DRECKIGER STROMDEAL IM HINTERZIMMER

Wasserkraftwerk Itaipú Schlägt auf beiden Seiten der Grenze politische Wellen // Foto: Deni Williams CCBY 2.0

Das Wasserkraftwerk Itaipú sorgt wieder für Streit. Der Rücktritt des paraguayischen Chefs der Energiebehörde ANDE, Pedro Ferreira, hat die Regierung Paraguays Ende Juli in eine handfeste politische Krise gestürzt. Ferreira begründete seinen Schritt mit der Missbilligung des neuen Vertrages zwischen Brasilien und Paraguay, in dem die Mechanismen und die Preise für den Verkauf von Strom aus dem Kraftwerk festgelegt wurden. Insbesondere die kolportierten Regeln für den Verkauf von Energieüberschüssen erhitzen dabei die Gemüter in Paraguay. Denn die neuen Regeln sind – laut Perreira – höchst unvorteilhaft für das kleine Land im Vergleich zum großen Nachbarn Brasilien. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Vertrag in Geheimverhandlungen zwischen den beiden Regierungen geschlossen wurde.
Seit die Verhandlungen über den Bau des – gemessen an der installierten Kapazität – zweitgrößten Staudamms der Welt in den 1960er Jahren begannen, haben die Diskussionen über das Projekt nie aufgehört. Insbesondere in der paraguayischen Öffentlichkeit war Itaipú immer umstritten. Im Jahr 2016 präsentierte sich das binationale Betreiberunternehmen voller Stolz mit dem Titel „weltweit größter Energieproduzent“, nachdem das Kraftwerk in seiner bisherigen Laufzeit 103.098.366 Megawattstunden erzeugt hatte. Doch verschiedene soziale Bewegungen, Politiker*innen und Intellektuelle ziehen die Vorteile, die das Kraftwerk Paraguay angeblich bringt, in Zweifel. Hauptpunkt der Kritik ist, dass Itaipú vor allem Brasilien einseitige Vorteile biete. Aus diesem Grund verlangen Politiker*innen und Aktivist*innen immer wieder eine Neuverhandlung des Vertrages von Itaipú. Der ehemalige Präsident Fernando Lugo (2008-2012), der einzige Präsident Paraguays seit 1947, der nicht der Partei der Colorados angehörte, strebte ebenfalls eine Neuverhandlung an, bevor er 2012 in einem umstrittenen Verfahren des Amtes enthoben wurde (siehe LN 457/458).
Itaipú war das wichtigste Symbol für den Fortschritt der Militärdiktatur unter Alfredo Stroessner (1954-1989). Im Jahr 1973 unterzeichneten Stroessner und der brasilianische Diktator Emilio Garrastazú Medici den Vertrag von Itaipú, der den Bau des gemeinsamen Kraftwerks vorsah. Dabei spielte der US-amerikanische Einfluss eine große Rolle: Im Kontext des Kalten Krieges boten die USA den Ländern Südamerikas günstige Kredite für Entwicklungsprojekte an, um der Einflussnahme der Sowjetunion vorzubeugen. Die kurz nach Unterzeichnung des Vertrages eingetretene Ölkrise war ein zusätzlicher Anreiz, das Projekt schnell auf den Weg zu bringen. Tatsächlich entwickelte sich Itaipú zum ambitioniertesten Entwicklungsprojekt beider Länder. Doch spätere Studien zeigten, dass das Projekt zahlreiche negative soziale und ökologische Folgen hatte: Tausende Indigene und Kleinbäuerinnen und -bauern wurden umgesiedelt, teilweise unter Anwendung von Gewalt. Angemessene Entschädigung wurde nicht geleistet.

