Im Gespräch Marichuy (rechts), Subcomandante Marcos (mitte) und CIG-Ratsmitglied Lupta Vásquez (links) Foto: Alina Juárez
Wenn am 1.Juli 2018 knapp 90 Millionen Mexikaner*innen aufgerufen sind einen neuen Präsidenten zu wählen, wird die als „Marichuy” bekannte traditionelle Ärztin nicht auf den Wahlzetteln stehen. Maria de Jesus Patricio Martínez, wie sie mit vollem Namen heißt, war im Mai vergangenen Jahres vom Indigenen Regierungsrat (CIG) zu dessen Sprecherin gewählt worden. In den folgenden Monaten wurde sie zum Gesicht der neuesten Kampagne der Bewegungen, welche seit 1996 im Nationalen Indigenen Kongress (CNI) organisiert sind und nun versuchten, die Öffnung des mexikanischen Wahlrechts für parteiunabhängige Kandidat*innen zu nutzen. Da der Versuch einer Präsidentschaftskandidatur auf einen Vorschlag der zapatistischen Bewegung zurückgeht stieß er auf viel Verwunderung, weil die Zapatistas und andere antikapitalistisch-indigene Organisationen sich bisher streng von der institutionellen Politik Mexikos abgrenzten. Dennoch organisierten sich im ganzen Land schnell tausende Unterstützer*innen und sammelten überall Unterschriften.
Knapp 870.000 hätten es bis zum 19. Februar werden müssen. Erreicht wurden nur etwas mehr als 280.000. Doch von Anfang an hatte die Bewegung klargestellt, dass es ihnen nicht um die Ergreifung der Macht mittels Wahlen ging, sondern darum „sich in allen Winkeln und Ecken des Landes zu organisieren” und den Parteien und dem System „die Party zu verderben”. Eine Rätin des CIG, Lupita Vásquez aus Chiapas, fasste den Ansatz der Initiative so zusammen: „Wir wollen die Macht nicht. Die Macht ist schon verfault.”
Das Treffen vom 15. bis zum 25. April 2018 zur Auswertung der Kampagne fand auf Einladung der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) in San Cristóbal de las Casas vor dem Hintergrund steigender Unsicherheit und zunehmender Gewalt in Mexiko statt.
Die sechsjährige Amtszeit des amtierenden Präsidenten Enrique Peña Nieto ist gekennzeichnet durch eine Eskalation des “Kriegs gegen die Drogen”, der mit mehr als 25.000 Morden im vergangenen Jahr den blutigen Höhepunkt erreichte. Zudem werden gegen den Widerstand breiter Sektoren der Bevölkerung massive Privatisierungsprogramme durchgesetzt und soziale Bewegungen immer offener unterdrückt.
Diese Entwicklungen wurden durch zwei Ereignisse während des Kongresses verdeutlicht. Am 19. April wurde Catarino Márquez, ein Mitglied des Indigenen Regierungsrats, gemeinsam mit einem anderen Aktivisten von bewaffneten Männern im Bundesstaat Jalisco verschleppt. Nachdem Marichuy dies umgehend auf dem Treffen zur Sprache brachte und alle anwesenden mexikanischen Medien Meldungen dazu veröffentlichten, tauchten die beiden Männer am folgenden Tag unversehrt wieder auf.
Zudem kam es am 21. April zu bewaffneten Angriffen auf den Sitz der Organisation „Las Abejas de Acteal“ in der chiapanekischen Gemeinde Chenalhó, die sich für die Rechte der Opfer des Massakers von 1997 einsetzen. Die sechs Angreifer zerstörten ein Haus der Organisation und zerschossen die Straßenbeleuchtung, physisch verletzt wurde niemand.
Vor diesem Hintergrund konstatierte der indigene Aktivist und ebenfalls Mitglied des CIG Carlos González: „Die Völker Mexikos befinden sich in einem der schwierigsten Momente ihrer Geschichte.” Die Fragen, die viele in der Bewegung angesichts dieser Lage beschäftigte, stellte der Sprecher des EZLN Subcomandante Galeano – ehemals Subcomandante Marcos – zu Beginn des Treffens: „Waren es die Anstrengungen der vergangenen Monate wert?” und „Wie weiter?”.
