„DIE HERAUSFORDERUNG IST, VERBUNDEN ZU BLEIBEN“

In den vergangenen Jahren hallte der Aufschrei des feministischen Widerstandes durch ganz Lateinamerika. Auf dem Kontinent haben wir in dieser Zeit eine ganze Reihe von Transformationen erlebt: Die Stimmen wurden vielfältiger, die sozialen Netzwerke für Massenkampagnen genutzt und Themen wie Antirassismus, Repräsentation und die Frage, wer aus welcher Position heraus spricht, bekamen größere mediale Sichtbarkeit. Heute setzen wir trotz der Ermordung der Stadträtin Marielle Franco im Jahr 2018 (siehe LN 537) unseren Kampf fort: für eine gerechtere und gleichberechtigtere Welt, in der Frauen mehr Freiheit haben.

Die positive Bilanz unserer jahrelangen feministischen Kämpfe erlaubt uns, besser hinzusehen und unsere Unterschiede und Diversität anzuerkennen. Als Bewegung nehmen wir wahr, dass wir uns manchmal so sehr diversifizieren, dass wir uns zerstreuen. Als die Nutzung von Plattformen wie Facebook und Twitter immer wichtiger wurde, um zu Protesten aufzurufen und diese zu organisieren, sah es anfangs so aus, als ob es einfacher würde, sich zusammenzuschließen. Gleichzeitig haben wir aber größere Schwierigkeiten, die Kontinuität unserer Aktionen zu erhalten.

Wir stellen viele Gemeinsamkeiten zwischen den politischen Kontexten der Länder unserer Region fest. Besonders die Tatsache, dass 2015 in verschiedenen Ländern Lateinamerikas Frauen auf die Straße gingen, um ein weiteres Mal die Gewalt gegen Frauen anzuprangern. Ni Una Menos verwandelte sich nicht nur in einen Aufschrei, in einen Protest, sondern in einen gemeinsamen Kampf für das Ende patriarchaler Gewalt. Der Begriff „Feminizid“ eroberte die Presse als eine Form der Anklage der Morde an Frauen. Von dort aus verbreiteten sich die Demonstrationen über den Rest des Kontinents.

In Brasilien war 2015 das Jahr, in dem sie uns das Recht auf Abtreibung in Fällen sexualisierter Gewalt nehmen wollten – parallel zum Prozess des misogynen und rassistischen Putsches, der Dilma Rousseff um die Präsidentschaft brachte. Wir protestierten im „Frühling der Frauen“ auf der Straße, als „Marsch der Margeriten“ und als „Marsch der Schwarzen Frauen.“ Wir organisierten uns auf unterschiedliche Weise, teilten aber eine gemeinsame Empörung.

2015 war auch das Jahr, in dem Marielle Franco mit der fünfthöchsten Anzahl von Stimmen zur Stadträtin von Rio de Janeiro gewählt wurde. Mehr als 46.000 Wähler*innen entflammten die Hoffnung der Frauen inmitten der Gewalt und Vernachlässigung, die in der alten Hauptstadt Brasiliens so verbreitet sind. Als Schwarze Frau und Bewohnerin eines Armenviertels war Marielle auch Mutter und offen bisexuell. Marielle wusste, dass ihr Mandat auch das Ergebnis der feministischen Mobilisierungen von 2015 war. Außer ihr wurden weitere Schwarze Frauen gewählt. Nicht etwa, weil es eine gemeinsame Strategie gab, eine Entscheidung der feministischen Bewegung, sich zu institutionalisieren. Sondern, weil die Proteste es notwendig machten, Schwarze Frauen zu wählen: Diejenigen, deren Leben und Körper von der Tragödie der Ungleichheit gezeichnet waren.

„Frauen sind wie Wasserläufe, sie wachsen, wenn sie sich vereinen“

Im darauffolgenden Jahr, 2016, gab die Politik eine harte konservative Antwort. Die Rechte übernahm in verschiedenen Ländern Lateinamerikas die Macht, im Fall von Brasilien durch einen Putsch, den die juristischen und legislativen Gewalten – und auch die Massenmedien – hervorgebracht hatten. 2019 sah Brasilien dann zu, wie ein Faschist die Macht übernahm. Jair Bolsonaro repräsentiert die Politik des Todes, die für den Neoliberalismus in diesem Moment der Weltgeschichte fundamental ist. Der parlamentarische Putsch in Brasilien bricht mit der Demokratie, vertieft die Ungleichheiten, die Intoleranz, den Rassismus, die Feindseligkeit gegenüber Lesben und trans Personen und alle Formen der Gewalt.

Während des internationalen Frauenstreiks von 2019 erkannten wir in der Annäherung der verschiedenen Feminismen unser größtes Potential: das als Bewegung. Diese Idee formulierten Frauen aus Altamira, in Pará, einer Region im Norden Brasiliens, beispielhaft: „Frauen sind wie Wasserläufe, sie wachsen, wenn sie sich vereinen“. Der Kampf um Freiheit, gegen den Kapitalismus, den Rassismus und das Patriarchat überschreitet Grenzen und ist jedes Mal stärker Schwarz, indigen, gemeinschaftlich, lesbisch und trans.

Daher war der internationale Frauenstreik eine Möglichkeit, unsere Aufschreie zu vereinen und daran zu erinnern, dass Frauen in ganz Lateinamerika bereit sind, Widerstand zu leisten. Der Aufruf kam von unseren argentinischen Schwestern, er war ein notwendiger Schritt, um die politische Kraft von Ni Una Menos zu verbreiten. Nicht als vereinheitlichte Bewegung, sondern als Idee, als Netzwerk, als eine gemeinsame Form des Widerstandes mit der notwendigen Kraft, um dem Voranschreiten des Konservatismus zu begegnen, den religiösen Fundamentalismen und der Machtübernahme durch die Rechte.

Der aktuelle politische Kontext stellt Genderfragen in das Zentrum der politischen Debatten. Es gibt eine starke und gut vernetzte Kampagne auf dem gesamten Kontinent gegen das, was sie „Genderideologie“ nennen. Wir haben Angst, die Rechte, die wir erobert haben, wieder zu verlieren, und Rückschritte bei dem wenigen, das wir erreicht haben, hinnehmen zu müssen. Dennoch sehen wir mit Freude, dass die Bewegung lebendig und pulsierend bleibt und mit doppeltem Einsatz mobilisiert, um die legale Abtreibung für alle Frauen zu garantieren.

Der Kampf um die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Brasilien und die Verankerung dieser Forderung in der demokratischen Agenda waren sehr mühsam. Die 2008 gegründete „Nationale Initiative gegen die Kriminalisierung der Frauen und die Legalisierung der Abtreibung“ vereint bis heute auf nationaler Ebene verschiedene Bewegungen von Frauen und Feministinnen, um die brasilianische Gesellschaft mit dieser Debatte zu konfrontieren.

In Brasilien wird eine Abtreibung nur in den Fällen nicht als Verbrechen betrachtet, in denen das Leben der Schwangeren bedroht oder die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Diese beiden Möglichkeiten werden im Strafgesetzbuch von 1940 genannt. In der dreißigjährigen Geschichte der brasilianischen Demokratie hat es die Legislative nicht geschafft, hier voranzukommen. Das, was sich verbessert hat, setzte die feministische Bewegung durch. Heute besteht der Kongress zur großen Mehrheit aus ultrakonservativen Abgeordneten, die ständig versuchen, unsere Erfolge zunichte zu machen.

Marielle, presente! Wandbild der ermordeten Stadträtin und feministischen Aktivistin in São Paulo (Foto: Jurre van B. via Flickr (CCo 1.0)

Im August 2018 reichte die Nichtregierungsorganisation ANIS und die links-sozialistische Partei PSOL beim Obersten Gerichtshof STF eine Verfassungsklage ein, um Abtreibungen auf juristischem Weg zu legalisieren. Während der ersten Erörterung des STF lancierten wir die Kampagne „Weder inhaftiert noch tot“ und das „Festival für das Leben der Frauen“. Beides trug dazu bei, die Frage der Abtreibung auf die nationale Tagesordnung zu setzen.

Gleichzeitig mobilisierte die feministische Bewegung in Argentinien für die Abstimmung im Senat, was auch in Brasilien mobilisierte. Die argentinischen und mexikanischen Schwestern erreichten 2020 und 2021 bedeutende Fortschritte in der Gesetzgebung, was uns mit Hoffnung erfüllt. Die Bewegung vernetzte sich, um junge Feminist*innen in diesem Kampf willkommen zu heißen und die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den Forderungskatalog der Demonstrationen gegen den Faschismus aufzunehmen. Seitdem Bolsonaro die Macht in Brasilien übernommen hat, ergreift der Staat direkte Maßnahmen, um zu verhindern, dass Mädchen und Frauen abtreiben, auch in den gesetzlich erlaubten Fällen.

Die Angst lähmt uns nicht, im Gegenteil, sie bewegt uns

Die Bewegung der Schwarzen Frauen hat in Brasilien die Debatte um die Frage der reproduktiven Gerechtigkeit bereichert. Sie fordert, dass nicht nur alle Frauen das Recht erhalten sollten, eine Schwangerschaft abzubrechen, sondern auch das Recht, Kinder auf gesunde und gleichberechtigte Weise zu bekommen. Dieses Konzept erkennt die extrem grausame Lebensrealität von Schwarzen Frauen an, die sich im Alltag institutionellem Rassismus und der Prekarität ihrer Lebensbedingungen stellen müssen. Es ist eine Herausforderung, alle Forderungen zusammenzuführen und gleichzeitig diesen Kampf fortzusetzen und zu stärken.

In einer Welt voller Widersprüche machen wir weiter, indem wir Trauer in Widerstand verwandeln. Die Angst lähmt uns nicht, im Gegenteil, sie bewegt uns, weiter zu kämpfen. Vor ihrer Ermordung sagte Marielle Franco in ihrer Rede zum 8. März: „Wir müssen so handeln, als sei die Revolution möglich.“ Auch wenn es in diesem politischen Szenario sehr schwierig erscheint, halten wir daran fest, dass es möglich ist, dass die Welt für Frauen gerechter und gleichberechtigter wird.

In jedem Land haben die Kämpfe unterschiedliche Nuancen, die sich zu globalen Kämpfen summieren. In Brasilien, einem sehr großen und sehr ungleichen Land, ist es niemals einfach für uns, eine landesweite Aktion zu organisieren. In fast zwei Jahren Pandemie hat sich die soziale Tragödie verschärft und die wirtschaftliche Situation der Menschen verschlechtert, besonders die der Frauen. Es gibt verschiedene Studien und Untersuchungen, die dies bestätigen, vor allem den Anstieg der Gewalt in einer Gesellschaft, die sowieso schon sehr gewalttätig ist. Im Jahr 2020 wurden 1.388 Frauen ermordet, die meisten von ihnen waren Schwarz – was ein weiteres Mal zeigt, wie sich die Kluft der strukturellen und sozialen Ungleichheit in einem rassistischen und sexistischen Land verbreitert.

Es hat uns in dieser Zeit viel gekostet, den Kampf in digitaler Form zu organisieren. Diese Entwicklung innerhalb der Bewegung ist nicht abgeschlossen, denn das Internet verändert unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit, unsere Formen der Kommunikation, das Verständnis unserer Vereinbarungen und unserer Unterschiede. Hinzu kommt die Ungleichheit im Zugang, in der Form des Gebrauchs und des Umgangs mit diesen Technologien. Diese Fragen waren bereits in anderen historischen Momenten der Bewegung präsent, aber die Prozesse intensivieren und beschleunigen sich, während es gleichzeitig schwierig ist, unseren gemeinsamen Aktionen und Dialogen Kontinuität zu geben. Dennoch sind wir 2020 und 2021 gegen die genozidale Politik der aktuellen Regierung auf die Straße gegangen: in Demonstrationen gegen den Rassismus, für das Recht auf Land und für die Rechte der indigenen Gemeinschaften. Die Märsche gegen den Genozid an der Schwarzen Bevölkerung, der „Marsch der Margeriten“ der Landfrauen und der Marsch der indigenen Frauen waren einige der wichtigsten Demonstrationen in den vergangenen Jahren.
In jeder Region integrierten andere lokale Kämpfe ihre Forderungen, wie der Kampf um Wasser, um menschenwürdiges Wohnen oder für Kinderbetreuung. Wir glauben, dass die gesammelte Energie und diese globale, feministische politische Kraft den Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und das Patriarchat weiter ausweiten wird, vor allem in Lateinamerika.

Wir Feminist*innen stellen uns der Herausforderung, diese Vernetzung fortzusetzen. Wir nutzen die bereits geleistete Mobilisierung und werden sie über das Internet in konkrete Aktionen verwandeln. Wir werden in der feministischen Bewegung die Perspektive der Horizontalität stärken, indem wir die sozialen Kontexte der Kämpfe und des Widerstandes einbeziehen. Mit dem Fortschritt des Ultrakonservatismus in Lateinamerika und in der Welt wird die feministische Vernetzung immer wichtiger, um eine Weltanschauung voranzutreiben, die den sozialen Problemen mit konkreten Vorschlägen begegnet. Die feministischen Bewegungen haben es geschafft, sich über konkrete Kämpfe zu verbinden. Die Herausforderung ist, verbunden zu bleiben.

„DU HAST DIE KUGEL – WIR HABEN DAS WORT“

Foto: CADEHO

Dieses Wandbild befindet sich an einer Außenmauer in der Malmöer Straße 29 in Berlin und gedenkt mit Berta Cáceres und Marielle Franco zwei Aktivistinnen, die sich in Honduras und Brasilien für grundlegende Menschenrechte einsetzten und aufgrund ihres Engagements ermordet wurden. Angestoßen wurde das Projekt von CADEHO (Menschenrechtskollektiv für Honduras) und orangotango (Kollektiv für kritische Bildung und kreativen Protest). Gemeinsam mit den kolumbianischen Wandbildkünstler*innen Fonso, Soma und La Negra und unter Beteiligung weiterer in Berlin lebender Aktivist*innen wurde 2019 die Idee des Wandbilds erarbeitet und schließlich künstlerisch in die Tat umgesetzt.

Als Collage sind Kämpfe für eine intakte Umwelt und indigene Selbstbestimmung, gegen Rassismus und Polizeigewalt dargestellt. Zudem thematisiert das Wandbild die deutschen Verbindungen zu den Morden an den beiden Aktivistinnen: Berta Cáceres kämpfte gegen ein illegales Wasserkraftwerk auf dem Gebiet der indigenen Lenca, an dem ein Siemens-Joint Venture als Turbinenlieferant beteiligt war. Der Auftrag für ihre Ermordung kam direkt aus dem Betreiberunternehmen des Wasserkraftwerks (siehe LN 563). Marielle Franco wurde mit einer Waffe der Marke Heckler & Koch ermordet. Dieses Fabrikat war an Spezialeinheiten der Polizei in Rio de Janeiro geliefert worden. Deutsche Waffenexporte unterliegen einer speziellen Kontrolle, die eigentlich die Weitergabe an nicht autorisierte Dritte unterbinden soll. Trotzdem war diese Waffe in Hände von Milizen in Rio geraten (siehe LN 537).

„WIR HABEN DIE ANGST VERLOREN“

Mônica Francisco ist Abgeordnete der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL, Partido Socialismo e Liberdade) und Mitglied der gesetzgebenden Nationalversammlung von Rio de Janeiro. (Foto: Diegsf via commons.wikimedia, CC BY-SA 4.0)

Unter der Regierung des Gouverneurs von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, tötete die Polizei im ersten Quartal 2019 434 Menschen. Was sind Ihrer Meinung nach die Praktiken des Staates, die anzuprangern sind?
Rio de Janeiro ist heute ein krimineller Polizeistaat. Es gibt zwar keine Todesstrafe, aber die Kriminalisierung und Verfolgung der Jugend und ein Klima ständiger Todesdrohung: Scharfschützen schießen gezielt auf die Leute in den Favelas. Insgesamt wurden in den letzten sechs Monaten 3000 Menschen umgebracht. Der Bundesstaat Rio de Janeiro kann als Narcostaat der Milizen und als Polizeistaat mit einer kriminellen Strafgerichtsbarkeit bezeichnet werden.

Inwiefern lässt sich in diesem Zusammenhang von einer Institutionalisierung der Gewalt sprechen? Wie viel Vertrauen können Schwarze, Angehörige der LGBTQ*-Szene und andere Minderheiten in Bezug auf den Schutz ihrer Rechte haben?
Für Mitglieder der LGBTQ*- Community ist Brasilien eines der gefährlichsten Länder der Welt. Die Lebenserwartung einer Transgender-Person liegt bei 35 Jahren. Durch den Versuch ein selbstbestimmtes Leben zu führen, stimmt eine LGBT-Person ihrem möglichen Todesurteil zu. In der Bevölkerung findet eine fortschreitende Militarisierung statt. Letztere und die Nutzung von Kriegswaffen werden in hohem Maße gefördert. Die Absurdität des Polizeistaats zeigt sich in der Militarisierung des Alltags und der Ausweitung der Gewalt insbesondere gegen die immer wieder selben Bevölkerungsgruppen: die Schwarzen, die Jugendlichen und die LGBTQ*-Gemeinde.

Seit dem Amtsantritt Jair Bolsonaros lässt sich ein dramatischer Anstieg der Gewalt in den Favelas von Rio de Janeiro feststellen. Sowohl auf Seiten der Banden und der Polizei, aber vor allem auf Seiten der ärmsten Bevölkerungsschichten sind viele Todesopfer zu beklagen. In welchem Zusammenhang stehen die Unterdrückung der Armen, der institutionelle Rassismus und die Macht der Milizen?
Die Institutionen des brasilianischen Staates haben den Rassismus quasi internalisiert. Er findet in den Handlungen gegen diese Bevölkerungsschichten seinen Ausdruck. Die arme Bevölkerung Brasiliens ist Schwarz oder parda (mestizisch), wie sich Angehörige dieser Ethnie selbst bezeichnen, und macht mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Trotzdem gilt sie politisch als eine unterrepräsentierte Minderheit ohne Macht und ohne politische Ämter, mit den schlechtesten Lebensbedingungen, extrem schlecht informiert und gesellschaftlich abgehängt. Das erzeugt eine Lebensrealität, die gänzlich von institutionellem Rassismus und institutioneller Gewalt durchdrungen wird. Deutlich wird das an einem Bildungsdefizit, das sich durch Analphabetismus, erhöhte Schulabbrüche und durch kognitive Störungen bemerkbar macht: als Objekt von Gewalt und Unterernährung hast du häufig mit Problemen in der Schule zu kämpfen. Es gibt also eine Reihe von Wechselwirkungen, welche durch den institutionellen Rassismus und die Terrorisierung dieser Bevölkerungsschichten durch den Staat ausgelöst werden, dessen Grenzen vom Narcostaat zur Macht der Milizen fließend sind.

