Tiefer Graben durch die MAS

Eigene Versammlung statt Parteitag Vizepräsident Choquehuanca (links) und Präsident Arce (Mitte) am 17. Oktober in El Alto (Foto: Jorge Mamani/ABI)

Der Parteitag der MAS am 3. und 4. Oktober hat die beiden Flügel um Präsident Arce und seinen Vorgänger Morales (2006–2019) endgültig entzweit. Die Delegierten des nationalen Kongresses bestätigten Morales als Parteivorsitzenden und erklärten ihn zum „einzigen Kandidaten“ für die Präsidentschaftswahl 2025. Arce und sein Vize David Choquehuanca dagegen wurden aus der MAS ausgeschlossen.

Mehrere soziale Bewegungen und der Dachverband der bolivianischen Gewerkschaften (COB) hatten den Parteikongress in Lauca Ñ im Departamento Cochabamba allerdings schon davor für „illegal und illegitim“ erklärt. Die drei Gründungsorganisationen der MAS, der Gewerkschaftsbund der Landarbeiter*innen (CSUTCB), der Gewerkschaftsbund der interkulturellen Gemeinschaften (CSCIB) und die Landfrauenorganisation Bartolina Sisa, hatten den Parteitag abgelehnt, da an diesem deutlich weniger Vertreter*innen von ihnen teilnehmen sollten als an vorherigen Kongressen.

Auch Arce und Choquehuanca hatten beschlossen, nicht am Parteitag teilzunehmen: „Wir können nicht in ein Haus gehen, in dem die wirklichen Eigentümer, die sozialen Organisationen, nicht anwesend sind“, hatte der Präsident dies begründet. Auf der Versammlung im tropischen Teil Cochabambas, der als politische Bastion von Morales gilt, schlossen die mehr als 1.000 Delegierten dann zügig Arce und Choquehuanca sowie 20 weitere Politiker*innen aus der Partei aus – angeblich eine autoexpulsión, also ein „Selbstausschluss“, da sie nicht an der Konferenz teilgenommen hatten. „Die MAS wird unsere Revolution zurückgewinnen, um das Vaterland erneut zu retten“, betonte Morales am Ende seiner Abschlussrede auf dem Kongress.

Die Anhänger*innen von Arce mobilisierten ihrerseits Unterstützer*innen an der Basis. Der „Einheitspakt“, den fünf einflussreiche politische Basisorganisationen in Bolivien bilden, organisierte am 17. Oktober in El Alto eine große Versammlung und einen Protestmarsch zur Unterstützung des Präsidenten und Vizepräsidenten.

Von weitaus größerer Bedeutung ist jedoch, dass das Oberste Wahlgericht (TSE) am 31. Oktober den MAS-Parteitag in Lauca Ñ und die dort gefällten Entscheidungen für ungültig erklärt und die Durchführung eines neuen Kongresses angeordnet hat. Grund dafür sei, dass Evo Morales nicht die notwendige Bescheinigung über seine Mitgliedschaft in der MAS seit 2002 vorgelegt habe. Außerdem erfüllten 14 der 16 Mitglieder im neu gewählten Parteidirektorium nicht die dafür vom MAS-Statut vorgeschriebenen mindestens zehn Jahre Mitgliedschaft. Während der Einheitspakt umgehend einen neuen Parteitag der MAS ankündigte, bezeichnete Morales das Urteil als „Schlag gegen die Demokratie, die indigene Bewegung und die demokratische Kulturrevolution“ und kündigte an, juristisch und politisch dagegen zu kämpfen.

Anfangs hatten manche in der Fehde zwischen Arce und Morales ein Schauspiel zur Verwirrung der rechten Opposition vermutet. Inzwischen ist aber klar: Ein tiefer Graben zieht sich durch die MAS und durch gesellschaftliche Organisationen wie den CSUTCB oder die Landfrauenorganisation Bartolina Sisa, die jahrelang als starke Basis den politischen Prozess der Umgestaltung in Bolivien durch die MAS unterstützten. Auf der einen Seite sind die Anhänger*innen von Präsident Luis Arce, die Arcistas; ihnen gegenüber stehen die Evistas, die Unterstützer*innen von Parteigründer Evo Morales.

