzehnjährige Chucho redet sehr angeregt über das Begräbnis von Pablo Escobar, dem Chef des Drogenimperiums von Medellín. El Patrón, wie Chucho ihn nennt, wurde am 3. Dezember 1993 von staatlichen Sicherheitskräften getötet. “Ich mußte es sehen, um es zu glauben”, sagt er. “Ich hätte nie gelglaubt, daß die Regie­rung in der Lage wäre, Pablo zu töten. Ich glaubte, dieser Mann sei unbesiegbar.”
Chucho war einer der 5.000 – überwie­gend jungen und armen – EinwohnerInnen von Medellín, die zu der Beerdigung des Drogenbosses kamen. Die aufgewühlte Menge der Trauernden zerbrach die Fen­ster der Beerdigungshalle und trug den Sarg von Escobar spontan auf ihren Schultern. Schließlich mußte die Armee eingreifen, um die Ordnung wiederherzu­stellen und die Beerdigung zu beenden.
Selbstverständlich waren die meisten Ko­lumbianerInnen über den Tod von Escobar erfreut. Sie sahen in ihm den gewalttäti­gen Protagonisten eines Jahrzehntes voller Drogenhandel, Terrorismus, Morde und politischer Attentate. Zum ersten Mal nach vielen Jahren fühlten sie den Tri­umph, den Staat wieder als ihren eigenen anzusehen. Es entstand die Hoffnung, daß sie endlich beginnen könnten, die lange Phase der Gewalt und des Leidens zu überwinden.
Chucho dagegen glaubt, daß alles beim alten bleiben wird. Wenn er dies bekräf­tigt, denkt er an sein eigenes Schicksal. “Schau Bruder”, sagt er, “Pablo starb, aber wir haben immer noch die gleiche Armut, die gleiche Arbeitslosigkeit, die gleichen korrupten Autoritäten. Welcher Weg soll uns also offen stehen?”
Der junge Mann lebt im nordöstlichen Di­strikt der Stadt Medellín, einem dicht be­siedelten Gebiet, das bis an steile Berg­hänge heranreicht. Dort schloß Chucho sich mit vierzehn Jahren einer Bande an. Wie bei den meisten aus der Gruppe be­gann mit einfachen Aktivitäten wie dem Transport von Waffen. Eines Tages wurde ihm während einer Aktion der Bande be­fohlen zu schießen.
Aus Chucho wurde ein sicario, ein be­zahlter Killer im Dienste der Drogen­händler. Obwohl er viel von dem Geld, was ihm zwischen die Finger geriet, ver­schwendete, vergaß er nicht das Verspre­chen, das er ablegte, als er sich entschloß, in die Welt der Kriminalität einzutreten: seiner Mutter ein Haus zu bauen.
Von ihrem Ehemann verlassen, arbeitet Chuchos Mutter als Hausangestellte für eine wohlhabende Familie. Obwohl sie Angst hat, daß ihr Sohn wie so viele sei­ner Freunde einen tragischen frühen Tod stirbt, ist sie dankbar, daß er ihr ein Dach überm Kopf verschafft hat. “Armut ist besser als das Risiko des Todes”, sagt sie Chucho, und hakt die Namen all seiner Freunde ab, die ein gewalttätiges Ende ge­funden haben. Chucho zuckt nur mit den Schultern und wiederholt den gleichen Satz: “Nur Gott weiß, wann du sterben sollst”.
Von Hungerleidern
zu Kanonenfutter
Die ersten mit dem Kartell verbündeten Jugendgangs entstanden Ende der siebzi­ger Jahre. Für die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenbanden wurden Heranwachsende aus den Armen­vierteln als sicarios rekrutiert. Spä­ter, als der Staat versuchte, diese Banden unter Kontrolle zu bringen, begannen die glei­chen Jungen Polizisten und Richter zu er­morden. 1983 feuerte ein Sechzehnjäh­riger die Maschinengewehrkugel ab, die den Justizminister Rodrigo Lara Bonilla tötete. Präsident Belisario Betancur setzte unverzüglich einen Auslieferungsvertrag mit den Vereinigten Staaten in Kraft, nach dem Drogenhändler schärfer verfolgt wer­den. So begann eine Schlacht, bei der die jungen sicarios in der vordersten Frontli­nie der Drogenkartelle standen.