Welche Möglichkeiten des organisierten Widerstands sehen Sie? Was kann der Schwarze feministische Widerstand dazu beitragen und warum ist er wichtig?
Wenn man nach Lateinamerika und nach Brasilien schaut, stellt man fest, dass die wichtigsten revolutionären Widerstandsbewegungen in den letzten Jahren durch Frauen vorangetrieben wurden. Auch der Schwarze Feminismus entspringt diesem Prozess. Trotz des prekären politischen Umfelds gibt es eine Reihe junger, Schwarzer Kollektive, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten Widerstand leisten. Sie machen aus ihrem Zuhause Räume des kulturellen, künstlerischen Widerstands, zum Beispiel in Form von rodas de rima (sogenannte Reimkreise: Zusammenkünfte der Hip-Hop Kultur in Rio de Janeiro, in denen Poesie und Musik präsentiert werden, Anm.d.Red.). Es gibt Medienkanäle, die als Sprachrohr des Widerstands dienen und für die kollektive Organisierung verwendet werden und verschiedenste Akteure mit einbeziehen. Es gibt trotz der aktuell sehr schwierigen Situation viele kleine Revolutionen. Die Rolle des Schwarzen Feminismus ist in diesem Prozess von besonderer Bedeutung. Dies zeigte sich zum Beispiel während der #EleNão-Kampagne (#ErNicht-Kampagne, s. LN 533), eine der wichtigsten Aktionen gegen die Wahl von Bolsonaro, die von Frauen angeführt wurde, welche sich über Facebook organisiert hatten. Die Frauen werden dadurch zu Vorreiter*innen revolutionärer Prozesse und Auseinandersetzungen. Sie produzieren nicht nur Antworten und Anklagen, darunter konkrete Aktionen auf nationaler Ebene wie bei #EleNão, sondern auch auf regionaler Ebene. Die Funktion der feministischen Bewegung bestand vor allem darin, eine Avantgarde im Prozess des Widerstands gewesen zu sein.

Sie sind neben Ihrer Tätigkeit als Abgeordnete auch als evangelische Pastorin tätig. Es ist immer wieder zu hören, dass sich die Wahl Jair Bolsonaros größtenteils evangelikaler Unterstützung verdankt. Welche Rolle übernimmt die Kirche im aktuellen politischen Tagesgeschäft? Kann es eine Form des evangelikalen Widerstands geben und wenn ja wie könnte er aussehen?
Vor allem im zweiten Wahlgang haben viele Evangelikale durch Initiativen wie „Evangélicos com Haddad“ (Evangelikale für Haddad) versucht, die Kandidatur von Haddad zu unterstützen. Deshalb muss man sehr genau sein und nicht alle Evangelikalen über einen Kamm scheren. Die Evangelikalen in Brasilien sind nicht als Einheit zu betrachten, sondern es gibt unter ihnen eine große Vielfalt. Bolsonaro ist Katholik und sucht den Schulterschluss mit den ultrakonservativen und fundamentalistischen Katholiken ebenso wie mit den weißen, reichen und sich in Elitepositionen befindenden Evangelikalen, die sowohl mediale als auch finanzielle Macht über ihre Gläubigen ausüben können. Ich denke, dass vor diesem konservativen und extremistischen Hintergrund unser Einsatz um die narrative Hoheit in der Berichterstattung von besonderer Bedeutung ist. Als die Leute das im zweiten Wahlgang 2018 erkannten, schafften wir es 40 Prozent der Evangelikalen auf die Seite von Haddad (Kandidat der Arbeiterpartei PT, Anm.d.Red.) zu ziehen. Auch wenn es schon zu spät war, um diesen Kampf zu Ende zu führen, war dies vor allem die Leistung der progressiven Evangelikalen. Es war ein Affront gegen die konservative Mehrheit, die den biblischen Diskurs missbraucht hat um Gewalt und Hass gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu schüren. Deshalb ist es für uns so wichtig, um dieses politische Feld zu ringen und eine alternative politische Sichtweise aufrechtzuerhalten.

Angehörige Ihrer Partei sehen sich Morddrohungen und öffentlicher Diffamierung durch Fake News ausgesetzt. Jean Wyllys verließ das Land. Wie schätzen Sie Ihre eigene Situation und die anderer Abgeordneter Ihrer Partei im Bundesstaat Rio de Janeiro aktuell ein?
Angesichts des Exils von Jean Wyllys, der Morddrohungen gegen Abgeordnete und Aktivisten und den Auftragsmorden, wie dem an Marielle Franco, kann man festhalten, dass es heutzutage in Brasilien eine riskante Angelegenheit ist, linker Parlamentarier zu sein oder als Verfechter des säkularen Staates, für kulturelle Vielfalt, für Frauenrechte oder gegen Rassismus aufzutreten. Als Parlamentarier wirst du zwangsläufig zur Zielscheibe, wie im Fall von Jean Wyllys durch die Verbreitung von Fake News. Das Problem ist nicht der bloße Angriff auf die Person, sondern vor allem, dass sich diese Form der falschen Berichterstattung in erster Linie an den einfachen Bürger richtet, der sich dem Gefühl der Ablehnung und des Hasses hingibt. Es muss nicht zwangsläufig sein, dass dieser Bürger einen Hinterhalt plant, um jemanden umzubringen, aber er kann es sein, der dich plötzlich an der Bushaltestelle, in der Metro oder in einem Laden angreift. Es ist also jemand, der zum Täter wird, weil er von einem Hassdiskurs beeinflusst wurde. Es ist nicht nur die Figur von Bolsonaro selbst, sondern das was dieser Diskurs in einem Teil der brasilianischen Bevölkerung angerichtet hat. Er richtet sich gegen Frauen, linke Politiker und Menschenrechtsverteidiger. Es sind die einfachen Leute, die sich mit Hass aufladen und die dazu in der Lage sind physisch oder verbal eine barbarische Gewalttat gegen jemanden auszuüben der neben ihnen auf der Straße läuft.

Was schlagen Sie vor, wie am besten mit dem Klima der Angst in der Öffentlichkeit umgegangen werden sollte?
Zunächst ist es wichtig, die Existenz der Angst anzuerkennen. Mein Slogan während des Wahlkampfs war: „Sie haben uns soviel genommen, dass wir die Angst verloren haben.“ Die Angst ist ein wichtiges Gefühl, um uns aufrechtzuhalten, zu schützen und auf uns aufzupassen. Aber die Angst darf uns nicht so sehr lähmen, dass wir nicht mehr kämpfen, Widerstand leisten oder uns kollektiv organisieren. Es ist wichtig, weiterhin die Stimme zu erheben, uns durch Aktionen sichtbar zu machen und so lange wie möglich Auffangnetzwerke aufrechtzuerhalten.
Welche Bedeutung hat der Funk für die Schwarze Bevölkerung in den Favelas?
Der Funk ist ein kulturelles und soziales Ausdrucksmittel, er dient der Verarbeitung von Erfahrungen, ist Abbild der Lebensformen der Schwarzen Bevölkerung in den Favelas. Er ist die Befreiung von der alltäglichen Unterdrückung. Funk, Samba, Jazz und Bossa Nova sind Ausdrucksweisen der Seele der Négritude (anti-kolonialer Kulturbegriff für Schwarze Kultur, Anm.d.Red.). Diese musikalischen Ausdrucksformen kommen aus der verletzlichsten Bevölkerungsschicht der Favela: der Jugend. Indem sie Funk schreiben, singen und tanzen, werden die Jugendlichen zu Protagonisten unserer Geschichte. Ich war selbst in der Funk-Szene engagiert und weiß um seine emanzipatorische Kraft.

Der Mord an der linken Stadträtin Marielle Franco, deren Beraterin Sie waren, ist nun 20 Monate her. Sie ist zur Ikone des Schwarzen und feministischen Widerstands in den Favelas geworden. Was hat ihr Tod in den Favelas bewirkt?
Durch ihren Tod hat die Bevölkerung der Favelas verstanden, dass Körper, wie der ihre, leichtfertig weggeworfene Leben sind. Er offenbarte, dass der brasilianische Staat rassistisch ist. Ihr Tod bewirkte ein verstärktes Bewusstsein für feministische Kämpfe. Er brachte die Gewissheit, dass ihre Hinrichtung eine Botschaft an die Schwarzen Frauen darstellte und dass die Notwendigkeit besteht, trotz der andauernden Angriffe des Staates auf die Favelas von Rio de Janeiro, weiterhin Widerstand zu leisten. Gegen immer absurdere Formen der Gewalt antwortet die Favela mit Vernetzung, der Produktion von Kultur und Kräften, die soziale Antworten bereit halten.

 

„WIR WÜNSCHEN UNS EINEN BOYKOTT”

LUANA CARVALHO AGUIAR LEITE
vertritt den Bundesstaat Rio de Janeiro in der nationalen Direktion der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra), eine der größten sozialen Bewegungen Lateinamerikas. Carvalho hat Agrarwissenschaften und Pädagogik studiert und ist seit zwölf Jahren in der MST aktiv, wo sie sich besonders der kleinbäuerlichen und ökologischen Landwirtschaft sowie der Bildung im ländlichen Raum des Bundesstaats von Rio de Janeiro widmet.
(Foto: privat)


Wie bewertet die MST die Gesetzesänderungen der Bolsonaro-Regierung?
Bolsonaro agiert auf verschiedenen Ebenen, um Brasilien zu einem autoritären Staat zu machen: die Veränderungen in der Rentenversicherung, die Rücknahme von Arbeitsrechten, die Attacken auf das öffentliche, kostenlose und laizistische Bildungswesen. Eine ganze Reihe von Privatisierungen liefert außerdem unsere Souveränität dem internationalen Kapital unter Führung der USA aus. Auch die Militärbasis Alcântara in Maranhao, über die ein Abkommen mit den USA abgeschlossen werden soll, ist Ausdruck dessen.

Welche Veränderungen treffen die MST am stärksten?
Bolsonaro versucht, einen Wertekonsens in der Gesellschaft zu erzeugen, der nicht nur Linke, sondern alle Regierungskritiker kriminalisiert. Uns direkt betrifft vor allem Bolsonaros Legitimierung von Gewalt, etwa wenn er betont, dass ein Großgrundbesitzer sich mit Gewalt „verteidigen“ darf, wenn er sich von einer Landbesetzung bedroht fühlt. Alte Fälle von vor 20 Jahren werden plötzlich wiederaufgenommen, zwei unserer Mitstreiter müssen sich jetzt wegen der „Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation” verantworten – ein ganz anderer juristischer Vorwurf als Landfriedensbruch. Alles mit dem Ziel, die MST weiter zu kriminalisieren

Und im Bereich der Agrarreform?
INCRA, das staatliche Organ zur Umsetzung der Agrarreform, soll ins Landwirtschaftsministerium überführt werden, dessen Leiterin – selbst Vetreterin der Agrarindustrie – gegen die Reform ist. Heute ist die Hauptaufgabe der INCRA, die bestehenden Agrarreform-Siedlungen zu privatisieren. Es gibt eine Direktive, dass die INCRA die langwierigen Enteignungsprozesse von Großgrundbesitzern einfach ruhen lässt, obwohl genau das ihre Aufgabe wäre. Die INCRA verhält sich bei vielen Anträgen auf Rückübereignung „neutral”, anstatt Widerspruch einzulegen. Kürzlich habe ich erfahren, dass im Bundesstaat Pernambuco die Rückübereignung des Landes des seit 21 Jahren bestehenden Assentamentos Paulo Freire vor Gericht beantragt wurde. In Siedlungen wie diese hat der Staat investiert und eine gewisse Infrastruktur geschaffen: Straßen, Strom oder Wasserversorgung. Plötzlich besteht die Möglichkeit, dass sich die ehemaligen Besitzer dieses aufgewertete Land wiederaneignen können.

Was können die sozialen Bewegungen jetzt tun?
Wir mussten eine ideologische Niederlage hinnehmen. Deswegen müssen wir jetzt gemeinsam mit den Landarbeitern die Idee der sozialen Transformation rekonstruieren. Es wird langfristig nicht reichen, Bolsonaro zu entfernen. Wir befinden uns in der Phase eines konsistenten Projektes der Rechten und des internationalen Kapitals, die aus der Krise von 2008 resultiert. Brasilien ist für die Bewältigung dieser Krise entscheidend, denn es besitzt natürliche Bodenschätze im Überfluss. Wir müssen jetzt mit Konfrontation und sehr viel Basisarbeit reagieren und mit einer Bildungsoffensive, um die mystische Vision des Projektes der Arbeiterklasse zurückzugewinnen.

Wie kam es zu dieser ideologischen Niederlage?
Damit meine ich nicht erst den Wahlsieg Bolsonaros im Jahr 2018. Schon seit der zweiten Amtszeit von Dilma Rousseff 2014 hat sich die Rechte mit der extremen Rechten und dem internationalen Kapital verbündet, um die Macht zu übernehmen.
Ein symbolischer Moment war die Ermordung von Marielle Franco Anfang 2018, symbolisch, weil der Linken die Botschaft übermittelt wurde, dass das neoliberale Projekt ohne Rücksicht auf Verluste umgesetzt wird. Dass die Menschenrechte nur noch eine untergeordnete Bedeutung haben. Nicht einmal einen Monat später wurde der ehemalige Präsident Lula da Silva verhaftet. Der Prozess gegen ihn war ein Scheinprozess, eine Attacke gegen die noch junge und instabile brasilianische Demokratie, die der kapitalistische Staat in Zeiten der Krise dekonstruieren möchte.

Was erwartet die MST von Europa?
Die Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen und der Protest dagegen sind von fundamentaler Bedeutung. Unsere internationalen Netzwerke dienen uns als Sicherheitsnetz. Weil Bolsonaro sich nicht um internationale Vereinbarungen schert, verhindert auch nur der internationale Protest bestimmte Aktionen der Regierung. Im Fall der Brände in Amazonien gab es schnell internationale Reaktionen, sodass sich Bolsonaro dazu verpflichtet fühlte, bald ein Statement in den sozialen Medien abzugeben.
Wir würden uns außerdem wünschen, dass über einen Boykott von brasilianischen Produkten nachgedacht wird. Die Exportprodukte der Agrar­­industrie – Fleisch, Soja, Mais, Zellulose – sie repräsentieren aus unserer Sicht die heutige Regierung. Sie sind Produkte des Rassismus, des Machismus, der Gewalt auf dem Land und der sozialen Ungleichheit. Jetzt wäre genau der richtige Moment für eine große internationale Boykott-Kampagne dieser Exportprodukte.
Die europäischen Regierungen sollten besser reflektieren, dass Bolsonaro zwar demokratisch gewählt wurde, wir aber heute in einem sehr autoritären Staat leben. Man kann nicht von Faschismus reden, aber dieser Staat trägt sehr viele Kennzeichen des Faschismus: Wir haben keinen demokratischen Rechtsstaat mehr, die Menschenrechtsverletzungen finden auf einem ganz anderen Niveau statt, Bolsonaros Maßnahmen sind nicht von der Verfassung, von der Justiz oder den Gesetzen gedeckt. Deshalb sind wir auch gegen das Mercosur-Abkommen und erwarten von den europäischen Staaten, dass sie diesen Vertrag nicht unterzeichnen. Stattdessen sollten sie Sanktionen erlassen. Denn wenn es sich auf die Einnahmen auswirkt, wird gerade das Agrobusiness Bolsonaro unter Druck setzen. Sie wissen, bis zu welchem Punkt sie gehen können und dass die internationalen Gesetze respektiert werden müssen.

 

„IM FUNK GIBT ES EINIGE MARIA MAGDALENAS“

Furacão 2000 Plattenfirma und Veranstalterin von Baile Funk  // Foto: Marco Gomes via flickr.com CC BY-NC-SA 2.0

Anitta hat über 40 Millionen Follower*innen auf Instagram, das Musikvideo „Bola, Rebola“ wurde allein am Erscheinungstag eine Million Mal auf Spotify abgespielt. Madonna wollte sich wohl ein Stück von Anittas Funk-Chic abschneiden, als sie in diesem Jahr die Brasilianerin für das gemeinsame Stück „Faz Gostoso“ anfragte. Der 26-jährige Superstar Anitta wird inzwischen als brasilianische Beyoncé gehandelt, ist jedoch nicht unumstritten in der brasilianischen Funkszene. Doch sie hat etwas Entscheidendes geschafft: Sie hat als Frau die Sounds aus den Favelas als funk pop an die Chartspitzen katapultiert.
Der brasilianische Funk, portugiesisch ausgesprochen „Fahngki“ [fa(ŋ)ki], entstand in den 70er Jahren in den Favelas von Rio de Janeiro, aus den Rhythmen des Elektro-HipHop, dem Miami Bass, gemixt mit afro-brasilianischer Percussion. Längst ist er auch in São Paulo zu finden und überall in den Peripherien. Perifería, dieses Wort fällt häufiger als Favela, wenn man funkeiras (Funkkünstlerinnen, Anm. d. Red.) zuhört. Perifería steht für abgelegene Stadtviertel mit wenig finanziellen Möglichkeiten, keiner Infra- struktur, oftmals ohne Asphaltstraßen, dazu prekär ausgestattete Wohnräume, wenn überhaupt, es bezeichnet das gesamte strukturelle Umfeld von dem, was der Volksmund Favela nennt.