Gerät unter Druck Paraguays Präsident Mario Abdo Benítez // Foto: Cesar Itiberé PR CCBY 2.0

Der riesige Staudamm stellt einen schweren Eingriff in die Flussökologie des Paraná dar und zog das gesamte Flussbecken in Mitleidenschaft, da die natürlichen Fischmigrationen unterbrochen wurden. Zudem wurden atlantische Regenwälder überflutet und zerstört, die wieder aufgeforsteten Wälder erscheinen eher wie Plantagen und verfügen längst nicht über eine so große Biodiversität.

Die Kritik prangert den „Verrat des Staatschefs an der Guaraní-Nation“ an


Paraguays damaliger Diktator Stroessner nutzte das Itaipú-Projekt zur Stabilisierung seines Regimes. Er versorgte damit seine Klientelnetzwerke, um sich deren Loyalität zu versichern. Ganze Familien wie etwa die Papalardo, Wasmoy und Debernardy wurden reich, indem sie Baumaterialien an das Megaprojekt lieferten. Die gesamten Baumaßnahmen waren von starker Korruption gezeichnet, an der sich die engen Verbündeten Stroessners bereicherten.
Der amtierende Präsident Paraguays, Mario Abdo Benítez von der Colorado-Partei, sieht sich nun ebenfalls schweren Verdächtigungen ausgesetzt, die Interessen des Landes für seine eigenen verraten zu haben. Sein Vater (ebenfalls Mario Abdo) war seinerzeit ein enger Vertrauter und persönlicher Sekretär von Stroessner. Präsident Abdo wird aktuell beschuldigt, in den geheimen Neuverhandlungen einen skandalösen Vertrag unterzeichnet zu haben. Darin soll er praktisch auf alle möglichen Verbesserungen für Paraguay verzichtet haben. Die Presse und politische Organisationen der Opposition bezeichneten Abdos Verhalten als „Verrat des Staatschefs an der Guaraní-Nation“.
Ausgelöst hatten die Regierungskrise Äußerungen des zurückgetretenen Chefs der staatlichen Energiebehörde ANDE. Pedro Ferreira erklärte gegenüber verschiedenen Medien, dass die brasilianische Regierung Paraguay praktisch erpresst hätte, ein nachteiliges Abkommen über die Vermarktung der Energieüberschüsse des Landes zu unterzeichnen. Nach dem ursprünglichen Vertrag von Itaipú steht Paraguay ein Kontingent der Energie aus dem Kraftwerk zu, das die paraguayische Nachfrage bei weitem übersteigt. Die Überschüsse kann Paraguay verkaufen – aber nur nach Brasilien. Ferreira betonte, dass auf brasilianischer Seite gut unterrichtete Techniker*innen an den Verhandlungen teilnahmen, während auf paraguayischer Seite nur Mitarbeiter*innen des Außenministeriums vertreten waren, die keine angemessenen Kenntnisse von Strompreisen, möglichem Nutzen oder Verkaufsmöglichkeiten auf dem Strommarkt hatten. Es scheint, so Ferreira, als sei der Präsident von schlechten Berater*innen umgeben oder die paraguayische Seite hätte absichtlich einen schlechten Deal abgeschlossen.
Anfangs drehte sich die Kritik vor allem um die offenbar schlechte Beratung, die der Präsident erhalten habe. Ferreira selbst hatte erklärt, Abdo sei nicht über die Einzelheiten unterrichtet gewesen und hätte praktisch blind ein Abkommen unterzeichnet. Doch der Skandal nahm eine andere Dimension an, als Ferreira seine privaten Gespräche mit dem jungen Anwalt José Rodríguez González veröffentlichte. Dieser hätte sich als persönlicher Berater des paraguayischen Vizepräsidenten Hugo Velázquez vorgestellt und explizit verlangt, dass Punkt 6 aus dem Abkommen herausgenommen werde. Dieser Punkt 6 sei allerdings zentral für eine Verbesserung der Vertragsregeln für Paraguay gewesen, denn er hätte es dem Land erlaubt, selbst den überschüssigen Strom in Brasilien zu vermarkten – ein Geschäft, das mit erheblichen Gewinnaussichten verbunden ist. Ohne Punkt 6 obliege der Verkauf des paraguayischen Energieüberschusses hingegen ausschließlich brasilianischen Unternehmen. Dies würde über Verträge zwischen der paraguayischen Energiebehörde ANDE und dem halbstaatlichen brasilianischen Energieunternehmen Eletrobras geregelt werden.