Morde an hohen Staatsvertretern bildeten die Höhepunkte der Beteiligung junger Berufskiller an diesem Krieg. Viele von ihnen haben Ähnlichkeiten mit Chucho: Sie stammen aus Armenvierteln, wurden von ihren Eltern fallengelassen, besuchten nicht regelmäßig die Schule, waren ar­beitslos. Junge Männer mit ähnlichen so­zialen Profilen ermordeten Zeitungsverle­ger, linke Politiker und staatliche Funktio­näre.
Eine der für die KolumbianerInnen er­schreckendsten Episoden war der Mord an Carlos Pizarro León Gómez, dem Prä­sidentschaftskandidaten der M-19. Die frühere Guerilla hatte sich gerade als Par­tei formiert und angefangen, sich am par­lamentarischen System zu beteiligen. Am 26. April 1990 bestieg Pizarro in Bogotá ein Linienflugzeug, um in den Nordosten des Landes zu fliegen. Wenige Minuten nach dem Start zog ein junger Passagier eine Schußwaffe, richtete sie auf den Kandidaten und tötete ihn. Pizarros Leib­wächter erwiderten das Feuer und töteten den Mörder.
Nach diesem Vorfall bezeichneten die Medien diese jungen Killer als kamikazes. Die jungen Männer führ­ten ihre Aktionen auf eine so überra­schende und furchtlose Weise durch, daß es für die Regierung quasi unmöglich wurde, die Sicherheit von Personen zu ga­rantieren. Gepanzerte Fahrzeuge und Leibwächter wurden Teil des alltäglichen Lebens im Lande.
Drogenhandel und Brutalisierung des Alltags
Zu Beginn der siebziger Jahre begann der Drogenhandel, sich in Medellín und der umliegenden Region auszubreiten. Die Zahl der Jugendbanden wurde Mitte die­ses Jahrzehnts von der Polizei auf 200 Gruppen mit ca. 5.000 Mitgliedern ge­schätzt. Die meisten davon hatten nichts mit den Drogenhändlern zu tun, aber alle versuchten, deren Stil zu imitieren. Schon bald wurden die Jugendgangs in die bluti­gen territorialen Auseinandersetzungen verwickelt, die sich in den Armenvierteln Medellíns abspielten. Während der acht­ziger Jahre stieg in der Stadt die Zahl der Morde drastisch an. 1980 starben in Me­dellín 730 Personen eines gewalttätigen Todes. 1985 war Mord mit 1.684 Opfern zur Haupttodesursache geworden. 1990 wurden in der 1,7 Millionen Einwohner-Stadt 5.500 Morde registiert.
Was veranlaßte viele Jungen zu solch selbstmörderischem Verhalten? Warum beteiligten sich sicarios an Aktionen, bei denen sie wahrscheinlich sterben wür­den? Das Problem liegt selbstverständlich nicht nur bei diesen jungen Delinquenten, son­dern auch in der Gesellschaft, die diese hervorbringt. Bevor Jugendkriminalität sich so weit verbreitete, hatten sich in Kolumbien viele dramatische Verände­rungen vollzogen. Die Banden entstanden in Gegenden, die von massiver Landflucht geprägt sind und während der siebziger Jahre vom Staat fast vollständig vergessen worden waren. Die BewohnerInnen wur­den in die “informelle” Welt verbannt – eine Welt, in der bürgerliche Rechte und Pflichten kaum existierten. Die Söhne die­ser MigrantInnen wuchsen am äußersten Rand der Legalität auf. Sie wurden als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt, mit denen von staatlicher Seite aus ledig­lich die Polizei zu tun hatte. Als die Be­völkerung sich selbst organisiserte, um gegen ihre Lebensbedingungen zu prote­stieren, antwortete das politische System mit Kriminalisierung und Unterdrückung und verschloß die legalen Kanäle politi­scher Beteiligung. Die Migrantenfamilien verblieben unter der Kontrolle der kor­rupten traditionellen liberalen und konser­vativen Parteien. Gleichzeitig zersetzten sich ihre traditionellen Formen des Zu­sammenhalts.