Frauen im Funk waren immer Feministinnen

Der Funk aus Rio de Janeiro, der funk carioca, erzählte in seinen Ursprüngen von den Realitäten in diesen Peripherien, von Gewalt, Armut, Perspektivlosigkeit. Mit der Zeit haben sich zahlreiche Subgenres und Stilarten herausgebildet. Während im funk probidão der Drogenhandel im Mittelpunkt steht, geht es im new funk eher um Sinnlichkeit und Erotik. Manchmal machen die Texte auf dicke Hose, erzählen von Luxus, finanziellem Aufstieg, teuren Drinks, Wertgegenständen und Frauen, bisweilen mit explizitem Sex und frauenverachtenden Männerfantasien (funk ostentacão). Der funk melody ist eher romantisch bis kitschig, der funk ousadia nutzt explizitere sexuelle Anspielungen und Humor.
An die Anfänge des brasilianischen Funk erinnert heute nur noch der typische Groove. Wer zu der Musik die passenden Moves sucht, kommt an einem gehaltvollen Hüftschwung nicht vorbei: Oberkörper vorlehnen, leicht in die Knie gehen, die Arme auf den Oberschenkeln abstützen und dann „rebolar“ – wackeln: hoch und runter und bis zum Boden. Auf den Partys tanzen das nicht nur die Frauen. Aber auf den Bühnen kommen sie vor allem als Tänzerinnen vor, nicht als Wortgeberinnen. Und dann ist da so eine wie Anitta, die bekannter wird als alle männlichen funkeiros zusammen. Sie singt über weibliche Selbstbestimmung, Macht, Verführung oder Allerweltsthemen. Diskutiert wird aber vor allem über ihren Körper, ihre Schönheits-OPs oder ihren Hintern, den sie auch mal völlig unretuschiert und mit Cellulitis vor der Kamera schwingt, so wie Ende 2017 in dem Video zu dem Song „Vai Malandra”, auf Deutsch in etwa „Los jetzt, Luder“.

Mach dich bereit, ich werde tanzen, pass auf
(Ah, ah)
Tutudun (Ah,ah)
(….)
Ich werde nicht mehr aufhören
Du wirst das aushalten.

Funktänzerin Renata Prado „Im Funk ist Sinnlichkeit eine Form, den Machismus zu bekämpfen“ // Foto: Luan Batista

Die Botschaft: Ich mache was ich will, egal ob es euch gefällt, und ich nenne das Feminismus. Und wenn ich keinen Bock mehr habe, dann gehe ich. Für einen FAZ-Korrespondenten, der über das Video berichtete, steht dabei ganz schnell fest: Ihr Manifest sei „in Wahrheit bloß die Übertragung des drunten an den Stränden manifestierten sexistischen Frauenbildes auf die Dächer der Favela.“ Dieser Schluss liegt nicht fern, wenn man jede Form weiblichen Entblößens als Sexismus deutet. Dabei liegt der Unterschied im Detail: Anitta singt dabei über sich und dass sie weiß, was sie mit ihren Hüftschwung auslöst – sie steht auf der Bühne als Subjekt.
Es gibt Feministinnen, denen Frauen beim Hüftenkreisen Bauchschmerzen bereiten. Fast so, als ob Frauen, sobald sie ihre sexuelle Lust ausdrücken oder schlicht ihren Spaß am Hüftschwung, den feministischen Kampf um Lichtjahre zurückwerfen würden. Dabei ist es ja eigentlich ein Problem des Betrachters, Hüftschwung und Mann in einen kausalen Zusammenhang zu stellen, findet Renata Prado, Funktänzerin aus São Paulo. Sie ist selbst in einer Favela aufgewachsen und tanzt seit Teenagertagen Funk. Die rhythmische Bewegung der weiblichen Körpermitte als sexuelle Aufforderung zu deuten, komme aus einem christlichen Kontext. „In Afrika zum Beispiel, glaube ich, ist das Bild, das sie von Funk haben komplett unterschiedlich. Der Kuduro aus Angola ist dem Funk sehr ähnlich, also die Beckenbewegungen. Für uns ist das keine Sünde, das ist es nur durch eine eurozentrische Schablone. Alles, was also nicht in diese christlichen Konzepte passt, ist Sünde, ist falsch, ist nuttig. Schauen wir uns die Geschichte von Maria Magdalena an. Ich glaube im Funk gibt es einige Maria Magdalenas. Das meine ich total positiv. Denn wer war sie? Eine Frau, die mit ihrem Leben machte, was sie wollte.“
Dass Sinnlichkeit und Hüftshakes feministisch sein können, sei dabei in der Szene keine neue Botschaft, müsse nach außen aber oft erst erklärt werden, sagt Renata. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin, studiert Pädagogik und forscht zur Rolle der Frauen im Funk. All das hat sie in Talkshows, Zeitschriften und Kulturveranstaltungen gebracht. „Sinnlichkeit ist Teil der Funkkultur, und zwar auf eine lockere Art, Sinn- lichkeit nicht Erotisierung”, sagt Renata. „Das Problem ist, dass die Medien immer wieder die Körper dieser Frauen sexualisiert und kriminalisiert haben, weil sie Frauen sind, in ihrer Mehrheit Schwarze und aus der Peripherie.” Im Ballett würden die Körper der Tänzerinnen nicht sofort sexualisiert werden. „Funkeiras sind zunächst einmal Künstlerinnen und sollen auch so behandelt werden”, fordert Renata. Das Problem sei nicht, dass Schwarze Frauen tanzend dargestellt würden, sondern dass man sie auf ein bestimmtes Bild reduziere. Oder wie Djamila Ribeiro, brasilianische Black-Feministin und Philosophin schreibt: „Die Idee, dass jede Schwarze Samba tanzen kann (…) gehört zu Stereotypen, die das Ziel haben, uns an den Plätzen zu halten, die die rassistische Gesellschaft uns zugeschrieben hat“.
„Der Machismus ist nicht der des Funks oder des Hip-Hops”, so Renata weiter, „er reproduziert den Machismus der Gesellschaft. Es gibt verschiedene Formen, das zu bekämpfen. Im Funk ist die Sinnlichkeit eine der Formen, die die Frauen haben“. Für mehr Selbstorganisation unter den weiblichen MCs hat sie im vergangenen Jahr die Nationale Front für Frauen im Funk gegründet, im nächsten Jahr soll eine Dokumentation erscheinen über die prägenden Frauen in diesem Genre.
Nach Renata seien die wenigen Frauen im Funk schon immer Feministinnen gewesen. Doch blieben sie als Sängerinnen für das große Publikum unsichtbar. „Eine Tati Quebra-Barraco war zu Beginn der 2000er Jahre schon Feministin, als sie textete, sie sei hässlich aber in Mode oder mit einem Wortspiel zu einer Marke für Küchengeräte.” Tati singt als Frau „Dako é bom”, also die Küchenmarke „Dako” ist gut, dem Klang nach bedeutet „Dako” aber auch „den Hintern hinhalten”. Eine Anspielung als Frau auf Analsex und überhaupt auf Sex aus einer weiblichen Position löst etwas aus in einer Szene, in der darüber sonst nur Männer singen dürfen. Und tatsächlich finden sich auf Youtube-Videos von Tati Quebra-Barraco: Sie singt und tanzt mitunter hochschwanger und hüftkreisend in engen Leggins und Tanktop.

MC Carol „Der Funk hat mein Leben gerettet“ // Foto: Fernando Schlapfer

Immer mehr Schwarze Frauen aus den Peripherien steigen in den letzten Jahren selbst in der Szene auf, manche werden auch international erfolgreich – die funkeira MC Carol aus Niteroi bei Rio hat im April zum zweiten Mal in Berlin gespielt. „Eigentlich wollte ich Polizistin werden”, erzählt Carolina de Oliveira Lourenço, „aber dann stand mein Leben plötzlich auf dem Kopf. Mit 14 wohnte ich allein, Leute kamen und bieten einem Drogen an, auch zum Verkaufen oder Geld für Sex. Dann kam der Funk in mein Leben und hat mein Leben gerettet.” Wenn MC Carol im Jahr 2016 mit der Rapperin Karol Conka einen Song mit dem Titel „100 Prozent Feministin“ rausbringt, dann nicht, weil die Frauenwelt gerade ganz langsam aus einem Dämmerschlaf befreit wurde. MC Carol hatte diese Vokabel „Feminismus“ erst ein paar Monate zuvor gelernt, mit 22 Jahren, von Freund*innen, die für eine Aufnahmeprüfung lernten.
Wenn man sich unter jungen funkeiras umhört, sind viel eher als Anitta Frauen wie MC Carol oder Ludmilla, Tati Quebra-Barraco und Valesca Popozuda Namen, die als Identifikationsfiguren genannt werden. „Anitta ist eine Brasilianerin, die aus dem Funk kommt”, sagt MC Carol, „aber ihr Funk ist anders. Ich identifiziere mich nicht mit ihrer Musik, aber ich bewundere ihre Arbeit. Sie hat es weit gebracht.” Tatsächlich sind MC Carols Sounds härter, ihre Texte sehr persönlich und haben keinen Deut von der heileren Pop-Melodik Anittas.
Um die Jahrtausendwende besetzten erste weibliche funkeiras die Mikrofone und traten gegen sexistische männliche Narrative an. Als Tänzerin aktiv in dieser Funkszene war zu dieser Zeit auch die junge Marielle Franco. Die linke lesbische afrobrasilianische Politikerin ist selbst in einer Favela in Rio aufgewachsen. Im März 2018 wurde sie erschossen, bis heute sind die Umstände nicht aufgeklärt, doch der Fall ist höchst politisch und Marielle längst zur Märtyrerin erklärt. Kurz vor ihrem Tod hatte sie einen Gesetzesvorschlag vorgelegt, der die Funkkultur fördern und schützen sollte. Den gleichen Kampf führt die Tänzerin Renata Prado: „Funk wurde zeitlebens innerhalb der Politik nicht als Kultur behandelt, sondern im Bereich öffentliche Sicherheit. Auch das macht meinen Aktivismus aus, zu sagen: Funk ist Kultur.”
Es wäre für Marielle Franco daher eine Genugtuung gewesen, zu wissen, dass MC Carol in diesem Jahr auf dem wichtigsten Festival Brasiliens spielt und damit auf einem der größten weltweit: dem Rock in Rio. MC Carol schreibt dazu auf Twitter:„Ich werde diese Möglichkeit nicht verschenken, Leute. Die Favela hat gesiegt.“
Obwohl der Funk längst im Mainstream angekommen ist, bleibt er für die öffentlichen Ordnungshüter ein Synonym für Gewalt, Drogen, Armut und Kriminalität. Erst vor zwei Jahren scheiterte die letzte Petition im Kongress, die den baile funk, die Tänze in den Straßen der Favelas als „Gefährdung der Gesundheit von Kindern und Erwachsenen“ verbieten wollte. Während MC Carol an die US-amerikanische Brown University eingeladen wurde, um von ihrem Leben zu erzählen, während sie am 6. April zum zweiten Mal im Berliner Gretchen Club spielte, sitzt mit dem 26-jährigen DJ Rennan da Penha seit April eine der wichtigsten Figuren der Szene im Gefängnis. Er hatte auf einem Baile die Leute auf die eintreffende Polizei hingewiesen. Sofort hieß es, Drogenhandel sei im Spiel. Immer wieder kommt es bei solchen Anlässen zu Begegnungen mit der Polizei, die Show wird aufgelöst, Soundanlagen zerstört – im besten Fall. Die bailes werden verboten, oder von der Polizei geräumt. Immer wieder kommt es zu Schusswechseln mit der Militärpolizei, Festnahmen oder sogar Toten.
Eine Realität fern der Raveparties und Electroclubs der Mittel- und Oberschicht, in denen Drogen mitunter zum Lifestyle gehören. Es ist eine Kriminalisierung, die viele Stilarten des Black Movements durchliefen: Capoeira, Hiphop und ein brasilianischer Tanz, der heute als Kulturerbe gilt, sagt MC Cacau Rocha (25) funkeira und Dichterin aus São Paulo. „Das war mit dem Samba früher genauso. Als der dann akzeptiert wurde, hörte die Kriminalisierung auf. Leider ist das mit dem Funk nicht so, das hat mit Vorurteilen zu tun. Ich glaube an den Funk als Mittel in der Bildung. Er redet von unseren Ursprüngen, er ist eine Feier, fast schon ein Ritual. Daneben muss er auch von unserer Lebensrealität handeln, davon wie wichtig es ist, dass wir uns organisieren, um den tatsächlichen Aufstieg zu erreichen.“
Das dürfte in der aktuellen politischen Situation unter dem rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro noch schwieriger sein als zuvor. Funk ist nicht nur Text, Rhythmus, Körper. Er ist eine politische, kulturelle und soziale Bewegung aus Brasiliens Peripherien. Für viele junge Menschen ist er eine Perspektive und ein Ausblick auf ein finanzielles Einkommen. Vor allem ist er ein Ort für Sprache, Ermächtigung und der Ausdruck einer sich wandelnden lebendigen Kultur.

“DIE MILIZ IST KEINE PARALLELSTRUKTUR – SIE IST DER STAAT!”

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(Foto: Privat)

JOSÉ CLÁUDIO SOUZA ALVES

Soziologe und früherer Konrektor der Staatlichen Ländlichen Universität von Rio de Janeiro (UFRRJ), forscht seit 26 Jahren zu den Milizen. Er ist Autor des Buches „Von den Drogenbaronen zu den Todesschwadronen: Die Geschichte der Gewalt in der Baixada Fluminese“. Im Interview mit dem brasilianischen Online-Medium Agência Pública erklärt er den Ursprung der Milizen und ihre Verflechtungen mit der Politik.


 

Wie entstanden die Milizen in Rio de Janeiro?
Sie haben ihren Ursprung in der brasilianischen Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985. 1967 entstand die Militärpolizei, eine sehr offensive Truppe, die die Militärs unterstützte. Kurz darauf erschienen die Todesschwadronen: Gruppen aus Militärpolizisten und anderen Mitarbeitern von Sicherheitsbehörden, die als Auftragsmörder operierten. Diese Todesschwadronen arbeiteten in den 1970er Jahren mit Hochdruck. Während der achtziger Jahre erhielten die Mordkommandos zivile Leitungen, die gute Verbindungen zu den Vertreter*innen des Staates besaßen. Mit der Wiederherstellung der Demokratie in den 1990er Jahren begannen genau diese Killer, sich in politische Ämter wählen zu lassen.
In den umliegenden Städten von Rio gab es von 1995 bis 2000 einen Prototyp der heutigen Milizen von Rio de Janeiro, deren Anführer*innen aus städtischen Landbesetzungen kamen. Seit den 2000er Jahre sind die Milizionäre so aufgestellt wie heute: Militärpolizisten, Zivilpolizisten, Feuerwehrleute, und Sicherheitsleute, die dort agieren, wo es früher Drogenhandel gab; gleichzeitig schaffen sie sich eine Machtstruktur über die Eintreibung von Gebühren, den Verkauf von öffentlichen Dienstleistungen oder Gütern, wie Trinkwasser, Müllentsorgung oder Grundstücken.

Haben die Milizen Rückhalt in der Bevölkerung?
Die Miliz tritt mit der Begründung auf, dass sie in die Gemeinden komme, um sich dem Drogenhandel entgegenzustellen. Aber mit der Zeit wird der Bevölkerung klar, dass die Miliz sich gegen sie richtet – sie tötet. Außerdem kontrolliert sie nach und nach den lokalen Handel. Das macht der Bevölkerung Angst und sie unterstützt die Miliz weniger.

Was ist die Geschichte von Rio das Pedras, wo das „Verbrechensbüro” aktiv war?
Rio das Pedras ist eine expandierende Gemeinde, wo sehr arme Menschen leben, die aus dem Nordosten des Landes stammen. Es gibt dort nur wenig Grundstücke, die man bebauen kann, viele davon mit ungeregeltem Landbesitz. Die Milizen besetzen und legalisieren sie – manchmal sogar über die Stadtverwaltung, indem sie Steuern für diese Immobilien bezahlen – und verkaufen sie dann.

Gab es in Rio das Pedras die erste Miliz von Rio?
Nein, das kann man so nicht sagen. Meiner Einschätzung nach sind die Milizen an verschiedenen Orten in der Region gleichzeitig entstanden. Noch nicht als Prototyp, sondern mit lokalen Führungsfiguren, die über Gewalt eine autoritäre Form politischer Kontrolle ausübten. In Rio das Pedras passierte aber alles schneller, dort begann die Forderung von Schutzgeldern. Die Gemeinde sah sich einer Gruppe Milizionäre gegenüber, die sie schützen und verhindern sollte, dass der Drogenhandel eindringt. Aber in Wirklichkeit sollten sie die kommerziellen Interessen der Geschäftsinhaber, die sich in Rio das Pedras niederließen und diese Gruppe finanzierten, schützen.

Wie viele Milizen gibt es heute in Rio de Janeiro?
Ich weiß, dass es viele sind. In praktisch jedem Gemeindebezirk in der Region um Rio de Janeiro sind Milizen präsent.

Wie häufig sind Todesschwadrone wie das „Verbrechensbüro”?
Ich habe noch nie von einer Miliz gehört, die keine Hinrichtungen durchführt. Normalerweise hat eine Miliz ein Team für Exekutionen. Wenn etwas nicht mit den Interessen der Miliz übereinstimmt, wird dieser bewaffnete Flügel aktiviert, um zu töten. Was neu bei den Milizen ist, ist die Palette der Dienstleistungen, die sie neben den Hinrichtungen und dem Sicherheitsdienst anbieten. Die Milizen fixieren sich nicht mehr nur auf große Händler oder großen Unternehmen.