Am 19. August beispielsweise eskalierte der Kongress des Gewerkschaftsbunds CSUTCB in der Stadt El Alto: Dort kam es zu erbitterten Schlägereien, mehr als 450 Teilnehmende wurden verletzt. Der CSUTCB ist jetzt gespalten, die einflussreiche Gewerkschaft besteht aus zwei Fraktionen mit je eigenem Vorsitz. Einer wird von der Regierung Arce anerkannt, der andere vom MAS-Parteivorsitzenden Morales.

Das hat weitreichende Folgen. „Ich glaube, dass sich die MAS in zwei Parteien aufspalten wird“, erwartet Fernando Molina, bolivianischer Journalist und Autor des kürzlich veröffentlichten Buches Die Krise der MAS. Zu tief sei die Spaltung zwischen Arce und Morales mittlerweile – dabei gibt es zwischen beiden keine großen ideologischen Unterschiede. Arce war viele Jahre lang Wirtschaftsminister in den Regierungen von Morales und galt als dessen Verbündeter.

Vor einem Jahr, im September 2022, hatte Morales erstmals einen „schwarzen Plan“ der Regierung Arce gegen ihn und sein Umfeld beklagt. Es begannen zahlreiche scharfe Auseinandersetzungen, die Wunden auf beiden Seiten hinterlassen haben: Im Juni 2023 warnte Morales zum Beispiel vor einem „Komplott“ der Regierung, um ihn zu „zerstören“. Der gegenseitige Vorwurf, korrupt und in den Drogenhandel verwickelt zu sein, gehört in dieser politischen Fehde fast schon zum Standard.

Arce und seine Regierung stehen vor akuten Problemen

Der Ursprung des Konflikts liegt dabei wahrscheinlich weiter zurück: Vor der Wahl 2020 hatte Evo Morales noch Luis Arce als MAS-Kandidaten durchgesetzt, um seinen politischen Rivalen und den eigentlichen Favoriten der Partei, David Choquehuanca, zu verhindern. Die MAS gewann die Abstimmung deutlich, Arce wurde Staatspräsident und Choquehuanca sein Vize. Angeblich hatte es damals die Vereinbarung gegeben, dass Morales 2025 als Kandidat zurückkehren werde, doch Arce und Choquehuanca etablierten sich selbstbewusst als Regierung der Erneuerung statt als Platzhalter.

In Teilen der Partei gab es bereits damals die Forderung, sich von der Identifikationsfigur Evo Morales und seinem Gefolge abzunabeln. In seiner Rede bei der Amtseinführung als Präsident im November 2020 erwähnte Arce Morales mit keinem Wort. Weder sprach er ihn an, noch dankte er ihm. Außerdem entfernte die Regierung nach und nach Vertraute von Morales aus der Regierung. Zuletzt wurde am 6. September Generalstaatsanwalt Wilfredo Chávez, einer der wenigen in hohen Ämtern verbliebenen Evistas, ausgetauscht.

Gleichzeitig stehen Arce und seine Regierung vor akuten Problemen: Boliviens Wirtschaftsmodell ist strukturell verletzlich, weil es stark von Marktpreisen für Rohstoffe abhängig ist. Ende August bestätigte der Präsident, was Fachleute seit Jahren vermuten: Die Gasreserven des Landes gehen zur Neige. Zudem spüren die Menschen die Klimakrise und die Folgen der Umweltzerstörung, die Bevölkerung großer Teile des Landes leidet unter extremer Trockenheit, das Wasser im Lago Titicaca sank auf einen historischen Tiefstand.

Auch als Bolivien am 31. Oktober erklärte, die diplomatischen Beziehungen zu Israel abzubrechen und als Grund dafür „die aggressive und unverhältnismäßige israelische Militäroffensive im Gazastreifen“ nannte, stand das durchaus in der Tradition der Politik der Regierungen von Morales: Bereits 2009 hatte Evo Morales den diplomatischen Austausch zu Israel ausgesetzt, als dessen Armee damals den Gazastreifen angriff. Erst die De-facto-Präsidentin Jeanine Añez nahm vor drei Jahren die Beziehungen zu Tel Aviv wieder auf. Trotzdem konnte sich Morales dieses Mal den Seitenhieb nicht verkneifen, die Entscheidung Arces komme erst nach drei Jahren im Amt und auf Druck der Bevölkerung. Zudem sei sie nicht ausreichend, stattdessen müsse Bolivien Israel zum „Terrorstaat“ erklären und vor dem Internationalen Strafgerichtshof verklagen.