Präsident Bolsonaro Verdacht auf Amtsmissbrauch zur persönlichen Bereicherung // Foto: Isac Nóbrega PR CCBY 2.0

Bereits kurze Zeit später kam heraus, dass im neuen Abkommen sogar vorgesehen war, dass alle Stromverkäufe an ein einziges Unternehmen gehen sollten, welches dann die Vermarktung auf dem liberalisierten brasilianischen Strommarkt realisieren sollte. Dabei handelt es sich um das Unternehmen Leros Comercializadora. Das Skandalöse dabei ist, dass Mitglieder der Familie des brasilianischen Staatspräsidenten Bolsonaro im Aufsichtsrat des Unternehmens vertreten sind.
Recherchen von Journalist*innen haben nun gezeigt, dass der Druck, Punkt 6 aus dem Abkommen zu streichen, von Leros Comercializadora ausging. Der Anwalt José Rodríguez González habe somit tatsächlich die Interessen des Unternehmen Leros vertreten, als er im Namen des Vizepräsidenten Hugo Velázquez bei den Verhandlungen mitmischte, so die Medienberichte.
Als die Staatsanwaltschaft sich des Falles annahm, behauptete Rodríguez González, er habe „sein Handy verloren“, auf dem sich die Kommunikation mit dem damaligen ANDE-Chef Ferreira befunden habe.

Die Diskussionen über das Projekt haben nie aufgehört


Es gibt also ernstzunehmende Hinweise darauf, dass das Geheimabkommen zu Itaipú nicht nur unvorteilhaft für Paraguay ausfällt, sondern dass es auch eine private Vereinbarung zwischen Bolsonaro einerseits und Abdo und Velázquez andererseits beinhaltet, mit dem Ziel, Profit aus dem Verkauf paraguayischen Stroms zu schlagen.
Der Skandal setzt nicht nur Präsident Mario Abdo unter Druck. Im brasilianischen Parlament haben oppositionelle Abgeordnete eine Untersuchung gegen Präsident Jair Bolsonaro wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch eingeleitet. Mitglieder der Arbeiterpartei PT des ehemaligen Präsidenten Inácio Lula da Silva haben bei der Bundesstaatsanwaltschaft eine Untersuchung des Abkommens über Kauf und Verkauf des paraguayischen Energieüberschusses beantragt. Der Antrag, den 24 Abgeordnete unterzeichnet haben, verlangt, dass die schwerwiegenden Vorwürfe gegen den Präsidenten, den Außenminister Ernesto Araújo und den brasilianischen Generaldirektor von Itaipú, Joaquim Silva, aufgeklärt werden.
In Paraguay schlägt der Skandal bereits jetzt größere Wellen. Die Regierung Mario Abdos befindet sich ihrer bislang schwersten Krise. Der paraguayische Kongress hat eine Kommission aus beiden Kammern des Parlaments gebildet, um den Fall zu untersuchen. In der Zwischenzeit hat die paraguayische Regierung erste Schritte unternommen, um Brasilien zu bitten, das Abkommen rückgängig zu machen. Jair Bolsonaro hatte bereits erklärt, dass er einen solchen offiziellen Antrag annehmen würde, weil sein „Freund Marito“ die Sachen gut mache und etwas Hilfe benötige. Unbeabsichtigt verstärkte Bolsonaro mit seiner Wortwahl die Verdächtigungen, er hätte die paraguayische Regierung zu seinen Zwecken beeinflusst.
Trotz aller Bemühungen der Regierung, die Wogen zu glätten, wurde sie von mehreren Rücktritten erschüttert. Der Außenminister Luis Castiglioni, der Botschafter in Brasilien sowie hochrangige Mitarbeiter*innen bei Itaipú und ANDE mussten aufgrund des öffentlichen Drucks ihre Posten aufgeben. Auch María Epifanía González, die das Ministerium für den Kampf gegen Geldwäsche leitete, musste ihr Amt verlassen: Sie ist die Mutter von José Rodríguez González, der mutmaßlich im Auftrag von Leros Comercializadora entscheidend Einfluss auf die Verhandlungen genommen hatte.
Die oppositionelle liberale Fraktion im Parlament beantragte schließlich sogar die Amtsenthebung des paraguayischen Präsidenten Abdo. Noch im Juli hat die Fraktion der Colorados – die ansonsten bei weitem nicht geschlossen hinter Abdo steht – den Antrag abgelehnt. Dies zeigt, dass der Pakt zwischen den innerparteilichen Fraktionen um Mario Abdo und den ehemaligen Präsidenten Horacio Cartes hält. Noch. Viele Analyst*innen halten es für gut möglich, dass er die restlichen fünf Jahre seiner Legislaturperiode nicht im Amt übersteht.