In welchen anderen illegalen Geschäftszweigen operieren die Milizen?
Sie erheben Schutzzölle beim Handel. Sie sagen, dass sie für Sicherheit sorgen, aber später kontrollieren sie die Versorgung mit Wasser und Gas, Zigaretten und Getränken in den Gemeinden. Und es gibt Berichte, dass Leute ermordet wurden, die das nicht akzeptiert haben. Motorrad-Taxis zahlen beispielsweise 80 Reais (ca. 20 Euro, Anm. d. Red.) pro Woche, um operieren zu dürfen. Ein Popcornverkäufer zahlt 50 Reais pro Woche. Das ist Wahnsinn!
Sie errichten illegale Müllkippen in der Region und vergraben dort den Müll von jedem, der dafür zahlt. Tausend Reais pro Lastwagen. Wo es herkommt, ist ihnen egal. Das kann Giftmüll, Industriemüll oder Krankenhausabfall sein. Daneben werden auf dem Markt für Exekutionen seit geraumer Zeit Millionen bewegt. Und sie sind auch im Drogenhandel aktiv, arbeiten mit bestimmten Drogenkartellen zusammen. Sie haben die gleiche Beziehung wie die Polizei zum Drogenhandel: Der funktioniert nur dort, wo Bestechungsgelder gezahlt werden.

Die Milizen kontrollieren also auch öffentliche Dienstleistungen wie Müllentsorgung und bemächtigen sich kommunaler Räume, um illegalen Aktivitäten nachzugehen?
Die finanzielle Basis einer Miliz ist die militarisierte Kontrolle geografischer Gebiete. Das ermöglicht es ihr, den städtischen Raum an sich in eine Einkommensquelle zu verwandeln, zum Beispiel durch Immobilienverkauf. Es gibt ein staatliches Programm Minha Casa Minha Vida (Mein Haus Mein Leben), mit dem Sozialwohnungen gebaut werden. Die Miliz übernimmt die militärische Kontrolle des Baugebiets, bestimmt, wer die Wohnungen bekommt, und verlangt Gebühren von den Bewohnern.
Die Region der Baixada und die Stadt Rio de Janeiro sind große Laboratorien der Ungesetzlichen und Illegalen, die sich zusammenschließen, um eine Struktur der politischen, ökonomischen und kulturellen Macht zu stärken, die geografisch verankert ist und auf Gewalt und bewaffneter Kontrolle beruht.

Sind die Milizen in Rio de Janeiro wegen der Abwesenheit des Staates entstanden?
Der Staat war immer da. Die Auftragsmörder und Milizionäre werden ja gewählt. Es ist der Staat, der festlegt, wer die militärische Kontrolle über diese Region ausübt, weil diese ja staatliche Vertreter sind. Es gibt keine Abwesenheit des Staates, das ist die Machtausübung genau dieses Staates. Eines Staates, der illegale Operationen fortsetzt und dadurch mächtiger wird, als er das im legalen Einflussbereich ist. Weil er auf totalitäre Weise über das Leben bestimmt und man sich ihm nicht entgegenstellen kann.


Wer hat den Nachbarn des Präsidenten beauftragt Marielle zu töten? Milizen sind die Hauptverdächtigen (Foto: Mídia Ninja)

Aber auf der anderen Seite ist es doch die Bevölkerung, welche die Politiker aus den Milizen wählt?
Sie meinen doch nicht etwa, die Bürger seien Mitschuldige oder Komplizen des Verbrechens? Ja, diese Menschen haben Flávio Bolsonaro gewählt, der, wie sich jetzt herausstellte, möglicherweise Verbindungen zu diesen Gruppen haben soll. Aber unter welchen Lebensbedingungen haben sie das getan? Es sind Bedingungen des Elends, der Armut und der Gewalt, denen sie sich ausgesetzt sehen. Fünf Jahrzehnte der Todesschwadrone führten zu 70 % Zustimmung für Bolsonaro in den Vorstädten Rios. Drei Amtszeiten der Arbeiterpartei, also 14 Jahre präsidialer Macht, haben nichts an diesen Strukturen verändert. Die PT ging ein Wahlbündnis ein, sie suchte die Unterstützung dieser Gruppen.

Was verbindet den Stab eines Politikers und einen Milizionär, wie dies bei Flavio Bolsonaro und der Mutter und Ehefrau von Adriano Magalhães da Nóbrega der Fall war?
Die Ansichten der Familie Bolsonaro. Sie sind die Erben der Diskurse von Politikern wie dem Abgeordneten Sivuca (José Guilherme Godinho Sivuca Ferreira, 1990 Abgeordneter für die Partei PFL, Anm. d. Red.), der den Slogan „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit!” prägte. Er war einer von der alten Truppe, dem politischen Arm der Todesschwadronen. Dieser Diskurs hat sich fortgesetzt und verfestigt. Es ist logisch, dass die Milizionäre diese Ansichten unterstützen und dadurch stärker werden. Das ist der Plan für öffentliche Sicherheit, den Bolsonaro in seiner Wahlkampagne verteidigt hat. Er sagt, dass die Militärpolizisten die Helden der Nation sind, dass die Militärpolizisten unterstützt werden müssen, dass sie Auszeichnungen bekommen sollten. Ein mögliches unrechtmäßiges Handeln eines Polizisten im Dienst wird von Bolsonaro völlig ausgeblendet. Es gibt Bereiche, die seit der Militärdiktatur immer illegal operiert haben, als Exekutionskommandos. Und jetzt hören sie diesen Diskurs, der ist natürlich Musik in ihren Ohren.

Sehen Sie auch eine finanzielle Verbindung von Milizionären und Politikern?
Es gibt Operationen der Milizionäre innerhalb des offiziellen politischen Systems. In Duque de Caxias existiert ein Zentralregister der staatlichen Liegenschaften. Es gibt Milizionäre, die im Grundbuch der Stadtverwaltung die Immobilien ermitteln, für die lange keine Grundsteuer gezahlt wurde. So ein Milizionär beginnt dann, die Grundsteuer zu bezahlen, verhandelt die Altschuld, und bittet dann darum, diese Immobilie auf seinen Namen zu überschreiben. Die Stadtverwaltung trägt ihn als Besitzer ein. Das ist ein ganz einfacher Vorgang. Und der eigentliche Eigentümer wird später niemals den Mut aufbringen, diese Immobilie zurückzuverlangen, weil sie jetzt mit Waffengewalt kontrolliert wird. Ohne diese direkte Verbindung zur staatlichen Struktur gäbe es die Milizen nicht in der Form, wie es sie heute gibt. Deshalb sage ich, das ist keine Parallelmacht – das ist der Staat.
Und es gibt Politiker, die mit dem so verdienten Geld gewählt werden. Das Geld der Milizen finanziert die Macht eines Politikers wie Flávio Bolsonaro und die Macht von Flávio Bolsonaro fördert die Einkünfte der Milizionäre. Es ist entscheidend, dass diese Struktur so funktioniert. Sie kann nur weiter bestehen, weil sie genau so ist.

Sind Fälle wie die der Mutter und Ehefrau von Adriano Magalhães de Nóbrega, die als Beraterinnen im Stab von Flávio Bolsonaro angestellt waren, üblich?
Ja, das ist ganz normal. Zwischen diesen Personen wird eine Macht- und Geldbeziehung aufgebaut. Der Milizionär stellt einen direkten persönlichen und familiären Kontakt mit Flávio Bolsonaro her. Dieser Kontakt gibt ihm in seiner Gemeinde Macht. Er wird dort bekannt als jemand, der Einfluss auf den Abgeordneten hat und den man ansprechen kann, wenn irgendetwas geregelt werden muss. So entsteht eine familiäre Machtstruktur. Und das ist genau das, wofür sich die Bolsonaros einsetzen: familiäre Strukturen. Und religiöse. Evangelikale Kirchen sind mit diesen Strukturen verbunden. Eine perfekte Verbindung: traditionell, konservativ, religiös, ein Diskurs mit hoher Glaubwürdigkeit.
Das zeigt, wie diese Menschen agieren. Adriano Nóbrega, Flávio Bolsonaro, Bolsonaro selbst, die Auftragsmörder dieser Region. In Brasilien agieren diese Gruppen, die mit Gewalt, Hinrichtungen, organisiertem Verbrechen zu tun haben, nicht im Verborgenen, sondern vor aller Augen. Sie sprechen ganz offen darüber, was sie machen, zu wem sie Verbindungen haben, welche Ämter sie besetzen, wen sie kennen. Damit allen klar ist, mit wem es jemand, der sich ihnen vielleicht widersetzen möchte, zu tun bekommt. All das basiert komplett auf Einschüchterung. Und es sind nicht nur leere Drohungen, sie machen sie auch wahr.

Was ihre politischen Möglichkeiten angeht: Haben sie sogar die Macht, bei Wahlen die Stimmen der Bevölkerung zu manipulieren?
Die Milizen verkaufen Stimmen ganzer Gemeinden in der Region im Paket. Sie haben eine genaue Übersicht der Wahlberechtigten, der Wahllokale der einzelnen Wähler und wissen, wie viele Stimmen dort jeweils abgegeben werden. Sie sind in der Lage festzustellen, wer nicht für ihren Kandidaten gestimmt hat.

Gibt es denn keine Maßnahmen, diese Strukturen zu zerschlagen?
Die Operation „Unberührbare” könnte eine Operation historischen Ausmaßes sein. Aber ich bin sehr kritisch, was solche Einsätze betrifft. Weil die Miliz ein sehr großes Netzwerk ist, kommen für jeden Verhafteten 100 Neue nach. Denn wenn man die ökonomische Struktur aufrechterhält, wird sie auch politisch weiter bestehen.
Niemand legt sich mit diesen Gruppen an. Normalerweise geht man nur den Drogenhandel an, was nicht der gefährlichste Teil ist. Die Milizen sind mächtiger als die Drogenhändler. Die Milizen werden gewählt, Drogenhändler lassen sich nicht wählen. Ich bin sicher, dass die Milizionäre zu einer anderen Klasse als die Drogenhändler gehören. Nicht so arm. Nicht so schwarz. Nicht so marginalisiert.

Der Fall Marielle Franco ist zurück ins Scheinwerferlicht gerückt, weil die verhafteten Milizionäre Mitglieder des „Verbrechensbüros” waren, das des Mordes an der Stadträtin verdächtigt wird. Letztes Jahr hat der Beauftragte für öffentliche Sicherheit in Rio gesagt, der Mord stünde im Zusammenhang mit Grundbuchfälschungen. Glauben Sie, dass sie ermordet wurde, weil sie die Geschäfte der Milizen störte?
Da gibt es zwei Aspekte. Marielle Franco hatte die Macht, den Milizen zu schaden, eine Untersuchung zu beantragen, die die Aufmerksamkeit des Staates und der Medien auf sie gelenkt hätte. Sie hatte eine unabhängige, integre politische Basis, die sie stützte. Sie war also eine Figur, die gefährlich werden konnte.
Der zweite Faktor ist, dass sie eine Frau mit einem ziemlich beeindruckenden Auftreten war, authentisch und nicht einzuschüchtern, die herausforderte und sich nicht unterordnete. Die Milizionäre ertragen solche Frauen nicht und wollen sie eliminieren. Das war der Fall bei Marielle, wie bei Patricia Acioli (Richterin, die für die Gefängnisstrafen von mindestens 60 Milizionären verantwortlich war, ermordet 2011, Anm. d. Red.). Da gibt es einen totalen Frauenhass: Sie akzeptieren nicht, dass eine Frau sie so behandelt.

 

“NO RIO DE JANEIRO A MILÍCIA NÃO É UM PODER PARALELO. É O ESTADO”

 Für die deutschsprachige Version hier klicken.


(Foto: Privada)

JOSÉ CLÁUDIO SOUZA ALVES

Sociólogo e ex-pró-reitor de Extensão da Universidade Federal Rural do Rio de Janeiro (UFRRJ), José Cláudio estuda as milícias há 26 anos. É o autor do livro “Dos Barões ao extermínio: a história da violência na Baixada Fluminense”. Em entrevista com a agência brasileira de jornalismo investigativo Agência Pública, ele explica a origem desses grupos e suas ligações com a política


 

Como nasceram as milícias do Rio de Janeiro?

Isso estourou na época da ditadura militar com muita força. Em 1967 surge a Polícia Militar nos moldes atuais de força ostensiva e auxiliar aos militares naquela época. E a partir daí há o surgimento dos esquadrões da morte. No final dos anos 1960, as milícias surgiram como grupos de extermínio compostos por Policiais Militares e outros agentes de segurança que atuavam como matadores de aluguel.

Esses esquadrões da morte vão estar funcionando a pleno vapor nos anos 1970. Depois começa a surgir a atuação de civis como lideranças de grupos de extermínio, mas sempre em uma relação com os agentes do Estado. Isso ao longo dos anos 1980. Com a democracia, esses mesmos matadores dos anos 1980 começam a se eleger nos anos 1990. Se elegem prefeitos, vereadores, deputados.

De 1995 até 2000, você tem o protótipo do que seriam as milícias na Baixada, Zona Oeste e no Rio de Janeiro. Elas estão associadas a ocupações urbanas de terras. São lideranças que estão emergindo dessas ocupações e estão ligadas diretamente à questão das terras na Baixada Fluminense. A partir dos anos 2000, esses milicianos já estão se constituindo como são hoje. São Policiais Militares, Policiais Civis, bombeiros, agentes de segurança, e atuam em áreas onde antes tinha a presença do tráfico, em uma relação de confronto com o tráfico. Mas ao mesmo tempo estabelecem uma estrutura de poder calcado na cobrança de taxas, na venda de serviços e bens urbanos como água, aterro, terrenos.

Há apoio da população às milícias?

A milícia surge com o discurso que veio para se contrapor ao tráfico. E esse discurso ainda cola. Só que com o tempo a população vai vendo que quem se contrapõe a eles, eles matam. E eles passam a controlar os vários comércios. Então a população já começa a ficar assustada e já não apoia tanto. É sempre assim a história das milícias.

Qual a história de Rio das Pedras?

Rio das Pedras é uma comunidade em expansão onde vivem nordestinos muito pobres. Existem terrenos lá que você não pode construir porque são inadequados, são muito movediços. Então só tem uma faixa específica de terra onde você pode construir. São terras irregulares, devolutas da União, ou terras de particulares que não conseguiram se manter naquele espaço. Então a milícia passa a controlar, toma e legaliza – às vezes até via Prefeitura mesmo, pagando IPTU desses imóveis. Como o sistema fundiário não é regulado, facilmente os milicianos têm acesso a informações e vão tomar essas áreas. E passam a vendê-las.

Rio das Pedras foi a primeira milícia do Rio?

Não é bem assim. Ao meu ver a milícia surgiu em diferentes lugares ao mesmo tempo, simultaneamente. Então tem Rio das Pedras, mas tem Zona Oeste do Rio e tem, por exemplo, Duque de Caxias, na Baixada Fluminense.

Eu percebo dos anos 1995 a 2000, grosso modo, um período de emergência dessas ocupações urbanas de terras, ainda não no protótipo de milícias, mas com lideranças comunitárias próximas ao que seria um controle pela violência, um controle político mais autoritário.

Só que Rio das Pedras ela emerge mais rapidamente. Então ali começa esse vínculo da cobrança de taxa, que nas outras ainda não tinha. E são os comerciantes que pagam a eles.

É uma comunidade miserável, empobrecida, que está se constituindo a partir de uma rede migratória de nordestinos. E ela fica diante de um grupo de milicianos que estão sendo chamados para dar proteção, impedir que o tráfico entre. Mas na verdade é para proteger os interesses comerciais desses lojistas que estão se instalado lá em Rio das Pedras e estão financiando esses caras.

Hoje são quantas as milícias do Rio de Janeiro?

Eu tenho noção que são muitas. Por exemplo, são várias que atuam em São Bento e no Pilar, que é o segundo maior distrito de Duque de Caxias. Tem em Nova Iguaçu, tem em Queimada. Praticamente cada município da Baixada Fluminense você tem a presença de milícias. Seropédica, por exemplo, hoje é uma cidade dominada por milicianos. Eles controlam taxas de segurança que cobram do comércio. Aqui tem os areais, de onde se extrai muita areia – e muitos são clandestinos. Então eles também cobram dali. Moto-táxi tem que pagar 80 reais por semana para funcionar. Pipoqueiro paga 50 reais por semana. É uma loucura.

Dizem que é para a segurança, proteção, eles estão supostamente protegendo esse comércio. Mas depois controlam a distribuição de água, de gás, de cigarro, de bebida. E há histórias de assassinato de gente que não aceitou, por exemplo.

Além disso, eles são pagos para fazer execuções sumárias. Então há um mercado que movimenta milhões já há algum tempo.

Eles também lidam com tráfico de drogas, com algumas facções especificas. O Terceiro Comando Puro funciona aqui em algumas cidades da baixada a partir de acordos com milicianos. Eles fazem acordo com o tráfico e vão ganhar dinheiro também disso. Cobram aluguel de áreas. É a mesma relação que a polícia tem com o tráfico: só funciona ali se você pagar suborno.

Na cobertura feita pelos jornais sobre a operação “Os Intocáveis”, eles citam o Escritório da Morte, um grupo de extermínio que é contratado para matar. Isso é comum?

Sim. Nunca ouvi falar de milícia que não tivesse a prática de execução sumária. Normalmente a milícia tem uma equipe ou um grupo responsável por execuções sumárias. O comerciante que não quiser pagar, o morador que não se sujeitar a pagamento do imóvel que ele comprou, qualquer negócio e discordância com os interesses da milícia, esse braço armado é acionado e vai matar.

A novidade da milícia é o leque de serviços que eles abrem além da execução sumária e da segurança. Aí é tudo: água, bujão de gás, “gatonet”, transporte clandestino de pessoas, terra, terrenos, imóveis. A milícia não fica agora fixa em grandes comerciantes ou grandes empresários. Ela pulveriza isso. Eles vão sofisticando também na administração do gerenciamento.

Em que outros negócios ilegais os milicianos atuam?

Lá em Duque de Caxias eles roubam petróleo dos oleodutos da Petrobras e fazem mini destilarias nas casas das pessoas. Tudo ilegal, com um risco imenso. Aí vendem combustível adulterado. Eles fazem aterros clandestinos no meio daquela região com dragas e tratores e vão enterrando o lixo de quem pagar. É mil reais por caminhão. Não importa a origem. Pode ser lixo contaminante, lixo industrial, lixo hospitalar. Eles fazem aterros clandestinos nesta região.