Falls es innerhalb der MAS keine Einigung gibt oder sich eine der beiden Parteiströmungen durchsetzt und danach die volle Unterstützung erhält, könnte sich die politische Landschaft in Bolivien erstmals seit dem ersten Wahlsieg von Morales 2005 entscheidend verändern. Álvaro García Linera, der von 2006 bis 2019 Vize der Regierung Morales war und seit Monaten vor dem politischen Desaster einer Spaltung der MAS warnt, versicherte bereits, die Folge eines Bruchs würde eine Niederlage 2025 bedeuten. Morales ebenso wie Arce hätten daher die „moralische, historische und politische Verpflichtung zur Einheit“.

Eine Spaltung der MAS könnte den politischen Gegnern helfen

Eine Spaltung der MAS könnte darüber hinaus den politischen Gegnern helfen, die derzeit noch sehr schwach wirken: Sie verfügen nicht über eine Organisation an der Basis wie die MAS, prominente Oppositionspolitiker*innen wie der rechte ehemalige Präsidentschaftskandidat Luis Camacho oder die ehemalige De-facto-Präsidentin Jeanine Añez sitzen in Haft.

Nicht zu unterschätzen sind die Folgen des aktuellen Streits für die Basis. Die MAS konnte Bewegungen von Arbeiter*innen im Bergbau und in der Landwirtschaft sowie indigene Organisationen vereinen und aus dieser Einheit ihre Stärke ziehen. Die politische Vertretung des Landes befinde sich jetzt jedoch in der Krise und die sozialen Organisationen seien „zerbrochen“, warnt Jorge Richter, der Sprecher des Präsidenten, vor einem „Parallelismus“ in den sozialen Bewegungen.

Von einer „selbstmörderischen Einstellung“ der MAS spricht Journalist Molina, bevor er hinzufügt: „Das schlimmste Szenario für die bolivianische Linke ist, dass die MAS die Wahl 2025 verliert und aufgrund der Spaltung der sozialen Organisationen keine Kraft hat, sich der neuen Regierung entgegenzustellen.“ Dann könne der Neoliberalismus nach Bolivien zurückkehren, weil niemand in der Lage sei, die sozialen und politischen Errungenschaften der vergangenen Jahre zu verteidigen.

Wenn im zweiten Halbjahr 2025 tatsächlich Arce und Morales gegeneinander kandidieren sollten, wird auch die Frage, wer unter dem Akronym MAS antreten darf, bedeutend. Das Parteikürzel der Bewegung zum Sozialismus steht heute für den einschneidenden gesellschaftlichen Wandel, den Bolivien in den vergangenen beiden Jahrzehnten erlebt hat, sowie vier siegreiche Präsidentschaftswahlen seit 2005. Im Falle eines Streits um die Nutzung der Abkürzung würde die Entscheidung beim Obersten Wahlgericht liegen. „Für diesen Namen könnte Blut fließen, denn es ist ein sehr mächtiger Name in einer Wahl“, warnt Fernando Molina bereits.

NICHT ALLES HARMONISCH

Für die MAS läuft nicht alles rosig Präsident Luis Arce und Expräsident Evo Morales bei einer Demonstration (Foto: ABI)

Als Luis Arce im Oktober 2020 mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staates Bolivien gewählt wurde, war das Ergebnis in dieser Deutlichkeit für viele eine große Überraschung. Die Wahl brachte somit die Erkenntnis: Die Bewegung zum Sozialismus (MAS) kann auch ohne ihre Identifikationsfigur Evo Morales, Präsident von 2006 bis 2019 und immer noch Parteivorsitzender, Wahlen gewinnen. Sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat erreichte die linke Partei 2020 wieder eine absolute Mehrheit.