Als in diesen Gemeinden Mitte der siebzi­ger Jahre eine verstärkte Kriminalität zu verzeichnen war, bestand die Antwort an­derer gesellschaftlicher Bereiche und der staatlichen Sicherheitsorgane in Ausrot­tungskommandos zur sogenannnten “sozialen Säuberung”. Anstatt sich um die Resozialisierung der jungen Leute zu be­mühen, wurden viele in den Straßen und Außenbezirken der Städte einfach nieder­geschossen. Nach Berichten der General­staatsanwaltschaft beteiligten sich auch Mitglieder der Streitkräfte an diesen To­desschwadronen. Auf diese Weise be­gann der Staat seine grundlegendsten öf­fentlichen Funktionen zu verlieren: die Verteidigung der BürgerInnen, die Schlichtung von Konflikten und die Ver­waltung der Justiz.
Narcos als Jugendidole
Der Tod wurde zur Routine – zunächst für Staat und Gesellschaft, dann für die Grup­pen von Jugendlichen, die in diesem Kreuzfeuer aufwuchsen, inmitten der Gleichgültigkeit gegenüber den Leichen auf den Straßen. Die jungen sicarios wur­den in eine Welt hineingeboren in der keine verbindlichen Prinzipien existierten, die ihnen gegenseitigen Respekt und Achtung vor dem Leben selbst hätten vermitteln können. Hinzu kamen die viel­fältigen Einflüsse neuer sozialer Akteure wie etwa der Drogenhändler, die brutale Gewalt und die Liebe zum Luxus zur Grundlage sozialer Beziehungen machten. Die Jugendgangs waren das Resultat nicht nur einer sozialen und wirtschaftlichen Krise, sondern auch einer Legitimitäts­krise der sozialen Institutionen. Die Ak­tionen dieser jungen Leute stellten die Be­deutung von Leben und Tod in Frage. Wir reden von einer Generation, die ihre Stärke in einem Bereich fand, wo sämtli­che Grenzen aufgelöst waren.
Pablo Escobar selbst stieg durch brachiale Gewalt zum Chef des Medellín-Kartells auf. Während eines Jahrzehntes erlangten sein Leben und seine Aktivitäten mythi­sche Dimensionen. Für die armen Leute wurde er zum Idol, zum Symbol der Re­bellion gegen das Establishment. Unter seiner Führung brachten sogenannte “Büros” die Aktivitäten der Jugendgangs unter den Einfluß des Medellín-Kartells. Es handelte sich hierbei um Tarnfirmen in Form von Autowerkstätten oder Immobi­lienbüros, wo Männer des Kartells die Bosse der städtischen Jugendbanden für sich rekrutierten. Nach wie vor kontrollie­ren diese Anführer den Stadtteil, in dem sie leben. Ihre Macht ist so groß, daß kein Krimineller ohne ihr Einverständnis ope­rieren kann.
Die meisten Gangs identifizieren sich mit den Namen ihrer Anführer: Nachos Bande, Crazy Uribes Bande etcetera. Der Boß hält die Bande zusammen und agiert mit absoluter Autorität. Er entscheidet über Fragen von Leben und Tod. Logi­scherweise ist er großzügig mit seinen loyalen Anhängern und und unerbittlich gegenüber denen, die ihn betrügen oder sich gegen ihn stellen.
Die meisten Jugendlichen in der “Armee” der Drogenhändler sterben in einem der vielen Kriege, für die sie rekrutiert worden sind. Einigen ist es gelungen, eine gewisse Machtstellung zu erreichen, selbst zu We­stentaschen-Capos zu werden und einen gewissen Wohlstand anzuhäufen.
Die Bande als Ersatzfamilie
Während der achtziger Jahre stieg die Kriminalitätsrate bei den Jungen zwischen 12 und 18 Jahren. Dies hat mehrere Gründe: Die traditionellen Institutionen, die für die Vermittlung zwischen dem In­dividuum und der sozialen Ordnung ver­antwortlich waren, hatten ihre Wirkung verloren. Bei der Entstehung von Lebens­stilen spielten jetzt neue Akteure eine ent­scheidene Rolle. Blutrachen wurden im­mer häufiger, ebenso die Aktionen pa­ramilitärischer Gruppen, Guerillas und Gruppen zur “sozialen Säuberung”. Die Gesellschaft begann, sich aufzulösen.