A milícia tem controle também sobre bens públicos, como aterros, e eles se apropriam desses espaços para fazer atividades ilegais…

A base de uma milícia é o controle militarizado de áreas geográficas. Então o espaço urbano, em si se transforma em uma fonte de ganho. Se você controla militarmente, com armas por meio da violência esse espaço urbano, você vai então ganhar dinheiro com esse espaço urbano. De que maneira? Você vende imóveis. Por exemplo, você tem um programa do governo federal chamado Minha Casa Minha Vida. Você constrói habitações. Aí a milícia vai e controla militarmente aquela área e vai determinar quem é que vai ocupar a casa. E inclusive vai cobrar taxa desses moradores.

Em outra área eles estão vendendo imóveis e estão ganhando dinheiro com essa terra, que é terra da União ou terra de particulares. Então esse controle militarizado desses espaços, é a base da milícia. Aí como eles sabem dessas informações? Eles sabem dentro da estrutura do Estado.

Você pode ter um respaldo político para fazer isso. Vou dar um exemplo para você. Em Duque de Caxias, um número razoável de escolas públicas não é abastecido pelo sistema de água da CEDAE. A água não chega lá. Como que essas escolas funcionam? Elas compram caminhões pipa de água. Quem é o vendedor? Quem é que ganhou a licitação para distribuição de água em um preço absurdo por meio desses caminhões pipa? Gente ligado aos milicianos. Então aí você tem um vínculo com os serviços públicos – e é uma grana pesada – e que passa pelo interesse político daquele grupo dentro daquela prefeitura que vai se beneficiar de uma informação e vai ganhar dinheiro com isso.

A Baixada e o Rio de Janeiro são grandes laboratórios de ilicitudes e de ilegalidades que se associam para fortalecer uma estrutura de poder político, econômico, cultural, geograficamente estabelecido e calcado na violência, no controle armado.

A milícia surgiu no Rio de Janeiro pela ausência do Estado?

Há uma continuidade do Estado. O matador se elege, o miliciano se elege. Ele tem relações diretas com o Estado. Ele é o agente do Estado. Ele é o Estado. Então não me venha falar que existe uma ausência de Estado. É o Estado que determina quem vai operar o controle militarizado e a segurança daquela área. Porque são os próprios agentes do Estado. É um matador, é um miliciano que é deputado, que é vereador, é um miliciano que é Secretário de Meio Ambiente.

Eu sempre digo: não use isso porque não é poder paralelo. É o poder do próprio Estado.

Eu estou falando de um Estado que avança em operações ilegais e se torna mais poderoso do que ele é na esfera legal. Porque ele vai agora determinar sobre a sua vida de uma forma totalitária. E você não consegue se contrapor a ela.


Quem mandou o vizinho do presidente matar Marielle? As milícias são os principais suspeitos (Foto: Mídia Ninja)

Mas, por outro lado, quem elege os políticos milicianos é a população….

Não venha dizer que o morador é conivente, é cúmplice do crime. Esse pessoal elegeu o Flávio Bolsonaro, que agora se descobriu que ele tem possivelmente vínculos com esses grupos? Elegeu. Mas que condições que essas pessoas vivem para chegar nisso? Essas populações são submetidas a condições de miséria, de pobreza e de violência que se impõem sobre elas.

Cinco décadas de grupo de extermínio resultaram em 70% de votação em Bolsonaro na Baixada.

Três gestões do PT no governo federal, 14 anos no poder, não arranharam essa estrutura. Deram Bolsa Família, vários grupos políticos se vincularam ao PT e se beneficiaram, mas o PT não alterou em nada essa estrutura. O PT fez aliança eleitoral, buscou apoio desses grupos.

Como você mencionou a história do Flávio Bolsonaro: o que liga o gabinete de um político a um miliciano, como foi no caso dele com a mãe e a esposa do Adriano Magalhães da Nóbrega?

O discurso da família Bolsonaro, a começar pelo pai já há algum tempo, e posteriormente o pai projetando nos filhos politicamente. Eles são os herdeiros do discurso de um delegado Sivuca [José Guilherme Godinho Sivuca Ferreira, eleito deputado federal pelo PFL em 1990], que é o cara que que cunhou a expressão “Bandido bom é bandido morto”, de um Emir Larangeira [eleito deputado estadual em 1990], do pessoal da velha guarda, do braço político dos grupos de extermínio.

Esse discurso se perpetuou e se consolidou. É claro que os milicianos vão respaldar esse discurso e vão se fortalecer a partir dele. É o plano de segurança pública defendida na campanha eleitoral do Bolsonaro. Ele diz o seguinte: Policiais Militares são os heróis da nação. Policial Militar tem que ser apoiado, respaldado, vai ganhar placa de herói.

E será respaldado pela lei, através do excludente de ilicitude. Está lá no programa do Bolsonaro. Então você tem setores que desde a ditadura militar sempre operaram na ilegalidade, na execução sumária, vão escutar esse discurso. É música para o ouvido deles.

Não é à toa que o Flávio Bolsonaro fez menções na Assembleia legislativa, deu honrarias para dois desses milicianos presos.

Para além desse discurso simbólico, você vê também uma ligação financeira dos milicianos com os políticos?

Você tem uma operação por dentro da estrutura oficial política. Por exemplo, em Duque de Caxias você tem registro geral de imóveis de terras que são da União. Tem milicianos que vão levantar no cadastro geral de imóveis da prefeitura, os imóveis que estão irregulares, sem pagamento há muito tempo de IPTU. Esse miliciano começa a pagar o IPTU, parcela a dívida, quita e pede para transferir para o nome dele aquele imóvel. A prefeitura transfere. É um processo simples isso. Aí depois aquele proprietário não vai ter nunca coragem de exigir aquele imóvel de volta, porque está controlado militarmente.

Sem esses elementos, sem esses indivíduos, sem essa conexão direta com a estrutura do Estado, não haveria milícia na atuação que ela tem hoje. É determinante. Por isso que eu digo, que não é paralelo, é o Estado.

E tem políticos que estão sendo eleitos com essa grana. A grana da milícia vai financiar o poder de um político como Flávio Bolsonaro e o poder político de um Flávio Bolsonaro vai favorecer o ganho de dinheiro do miliciano. Isso roda em duas mãos. É determinante então que essa estrutura seja assim. Ela só se perpetua porque é assim.

É comum casos como a mãe e a esposa de Adriano Magalhães de Nóbrega, que foram contratadas como assessoras no gabinete de Flávio Bolsonaro?

Sim. Isso é muito comum. Você cria um vínculo de poder e de grana com essas pessoas. Esse cara, a partir de sua esposa e de sua mãe, cria um vínculo imediato com o Flávio Bolsonaro e isso lhe dá força. Essas duas pessoas estão fazendo um elo imediato, pessoal, familiar do Adriano com Flávio Bolsonaro. Esse vínculo lhe dá poder naquela comunidade. Ele vai ser chamado agora na comunidade “Olha é o cara que tem um poder junto lá ao Deputado, qualquer coisa a gente resolve, fala com ele, que ele fala com a mãe e com a esposa e eles falam diretamente com o Flávio e isso é resolvido”.

Assim você está criando uma estrutura de poder que é familiar. Veja bem: é o que eles defendem. Eles [os Bolsonaro] defendem a estrutura familiar. E se você investigar um pouco mais vai ser religioso também. São igrejas evangélicas, eles têm vínculo com essa estrutura. Então é uma estrutura perfeita, ela é tradicional, conservadora, ela tem a linguagem religiosa, que é linguagem de grande credibilidade.

Isso também demonstra uma forma de atuar dessas pessoas. Eles não atuam pelo ocultamento. O Adriano, Flávio Bolsonaro, o próprio Bolsonaro, os matadores da Baixada. Todos esses grupos que lidam com a violência, com a execução sumária, com o crime organizado, eles não atuam com baixo perfil.

No Brasil o que você tem é a superexposição. Eu chego e já digo. “Eu sou o cara, eu sou o matador, eu tenho vínculos com fulano, beltrano e sicrano. Eu ocupo este cargo”. Que é pra deixar bem claro se você for tentar alguma coisa é isso que você vai enfrentar.

É a base total do medo. E não é só do medo: é real.

Sobre esse capital político, eles têm o poder inclusive de manipular o voto da população durante o período das eleições? Existe uma rede organizada para isso?

Na verdade, as milícias vendem votações inteiras de comunidade. Aqui na Baixada como um todo, Zona Oeste. Fecham pacote. Eles têm controle. Eles têm controle preciso de título de eleitor, local de votação de cada título de eleitor, quantos votos vai ter ali. Eles são capazes de identificar quem não votou neles.

Mas não está havendo ações de desmontagem dessa estrutura, como se viu em Rio das Pedras?

Assim, a Operação Intocáveis pode estar dentro de um perfil mais de uma operação mais histórica. Mas eu tenho sido muito crítico a esse tipo de operação. Como a milícia é uma rede, uma rede muito grande, para cada um preso você tem 100 para entrar no lugar. Porque se você mantém a estrutura funcionando, economicamente, politicamente ela vai se perpetuar.

Ninguém toca nesses caras. Em geral, só estão tocando no tráfico. E tráfico não é o mais poderoso. Milícia é mais poderosa do que o tráfico. Milícia se elege, tráfico não se elege. A base econômica da milícia está em expansão, não é tocada, não é arranhada. Traficante não, vive morrendo e sendo morto e matando. Milícia é o Estado.

Inclusive tem isso. Você olha para a cara dos milicianos presos, há uma tendência a serem brancos. Não há uma tendência a serem negros. Vai aparecer um ou outro no meio, um moreno, pardo. E não são magros, são bem alimentados. Eu tenho certeza que a classe à qual pertencem os milicianos é uma classe diferenciada da classe do tráfico. Não são tão pobres assim. Não são tão negros assim. Não são tão periféricos assim.

Para além desse vínculo político de poder existe também algum elo financeiro? Como que os milicianos movimentam dinheiro através dessas conexões com políticos? Qual era, por exemplo, o papel do Queiroz ali no Gabinete do Flávio Bolsonaro?

Ah sim, você viu que ele tem uma movimentação suspeita alta. Tem 7 milhões. Aí você vai por dedução. Pode ser que esse cara fazia uma ponte. Ele era um assessor, mas ao mesmo tempo ele cumpria duas funções. Ele ganha um respaldo político do Flávio Bolsonaro. Ele faz o elo direito da milícia com esse gabinete. Dos interesses dessa milícia e dos que são servidos por essa milícia direito com esse gabinete. Ao mesmo tempo ele cresce na estrutura da milícia.

Não sei qual é o histórico dele. Mas de repente ele já estava na estrutura da milícia e já movimentando dinheiro. Então, por exemplo, se ele for uma frente, um cara que está na organização, por exemplo, de cobrança de taxa de segurança, ele está movimentando dinheiro. Muito dinheiro. Aí de repente ele vai movimentar parte desse dinheiro dentro da sua conta pessoal. É uma estrutura de organização que ele criou. Então esses 7 milhões pode ser isso.

Isso também pode ser apenas uma transação entre várias?

Isso é uma ponta. Isso é uma ponta de um iceberg. O que eu gostaria muito é que se investigasse isso. Você chegaria em algo muito maior.

Sobre o caso da Marielle. O caso voltou aos holofotes essa semana porque os milicianos, que foram presos na operação “Os Intocáveis” integravam o Escritório do Crime, grupo suspeito de envolvimento na morte da Marielle. No final do ano passado, o secretário de Segurança Pública do Rio, Richard Nunes, afirmou que o assassinato teria relação com grilagem de terras. Você acha que a morte dela se deu porque ela atrapalhava os negócios dos milicianos?

Tem dois vínculos. Há esse vínculo de incomodar e prejudicar o interesse deles. Ela tinha poder para prejudicar, puxar uma CPI, exigir uma investigação para obrigar o Estado e a mídia como um todo a se voltar para isso. Se ela reproduzisse o que o Marcelo Freixo fez em 2008, dentro da Câmara dos Vereadores do Rio de Janeiro, ela daria essa expressão. Ela tinha o respaldo do Marcelo, então há uma base política que sustenta Marielle, uma base não comprometida, não vendida. Então ela é uma figura que ameaça.

E o outro elemento é ela ser mulher. E ela ser uma mulher de uma atuação bastante intensa, verdadeira e não amedrontável. Ela encarava, enfrentava. Ela nunca se subordinou. E eles não suportam mulheres com esse perfil, essa é a verdade.

Marielle Franco, Patrícia Acioli, que foi assassinada também, e Tânia Maria Sales Moreira que foi promotora aqui em Duque de Caxias que era jurada de morte, mas morreu de câncer. Essas três, elas têm esse perfil. São mulheres com muita coragem, muita determinação, muita verdade do lado delas, elas não se subordinam, não se submetem. Esse tipo de mulher esses caras não suportam. Eles vão eliminar. Há uma misoginia total aí que eles não aceitam que qualquer mulher os trate assim.

Desde o início eu cantei a pedra: quem matou são grupos de extermínio e estão muito associados a milicianos. É a prática desses grupos.

 

ASSASSINATO MARIELLE FRANCO: UM LABIRINTO DE PERGUNTAS SEM RESPOSTAS

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(Ilustração: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

 

Marielle Franco foi brutalmente executada com quatro tiros na cabeça ao sair de um evento no centro do Rio de Janeiro, em 14 de março de 2018. Com ela, também foi assassinado o motorista de seu carro, Anderson Gomes. Ela era uma defensora dos direitos humanos, cujo ativismo, principalmente em prol de jovens negros e da comunidade LGTBI, rendera-lhe a posto de quinta vereadora mais bem votada.

Em 2019, os assassinatos completaram um ano. Pouco antes de sua morte, Marielle Franco denunciava execuções extrajudiciais cometidas por policiais e agentes do estado nas favelas do Rio de Janeiro. Ela foi relatora da Comissão Representativa da Câmara dos Vereadores, cujo objetivo é monitorar a intervenção federal na segurança pública do estado.

Em detalhes, a arma que matou Marielle Franco foi uma submetralhadora alemã Heckler&Koch. Um modelo HK MP5, de calibre 9mm, de alta precisão e que não costuma ser apreendido facilmente – é uma arma utilizada pelas forças de elite da polícia no Rio de Janeiro.

Pergunta-se como uma arma do arsenal da polícia terá chegado às mãos dos assassinos? Inquéritos sugerem milícias do estado do Rio de Janeiro como possíveis responsáveis pelo crime. Entretanto, mesmo depois de um ano da morte da vereadora e de seu motorista, as investigações mais parecem um labirinto de muitas perguntas sem respostas.  

Confirmada pelo secretário de segurança do Rio de Janeiro em dezembro, a linha de investigação mais aceita é a de que Marielle Franco teria sido morta por milicianos envolvidos na grilagem de terras na zona oeste do estado do Rio de Janeiro. Acredita-se que os criminosos poderiam temer a ação da vereadora de conscientizar os moradores daquela área sobre a usurpação de terras.

O inquérito também aponta alvos de prisões como líderes do grupo “Escritório do Crime”. Segundo veiculado pela imprensa brasileira, a morte de Franco poderia ter custado R$ 200 mil, embora supõe-se que assassinatos cobrados pelo grupo possam chegar a R$ 1 milhão.

Até agora, pelo menos cinco pessoas já foram detidas no caso que investiga a morte da vereadora e de seu motorista. Entre os detidos, um antigo tenente reformado é apontado como chefe da milícia. Outro investigado, o ex-capitão Adriano Magalhães da Nóbrega, do grupo de elite da polícia carioca, o Bope, está foragido.

 

 

 

 

 

 

“Memória de uma guerreira que não se apaga.” Murais no Rio lembram Marielle Franco (Foto: Dominik Zimmer)

 

Já no primeiro mês de Governo, a reputação política do conservador clã Bolsonaro viu-se estremecida: investigações apontaram um possível elo entre o assassinato da vereadora Marielle Franco e o filho do presidente Jair Bolsonaro (PSL). E esse elo teria um nome: Adriano Magalhães da Nóbrega.

Segundo largamente veiculado pela imprensa brasileira em janeiro, o gabinete do ex-deputado e senador eleito Flávio Bolsonaro (PSL-RJ), filho do presidente, empregou, até novembro de 2018, a mãe e a mulher do ex-policial Nóbrega, tido pelo Ministério Público do Rio como um cabeça da milícia “Escritório do Crime”. A mesma organização apontada pelas investigações como possível responsável pelo assassinato de Marielle Franco.

Adriano Magalhães da Nóbrega, que está foragido, seria amigo do ex-assessor de Flávio Bolsonaro, Fabrício Queiroz, investigado sob suspeita de recolher parte dos salários de funcionários do político, uma prática ilegal e alvo investigações; reportou o Jornal o Globo. Ainda segundo o veículo, a mãe do ex-policial, Raimunda Veras Magalhães, teria sido uma das servidoras que faziam repasses à conta de Queiroz.

Pormenores da investigação do assassinato de Marielle Franco e do motorista Anderson Gomes, descritos em um relatório recente da Anistia Internacional Brasil, revelam que Marielle Franco foi morta com quatro disparos na cabeça, de ao todo 13.

A munição, de calibre 9mm, original, teria sido usada pela primeira vez e era parte de um lote da polícia federal. O lote denominado UZZ-18 teria sido vendido pela empresa Companhia Brasileira de Cartuchos (CBC) à polícia federal em 2006.

Trata-se de uma empresa Estratégica de Defesa, e uma das maiores fabricantes de munição do mundo. A CBC é controladora da empresa Taurus. Em dezembro de 2018, o Jornal brasileiro Folha de São Paulo reportou que o Tribunal de Justiça do Rio de Janeiro bloqueou ações ordinárias da CBC sob acusação de que seu dono, o empresário Daniel Birmann, tenha criado empresas, algumas em paraísos fiscais, para esconder ativos.

Já o lote vendido pela CBC, o UZZ-18, teria sido desviado dos Correios no estado da Paraíba, em 2009 – segundo informou o ministro da Segurança Pública brasileiro, citado pela Anistia Internacional.