Ein Jahr zuvor hatte es noch ganz anders ausgesehen: Die Wahlen 2019 hatten Morales und die MAS zwar gewonnen. Nach Vorwürfen des Wahlbetrugs und tagelangen Protesten auf den Straßen sowie einem Aufstand von Teilen der Polizei forderten Militärs jedoch Morales Rücktritt und er flüchtete aus dem Land. Die Macht übernahm als selbsternannte Übergangspräsidentin die rechte Senatorin Jeanine Áñez, die dann ein Jahr lang an dem Amt festhielt. In den Wochen nach ihrer Amtsübernahme lieferten sich Anhänger*innen aus verschiedenen politischen Lagern gewalttätige Auseinandersetzungen – sowohl untereinander als auch mit Polizei und Militär. Im November 2019 kam es dabei an mehreren Orten zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Massakern und außergerichtlichen Hinrichtungen durch die De-facto-Regierung von Áñez, beklagte die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in ihrem Bericht vom Juli 2021. Dabei wurden mindestens 37 Menschen getötet und Hunderte verletzt.

Mit der Wahl von Luis Arce ist die Linke wieder an der Macht und die Lage scheint sich beruhigt zu haben. Arce, der als enger Vertrauter von Morales gilt, ist Ökonom und war während dessen Präsidentschaft Wirtschaftsminister. Er steht für den sozial gerechten wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien. Nach zwei Jahren ist die Bilanz seiner Regierung nicht schlecht:

Die COVID-19-Pandemie hat zwar schmerzhaft die Schwächen der Gesundheitsversorgung in Bolivien aufgezeigt, monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte trafen vor allem Menschen, die ihr Essen und Geld für andere Ausgaben von Tag zu Tag verdienen müssen: Taxifahrer*innen und Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen und die bäuerliche Bevölkerung. Die wirtschaftliche Situation hat sich inzwischen aber erholt, Boliviens Bruttoinlandsprodukt wuchs im Jahr 2021 um 6,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das Land weist derzeit die niedrigste Inflationsrate in ganz Lateinamerika auf, im August 2022 lag sie im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 1,6 Prozent.

Die Regierung Arce setzt auf öffentliche Investitionen und verspricht eine Strukturpolitik, die Wertschöpfungsketten zunehmend im Land hält. Nach dem jahrzehntelangen Ausverkauf der heimischen Rohstoffe an ausländische Firmen kündigt die Regierung eine nationale Industrialisierung von Lithium an. Bislang ist Bolivien jedoch weiter stark vom Export von Rohstoffen wie Erdgas und Gold abhängig, und damit auch von der Höhe der Preise auf dem Weltmarkt. Zudem plant die Regierung staatlich finanzierte Megaprojekte, den Bau von Straßen, Industrieanlagen, Gesundheitszentren, Plätzen und Parks im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar. So soll bis zum „Bicentenario“, dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Boliviens am 6. August 2025, die Wirtschaft des Landes gestärkt und die Lebenssituation der Bolivianer*innen verbessert werden.

Sogar der IWF hob Mitte September 2022 die Erfolge des Landes bei der Stabilisierung der Wirtschaft und der Armutsbekämpfung hervor. Er empfahl aber auch, die Bindung der bolivianischen Währung Boliviano an den Dollar-Kurs und staatliche Subventionen wie die für Kraftstoffe zu überprüfen. Präsident Arce lehnte diese „alten Rezepte“ umgehend ab: „Unser soziales, gemeinschaftliches und produktives Wirtschaftsmodell ist souverän und zeigt weiterhin seinen Erfolg beim Abbau sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten in Bolivien“, twitterte er.

Auch im Ausland wirbt Boliviens Präsident für das, was er in seinem gleichnamigen Sachbuch als ein „erfolgreiches und gerechtes Wirtschaftsmodell“ beschreibt. Anfang September traf er sich in Brasilien mit Präsidentschaftskandidat Lula da Silva und schenkte ihm das Buch. Zu anderen sich als links verstehenden Regierungen Lateinamerikas suchte Boliviens Staatschef ebenfalls den Kontakt, traf sich in den vergangenen Monaten mit den Präsidenten von Chile und Peru, Gabriel Boric und Pedro Castillo. Mitglieder des chilenischen Verfassungskonvents erkundigten sich außerdem im Zuge der Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Bolivien zu Themen wie Plurinationalität.