Denn die indigenen Bewegungen trauen keinem der fünf Kandidat*innen für das Präsidentschaftsamt einen Wandel zu. „Es geht bei diesen Wahlen nicht um einen tiefgreifenden Wandel des Systems, sondern lediglich darum, wer den Neoliberalismus in Mexiko verwalten wird,” sagte Luis Hernández Navarro, Journalist der linken Tageszeitung La Jornada. Die Kampagne des CIG „hat das System nicht legitimiert, sondern demaskiert,” erklärte dazu Subcomandante Galeano. Besonders die Tatsache, dass die Kampagne des CIG die einzige Initiative für eine unabhängige Kandidatur war, bei der es nicht zu massiver Fälschung von Unterschriften gekommen war, was sogar das Nationale Wahlinstitut (INE) anerkannte, zeige den “kriminellen Charakter des mexikanischen Wahlsystems”.
Insgesamt zogen die Teilnehmer*innen, zu denen auch Aktivist*innen, Journalist*innen, Künstler*innen und Intellektuelle zählten, eine positive Bilanz der Kampagne. So hätten sich der CIG und der Indigene Kongress durch die Kampagne und vor allem durch die Reise Marichuys durch 26 mexikanische Bundesstaaten erheblich vergrößert und seine bereits existierenden Strukturen verfestigt.
Doch es gab auch kritische Stimmen. Viele Aktivist*innen beschrieben die Gratwanderung zwischen der institutionellen Logik des Sammelns von Unterschriften und der eigentlichen Idee, die Initiative als Plattfrom zur Organisierung zu nutzen. Andere berichteten von der Schwierigkeit die Kampagne des CIG, die eben nicht auf die Machtergreifung abzielte, einer Gesellschaft zu vermitteln, die Politik mit Korruption und Vetternwirtschaft verbindet und in der zudem Desinformation und Diffamierung sozialer und indigener Bewegungen an der Tagesordnung sind. Die Mixe-Aktivistin Yasnaya Aguilar aus dem Nachbarbundesstaat Oaxaca stellte die Grundausrichtung des CNI in Frage: Seit 1996 fordert er „Nie wieder ein Mexiko ohne uns”. Sie stellte den mexikanischen Nationalismus grundlegend in Frage und plädierte für eine strikt anti-staatliche Ausrichtung der indigenen Bewegungen, für ein „Wir ohne Mexiko”, was sie bereits in den Autonomiebestrebungen der Zapatistas und anderer indigener Völker angedeutet sieht.
Die kommunale und antisystemische Ausrichtung der gesamten Bewegung spiegelt sich schon im weiteren Prozess der Organisation wieder. Anstatt dass der Indigene Regierungsrat etwas verabschiedet, begeben sich die im Indigenen Kongress organisierten Völker in einen langwierigen Auswertungsprozess unter Beteiligung all ihrer Gemeinden sowie in enger Koordinierung mit den verschiedenen Unterstützungsgruppen im ganzen Land. Carlos González vom Regierungsrat stellte in Aussicht, dass dieser Prozess im Oktober abgeschlossen sein wird und der gesamte Kongress dann angesichts der Ergebnisse die nächsten Schritte beschließen wird. „Unser Horizont endet nicht am 1. Juli,” meinte dazu der Subcomandante Galeano. „Denn wir bereiten uns nicht auf eine Wahl, sondern auf die Apokalypse vor.”
Diese Einschätzung war ein wiederkehrendes Thema während des gesamten Kongresses. So hatte der Subcomandante Galeano zuvor schon erklärt, dass sich die zapatistische Bewegung im Kern nicht mehr in der klassischen linken Dichotomie des 20. Jahrhunderts verortet: „Weder Revolution noch Reform – sondern Überleben.” Und bereits der Slogan der Kampagne des CIG deutete diese Analyse an: „Unser Kampf ist für das Leben.”