Weder in der Schule noch in der Familie oder in der Kirche fanden sich moralische, soziale oder kulturelle Vorbilder, die die neuen städtischen Generationen anspra­chen. Die Banden wurden zum alternati­ven Sozialisationsmittel. Sie wurden zu dem Weg, auf dem sich viele junge Leute in die symbolische und “normative” Welt einfügten.
Gleichzeitig machte die Familie in allen gesellschaftlichen Schichten eine grundle­gende Krise durch. Bei den armen Leuten kamen noch besondere Faktoren hinzu. So erziehen immer mehr Frauen ihre Kinder alleine. Gleichzeitig sind immer mehr von ihnen berufstätig. Alkoholismus und Dro­genabhängigkeit, der Mangel an Verant­wortungsbewußtsein bei den Vätern und die hohe Arbeitslosenrate tragen dazu bei, daß der Vater aus vielen Haushalten ver­schwunden ist.
Hinzu kommt eine wachsende Gewalt ge­gen Frauen und Kinder. Statistiken des Kolumbianischen Instituts für Familien­wohlfahrt zufolge hat es seit 1980 in je­dem Jahr einen Anstieg der registrierten Fälle von Kindesmißbrauch gegeben. Das Institut schätzt, daß es pro Jahr zwischen 50.000 und 100.000 Fälle von körperlicher und seelischer Mißhandlung oder sexuel­lem Mißbrauch im Lande gibt. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1986 wurden in den verschiedenen Sozialstationen in Medellín 7.500 Fälle von Gewalt gegen Minderjährige behandelt. Im größten Krankenhaus der Stadt wurden in diesem Jahr 3.073 Kinder wegen Verletzungen behandelt, 74 davon hatten Schußwunden. Die Statistiken beleuchten die Auswir­kungen von Gewalt auf Kinder und die Ef­fekte eines autoritären und intoleranten Familienmodells.
In vielen Familien mangelt es nicht nur an Liebe, sondern auch an positiven Model­len von Autorität. Dies ist besonders of­fenkundig, wenn der Vater seiner Rolle in der Familie nicht gerecht wird. Wenn sich ein Junge einer Bande anschließt, findet er in dem Anführer eine Identifikationsper­son, wie er sie in der Familie nicht hatte. Die Mütter verhalten sich gegenüber ihren delinquenten Söhnen oft zwiespältig. Oft mißbilligen sie zwar das, was ihre Kinder tun. Gleichzeitig beschützen sie sie und halten bis zum Ende zu ihnen. Wenn es den Kindern gelingt, einen höheren Le­bensstandard zu erreichen, erhöht sich der Toleranzlevel.
Pablo Escobar – ein verkannter Wohltäter?
Die Jugendgangs werden zum Ausdruck der Subkultur der Drogendealer, wo Ideale und Helden gefunden werden können. Entsprechend werden narcos, in eini­gen Regionen auch sicarios, ideali­siert. Dazu gehört in manchen Fällen auch das Image als “Wohltäter” der Gesell­schaft. Pablo Escobar wurde zum Beispiel zum gleichen Zeitpunkt, als er vom Staat und den Me­dien geächtet wurde, von vielen, insbe­sondere armen Kolumbianer­Innen my­thologisiert. Sie hielten ihn für einen guten und mächtigen Mann, dem die traditionell Herrschenden im Lande unfai­rerweise al­les Übel anhängen wollten.
In einer Umfrage, die letztes Jahr in den Schulen des nordöstlichen Distriktes durchgeführt wurde, wurden Schüler ge­fragt, wen sie für die wichtigste Person des Landes hielten. 21 Prozent der Be­fragten nannten Pablo Escobar, 19,6 Pro­zent den Präsidenten César Gaviria, 12,6 Prozent René Higuita, den Torwart der Nationalmannschaft. Von allen befragten Kindern hatten 56,5 Prozent eine positive Meinung über Escobar.