 

ALTE ELITE IM NEUEN GEWAND

Nostalgisch? Abdo Benítez äußerte sich mehrmals positiv über die Stroessner-Zeit (Foto: Flickr.com / Michel Temer CC BY 2.0)

Ein Bruch mit der Vergangenheit sieht anders aus. Der seit dem 15. August amtierende Präsident Paraguays Mario Abdo Benítez Junior ist der Sohn des ehemaligen Privatsekretärs von Alfredo Stroessner. Mario Abdo Benítez Senior galt über drei Jahrzehnte als rechte Hand des Diktators, der von 1954 bis 1989 das Land regierte. In dieser Zeit häufte Abdo Benítez Senior ein Vermögen an und wurde ein einflussreicher Unternehmer. Mit diesem finanziellen Hintergrund konnte der Junior seine politische Karriere finanzieren.

In einem Interview mit der Tageszeitung ABC hatte Abdo Benítez Junior noch im Wahlkampf erklärt: „Ich hege nichts als Bewunderung für meinen Vater. Er war mir ein Vorbild. Er war immer ein guter Vater und ein ehrenhafter Mann; zudem ein fleißiger Arbeiter.“ Mehrmals hatte er sich zudem positiv über die Stroessner-Zeit geäußert. Es war vorherzusehen, dass derartige Aussagen bei den Opfern der Stroessner-Diktatur nicht gut ankamen. Die Opposition versuchte deshalb, den Politiker der Republikanischen Nationalen Allianz (ANR) in die Nähe der Militärdiktatur zu rücken und zu beschwören, mit ihm drohe der Rückfall in den Autoritarismus.

Um sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, betonte Abdo Benítez in seiner Wahlkampagne, dass er sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen werde. Er erklärte, dass er zwar bestimmte Aspekte der Stroessner-Zeit positiv bewerte – wie die wirtschaftliche Entwicklung und vermeintlich niedrige Kriminalitätsrate – , er damit aber „keine Verbrechen und keine Einzelpersonen“ verteidigen wolle. Bewusst hielt er seine Distanzierung von der Diktatur so nebulös: Schließlich finden sich unter den Colorados, wie die Angehörigen der ANR genannt werden, noch zahlreiche nostalgische Anhänger*innen Stroessners, die Abdo Benítez ebensowenig verprellen wollte, wie dessen Gegner*innen, von denen es auch nicht wenige in der ANR gibt.

