Mariela Scafati (Foto: Jorge Miño)
Sie kommen gerade von einer Ausstellung in Madrid, jetzt sind Sie in Berlin und fahren bald nach Kassel zur Documenta. Wie sind diese Ausstellungen verbunden?
Es gibt eine klare Verbindung, und das ist der Globale Süden: In Kassel sind wir alle Gruppen aus dem Globalen Süden, Künstler*innen, die nicht zum hegemonialen Zentrum gehören. In Madrid ist es eine Ausstellung lateinamerikanischer Grafiken, die aus einer sechs Jahre langen Recherche entstanden ist. Dort war es einfach, sich wohlzufühlen, zwischen all den Menschen, mit denen man etwas gemeinsam hat. Zwischen dieser Ausstellung und der Documenta 15 gibt es eine zentrale Verbindung: das Nachdenken über und das Arbeiten mit dem Ort. Die Arbeiten entstehen im Museum, verlassen dieses dann, gelangen in Form von Workshops in die Nachbarschaft, um wieder ins Museum zurückzukehren. Die Ideen von Ruangrupa für Kassel sind vergleichbar. Es ist ein dezentrales Denken. Das ist etwas, das hier in Berlin nicht wirklich passiert.
In welchem Verhältnis stehen Aktivismus und künstlerische Arbeit für Sie?
Es bestehen immer Spannungen: Die Kunst ist eine große Verbündete für alles, was auf der Straße passiert, aber sie folgt einer anderen Logik. Mich persönlich hat die Politik vor der Kunst gerettet. Das meine ich natürlich ironisch, aber ich fühle das vor allem auch umgekehrt: Die Kunst hat mich vor der Politik gerettet, sie hat mir eine Pause verschafft. Sie hat eine Zeit kreiert, die außerhalb der politischen Zeit liegt. In den letzten Jahren haben wir in Argentinien und in anderen Ländern des Kontinents nicht mehr innegehalten, wir mussten auf den Straßen sein. Das ist ein sehr physischer Akt, in dem der Körper eine große Rolle spielt und in Argentinien ist es unmöglich, dieser Realität zu entkommen. Diese politische Kultur hat die Kunst sehr stark geprägt.
Ihre Arbeit „Movilización“ (Mobilisierung) ist während der Corona-Pandemie entstanden. Hat die Arbeit einen Zusammenhang mit dem Pandemiegeschehen und den kollektiven Formen, die Sie eben beschrieben haben?
Ja, hier wird das Kollektive sehr deutlich. Bereits bevor die Pandemie begann, waren die Leinwände auf dem Weg nach Berlin. Diese bildeten stehende Körper von Freundinnen und Freunden, kurz bevor wir zu einer Demonstration gehen. Mit dem Beginn der Pandemie hatte ich das Gefühl, dass das zu viel Fiktion war und nichts mit dem Moment zu tun hatte.
Inwiefern?
Ich dachte an die Außensicht: Was erwartet ein europäisches Publikum von Lateinamerika? Heldenhafte Körper, die protestieren gehen, die sich widersetzen. Während des Lockdowns begann ich die Kurator*innen davon zu überzeugen, dass die Körper liegen müssten. Zunächst sagten sie, dass auf dem Boden liegende Körper Assoziationen zu Leichen hervorrufen würden. Es sind jedoch keine Leichen, sondern die Art und Weise, wie meine Freundinnen und Freunde während der Pandemie protestierten, war eben auf dem Boden liegend.
Haben Sie künstlerische Vorbilder?
Für mich sind die größte künstlerische Inspiration die Großmütter und Mütter der Plaza de Mayo. Ich denke dabei an den siluetazo, eine Strategie der Menschenrechtsbewegung in Argentinien. Er ist von Künstlerinnen und Künstlern entwickelt worden, aber ohne den Dialog mit den Müttern und Großmüttern wäre das nicht möglich gewesen. Die ursprüngliche Idee war, die Silhouetten auf den Boden zu malen. Doch für die Mütter und Großmütter konnten ihre Kinder nicht auf dem Boden liegen, weil es keine Leichen waren. Deshalb wurden die Silhouetten auf Papier gezeichnet und an Wände geklebt. Dieser Gedanke ist sehr künstlerisch. Darin liegt die Macht, die zwischen Kunst und Politik entsteht.
Die Farbe Weiß ist bis heute mit der Geschichte der Mütter und Großmütter verbunden. Sie arbeiten viel mit Farben, welche Bedeutung hat das für Sie?
Farben sind nicht neutral. In Madrid war ich mit dem Kollektiv Cromoactivismo eingeladen, wir verstehen uns als Anti-Pantone-Gruppe; als Künstlerinnen und Künstler betreiben wir einen poetischen und transversalen Aktivismus mit Farbe. Wir arbeiten auf der Straße.
Als während des Macrismo versucht wurde, die Strafen für Folterer der Diktatur zu reduzieren, waren wir geschockt, niemand hätte das für möglich gehalten. Unsere Reaktion bestand darin, mit weißen Stoffen auf die Straße zu gehen. Dadurch entstand eine öffentliche Debatte. Einige sagten, dass das Weiß heilig sei, es sei das Tuch der Mütter. Genau in diesem Moment trat die indigene Aktivistin Milagro Sala hervor und hielt ein weißes Tuch an zwei Ecken in die Luft. Damit war der pañuelazo (kollektive Protestaktion mit dreieckigen Tüchern, Anm. d. Red.) geboren, den wenig später die feministische Bewegung aufgriff. Es ist ein weiteres Werkzeug des Protests, das allen gehört.
Der pañuelazo entfaltet seine volle Wirkung nur im Kollektiv. Solche Arbeitsweisen spielen in Ihrer Praxis eine große Rolle…
Das ist ähnlich wie das, was ich über die Beziehung zwischen Kunst und Politik gesagt habe: Zwischen meiner persönlichen Arbeit und der Arbeit im Kollektiv bestehen Spannungen und gegenseitige Befruchtungen. Meine persönliche Arbeit besteht aus Geschichten, Dialogen und kollektiven Erinnerungen. Die Sätze, mit denen wir mit der Gruppe Serigrafistas Queer arbeiten, ergeben sich auf den Straßen, auf den Plätzen, gemeinsam mit anderen Gruppen. All das sieht man nicht, aber es geht um die Botschaften, die dabei entstehen. So ist auch die Arbeit „Algo se rompió“ (Etwas ist zerbrochen) im Hamburger Bahnhof zu verstehen: sie ist voller Zitate aus meiner Umgebung, es ist eine Arbeit von mir, aber ohne andere könnte sie nicht bestehen.