In weiten Kreisen der Gesellschaft hält sich immer noch die Einstellung, daß Es­cobar eigentlich Gutes bewirken wollte. Der Krieg der Regierung habe ihn ge­zwungen, Dinge gegen seinen Willen zu tun. In geringerem Ausmaß werden auch die mittleren capos und die sicarios aus den Vierteln als Wohl­täter angesehen – als Verteidiger des Wohlstandes der Gemein­schaften.
Die Jungen aus den Hüttenstädten wach­sen mit dem Bedürfnis auf, intensiv zu le­ben, ihren eigenen Willen durchzusetzen, zu sagen: “So sind wir: Wir existieren!”. Die Gewaltausübung ist zu einem Weg geworden, die Gesellschaft zur Anerken­nung ihrer Existenz zu zwingen. In den Banden haben sie etwas gefunden, was die Gesellschaft nicht bieten kann: Freunde und Verbündete, mit denen sie grundle­gende Lebensbereiche teilen. Es gibt keine Unterordnung unter eine äußere Autorität. Dies verleiht den Banden eine große Por­tion Vitalität.
Die größeren Gangs haben ein System von Codes und Beziehungen, auf denen ihr Zusammenhalt beruht. Hier werden Auto­ritätsbeziehungen mit Loyalität und Soli­darität kombiniert. Innerhalb einer Sub­kultur werden Verbrechen und Gewalt nicht notwendigerweise als illegitim ange­sehen. Die Subkultur bezieht die Jugendli­chen in ein Wertesystem ein, daß sich bei weitem von den formalen Maßstäben der Gesellschaft unterscheidet. Die Bande funktioniert als eine isolierte Umgebung, in welcher die Mitglieder von Angriffen auf ihre Selbstachtung geschützt sind. Den Jungen fehlen die gesellschaftlichen Kon­zeptionen von “gut” und “schlecht”. Viele werden zu Delinquenten, ohne sich selbst als “anders” anzusehen. Sie haben ihr ei­genes positives Selbstbild.
Die Jungen werden Linie von der Aussicht auf Abwechslung, Vergnügen und Aben­teuer wie von einem Magneten angezo­gen. In dieser maskulinen Welt werden Status und Führerschaft durch Tapferkeit und Machtausübung bestimmt. Dies bein­haltet das Wissen über den Gebrauch von Waffen. Alle kolumbianischen Bandenan­führer sind perfekte Schützen und wissen, wie man glatt und effizient vorgeht.
Wenn wir Städte wie Caracas und Rio de Janeiro betrachten, finden wir eine ähnli­che Situation wie in Medellín. Dort haben größere Drogendealer Armeen von Her­anwachsenden aufgestellt, um ihr Territo­rium in den Armenvierteln zu sichern. Sie benutzen diese Jugendlichen als Kanonen­futter in ihren Konfrontationen unterein­ander und mit staatlichen Autoritäten. Wenn die narcos nicht so immense Ge­winnspannen hätten, wäre es praktisch unmöglich, so viele Heranwachsende zu rekutieren und modernste Waffen zu be­schaffen.
Der staatliche Drogenkrieg – ein Schuß nach hinten
Nach dem Mord am liberalen Präsident­schaftskandidaten Luís Carlos Galán star­tete die Regierung 1990 eine frontale At­tacke gegen das Medellín-Kartell. Die Si­cherheitskräfte begannen mit Angriffen auf die Jugendbanden, die sie für die Re­servearmee der Drogenhändler hielten. Diese Offensive fand ohne den geringsten Respekt für Menschenrechte statt. Sie be­diente sich derselben Logik wie der Krieg zur Aufstandsbekämpfung: Ganze Ge­meinden wurden zu Feinden der Gesell­schaft erklärt. Heranwachsender in einem Armenviertel zu sein bedeutete, als sicario klassifiziert zu werden. Die staatliche Of­fensive, bei der Tausende von Menschen illegal verhaftet wurden, ver­stärkte die Abneigung gegen die Sicher­heitsorgane und den Staat.
In diesem Sinne war die Strategie ein Schuß nach hinten. Viele junge Leute identifizierten sich mit den Drogenhänd­lern und radikalisierten sich gegen die Re­gierung. Zu spät wurden sich die nationa­len und regionalen Regierungen darüber bewußt, daß die Anwendung von coun­terinsurgency-Methoden ein Fehler war, und gingen weniger brachial vor.