Os Correios, por sua vez, afirmam não haver registro do incidente. Sabe-se, porém, que armas do mesmo lote teriam sido usadas, em 2015, em uma chacina em São Paulo, nas regiões de Osasco e Barueri, quandfo 20 pessoas foram mortas, possivelmente, com a participação de policiais do mesmo grupo de extermínio que matou a vereadora carioca.

Embora digitais dos assassinos da vereadora e seu motorista tenham sido encontradas nas cápsulas, o inquérito não revela de quem são estas pessoas. Além disso, não está claro como o lote de munições foi extraviado da polícia federal, e por quem.

Se o rastro das munições usadas para matar Marielle Franco e seu motorista Anderson Gomes é obscuro por suas características, fatos e alegadas personagens, também a venda de armas pela empresa alemã Heckler & Koch ao Brasil é um tema controverso.

O ativista alemão Jürgen Grässlin estima que a cada 13 minutos em média uma pessoa tenha morrido no mundo por uma arma H&K desde a fundação da empresa, em 1949. “Segundo as regras anunciadas pela empresa em 2016, a empresa alemã não deveria mais tentar fazer negócios no Brasil”, disse Grässlin à emissora Deutsche Welle, em maio de 2018.

A Alemanha está entre os cinco maiores exportadores de armas do mundo, um setor que emprega pelo menos 50 mil pessoas neste país.

Para além das questões éticas que envolvem a comercialização de armas entre Alemanha e Brasil, questiona-se como essas armas teriam chegado às mãos dos criminosos. Questiona-se os detalhes do crime e os reais envolvidos, e nada se sabe sobre culpados. Enquanto isso, morte de Marielle Franco segue como um elo perdido, em um labirinto de perguntas sem respostas.

 

ZWEI MORDE UND EIN LABYRINTH UNBEANTWORTETER FRAGEN

Para ler em português, clique aqui.

(Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

Die Waffe, die Marielle Franco tötete, war eine HK MP5 von Heckler & Koch. Die Aktivistin wurde mit vier Kopfschüssen brutal hingerichtet, als sie am 14. März 2018 eine Veranstaltung im Zentrum von Rio de Janeiro verließ. Gemeinsam mit ihr wurde ihr Fahrer, Anderson Gomes, getötet. Seit mehr als zehn Jahren war sie Verteidigerin der Menschenrechte gewesen, vor allem für junge Schwarze und Angehörige der LGBTI*-Gemeinschaft, und wurde so zur fünft meist gewählten Stadträtin des Bundesstaates. Der Mord an der brasilianischen Stadträtin Marielle Franco wäre eine gute Handlung für eine Fernsehserie: die potentielle Beteiligung von Milizen, brutale Auftragsmorde und außerdem mutmaßliche Verbindungen zu hochrangigen Politiker*innen, nämlich zum Sohn des Präsidenten. Aber es ist vor allem eine Geschichte, in der sich Fiktion und Realität vermischen und es keine Grenzen gibt.

Im März 2019 jähren sich die beiden Morde. Kurz vor ihrem Tod hatte Marielle Franco außergerichtliche Hinrichtungen angeprangert, die von Polizei- und Staatsbeamt*innen in den Favelas von Rio de Janeiro durchgeführt wurden. Sie war Berichterstatterin für die Vertreter*innenkommission des Stadtparlaments geworden, deren Ziel es ist, das Eingreifen des Bundes in die öffentliche Sicherheit des Bundesstaates zu überwachen.
Marielle Franco wurde durch ein deutsches Maschinengewehr von Heckler & Koch getötet. Das Modell HK MP5, neun Millimeter Kaliber, hat eine hohe Präzision und wird für gewöhnlich nicht bei Bandit*innen in Brasilien beschlagnahmt. Es ist eine Waffe, die normalerweise von den Eliteeinheiten der Polizei von Rio de Janeiro verwendet wird.Wenn es eine Waffe aus dem Waffenarsenal der Polizei war, wie kam dann die HK MP5, die Franco getötet hat, in die Hände der Mörder*innen? Ermittlungen zufolge sind Milizen aus dem Bundesstaat Rio de Janeiro mögliche Verantwortliche für das Verbrechen. Doch auch ein Jahr nach der Ermordung der Stadträtin und ihres Fahrers ähneln die Ermittlungen eher einem Labyrinth unbeantworteter Fragen.

Die Ermittlungsrichtung, welche von der Politik am ehesten unterstützt und bereits vom Ministerium für Sicherheit von Rio de Janeiro im Dezember letzten Jahres bestätigt wurde, ist jene, dass Marielle Franco möglicherweise von Milizen getötet wurde, die von Landnahmen im Westen des Bundesstaates Rio de Janeiro profitieren. Der Sekretär und General Richard Nunes sagte der brasilianischen Presse im Dezember, dass Kriminelle möglicherweise die Arbeit der Stadträtin gefürchtet hätten. Franco hatte vor, die Bewohner*innen dieses Gebietes für die unrechtmäßige Aneignung ihres Landes zu sensibilisieren. Darüber hinaus wurden im Ermittlungsverfahren Haftbefehle erlassen, zum Beispiel gegen Anführer*innen der Gruppe Escritório do Crime. Die sollen ein Ableger der auf Auftragsmorde spezialisierten Miliz sein. Ihre Mitglieder sind ehemalige Polizist*innen, Elitekiller*innen, die handeln, ohne Spuren zu hinterlassen. Francos Tod soll 200.000 Reais, umgerechnet 47.000 Euro, gekostet haben, wobei von der Gruppe verübte Morde bis zu einer Million Reais, umgerechnet 235.000 Euro, kosten können. Bisher wurden mindestens fünf Personen in Verbindung mit der Ermordnung der Stadträtin und ihres Fahrers verhaftet. Unter den inhaftierten Mitgliedern der Militärpolizei befindet sich auch ein ehemaliger Leutnant im Ruhestand, der Chef der Miliz sein soll. Ein weiterer Verdächtiger befindet sich derzeit auf der Flucht: Es ist der ehemalige Kapitän Adriano Magalhães da Nóbrega aus der polizeilichen Eliteeinheit „Bope“ in Rio de Janeiro.


 “Eine kriegerische Erinnerung, die nicht erlischt” Murales in Rio erinnern an Marielle Franco (Foto: Dominik Zimmer)

Das politische Ansehen des umstrittenen und konservativen Bolsonaro-Clans wurde bereits im ersten Monat der Regierung erschüttert: Die brasilianische Presse berichtete, dass Untersuchungen einen möglichen Zusammenhang zwischen der Ermordung von Stadträtin Marielle Franco und dem Sohn von Präsident Jair Bolsonaro aus der PSL Partei ergeben hätten. Diese Verbindung habe einen Namen: Adriano Magalhães da Nóbrega. Wie brasilianische Medien im Januar ausführlich berichteten, beschäftigte das Büro des ehemaligen Abgeordneten und gewählten Senators Flávio Bolsonaro, Sohn des Präsidenten, bis November 2018 die Mutter und die Frau des ehemaligen Polizisten Nóbrega. Die Staatsanwaltschaft in Rio de Janeiro bezeichnete Nóbrega als Kopf der Miliz „Escritório do Crime“. Dabei handelt es sich um die gleiche Organisation, die bei den Ermittlungen als mutmaßlich verantwortlich für die Ermordung von Marielle Franco gemacht wird. Die Tageszeitung O Globo berichtet, dass der sich auf der Flucht befindende Adriano Magalhães da Nóbrega ein Freund von Flávio Bolsonaros ehemaligem Berater Fabrício Queiroz sei. Dieser stehe im Verdacht, so heißt es weiter, die Mitarbeiter*innengehälter des Politikers einzuziehen. Wegen dieser mutmaßlichen Taten laufen aktuell Ermittlungen gegen ihn. Laut dem Bericht war die Mutter des ehemaligen Polizisten, Raimunda Veras Magalhães, außerdem eine der Mitarbeiter*innen, die Überweisungen auf das Konto von Queiroz tätigten. Amnesty International Brasilien hat kürzlich einen Bericht veröffentlich, in dem die Einzelheiten der Untersuchung des Mordes an Marielle Franco und ihrem Fahrer Anderson Gomes dokumentiert werden. Der Bericht zeigt, dass Marielle Franco mit vier Kopfschüssen, von insgesamt 13 Schüssen, getötet wurde. Die Originalmunition, mit neun Millimeter Kaliber, wurde zum ersten Mal verwendet und war Teil einer Charge, welche normalerweise die brasilianische Bundespolizei verwendet.

Die Charge mit dem Namen UZZ-18 sei 2006 von dem Unternehmen Companhia Brasileira de Cartuchos (CBC) an die Bundespolizei verkauft worden, heißt es in dem Bericht weiter. Es handelt sich bei dem Unternehmen um einen der größten Munitionshersteller der Welt, das der „strategischen Verteidigung“ dient. CBC ist die Konzernmutter der Firma Taurus. Im Dezember 2018 berichtete die brasilianische Zeitung Folha de São Paulo, dass der Gerichtshof von Rio de Janeiro Aktiengeschäfte von CBC blockiert habe. Denn es besteht der Verdacht, dass der Unternehmenschef, Daniel Birmann weitere Unternehmen gegründet habe, einige davon in Steueroasen, um Vermögenswerte geheim zu halten. Wiederum sei die von CBC verkaufte Charge, die UZZ-18, 2009 von der Post des Bundesstaates Paraíba abgezweigt worden, zitiert Amnesty International den brasilianischen Minister für Sicherheit. Die Post erklärte, dass der Vorfall nicht dokumentiert sei. Es ist jedoch bekannt, dass Waffen derselben Charge im Jahr 2015 bei einem Massaker in São Paulo in den Regionen Osasco und Barueri eingesetzt wurden. 20 Menschen wurden bei den Vorfällen getötet. Möglicherweise waren daran Polizist*innen eben jener Killereinheit beteiligt, die auch die Stadträtin aus Rio de Janeiro getötet hat. Obwohl die Fingerabdrücke der möglichen Mörder*innen der Stadträtin und ihres Fahrers auf den Patronenhülsen gefunden wurden, gibt es in den Ermittlungen bisher keinen Hinweis darauf, wer diese Personen sind. Außerdem ist nicht klar, wie die Munitionscharge der Bundespolizei abhanden gekommen ist – und durch wen. Genauso, wie die Spur der verwendeten Munition, mit der Marielle Franco und ihr Fahrer Anderson Gomes getötet wurden, durch ihre Charakteristika, Fakten und beteiligte Personen unklar ist, so ist auch der Verkauf von Waffen der deutschen Firma Heckler & Koch nach Brasilien ein umstrittenes Thema.

Der in Deutschland lebende Aktivist Jürgen Grässlin untersucht seit Jahrzehnten die deutsche Firma Heckler & Koch. Grässlin schätzt, dass seit der Gründung des Unternehmens im Jahr 1949 durchschnittlich alle 13 Minuten ein Mensch auf der Welt durch eine dieser Waffen stirbt.
Nach dem Skandal der illegalen Waffenlieferungen nach Mexiko (siehe S. 22), die zum Tod mehrerer unschuldiger junger Menschen führten, kündigte das Unternehmen 2016 neue Regeln an, die auch einen Handelsstop mit Ländern mit niedrigem Demokratieindex beinhalteten. „Nach den vom Unternehmen 2016 angekündigten Regeln dürfte Heckler&Koch nicht mehr versuchen, in Brasilien Geschäfte zu machen“, sagte Grässlin der Deutschen Welle im Mai 2018. Brasilien scheint jedoch nicht unter den Ländern zu sein, mit denen Heckler & Koch in den letzten Jahren seinen Waffenvertrieb vermieden hat. Laut demselben Artikel der Deutschen Welle belegt der Jahresbericht des deutschen Waffenherstellers, dass zwischen Januar und April 2017, 37 Waffenexporte nach Brasilien stattfanden. Das Geschäftsvolumen der Exporte beträgt mehr als zehn Millionen Euro. Ein vielleicht für die deutsche Regierung ausreichendes Argument, die Exporte nach Brasilien einzuschränken, wäre, dass das lateinamerikanische Land laut der kürzlich veröffentlichten Studie Atlas de Violência des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung (IPEA) eine 30 Mal höhere Mordrate hat als Europa. Deutschland ist einer der fünf größten Waffenexporteure der Welt und beschäftigt mindestens 50.000 Personen in dieser Industrie.

Neben allen Kontroversen um den Namen der Firma Heckler & Koch und darum, wie eine Schusswaffe eingesetzt werden soll, damit Töten „ethisch vertretbar“ wird, definiert das Rüstungsunternehmen für seinen Waffenhandel „compliance standards“. „Unlauteres oder unethisches Verhalten gefährdet den Erfolg unseres Unternehmens bis hin zum Existenzrisiko“, heißt es dazu auf der Unternehmenswebseite. Geht man davon aus, dass die Waffe HK MP5 der Marke Heckler & Koch, die Marielle getötet hat, aus ethischen Gründen nicht in einem Land wie Brasilien kursieren darf, dessen Mord- und Kriminalitätsraten seit Jahrzehnten die Nachrichten prägt, bleibt die Frage: Warum gelangte die Waffe dann dorthin? Aber es ist nur eine der vielen Fragen, für die Menschenrechtsaktivist*innen versuchen, Antworten zu finden. Für die, wie im Fall von Marielle Franco, nur Spuren des Verbrechens in ein Labyrinth unbeantworteter Fragen führen.

“TOT KANN ICH NUR WENIG AUSRICHTEN”

Foto: Lea Fauth

Jean Wyllys
zog 2010 als erster offen schwuler Abgeordneter für die Linkspartei PSOL ins brasilianische Parlament ein. Wegen Morddrohungen entschied er sich Ende Januar, sein Land zu verlassen.


Ende Januar haben Sie aus dem Urlaub angekündigt, nicht wieder nach Brasilien zurückzukehren und Ihr Mandat als Abgeordneter aufzugeben. Was war der Grund?
Ich bin ins Exil gegangen, weil ich schon lange Morddrohungen erhalten hatte. Eine Zeit lang glaubte ich, dass diese Drohungen mich nur einschüchtern und zum Schweigen bringen sollten. Bis am 14. März 2018 eine Freundin und Parteigenossin von mir, die erst kurz vorher in den Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt worden war, auf barbarische Art und Weise hingerichtet wurde.

…die Aktivistin und Politikerin Marielle Franco…
Genau. Mir und meinen Parteigenossen wurde damit klar, dass die Drohungen nicht nur eine Form der Einschüchterung sind. Zusätzlich zu den Drohungen per Telefon und E-Mail wurde ich das Ziel einer Diffamierungskampagne. Wenn man immer wieder erklärt, dass ein offen homosexueller Abgeordneter pädophil ist oder sich für Pädophilie stark macht, dann verwandelt man ihn in einen öffentlichen Feind – in jemanden, der ermordet werden muss.

Was wurde noch behauptet?
Die größte Falschnachricht, die während der zweiten Wahlrunde in Umlauf ging, betraf auch mich. Die Rechten haben sich ausgedacht, ich hätte als Abgeordneter ein „schwules Kit“ erfunden und ich würde Erziehungsminister werden. Dieses Kit würde dann als Unterrichtsmaterial an den Schulen des Landes verteilt werden, um Kinder dazu zu erziehen, schwul oder lesbisch zu werden. Es hieß, dass es auch in Kindergärten und Kinderkrippen verteilt werden würde und dass es Babyflaschen in Form eines Penis geben würde. Dass die Mehrheit der Bevölkerung auch aufgrund solcher Lügen für den faschistischen Jair Bolsonaro gestimmt hat, zeigt, dass sie auch daran glauben will. Homosexuelle in Machtpositionen in Brasilien werden gehasst. Nachdem der Präsidentschaftskandidat Bolsonaro solche Dinge öffentlich gesagt hatte, haben sich die Leute erst recht dazu berechtigt gefühlt, auch so etwas zu sagen und vor allem, physische Gewalt gegen andere anzuwenden.

Wie fühlt es sich an, permanent bedroht zu sein?
Ganz normale Dinge, wie ins Kino oder in ein Restaurant gehen, waren für mich nicht mehr möglich. Ich habe in ständiger Angst gelebt, wie in einem privaten Gefängnis. Früher hat mich meine Offenheit gegenüber anderen Personen ausgezeichnet. Das letzte Mal, als ich einen Menschen auf der Straße anlächelte, bezeichnete mich diese Person als „Hurensohn“ und „Pädophilen“.

Wer steckt hinter den Fake News und den Morddrohungen gegen Sie?
Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen denen, die mir drohen und Fake News produzieren, und der Familie Bolsonaro. Bolsonaro war schon seit vielen Jahren Abgeordneter, als ich in den Kongress einzog. Er hat es geschafft, seine drei Söhne im Parlament zu platzieren. Es gibt also eine einzige Familie mit vier Personen, die die Institutionen dazu nutzen, mich zu diffamieren. Im brasilianischen Strafrecht wird man für Beleidigung, Verleumdung oder Diffamierung belangt – es gab also ein legales Instrument für die demokratischen Institutionen, diese Lawine von Lügen und Drohungen gegen mich aufzuhalten. Aber es wurde überhaupt nichts getan. Es gibt nämlich eine gesellschaftliche und institutionelle Homophobie. Das Leben einer LGBTQI*-Person ist nichts wert, auch mein Leben war nichts wert. Ich habe das viele Jahre lang erlebt und meine eigenen Strategien entwickelt, damit umzugehen und mich zu verteidigen. Aber ich habe es nicht geschafft, die Masse von Angriffen aufzuhalten. Vor Kurzem deckten Medien zudem auf, dass die Familie Bolsonaro enge Verbindungen zu den Milizen hat, die Marielle Franco ermordet haben. Bolsonaros Sohn hat in seinem Kabinett die Frau und die Mutter eines Kriminellen angestellt, der der Hauptverdächtige in diesem Fall ist. Er soll das Maschinengewehr bedient haben, aus dem die Salve kam, die den Körper meiner Freundin zerfetzt hat. Sie können sich vorstellen, dass es in Brasilien keinen Raum mehr für mich geben kann, um meine politische Arbeit fortzusetzen. Es würde meinen Tod bedeuten. Und ich würde nicht nur sterben, sondern mein Tod würde mit Fake News auch gerechtfertigt werden.