Sein Wahlkampf war von Erfolg gekrönt. Am 22. April war Abdo Benítez Junior mit 46,5 Prozent zum Staatsoberhaupt gewählt worden. Doch für die ANR ist dieses Ergebnis eher ein Dämpfer. Efraín Alegre von der Liberalen Partei, historisch in Konkurrenz mit den Colorados, war der Kandidat des Mitte-links-Bündnisses GANAR und konnte 42,7 Prozent der Stimmen gewinnen. Dies entsprach nur ca. 94.000 Stimmen Unterschied.
Das Bündnis GANAR wurde auch von der linken Sammlungsbewegung Frente Guasú unterstützt, dem der ehemalige Präsident und Vorsitzender des Senats, Fernando Lugo, vorstand. Nur dem ehemaligen Bischof Lugo als Kandidaten hätten Beobachter*innen zugetraut, die seit 1947 fast ununterbrochen regierenden Colorados zu besiegen, wie er es bereits 2008 getan hatte. Doch Lugo, der 2012 in einem hochumstrittenen Verfahren des Amtes enthoben worden war, darf nicht erneut kandidieren, denn die Verfassung erlaubt keine Wiederwahl eines Präsidenten.
Diese Regelung hatte Abdo Benítez Amtsvorgänger Horacio Cartes zu kippen versucht. Auf verschiedenen Wegen hatte der Unternehmer*innen und mutmaßlich reichste Paraguayer*innen versucht, eine Verfassungsänderung durchzusetzen. Dadurch hatte er im April vergangenen Jahres gewaltsame Proteste provoziert, bei denen sogar das Parlamentsgebäude in Brand gesetzt worden war (siehe LN 514).

Vor der Wahl im April dieses Jahres hatte Cartes noch versucht, sich als Kandidat für ein Senatorenamt aufstellen zu lassen, und dieses auch bei den Wahlen gewonnen. Als ehemaliger Präsident wäre er zwar ohnehin als Senator auf Lebenszeit aufgestellt worden, jedoch ohne Gehalt, Stimmrecht oder – wahrscheinlich am bedeutsamsten für Cartes – Immunität. Gegen ihn liegen mehrere Beschuldigungen wegen Korruption und Beteiligung am Zigarettenschmuggel vor, denen er sich vermutlich ungerne vor Gericht stellen will. Doch er konnte das gewonnene Sena­toren­amt nicht einfach annehmen, da es zu einer Überschneidung mit seinem Präsidentenamt gekommen wäre. Deshalb hatte er im Mai seinen Rücktritt eingereicht. Als sich abzeichnete, dass die Legislative seinen Rücktritt nicht akzeptieren würde, nahm er sein Rücktrittsgesuch zurück und übergab, wie vorgesehen, erst am 15. August das höchste Staatsamt.

Das Vorgehen Cartes‘ offenbart eine tiefe Respektlosigkeit gegenüber demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen und Regeln. Viele einflussreiche Colorados biegen und manipulieren die Gesetze zu ihren Gunsten, die Korruption ist virulent. Abdo Benítez hat versprochen, diese Praxis zu ändern. „Das stellt einen Bruch gegenüber Cartes und einen gewissen Fortschritt für Paraguay dar“, kommentiert der paraguayische Politikwissenschaftler und Soziologe Carlos Peris gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Er glaubt nicht, dass Abdo Benítez so schamlos wie Cartes demokratische Regeln für sich zurechtbiegen wird. „Allerdings ist auf wirtschaftlicher Ebene mit Kontinuität zu rechnen.“ Niemand rechnet damit, dass Abdo Benítez die neoliberale Wirtschaftspolitik seines Amtsvorgängers hinterfragen oder gar substanziell ändern wird.

Paraguay ist nach Mexiko der zweitgrößte Produzent von Marihuana

Die zu erwartende Wirtschaftspolitik Abdo Benítez‘ bringt ihm denn auch mächtige Verbündete ein. Wenige Tage vor seinem Amtsantritt hatte er die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) Christine Lagarde in Washington besucht. Bei einer gemeinsamen Presse­konferenz versicherte Lagarde, dass der IWF weiterhin Paraguays wirtschaftliche Entwicklung mit Krediten unterstützen wolle. Dies verwundert nicht, ist doch abzusehen, dass Abdo Benítez ganz im Sinne des IWF regieren wird.