Nach wie vor sind weder eine grund­legende Umstrukturierung des Justiz- und Polizeisystems noch eine substantielle Umverteilung des Wohlstandes zu erwar­ten. Trotzdem gibt es einige “soziale Ak­tions-Programme” zur Resozialisierung von Jugendlichen, die zu begrenzter Hoff­nung Anlaß geben. Einige öffentliche und private Organisationen bieten mittlerweile Beschäftigungsprogramme an.
Die Jugendbande als Mittel zur Resozialisierung?
Gleichzeitig wird versucht, Mechanismen zu entwickeln, mit denen der negative Charakter der Banden unter Berücksichti­gung ihrer Gruppenstrukturen verändert werden kann. Letzteres bedeutet, mit dem gesellschaftlichen und persönlichen Selbstbild der Jungen zu arbeiten. Von der Erkenntnis ausgehend, daß in der Gewalt­ausübung ein Bedürfnis liegt, sich selbst zu erkennen und auszudrücken, versuchen die Resozialisierungsprojekte, neue For­men der gesellschaftlichen Darstellung zu finden, die für diese Jungen von Bedeu­tung sind.
Einige dieser Vorgehensweisen sind offen politisch. Durch die Bemühungen um eine lokale Entwicklung sind aus einigen Jun­gen, die vorher gefürchtete Kriminelle wa­ren, herausragende kommunale Führer geworden. Gruppen, die sich vorher bis aufs Messer bekämpften, haben Friedens­abkommen unterzeichnet und sich zu­sammengetan, um für soziale Entwick­lungsprogramme auf kommunaler Ebene zu kämpfen.
Medellín vollzieht heute eine Anzahl in­teressanter Versuche, sich als Gesellschaft neuzukonstituieren. Dies geschieht jedoch im vollen Bewußtsein, daß jede Lösung für eine so tiefgreifende Krise eine lange Entwicklung erfordert.
Pablo Escobar ist gestorben. Dies bedeutet allerdings nicht das Ende des Drogenhan­dels. Jeder weiß, daß sich, solange der Markt für Drogen weiter wächst, immer wieder neue Organisationen bilden wer­den, um von diesem lukrativen Geschäft zu profitieren. Die Indudtriestaaten ver­langen von den Anbauländern, diesen Krieg fortzusetzen, obwohl wir alle wis­sen, daß dieser hart und nutzlos ist. Die Logik des illegalen Drogenmarktes ist un­erbittlich. Jungen aus Medellín wie Chucho hat der Drogenhandel für ihr Le­ben geprägt. Er brachte ihnen den Traum vom Reichtum und die Realität des Todes. Zunächst wurde es normal, Zeuge des Tötens und Sterbens zu sein, dann, selbst zu töten und zu sterben.
Gewalt wurde zu einem Mittel, mit dem traditionell ausgegrenzte Gruppen von Ju­gendlichen die Anerkennung des Staates und der “anderen” Gesellschaft suchten. Mit ihrem abweichenden Verhalten stell­ten die jungen Bandenmitglieder die so­ziale Ordnung, die auf Diskriminierung beruhte, grundlegend in Frage. Die Ge­walt ermöglichte es der “vergessenen Stadt”, auf der Landkarte des öffentlichen Bewußtseins zu erscheinen. Sie brachte soziale und wirtschaftliche Ungleichheit stärker ans Licht. Das Drama der Ärmsten wurde publik. Jugendgewalt veranlaßte den Staat, der die Armenviertel jahrelang der Polizei überlassen hatte, über seine Legitimität und sein Verhältnis zu deren BürgerInnen nachzudenken.

Der Autor ist kolumbianischer Journalist und Sozialarbeiter; Verfasser des Buches “Born to die in Medellín”, Latin American Bureau, 1990; deutsch: “Totgeboren in Me­dellín”, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 1991, 174 S., 16,80 DM

Gedanken über Mutterschaft

Die Politik der Bevölkerungskontrolle hat dazu geführt, daß weniger Kinder geboren werden. Aber sie hat weder die typischen Rollen von Mutter und Vater, noch die symbolischen Bedeutungen von Mutterschaft und Vaterschaft in Frage gestellt. Die narzistischen Anteile unserer Kultur, die mit der Organisation der Geschlechterverhältnisse zusammenhängen, haben sich nicht verändert. Im Gegenteil, sie werden durch den wirtschaftlichen Neoliberalismus und die politische Machtausübung der Yuppie-Kultur immer mehr stimuliert.