Als besonders eng gilt das Verhältnis zu Argentinien und dem dortigen Präsidenten Alberto Fernández. Beide Staaten gehören zu den Ländern mit den größten Vorkommen an Lithium weltweit und vereinbarten eine Zusammenarbeit bei der Herstellung von Zellen und Batterien. Im September 2022 präsentierte Luis Arce dann in der UN-Vollversammlung 14 Vorschläge für eine sozial gerechtere Welt, darunter der Zugang zu Gesundheitssystemen für alle Menschen, die Industrialisierung von Lithium zum Wohle aller und als Grundpfeiler einer Energiewende sowie Ernährungssouveränität in Harmonie mit der Erde.

Dennoch ist nicht alles harmonisch in Bolivien. Ausgerechnet an einem nur scheinbar wenig konfliktgeladenen Thema entzündete sich im August 2022 der permanent schwelende Konflikt zwischen der Zentralregierung und der MAS einerseits und ihren politischen Gegner*innen vor allem im östlichen Tiefland Bolivien andererseits: am Zensus. Präsident Arce hatte die für November 2022 geplante Erhebung statistischer Bevölkerungsdaten auf Mitte 2024 verschieben lassen. Darauf folgte ein Aufschrei der Opposition. Der ultrarechte Gouverneur des Departements Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, rief im August 2022 zu einem zweitätigen Streik auf und forderte, der Zensus müsse noch 2023 stattfinden. Zuletzt drohten die einflussreichen Bürgerkomitees in Santa Cruz sogar mit einem unbefristeten Streik, falls die bolivianische Regierung dieser Forderung nicht nachkommt.

Denn beim Zensus, der etwa alle zehn Jahre erhoben wird, geht es nicht zuletzt um Geld und politischen Einfluss. Das Departement Santa Cruz gilt als wirtschaftsstärkste Region des Landes, seine Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra ist mittlerweile die bevölkerungsreichste Stadt Boliviens und wächst weiter. Eine höhere Zahl an Einwohner*innen bedeutet für Städte und Regionen wiederum mehr finanzielle Zuwendungen aus Steuern und mehr Parlamentssitze. Hinzu kommt der andauernde Konflikt zwischen dem in der Mehrheit politisch konservativen, von Nachkommen der Einwander*innen aus Europa geprägten Santa Cruz und der Zentralregierung in La Paz im Hochland. Luis Fernando Camacho selbst spielte bei den Protesten gegen Morales 2019 eine zentrale Rolle, als er mit der Bibel in der Hand in den Präsidentenpalast eindrang, um Morales zum Rücktritt zu drängen. Den Streik in Santa Cruz bezeichneten Anhänger*innen der Regierung als erneuten Versuch eines rechten Staatsstreichs. Ende August 2022 zogen Zehntausende Menschen bei einem „Marsch zur Verteidigung der Demokratie und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus“ von der Millionenstadt El Alto zum Regierungssitz La Paz, um ihre Unterstützung für die Regierung von Präsident Arce zu demonstrieren. „Das Volk will keine Putsche mehr!“, betonte Arce dort in einer Rede. „Es wird sich nicht von der Rechten verführen lassen, weil es seit 2019 gelernt hat, dass die Rechte sich nur die eigenen Taschen füllen und die der Bevölkerung leeren will“. Zum Protest aufgerufen hatten auch Basisbewegungen, die traditionell eng mit der MAS verbunden sind: der Pakt der Einheit, der Dachverband der Gewerkschaften Boliviens (COB) sowie die Organisation indigener Bäuerinnen Bartolina Sisa.