Auch die konservativen Präsidenten Brasiliens und Argentiniens, Michel Temer und Mauricio Macri, begrüßten die Wahl Abdo Benítez‘. Denn in seiner Regierung sehen sie einen zuverlässigen Verbündeten, um ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) zu erreichen, das sie anstreben.

Traditionell sind beide Länder von enormer Bedeutung für die paraguayische Politik und Wirtscha, beide befinden sich aber in tiefen wirt­schaftl­­ichen Krisen. Dennoch gehen Wirtschaftsexpert*innen nicht davon aus, dass die Krise in den Nachbarländern einfach so auf Paraguay übergreift. Zwar sind die Einnahmen Paraguays aus dem Export von Elektrizität (generiert in den großen Wasserkraftwerken Itaipú und Yaceretá) nach Argentinien und Brasilien von großer Bedeutung, und diese gehen naturgemäß mit dem Rückgang der dortigen Wirtschaftsleistung zurück. Doch mittlerweile ist für Paraguay der Export von Soja wichtiger geworden: Das Land ist der fünftgrößte Sojaexporteur der Welt, und beliefert vor allem den europäischen und chinesischen Markt.

Im ländlichen Raum herrschen Rechtsunsicherheit und ein generalisiertes Klima der Angst

Ein anderes bedeutsames Exportprodukt Paraguays ist heiklerer Natur. Paraguay ist nach Mexiko der zweitgrößte Produzent von Marihuana. Insbesondere im Norden und Westen des Landes wird die illegalisierte Droge auf riesigen Feldern für den Export angebaut.

Großgrundbesitzer*innen, davon etliche Anhänger*innen der Colorados, profitieren mutmaßlich von diesem Geschäft, obwohl die ANR in öffentlichen Aussagen immer wieder betont, mit „harter Hand“ gegen den Drogenhandel durchgreifen zu wollen. Es gibt Indizien, dass Ex-Präsident Horacio Cartes selbst von der Geldwäsche von Einnahmen aus dem Geschäft profitiert hat.

Beide Wirtschaftszweige – Soja- und Marihuana-Anbau – basieren auf einer grundsätzlichen Rechtsunsicherheit im ländlichen Raum. Für beide Produkte müssen Kleinbäuer*innen vertrieben werden, ohne dass diese sich effektiv vor Gericht wehren können. Nur in einem generalisierten Klima der Angst unter der Bevölkerung können Mafias den Drogenanbau und -handel vollziehen, wie sie es derzeit tun.

Die immer stärker werdende Militarisierung des Nordens des Landes schafft diese Situation. Unter dem Vorwand der Bekämpfung der kleinen Guerrillagruppe Paraguayisches Volksheer (EPP) gibt der Staat dem Militär immer weiter reichende Vollmachten im Norden des Landes. Dies schafft das Klima der Angst, das die illegale Aneignung von Land und den großangelegten Anbau von Marihuana durch Mafias, die eng mit Politik und Großgrundbesitzer*innen verbunden sind, erst möglich macht. Abdo Benítez mag sich ein bisschen mehr an die demokratischen Regeln halten als sein Vorgänger. Dass er diese grundlegenden korrupten Strukturen im Land beseitigen wird, ist aber kaum zu erwarten. Letztlich wird er dafür sorgen, dass die alten Eliten weiter ihre Macht erhalten könnten.

RÜCKKEHR DES AUTORITARISMUS

Seit Beginn der Diktatur Alfredo Stroessners im Jahr 1954 hat die Colorado-Partei beinahe ununterbrochen regiert. Nur zwischen 2008 und 2012 schaffte es die von Fernando Lugo angeführte Allianz, für eine der ungleichsten Gesellschaften des Planeten zaghafte Umverteilungsprogramme zu entwerfen. Diese Regierungszeit wurde jedoch durch einen parlamentarischen Putsch vorzeitig beendet.