Frauen und Männer wollen sich durch ihre Fortpflanzung selbst bestätigen. Alternative Lebensentwürfe, die den Tod nicht durch das Kinder-Machen transzendieren, finden keine Wertschätzung. Dies verstärkt das Bedürfnis der Frauen nach Vervollkommnung und der Männer nach Beweis ihrer Männlichkeit durch Kinder. Für die Frauen hat es noch andere Folgen: In einer Welt, die ihnen außer ihrer Fruchtbarkeit wenig Möglichkeiten bietet, anerkannt zu werden, stellt die Bevölkerungspolitik sie vor ein Dilemma: Auf der einen Seite steht der Wunsch, die Fruchtbarkeit an die finanziellen Möglichkeiten anzupassen, auf der anderen Seite die Notwendigkeit, diesen Raum der Anerkennung und vielfältigen Einflußnahme nicht zu verlieren. Zum Beispiel, wenn mit einer Schwangerschaft eine Heirat erzwungen werden oder ein Bruch in der Ehe oder Partnerschaft vermieden werden kann. Oder wenn Fruchtbarkeit für Frauen wieder wichtig wird, weil die älteren Kinder sie für ihre Entwicklung immer weniger brauchen. Eine frühzeitige Sterilisation bringt schon ernsthafte Probleme in festen Beziehungen mit sich. Vor allem aber kann sie für Frauen, die sich mehr als einmal binden, frühe Trennungen, Einsamkeit, Scheidung oder Witwenschaft bedeuten; ganz zu schweigen von dem Fall, daß eines ihrer Kinder stirbt.

Weit von einer mehrheitlichen Beteiligung entfernt

Die alternativen Lebensentwürfe, die sich für Frauen auf dem Arbeitsmarkt, in der Politik oder im öffentlichen Leben eröffnen, haben sich bisher noch nicht so vertieft, daß sie persönliche und gesellschaftliche Anerkennung versprechen. Zwar haben die Länder der Region in diesen Jahren der Krise und wirtschaftlichen Verschlechterung eine zunehmende Beteiligung der Frauen an der Erwerbsarbeit erlebt. Aber mensch darf nicht aus den Augen verlieren, daß dies mit einer Entwertung der Arbeit besonders bei den weiblichen Beschäftigungen einherging und dazu diente, die steigenden Haushaltskosten zu decken. Das heißt, die zunehmende Erwerbsarbeit der Frauen entbindet sie nicht von der Hausarbeit. Es gibt keine neuen Beschäftigungsfelder für Frauen und wenn doch, dann nur, weil die Löhne so niedrig sind und die Arbeitsbedingungen so schlecht, daß nur sehr bedürftige Frauen sie annehmen.
Trotz einzelner Ministerinnen, Gouverneurinnen, Senatorinnen und Abgeordneter sind wir in der Politik weit davon entfernt, gleichberechtigt und in einem ernstzunehmenden prozentualen Anteil vertreten zu sein. In den städtischen sozialen Bewegungen sind viele Frauen aktiv; sie stellen die Mehrheit an der Basis, aber in den Leitungsgremien kehren sich die Proportionen um.
Die Verringerung der Kinderzahl macht aus der reichhaltigen Mutterschaft eine scheinbar bessere Mutterschaft: “weniger Kinder, um ihnen mehr zu geben”. Aber Mutterschaft und Vaterschaft als sich selbst transzendierende Tätigkeiten und Funktionen werden nicht neu definiert. Das heißt, Fortpflanzung wird immer noch nicht deswegen für wertvoll gehalten, weil sie das Abenteuer ist, gleichzeitig menschliches Leben zu schaffen und es menschlich zu machen. Tochter und Sohn sind weiter manipulierbare Objekte für die Befriedigung der tiefliegenden Bedürfnisse ihrer leiblichen Eltern.