Aber ist es nicht ein Sieg der Ultrarechten und von Bolsonaro, dass Sie ins Exil gegangen sind und zum Schweigen gebracht wurden?
Die Rechten glauben, dass sie mich zum Schweigen gebracht haben. Ich bin aber weggegangen, um zu leben. Wir brauchen keine weiteren Märtyrer. Wenn ich tot bin, kann ich nur wenig ausrichten. Dann wäre es wirklich vorbei. Von außen kann ich weiterhin eine Stimme sein. In diesem Sinne ist es nicht unbedingt ein Sieg für sie, denn tatsächlich habe ich sie mit dieser Entscheidung überrascht: Ich habe mich zurückgezogen und damit eine Nachricht an die Welt gesendet.

Nun sind Sie im Ausland. Werden Sie weiter bedroht?
Ja, seit ich meine Entscheidung bekannt gegeben habe, wurden neue Drohungen gegen mich und meine Familie veröffentlicht. Und es wurden auch neue Fake News in die Welt gesetzt. Seit meinem Gang ins Exil wird gesagt, dass ich mit dem Mann liiert bin, der einen Anschlag auf Bolsonaro verübt und einen Finanzbetrug begangen hätte und deshalb das Land verlassen hätte. Brasilien befindet sich in einer Art kollektiven Hysterie, in einem Anfall von Dummheit: Alles, was bei WhatsApp auf den Smartphones erscheint, wird geglaubt.

Sie leben jetzt seit einigen Wochen in Europa. Aus Brasilien erreichen uns fast täglich neue Schreckensmeldungen. Wie gehen Sie damit um?
Ich benutze im Moment keine sozialen Medien – denn die haben meiner emotionalen Gesundheit schwer geschadet. Ich muss mich für einige Zeit von den furchtbaren Dingen fernhalten, die über mich geschrieben werden. Ich muss mich sammeln – um dann mit mehr Stärke zurückzukehren. Aber es ist sehr traurig, weit weg von meinem Land zu sein und meine Arbeit als Abgeordneter nicht machen zu können. Brasilien durchlebt seine schlimmsten Tage. Dass ich gezwungenermaßen weit weg von meinen Freunden und meiner Familie bin und alleine weinen muss, ist furchtbar.

 

MACHT, MEUTE UND MILIZEN

(Foto: Senado Federal /Flickr CC bY 2.0)

Nur zwei Tage ist die Regierung Bolsonaro im Amt und schon hagelt es Nominierungen, Rückzüge von Nominierten, Ankündigungen des Präsidenten, der zwanzig Minister und zwei Ministerinnen, Rücknahmen von Ankündigungen, sich widersprechende Statements verschiedener Regierungsmitglieder, Dekrete, Reform- und Gesetzesvorlagen – ein wahrer Hagelsturm schlechter Nachrichten für Demokratie und Menschenrechte.

Auch einen ersten echten Skandal gab es bereits am Tag 18 der Präsidentschaft: War Bolsonaro im Wahlkampf immer mit seinen beiden Söhnen Flávio und Eduardo als Kämpfer gegen die Korruption aufgetreten, werden nun anonyme Bareinzahlungen auf das Konto von Flávio in seiner Zeit als Abgeordneter in Rio de Janeiro untersucht. Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen seinen ehemaligen Berater, Fabrício Queiroz, wegen ungewöhnlicher Finanztransaktionen, eine davon ging an die neue First Lady. Doch es kommt noch schlimmer: Fabrício Queiroz hat Verbindungen zum mutmaßlichen Auftragsmörder der linken Stadtverordneten Marielle Franco, der aus den sogenannten „Milizen“ stammt. Aktuell werden auch Verbindungen von Flávio Bolsonaro zu den Milizen bekannt. Und dieser verschiebt erfolgreich seine Aussage zu Queiroz auf nach dem 1.2.2019, wenn er als Senator bereits parlamentarische Immunität genießt.

Mit Jean Wyllys (PSOL) hat am 24. Januar offiziell der erste linke Abgeordnete des Kongresses das Land verlassen. Der offen schwule Aktivist erhielt zuletzt so massive Todesdrohungen, dass er – im Gegensatz zu einem offiziellen Statement der Regierung – um sein Leben fürchten musste. Der Präsident twitterte sofort: „ein großer Tag“, was allgemein als Verhöhnung von Wyllys aufgefasst wurde. Weniger spektakulär, aber nicht weniger bedrohlich ist die zunehmende Gewalt auf dem Land und in den indigenen Gebieten. Die „Inwertsetzung“ Amazoniens ist ein zentrales Projekt der Regierung Bolsonaro. Sie wurde propagandistisch vorbereitet und wird jetzt durch Repression und nackte Gewalt, eine Schwächung indigener und Umweltschutz-Organisationen, Gesetze und Investionen in die Wege geleitet. Bei so etwas immer gerne mit dabei: große deutsche Unternehmen, die die Amtsübernahme Bolsonaros sehr positiv beurteilten.

Vier kurze Artikel loten auf den folgenden Seiten die Abgründe der brasilianischen Politik unter Bolsonaro aus. „Es ist die Zeit des Trauergesangs auf die Neue Republik“ Brasiliens, wie der bekannte Philosoph Vladimir Safatle vor wenigen Tagen feststellte…

 

IM SUMPF VON KORRUPTION UND MAFIA

Clan im Blick Flavio Bolsonaro (links im Bild) und sein Vater Jair Bolsonaro (ganz weit rechts), (Foto: Jeso Carneiro/Flickr (CC BY-NC 2.0)

Jair Bolsonaro kam vor allem mit dem – für viele heuchlerischen – Versprechen an die Macht, dass er die Korruption bekämpfen werde. Weniger als einen Monat an der Regierung wird gegen seinen Sohn wegen verdächtiger Bankgeschäfte ermittelt. Außerdem wird eine Verbindung zu dem Tod der linken Stadträtin Marielle Franco vermutet, die im März 2018 erschossen wurde. Der Skandal begann mit Veröffentlichungen in den brasilianischen Medien, dass auf dem Konto von Flávio Bolsonaro, Abgeordneter des Bundesstaates Rio de Janeiro und designierter Senator, ungewöhnliche Geldeinzahlungen verzeichnet wurden. Dieser erhielt in nur einem Monat – zwischen Juni und Juli 2017 – innerhalb von fünf Tagen 48 Bareinzahlungen, immer über denselben Betrag von 2.000 Reais (umgerechnet 460 Euro). Laut eines Berichts der Staatlichen Behörde für die Kontrolle von Finanzaktivitäten (COAF), die dem brasilianischen Wirtschaftsministerium untersteht, konnten die Urheber der Einzahlungen nicht identifiziert werden. Allerdings vermutet die COAF aufgrund der Merkmale der Einzahlungen, dass Bolsonaros Sohn versucht haben könnte, den Ursprung von 96.000 Reais (umgerechnet 22.240 Euro) zu verschleiern.

Die Informationen wurden am 18. Januar in der landesweiten Hauptnachrichtensendung Jornal Nacional veröffentlicht und führten zu einer Krise, die die kürzlich gewählte Regierung erschütterte. Es besteht der Verdacht, dass Beamte aus den Abgeordnetenbüros der Gesetzgebenden Versammlung von Rio de Janeiro einen Teil ihrer Gehälter zurückgezahlt haben, eine Praxis, die als illegal angesehen wird. Eine weitere Vermutung ist, dass Fabrício Queiroz, Militärpolizist und ehemaliger Berater von Flávio Bolsonaro, für das Eintreiben eines Teils der Gehälter anderer Berater aus dem Abgeordnetenbüro von Flávio Bolsonaro verantwortlich war.  Die Staatsanwaltschaft ermittelt seit etwa sechs Monaten gegen Queiroz wegen Geldwäsche. Im Oktober 2018 wurde er aus dem Büro von Flávio Bolsonaro entlassen. Im Rahmen der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Rio de Janeiro wurde Queiroz für eine ungewöhnliche Finanztransaktion von 1,2 Millionen Reais zwischen 2016 und 2017 verantwortlich gemacht. Eine der Transaktionen betrifft Schecks in Höhe von 24.000 Reais (5.560 Euro), die an die neue First Lady, Michelle Bolsonaro, gingen. Flávio Bolsonaro muss sich als neu gewählter Senator jedoch keinem Gerichtsverfahren unterziehen. Seine Rolle wird in einer internen Untersuchung der Staatsanwaltschaft Rios – dem so genannten Kriminalermittlungsverfahren (PIC) zur Untersuchung möglicher Rechtsverstöße – geklärt.

Laut Untersuchungen der Staatsanwaltschaft von Rio de Janeiro war der ehemalige Polizeibeamte Adriano Magalhães da Nóbrega das mögliche Bindeglied zwischen der Ermordung der Stadträtin Marielle Franco und Flávio Bolsonaro. Das Büro des Abgeordneten Bolsonaro beschäftigte bis November 2018 die Mutter und die Frau von Nóbrega, den die Staatsanwaltschaft Rio als Kopf der Miliz „Escritório do Crime“ betrachtet, die des Mordes an Marielle Franco verdächtigt wird. Laut der Tageszeitung Jornal o Globo ist Nóbrega ein Freund des ehemaligen Beraters von Flávio Bolsonaro, Fabrício Queiroz. Die Mutter von Nóbrega, Raimunda Veras Magalhães, sei eine der Mitarbeiterinnen, die das Geld an Queiroz weitergegeben habe. An dem Skandal, der die brasilianischen Presse im ersten Monat der Regierung von Bolsonaro dominiert, ist auch das Oberste Bundesgericht Brasiliens (STF) beteiligt. Am 16. Januar setzte der Minister des STF, Luiz Fux, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Queiroz aus, nachdem Flávio Bolsonaro eine gerichtlichen Anfrage dazu gestellt hatte. Der Sohn des Präsidenten argumentierte, dass die Untersuchungen vom STF und nicht von der Staatsanwaltschaft Rio de Janeiros durchgeführt werden sollten. Ein Anliegen, das für viele den Versuch darstellt, allgemeines Recht zu umgehen, denn am 1. Februar tritt Flávio Bolsonaro sein Mandat im Senat an, so dass er politische Immunität erhält und zudem berechtigt ist, ausschließlich Verfahren vor höheren Gerichten zu erhalten. In den sozialen Netzwerken mangelt es angesichts der Ermittlungen nicht an Kritik am gewählten Präsidenten Jair Bolsonaro. Während seines Wahlkampfes erschien er in einem Video neben seinem Sohn und erklärte, er wolle „diesen Mist der politischen Immunität“ nicht. Sein Sohn Flavio beantragt nun die Aussetzung der Ermittlungen gegen Queiroz am STF, um seine politische Immunität zu nutzen.

 

// LANGE SCHATTEN

Sie sei „vom Drogenhandel finanziert“ worden, eine „Verteidigerin von Banditen und Verbrechern“. Nichts davon stimmt, aber auf diese Weise beschimpfte ein rechter Mob auf sozialen Medien die Stadträtin Marielle Franco, die am 14. März in ihrem Auto erschossen wurde.

Marielle Franco war schwarz und lesbisch, sie hatte Untersuchungsausschüsse über Polizeigewalt in die Wege geleitet und sich gegen den Rassismus und Sexismus in der brasilianischen Gesellschaft engagiert. Deshalb wurde sie ermordet, viele ihrer Freund*innen vermuten die Mörder*innen in den Reihen der Polizei. Die Reaktionen der Rechten auf dieses Verbrechen machen auf erschreckende Weise klar, wie weit antidemokratisches und autoritäres Gedankengut in Teilen der brasilianischen Bevölkerung verbreitet ist.

Die Gesellschaft ist gespalten. Das zeigt sich auch an der Bewertung des Ex-Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Lula will bei den Wahlen im Oktober erneut als Präsidentschaftskandidat antreten und liegt auch in allen Umfragen vorne. Die Rechte wollte ihn schnellstmöglich hinter Gittern sehen – Lula wurde in zweiter Instanz zu über zwölf Jahren Haft wegen passiver Korruption und Geldwäsche verurteilt. Die Höhe der Strafe ist völlig überzogen, rechte Politiker*innen, die ebenfalls knietief im Korruptionssumpf stecken, mussten nie eine solche juristische Verfolgung befürchten – ein Sieg des Rechtsstaats bedeutet das Urteil nicht, doch als den feiern es die bürgerlichen Medien Brasiliens. Nun wurde der Wunschkandidat eines großen Teils der Bevölkerung in einem zweifelhaften Verfahren einfach beseitigt.

Doch diese Rechtsbeugung ist nicht das Schlimmste: Einen Tag vor dem Gerichtsentscheid über Lulas Antrag auf Haftverschonung hatte der Oberbefehlshaber der brasilianischen Armee, General Villas Boas, via Twitter durch die Blume mit einem Putsch gedroht, sollte das Gericht Lulas Antrag stattgeben. Politik und Justiz schwiegen größtenteils zum angedrohten Verfassungsbruch, auf Twitter klatschten tausende Brasilianer*innen noch Beifall und forderten sogar eine politische Intervention der Militärs.

Und auch im Rennen der potenziellen Präsidentschaftskandidat*innen manifestiert sich der Aufschwung der Rechten in der Person von Jair Bolsonaro, der in allen Umfragen auf den zweiten Platz kommt. Dass Bolsonaro eine autoritäre Regierung befürwortet, hatte er bereits mehrfach deutlich gemacht. Im Juli 2016 erklärte er: „Der Fehler der Diktatur [von 1964 bis 1985] war, dass sie gefoltert und nicht getötet haben.“ Bolsonaro legitimiert seine autoritären Phantasien damit, dass er ja auf der Seite der „gesetzestreuen Bürger“ stehe und gegen die korrupten Eliten sei. Doch schließt er auch explizit alle Favelabewohner*innen, Schwarzen, Indigenen, Lesben, Schwule, Trans*personen aus, die nicht in sein Bild des „guten“ Bürgers passen; sie würde er wohl am liebsten alle verschwinden lassen, nimmt man ihn beim Wort.

So rückt der Kampf um die Vergangenheit wieder in den Mittelpunkt der politischen Debatte. Der hässliche Schatten der Militärdiktatur, nie wirklich verschwunden, wird momentan wieder bedrohlich lang. Das Amnestiegesetz, das den Folterern von damals noch immer Straffreiheit garantiert; die Polizeigewalt in den Favelas und die ungestraften kriminellen Machenschaften der Großgrundbesitzer*innen auf dem Land; die überkommenen, seit Kolonialismus und Sklaverei unangetasteten Eigentumsverhältnisse: Sie alle sind Symptome eines Gemeinwesens, das sich seiner Vergangenheit nicht gestellt hat. Marielle Franco hat diese Strukturen benannt und bekämpft – und hat dafür mit dem Leben bezahlt.

“SIE BRINGEN UNS NICHT ZUM SCHWEIGEN”

„Marielle anwesend“ Trauerflor in den Innenstadt von Rio de Janeiro (Foto: Midia NINJACC BY-NC-SA 2.0)

 

Eine Schockwelle ging durch das Weltsozialforum in Salvador da Bahia, als sich die Nachricht von der Ermordung der Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro wie ein Lauffeuer verbreitete. Veranstaltungen wurden abgesagt, um Protestmärsche zu organisieren. Überall fassungslose Gesichter. Noch am Vortag hatten sich Aktivist*innen in Workshops und Debatten nach gemeinsamen Strategien für Wege aus der Gewaltkrise gerungen. Die Ermordung der Vorkämpferin gegen Polizeigewalt und Diskriminierung traf alle wie ein Schlag ins Gesicht. „Ich fühle mich heute selber tot. Es könnte mich genauso treffen.“, brachte es eine Vertreterin der Bewegung Mães de Maio auf den Punkt, die auf einem Podium über den Widerstand von Müttern ermordeter Jugendlicher aus der Peripherie von São Paulo berichtete. Einmal mehr wurde schmerzlich bewusst, wie vulnerabel Menschenrechtsaktivist*innen in Brasilien sind.

Die Stadträtin Marielle Franco war in der Nacht vom 14. März zusammen mit ihrem Fahrer Anderson Gomes auf der Rückfahrt von einer Veranstaltung für die Rechte schwarzer Frauen in der Innenstadt von Rio de Janeiro in ihrem Auto erschossen worden. Die neben ihr auf der Rückbank sitzende Assistentin überlebte den Anschlag nur knapp. Die Ermittler*innen und vor allem große Teile der schockierten Öffentlichkeit gehen von einem politischen Attentat aus.

Die Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco hatte zuletzt vor allem die ausufernde Polizeigewalt scharf kritisiert. Wenige Tage vor ihrer Ermordung veröffentlichte sie einen Text, in dem sie das 41. Bataillon der Militärpolizei von Rio de Janeiro den Morden an drei Jugendlichen in den Favelas Acari und Jacarezinho beschuldigte. Seit Jahren prangerte sie die massenhafte Ermordung von Jugendlichen in den Armenvierteln an und machte auf die direkte Beteiligung der Polizei an diesen Morden aufmerksam.

Laut dem Atlas der Gewalt von 2017, in dem das Statistikinstitut IPEA und das Fórum Brasileiro de Segurança Pública (FBSP) die Daten 2005 bis 2015 kompiliert haben, waren zwischen 2005 und 2015 71 Prozent der Getöteten Schwarze. Dabei sprechen die Zahlen der von Polizist*innen in den Jahren 2015-2016 Erschossenen eine klare Sprache: 76 Prozent der Opfer sind schwarz. Bezogen auf den Zeitraum 2000 bis 2015 stieg in Brasilien die Mordrate insgesamt um 28,5 Prozent. Während die der weißen Opfer um 22 Prozent zurückging, erhöhte sich die der schwarzen Opfer im gleichen Zeitraum um 73,9 Prozent.

Ihr Tod sollte den Widerstand einschüchtern, doch das Gegenteil ist der Fall.