Sowohl die sogenannte Colorado-Partei (ANR) als auch die Liberale Partei (PLRA) – die zweitwichtigste des Landes – sind ideologisch dem rechtskonservativen Lager zuzuordnen und stellen gemeinsam schon lange eine unerschütterliche parlamentarische Mehrheit.

Die Kandidaten Mario Abdo Benítez und Hugo Velazquez von der rechtskonservativen Partei ANR wurden bei den Wahlen jeweils als Präsident und Vizepräsident mit 46,44 Prozent der Stimmen bestätigt. Nur knapp dahinter lagen die Kandidaten der liberalen Partei PLRA mit 42,74 Prozent. Bei den Parlamentswahlen gewann die Colorado-Partei ebenfalls mit 29,64 Prozent die Mehrheit, gefolgt von der PLRA mit 22,1 Prozent und der progressiven Frente Guasú mit 10,68 Prozent.

Bereits die Vorwahldebatten im Land standen im Zeichen der etablierten Parteien. Sie haben traditionell nur wenig Substanz und richten sich nach den Interessen von Privatleuten, die meistens mit Medienunternehmen und den traditionalistischen Diskursen der politischen Parteien in Verbindung stehen. Starke öffentliche Medien gibt es nicht, und bereichernde Inhalte auf alternativen Wegen in die Debatten einzubringen, ist bislang niemandem gelungen.

Bei diesen Wahlen gab es zwei starke Präsidentschaftskandidaten. Für die ANR trat Mario Abdo Benítez an, der Enkel des Privatsekretärs von Diktator Stroessner; für die Liberale Partei kandidierte zum zweiten Mal in Folge Efraín Alegre, der von seinem Parlamentssitz aus den parlamentarischen Putsch befördert hatte und so 2012 Lugos Regierung stürzte, sodass die ANR 2013 erneut an die Macht kam. Für diese Wahlen nun versöhnte sich Alegre mit der Parteienallianz Frente Guasú, die von Lugo geführt wird und ein weites politisches Spektrum von Links und Mitte-Links abdeckt. Vereinzelte Stimmen aus der Allianz riefen jedoch dazu auf, ungültig zu wählen.

Die Colorado-Partei knüpft erneut an Diskurse und Praktiken der Stroessner-Diktatur an, und der Sieg ihres Kandidaten scheint vor diesem Hintergrund kein Zufall. Zu ihren auffälligsten Forderungen zählt etwa die Wiedereinführung des verpflichtenden Wehrdienstes oder auch die Einrichtung von Häusern zur Aufnahme minderjähriger Mütter, was als Antwort auf wichtige Sozialdebatten über Sicherheit und Sexualität (Sexualkunde, Abtreibung etc.) zu sehen ist. Den sozialen Netzwerken bot das Argumentationsniveau des Kandidaten einen ständigen Anlass zum Spott.
Die Liberale Partei büßte durch ihre Mitwirkung beim Parlamentsputsch 2012 viel Macht ein. Trotz ihrer liberalkonservativen Haltung, wie sie zu Zeiten der Diktatur als einzige zugelassen war, konnten sich unter ihrem Schutz wichtige progressive Persönlichkeiten und Gruppen herausbilden. Bei diesen Wahlen sollten ihre Vorschläge direkte Antworten auf die drängendsten Bedürfnisse der Menschen geben. Dies war eher politisches Marketing und verlieh strukturellen Fragen keine Tiefe, um im Fall eines Sieges Konflikte zu vermeiden.

Angesichts der heftigen Konfrontation der feministischen Bewegung mit ihren ärgsten, in religiösen Sekten konzentrierten Gegner*innen, wurde die Debatte zu weiten Teilen über Themen wie Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe geführt. Doch keiner der Kandidaten wagte es, sich offen für diese progressiven Forderungen auszusprechen.