Daß Mutterschaft und Vaterschaft nicht mit neuen Werten belegt werden, hat für viele Frauen und Kinder katastrophale Auswirkungen. Denn nach der Geburt fällt die Verantwortung für Betreuung, Versorgung und Sozialisation – das heißt für die Menschwerdung über die Erhaltung des physischen Lebens hinaus – den Müttern zu. Die Mutter muß begleiten, anwesend sein, arbeiten und das Kind, ein außerordentlich anspruchsvolles Geschöpf, permanent versorgen. Die Mutter muß alles Lebensnotwendige für das Kind sicherstellen. Viele Seiten fordern das von ihr und kontrollieren sie, aber niemand oder kaum jemand gibt ihr vertrauenswürdige und sichere Unterstützung.
Wenn das Baby keine Aufmerksamkeit und zärtliche Behandlung erfährt, wird seine Perönlichkeitsbildung erschwert. Im Extremfall leben Kinder auf der Straße, es entstehen sehr agressive Jugendbanden und es gibt Personen, denen es schwerfällt oder denen es schwer gemacht wird, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Dies sind keine festgelegten Entwicklungen – Umkehr, Rückzug oder Verdrängung sind andere Möglichkeiten. Aber Grundlage vieler dieser Erscheinungen sind Mißhandlungen oder Vernachlässigung in den ersten Jahren der Kindheit; das Ergebnis von Mutter- und Vaterschaft, die sich um die Bedürfnisbefriedigung von Mutter und Vater drehen. Dies zeigt sich auch im Kindsmord und sicherlich in erschreckenden Phänomenen wie Kinderhandel oder Experimenten mit und Transplantationen von Organen.

Richtlinien für Bevölkerungspolitik im 21. Jahrhundert

Wir sollten also über Bevölkerungspolitik in einem weiteren Sinne nachdenken, nicht als Maßnahmen, die einzelne oder mehrere demographische Variablen ändern sollen. Stattdessen sollten darunter Handlungen verstanden werden, die die Bedürfnisse befriedigen, welche bei der Reproduktion der Bevölkerung, und damit der Gesellschaft, entstehen. Der Neoliberalismus in der Region ist schon alt. Nach so vielen Verwüstungen, die er unter den verletzlichsten Bevölkerungsgruppen Lateinamerikas angerichtet hat, wird sein Zyklus irgendwann beendet sein und durch etwas Neues ersetzt werden. Vielleicht werden diejenigen mit grauen oder gefärbten Haaren das nicht mehr erleben, aber die Geschichte hört nicht mit uns auf.
Hier liegt eine vielversprechende Aufgabe für diejenigen, die Ideale der Gerechtigkeit verfolgen und nicht glauben, daß Machismo, Rassismus, Elend und Armut unveränderliche Tatsachen sind. Mein Vorschlag ist es, eine breite, tiefgreifende und unvoreingenommene Debatte über Sexualität, Fortpflanzung und geschlechtliche Arbeitsteilung in unseren Ländern zu eröffnen. Eine solche Diskussion muß sich im Rahmen der neuen lateinamerikanischen Realitäten bewegen: a) Die zerstörten Wirtschaften (einschließlich der ökologischen Gegebenheiten) und ihre Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der unteren Einkommensschichten; dazu gehören auch die erschreckenden Phänomene wie Veräußerlichung und Verkauf des menschlichen Körpers oder seiner Teile b) die neuen Bevölkerungsstrukturen aufgrund der Verlängerung der Lebenserwartung und des Rückgangs der Fruchtbarkeit in den letzten Jahren c) die Vorschläge der sozialen Bewegungen, insbesondere der Frauen, Feministinnen, der Jugendlichen und der Menschenrechtsorganisationen d) bestimmte politische und staatliche Zugeständnisse gegenüber den Forderungen einiger dieser Bewegungen.
Denn – und dies ist eine Hypothese – wahrscheinlich sind einige Elemente der gesellschaftlichen Konstruktion von Generationen und Geschlechtern schon in Bewegung geraten. Es verändert sich, wie die Geschlechter sich in den unterschiedlichen Phasen des Lebens definieren und sich aufeinander beziehen.

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