Im Jahr 2017 stellte das Land nun einen neuen Negativrekord auf: 61.000 Menschen wurden ermordet. Der Staat ist mit dem Ausmaß der Gewalt völlig überfordert und setzt vor allem auf repressive Maßnahmen. In keinem anderen Land sind die staatlichen Sicherheitskräfte für so viele Tötungen verantwortlich wie in Brasilien. Einer der meist skandierten Parolen auf den Protestmärchen anlässlich Marielles Ermordung war: „Não acabou, tem que acabar, eu quero o fim da polícia militar!“ („Es ist nicht vorbei. Es muss aufhören. Schluss mit der Militärpolizei!”)
Marielle Franco hat Polizeigewalt scharf kritisiert – und öffentlich. Unklar ist zur Zeit noch, ob die Täter eher im Bereich Polizei oder von Milizen zu suchen sind. Die paramilitärisch agierenden Milizen setzen sich aus ehemaligen Polizist*innen, Soldat*innen und Feuerwehrleuten zusammen und kontrollieren mittlerweile viele arme Stadtteile von Rio de Janeiro.

Franco war zudem eine ausdrückliche Kritikerin der Militärintervention in Rio de Janeiro. Seit Februar hat das Militär die Kontrolle über sämtliche Sicherheitsbehörden des Bundesstaates Rio de Janeiro übernommen. Dies bedeutete die erste umfassende Militärintervention seit dem Ende der Militärdiktatur. Bereits in den Jahren 2014 und 2015 hatten die Streitkräfte den Favela-Komplex von Maré besetzt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass diese militärischen Interventionen statt zur Eindämmung der Gewalt vielmehr zu einer Eskalation führen. Franco war die Vorsitzende der neuen Kommission, die die Militäraktionen in den Armenvierteln überwachen sollte.

Franco war 2016 als Stadträtin für die linke Partei PSOL mit den fünft meisten Stimmen ins Stadtparlament von Rio de Janeiro gewählt worden. Als einzige schwarze Frau repräsentierte sie dort die Mehrheit der Bevölkerung. Die Feministin war eine vehemente Stimme für Frauen- und LGBTI-Rechte. Nur sieben Tage vor ihrem Tod hatte Marielle Franco auf Twitter geschrieben: „2017 fielen in Brasilien 4.473 Frauen einem gewaltsamen Tod zum Opfer, eine Erhöhung um 6,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Angesichts dieser Zahlen ist es schwierig, optimistisch den Tag zu beginnen.“
Sie stammte selbst aus einem Armenviertel, dem Favela-Komplex Maré. Ihr politischer Aktivismus speiste sich aus ihrer eigenen Lebenserfahrung. Laut ihrer persönlichen Website begann sie sich politisch zu engagieren, nachdem eine Freundin einem Fehlschuss in einer Konfrontation zwischen Polizei und Drogenbanden zum Opfer gefallen war. Die 38-jährige Soziologin war ein wichtiges Sprachrohr der Favelas und brachte unbequeme Wahrheiten an die Oberfläche, die sonst in der brasilianischen Politik systematisch ausgeblendet werden. Für viele Menschen in Rio de Janeiro verkörperte sie die Hoffnung für mehr soziale Gerechtigkeit.

In den Tagen nach der Gewalttat breitete sich eine bespiellose Protestwelle im ganzen Land aus. In allen großen Städten kam es zu Massendemonstrationen. Zehntausende gingen im ganzen Land auf die Straße, um ihrem Entsetzen über die Tat und die allgemeine Eskalation der Gewaltsituation Ausdruck zu verleihen.

 

Empörung, Wut und Trauer Tausende protestieren nach Marielles Ermordung in Rio de Jainero (Foto: Mídia NINJACC-BY-NC-SA-2.0)

„Marielle Gigante“, Marielle ist riesengroß, das war auf unzähligen Bannern zu lesen. Damit brachten die Demonstrant*innen zum Ausdruck, dass sich der Wille für Veränderung und sozialen Wandel nicht ersticken lässt. Im Gegenteil, in den Massenprotesten hallte Francos Stimme durch ganz Brasilien. Sie wurde zu einer Symbolfigur für den Widerstand gegen Ungerechtigkeit, Rassismus und Gewalt im ganzen Land.
„Wir verstehen die Tötung Marielles als Signal, dass die Jagd an Menschenrechtsaktivisten eröffnet ist“, erklärte Eduardo Machado, Bürger­rechtsaktivist aus Salvador. „Es fühlt sich an wie in den Zeiten der Diktatur. Doch wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen. Die Ideale und Ziele, die Marielle vertreten hat, leben in uns allen fort. Stärker denn je!“, so Machado gegenüber LN.

Der Fall Marielle Franco ist alles andere als ein Einzelfall, er ist die Spitze eines Eisberges einer normalisierten Gewalt und in einer durch soziale Konflikte und Spannungen zerrissenen Gesellschaft. Laut Amnesty International war Brasilien 2017 das Land, in dem weilweit am meisten Menschenrechtsverteidiger ermordet wurden. Laut dem brasilianischen Komitee für Menschenrechtsverteidiger (CBDDDH) wurden letztes Jahr mindestens 62 Menschenrechtsverteidiger getötet. Im Mai 2017 bezeichnete der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein, das Niveau der Gewalt gegen Menschenrechtler als alarmierend.

Das war auch deutlich sichtbar auf den Protestmärschen und Mahnwachen im ganzen Land. Die Menschen erinnerten der vielen Toten, der ermordeten Frauen und politischen Aktivist*innen der letzten Jahre. So viele schmerzliche Wunden wurden wieder aufgerissen. Die Portraits auf Plakaten und Postern machten die lange Reihe der Todesopfer sichtbar. Der in diesen Tagen allgegenwärtige Ausruf „Marielle Presente“ (in etwa: „Marielle anwesend“) vermischte sich auf den Demos mit unzähligen anderen Namen, die das gleiche Schicksal erlitten hatten. Viele der Morde an politischen Aktivist*innen finden in abgelegenen ländlichen Regionen statt, oft im Zusammenhang mit Landkonflikten und Konflikten um natürliche Ressourcen. Oft völlig abseits der Öffentlichkeit und ohne nennenswertes mediales Echo.

Selten wirkte Brasilien so polarisiert durch einen so tief sitzenden Hass wie zur Zeit. 

Die Wellen, die der Mord an der linken Stadträtin nun schlägt, sind einmal mehr ein Indiz dafür, wie tief der Riss ist, der durch die brasilianische Gesellschaft geht. Denn neben der starken Solidaritätsbewegung gab es in den Wochen nach der Gräueltat eine regelrechte Verleumdungskampagne gegen die Politikerin. Im Internet wurden fake news über die Verwicklung der Politikerin mit dem Drogenhandel und Verzerrungen ihrer politischen Statements verbreitet, die zehntausendfach weitergeleitet wurden. Dabei geht es nicht nur um eine persönliche Diffamierung einer Symbolfigur, sondern um die tiefe Spaltung der brasilianischen Gesellschaft, was grundsätzliche menschliche Werte betrifft. Diffamierungskampagnen legen nahe, „die Menschenrechte“ würden Verbrechensbekämpfung verhindern und die Opfer seien ja selbst Schuld an den hohen Gewaltraten. Immerhin hat der beispiellose Aufschrei in der Öffentlichkeit dazu geführt, dass diese gezielten fake news nun gerichtlich verfolgt werden und sowohl Facebook als auch Google von der Justiz angewiesen wurden, die entsprechenden Posts und Videos binnen 24 Stunden zu löschen.

Selten wirkte Brasilien so polarisiert, gespalten durch einen so tief sitzenden Hass wie zur Zeit. Die Ermordung Francos ist dabei bis jetzt der Scheitelpunkt einer gesellschaftlichen Polarisierung. Die Ereignisse stimmen wenig optimistisch, dass sich die Wogen im Wahljahr 2018 glätten werden. Im Gegenteil: die Zustimmungsraten in der Bevölkerung die faschistische Forderungen wie sie beispielsweise der ultrarechte Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro vorschlägt, liegen derzeit schon bei rund 20 Prozent – Tendenz weiter steigend.

ES KOMMT IMMER ETWAS NEUES

Nein heißt Nein Marielle Franco (Foto: privat)

Im Jahr 1975 organisierten Frauen in der Brasilianischen Pressevereinigung (ABI) in Rio de Janeiro eine Veranstaltung über die Situation der Frauen in Brasilien. Mehr als 400 Menschen nahmen teil. Daraus entstand die erste feministische Organisation Brasiliens, das Zentrum der Brasilianischen Frau (CMB). Mehr als vier Jahrzehnte danach besetzten wir denselben Ort, jetzt als Frauen, Schwarze, Trans, Favela-Bewohnerinnen, Lehrerinnen, Frauen aus dem Nordosten, Mütter – also als Frauen in ihrer ganzen Diversität.

Während der damaligen Veranstaltung kritisierten Schwarze Frauen die ABI: Obwohl dort wichtige Persönlichkeiten im Kampf gegen die Diktatur vertreten waren, gab es keine Debatte über die verschiedenen Formen des Frauseins. Ende November 2017 verwandelten wir die ABI in einen Raum der politischen Debatte. Eine sehr lebendige Debatte, voller Nuancen, in der 500 von uns bekräftigten, dass wir die Politik erobern werden, die Herrschaftsräume, jedoch nicht bloß über Quoten. Es gibt zweifellos einen neuen Moment, einen Weg als Reifeprozess der Frauen hin zur Aneignung der Getriebe der Macht.

Wir gelangten in das Jahr 2018, indem wir die Früchte des jahrzehntelangen Frauenkampfes für bessere Lebensbedingungen und mehr Gleichberechtigung in Entscheidungsräumen ernteten. In diesem Zeitraum wurde der Feminismus zweifellos diverser, vor allem was Forderungen zu Rassismus, sexueller Orientierung und Geschlechteridentität angeht, aber auch verschiedenen Erfahrungen des Frauseins, wie etwa Mutterschaft. Diese Diversität fand auf der Straße Ausdruck, bei den Kundgebungen und in den sozialen Netzwerken, durch Websites, Apps, Blogs und Videos.

Es wird viel darüber gesprochen, dass wir eine neue Welle des Feminismus erleben, dabei impliziert das Bild einer Welle die Idee von einem Bruch, der in der Geschichte so nicht passiert. Die Medien verbreiten die Idee, dass es einen „neuen Feminismus“ gibt, aber in Wahrheit ist das, was wir erleben, die Übereinstimmung verschiedener Formen von Feminismus. Denn selbst bei sehr unterschiedlichen Handlungsstrategien haben wir die gemeinsame Überzeugung, dass das Internet ein Ort des Dialogs und der politischen Vernetzung ist. Der brasilianische Feminismus von heute ist nicht nur jung und ermächtigt. Die Hashtag-Feministinnen und die historischen Feministinnen treffen sich in der gemeinsamen Aktion. Der Feminismus als Ganzes ist vielfältig, divers und kann Gemeinsamkeiten hervorbringen.

Unsere Präferenz erstaunt den männlichen, weißen und heteronormativen Klüngel

Seit der Wahl 2010 erleben wir eine politische Phase, die durch tiefgreifende Widersprüche gekennzeichnet ist. Man bezeichnet diese Widersprüche als Genderfragen. Demonstrationen und Kampagnen zeigten: Diversität muss politisch repräsentiert werden. Frauen zeigten sich als politische Kraft im gesellschaftlichen Machtgefüge, besonders die Schwarzen und die indigenen Frauen. Wir übernahmen die Rolle, aufzuzeigen, was wirklich „neu“ in der Politik wäre: Das Spiel umzudrehen, aus der Position der Unterordnung in der Gesellschaft herauszukommen, um die Räume des Diskurses, der programmatischen Entwicklung, der Projekte und der Entscheidungsfindung zu besetzen.

Obwohl wir einige wichtigen Orte besetzt haben, sind Frauen in der Politik weiterhin unterrepräsentiert, und Schwarzen Frauen erst recht. Wir Schwarze Frauen bilden zirka 25 Prozent der brasilianischen Bevölkerung, wie eine Volkszählung des Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (IBGE) von 2010 zeigt. Laut der „Darstellung der Ungleichheiten von Gender und Rasse“ (Ipea, 2015), bilden wir auch den größte Anteil der Arbeitslosen, derjenigen, die ohne Sozialversicherung arbeiten, als Hausangestellte oder mit dem geringsten Haushaltseinkommen pro Kopf. Dies ist keine zufällige Situation, sie ist Frucht einer zivilisatorischen Entwicklung, die es geschafft hat, den Körper der Schwarzen Frauen zu entmenschlichen und zu einem Objekt zu machen.

Inmitten von so viel Ungleichheit, so viel Rassismus und Sexismus, die darauf bestehen, uns zu vergewaltigen, ist es erstaunlich, wie viele schwarze Frauen es in die Institutionen geschafft haben. Unsere Präsenz erstaunt den männlichen, weißen und heteronormativen Klüngel. Gleichzeitig stehen wir vor der Herausforderung, ein politisches Projekt zu konstruieren, das die Frauen, die uns bis hierher geführt haben, nicht ausschließt, sie nicht zweitrangig macht. Ein Projekt, bei dem die Kämpfe der verschiedenen Bewegungen gleichzeitig geführt werden.

Ironischerweise befanden sich die Frauen, die sich 1975 versammelten, im Kampf gegen die Militärdiktatur. Heute stehen wir einer illegitimen Regierung gegenüber, die die täglichen Angriffe auf unsere Rechte und Freiheiten bestärkt. In einer Gesamtsituation voll schwerer Rückschritte und konzertierter Aktionen der religösen Kräfte im Parlament schaffen Frauen es trotzdem, Veränderungen in der Gesetzgebung durch sehr unterschiedliche Feminismen und durch gegenseitige Stärkung zu verhindern. Wir üben Widerstand gegen die täglichen rassistischen Attacken und versuchen Wege zu finden, um die Situation des Elends zu überwinden, in die Menschen aus den Favelas, der Peripherie und auf dem Land durch die Krise gekommen sind. Gleichzeitig stärken wir Initiativen der Solidarökonomie und Bewegungen wie die der Obdachlosen und der Landlosen.

Dank Gruppen wie PretaLab (Initiative Schwarzer und indigener Frauen in neuen Technologien, Anm. d. Redaktion), dank der Ausbildung über digitale Sicherheit der Freien Feministischen Universität, des MariaLab (Kollektiv feministischer Hackerinnen, Anm.d. Red.) und der Schwarzen Bloggerinnen, üben wir Widerstand gegen die Verbreitung des Hassdiskurses und gegenüber neuen Formen von Gewalt, die im Virtuellen stattfinden. Wenn wir den Slam das Minas („Wettstreit der Mädchen“, Anm. d. Red.) hören, die die Poesie der Frauen aus verschiedenen Regionen aufgreifen und die Idee der „Battles“ neu erfinden – anstatt im Poetry Slam zu konkurrieren, stehen sie Seite an Seite, und ergänzen sich in der Performance – dann wissen wir, wer wir sind: Stimmen, die sich zuhören, sich annehmen, die die ganze Zeit Politik machen. Dieser Widerstand ist auch in seiner Ästhetik neu!

Die Bewegung A PartidA Feminista mobilisiert, um Kandidatinnen aufzustellen und eine Debatte darüber zu führen, wie wichtig es ist, engagierte Feministinnen für die Projekte des Wandels zu wählen. Die Bewegung, die 2015 entstand als Aktivistinnen sich versammelten, um den Sinn und die Möglichkeit einer feministischen brasilianischen Partei zu diskutieren, vereinigt Kollektive von Frauen verschiedener Parteizugehörigkeit und verschiedener Bewegungen aus ganz Brasilien. Anders formuliert: Die Wahlen von 2018 werden durch organisierte Gespräche geschwängert. Initiativen für eine vielfältigere Repräsentierung sollen erneuert werden, ebenso wie Instrumente für die kollektive Finanzierung von Kampagnen.

Bei unserem kürzlichen Treffen in der ABI gingen wir von der Idee aus, dass „eine Frau die nächste mit sich zieht“ – einer der Slogans des Protestmarsches der Schwarzen Frauen von 2017. Wir versammelten Frauen, die sich auf dem politischen Schauplatz von Rio de Janeiro hervorhoben und die potenzielle Kandidatinnen in Machträumen sind: In Länder- und Bundesparlamenten, Gewerkschaften, Parteien und verschiedenen Vereinen. Dabei ging es vor allem um Schwarze Frauen. 2016 haben wir diese Botschaft verbreitet, und hier in Rio de Janeiro bleiben wir an der Spitze der Kommission der Frau, um die Debatte über Gender im Parlament aus unserer Perspektive anzuführen.

Talíria Petroni steht vor der Herausforderung, als einzige Frau im Stadtparlament von Niterói ein Schwarzes Regierungsmandat zu konstruieren, feministisch und an der Basis orientiert. Áurea Carolina in Belo Horizonte schafft die Neuheit eines „weiblichen Parlamentsbüros“, offen für die verschiedensten Kämpfe und gleichzeitig offen für Zärtlichkeit, Poesie und Selbstfürsorge. Wir lernen zusammen, wir suchen Formen, Politik zu machen, die keine reine Reproduktion des Immergleichen ist, weil uns dies stärker macht, um die Räume in den Institutionen zu besetzen, trotz aller Rückschritte. Aber wir möchten nicht alleine in diesem Raum bleiben, wir wollen mehr Menschen, die die Politik verändern.

Die kürzliche Veranstaltung in der ABI wurde durch ein parlamentarisches Mandat initiiert, aber nicht nur. Ein Netzwerk von unabhängigen Frauen mit Parteizugehörigkeit, schloss sich zusammen, um dieses Treffen zu fordern und zu organisieren. Nur für sich betrachtet enthüllt diese Initiative schon einen neuen Moment. Das politische System, so wie es heute (nicht) funktioniert, muss dringend verändert werden. Wir setzen darauf, dass andere Frauen gestärkt werden, um Herrschaftsräume zu besetzen. Und deshalb kann kein politisches Projekt der Linken die Fragen ignorieren, die wir aufwerfen. 2018 – wir kommen!

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