Die Einigung über eine gemeinsame Präsidentschaftskandidatur der Opposition ermöglichte es, dass alle Parteien ihre Kandidaturen für das Parlament unabhängig voneinander vorstellten. Es konnte jedoch ein Dutzend dieser Parteien keinen einzigen Sitz für sich gewinnen. Nur die Frente Guasú unter Ex-Präsident Lugo darf künftig sechs Senator*innen stellen. Bemerkenswert ist, dass die von einer bekannten Komiker*innen-Gruppe geführte Partei Hagamos Stimmenzuwächse für sich verbuchen konnte, und außerdem die Partei Patria Querida wiederauferstanden ist, die Unternehmer-„Freunde“ 2001 gegründet hatten und die sich als Hauptziel die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen schrieb.

Die Colorado-Partei hat mit keinem großen Abstand zum Zweitplatzierten gesiegt, und wenn man sich die gravierenden Mängel des Wahlsystems vor Augen führt, könnte man sogar sagen, dass sie in der Praxis eine symbolische Niederlage hat einstecken müssen.
Am Wahltag fahren in Paraguay fast keine öffentlichen Verkehrsmittel, was fährt, wird durch politische Parteien privatisiert, die ihre Anhänger zu den Wahllokalen befördern lassen. Während des Wahlkampfs kam es zu Anzeigen gegen Kandidat*innen, die Geld verteilten, Ausweisdokumente kauften und andere althergebrachte Praktiken nutzten, um die Wahlen zu manipulieren.

Wer mehr bezahlen kann und über die besser ausgebildeten Leute zur „Überwachung der eigenen Stimmen“ am Wahltag verfügt, streicht in punkto Ergebnisse an den Urnen Gewinne ein. In den Tagen nach der Wahl wurde deswegen von Seiten der Liberalen Partei heftige Kritik laut.
Die Debatte um elektronische Wahlurnen oder ein effizienteres Auszählsystem wurde vor einer Weile unter der Prämisse aufgegeben, dass diejenigen, die über die größte Parteienstruktur verfügen, von diesem Chaos profitieren. Denn so können quasi während des gesamten Wahlvorgangs kleine Betrügereien verübt werden, die in der Summe den allgemeinen Wahlverlauf beeinflussen.

Der Sieg eines Enkels der längsten Diktatur Amerikas, der auf den Werken seiner Großväter aufbaut, steht als klares Zeichen für den Diskurs und die Praktiken, die eingesetzt werden sollen – nicht nur in Paraguay, sondern auch in den Nachbarländern. Nach einem Jahrzehnt lateinamerikanistischer Regierungen, die vor allem auf regionale Integration setzten, um ihre gemeinsamen Interessen auf der globalen Bühne vorzutragen, reiht sich ein parlamentarischer Staatsstreich an den anderen, kommt es zu Wahlbetrügereien und Operationen von Medienunternehmen, die allesamt in die Machtübernahme zwielichtiger Persönlichkeiten münden, die mit transnationalen Mafias in Verbindung stehen: Da wären der Fall Temer gegen Dilma und die Festnahme Lulas in Brasilien, die Verstrickung Macris mit den Panama Papers und seine herabwürdigende Haltung gegenüber den Müttern der Plaza de Mayo in Argentinien, die Verbindung von Präsident Cartes mit dem globalen Zigarettenhandel in Paraguay. All das weckt zumindest den Verdacht, dass in Zeiten von Facebook und transnationalen Machtstrukturen ein Plan Cóndor reloaded besteht.

Mit seinen knapp 400 Quadratkilometern besitzt Paraguay pro Kopf die achtgrößte kultivierbare Fläche weltweit. Das sind die wahren Interessen hinter einer Neuordnung der lateinamerikanischen Regierungen.

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