Denn seit einigen Jahren spielt der „Sturm” (La Tormenta) eine immer wichtigere Rolle in der zapatistischen Weltsicht. Danach führe das Zusammentreffen von ökologischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krisen im 21. Jahrhundert zum zunehmenden Zerfall von Staaten und Gesellschaften und zur Zunahme von Krieg, Landraub und Vertreibung. Dazu kommt laut EZLN und dem Indigenen Kongress der andauernde Vernichtungskrieg gegen die indigenen Völker Mexikos und der Welt, der sich in den vergangenen Jahren durch extraktivistische Prozesse weiter verschärft habe. Die Initiative des CIG sei laut dem Subcomandante Galeano eine Antwort auf die Dringlichkeit der Situation der indigenen Völker Mexikos gewesen, genau wie der Aufstand der EZLN vom 1. Januar 1994 eine Antwort auf die Verzweiflung der Völker Chiapas gewesen sei.
Angesichts dieser Herausforderungen verändert sich auch die zapatistische Bewegung. Der Subcomandante Galeano sprach dabei zum Beispiel von einem „Marichuy-Effekt”, der vor allem junge Frauen innerhalb der verschiedenen Organisationen verstärkt inspiriert und motiviert habe, sich einzubringen und patriarchale Strukturen auch innerhalb der Bewegung anzugreifen. Eine erste sichtbare Konsequenz davon war das erste internationale Frauentreffen, bei dem die Zapatistinnen zum diesjährigen Frauenkampftag im März drei Tage lang mehrere tausend Frauen aus aller Welt zum gemeinsamen Austausch einluden (s. LN 526). Unter anderen waren Frauen aus dem Standing Rock Widerstand aus den USA anwesend, eine indigene Widerstandsbewegung gegen eine Ölpipeline. Zudem deutete die Kommandantur der EZLN während des Treffens einen Generationswechsel an, der sich vor allem in der Aufnahme von vielen jungen Zapatistas in die politischen Gremien der Organisation zeigt.
Gleichzeitig hält der Zapatismus an seiner Doppelstrategie fest, bei der auf der einen Seite der Aufbau der Autonomie und Selbstverwaltung in den zapatistischen Gebieten Chiapas steht und auf der anderen der ständige Austausch mit anderen Bewegungen, etwa im Rahmen des CNI oder dem EZLN-Unterstützungsnetzwerk „La Sexta”, und der ständigen Intervention in aktuelle soziale Konflikte in Mexiko.
Dabei hat allerdings die Mobilisierungsfähigkeit der Zapatistas über den engeren Unterstützer*innenkreis erheblich abgenommen, etwa im Vergleich zur „Anderen Kampagne” im Jahr 2006. Das hat einerseits mit massiven Verleumdungskampagnen seitens aller institutionellen politischen Akteure und mit dem unverändert starken Rassismus gegen Indigene in Mexiko zu tun. Andererseits hat die Bewegung ihren Leuchtturmcharakter als „erste Revolution des 21. Jahrhunderts“ verloren und ist für viele Mexikaner*innen zu einer Sache des vergangenen Jahrtausends geworden.
Dennoch bleibt die Unterstützung der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft für die zapatistische Bewegung essenziell. Symbolisch hierfür steht die Aufnahme des Soziologen und langjährigen Wegbegleiters der EZLN Pablo González Casanova als erstes nicht-indigenes Mitglied in das höchste zapatistische Gremium, das Revolutionäre Klandestine Indigene Komitee (CCRI). Der 96-jährige Intellektuelle war seit den ersten Tagen des Aufstands ein wichtiger Fürsprecher der Bewegung und steht damit für die enge Verbindung der EZLN mit zivilgesellschaftlichen Akteuren.
Der Kampf zur Selbstverteidigung der Indigenen dauert bereits fünfhundert Jahre an und wird noch Generationen andauern. Auf die Zukunft der Bewegungen angesprochen, meinte Marichuy: „Es kommt, was kommt. Wir können nicht denken, dass wir schon etwas erreicht hätten, sondern müssen die Arbeiten verstärken, die wir ohnehin leisten. Es gibt noch viel zu tun.”