Doch das Verhältnis der Regierung zu anderen Gruppen der Zivilgesellschaft wirkt getrübt. So wurde die frühere Übergangspräsidentin Jeanine Áñez im Juni 2022 für die Amtsübernahme 2019 zu zehn Jahren Haft wegen Verstößen gegen die Verfassung verurteilt, ein Prozess wegen der Massaker im November 2019 steht aber noch aus. Opfer und ihre Angehörigen klagen bis heute darüber, dass sie von der Regierung im Stich gelassen und nicht entschädigt worden seien. Indigene Organisationen und Naturschützer*innen kritisieren die Zerstörung der Umwelt und indigener Territorien durch den Bau von Straßen und Staudämmen sowie durch den Bergbau ebenso wie die immense Abholzung des Regenwaldes für Sojaanbau und Viehwirtschaft. Auch gegen den Machismo und geschlechtsspezifische Gewalt, die allgegenwärtige Korruption, Vetternwirtschaft und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz werden Proteste lauter. Diese kritischen Stimmen zu ignorieren, könnte für Luis Arce und der MAS durchaus gefährlich werden. Die Mobilisierungen gegen Morales in den drei großen Städten La Paz, Santa Cruz und Cochabamba im Jahr 2019 hatten bereits gezeigt, dass es der MAS in der wachsenden urbanen Mittelschicht an Rückhalt fehlt. Und auch bei den Regionalwahlen im März 2021 erzielte die Partei ein eher durchwachsenes Ergebnis.

Neue Goldgrube Der Lithiumabbau im Salar de Uyuni könnte Bolivien wirtschaftlich nachhaltig stärken (Foto: Coordenação-Geral de Observação da Terra/INPE via Flickr , CC BY-SA 2.0)

Die Wahl von Arce schien auch die Möglichkeit einer leichten politischen Neuausrichtung, doch offenbar ist es für den Präsidenten und Teile der MAS schwierig, den langen Schatten von Evo Morales zu verlassen. Morales selbst hatte Anfang 2020 in seinem damaligen Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, 2019 noch einmal anzutreten und für eine insgesamt vierte Amtszeit in Folge zu kandidieren. Jetzt scheint sich der immer noch einflussreiche Parteivorsitzende der MAS für eine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2025 vorzubereiten. Dabei kommt es auch innerhalb der Partei zu Streitereien, die von den oppositionellen Medien genüsslich als Zeichen eines kommenden Zusammenbruchs der MAS gedeutet werden: Anfang September beschwerte sich Morales, dass Regierungsminister Eduardo del Castillo und Teile des Kabinetts einen „Plan Negro“ verfolgten, um ihn zu diskreditieren und seine Kandidatur im Jahr 2025 zu verhindern. Del Castillo antwortete darauf nicht weniger drastisch und bezeichnete die früheren Minister der Regierung Morales als „Krebsgeschwüre“, die den Staatsstreich im Jahr 2019 nicht verhindert hätten. Diese Auseinandersetzungen innerhalb der MAS übertönen im aktuellen politischen Geschehen gesellschaftliche Probleme wie die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit und Armut, Kriminalität und Korruption und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, die strukturelle Diskriminierung von Frauen und Mädchen und Umweltzerstörungen. Gerade diese Themen sind es jedoch, die in einem Land wie Bolivien, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist, derzeit an Aufmerksamkeit gewinnen. Anfang dieses Jahres waren mehrere Tausend Frauen zum Gerichtshof in La Paz gezogen, um gegen machistische Gewalt und die Korruption in der Justiz zu demonstrieren. In Bolivien werden jedes Jahr mehr als 100 Frauen und Mädchen Opfer von Feminiziden, werden aufgrund ihres Geschlechts getötet. „Ist Dir klar, wie wenige der mehr als 100 Feminizide, die in Bolivien jedes Jahr verübt werden, vor Gericht gebracht werden und wirklich Gerechtigkeit erfahren? Es gibt so viele Fälle von Morden an Frauen, und viel zu häufig bleiben Vergewaltiger und Frauenmörder unter dem Schutz von Staat und Justiz straffrei“, mahnte Kiyomi Nagumo, Aktivistin der ökofeministischen Gruppe Salvaginas.

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

Zu diesen neuen, progressiven Forderungen gehört auch der Anspruch, dass die linke Regierung das häufig betonte Leben im Gleichgewicht mit der Mutter Erde verwirklicht und das neo-extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja und der Viehwirtschaft für den Export überdenkt. Die Geschichte Boliviens ist geprägt von der Ausbeutung von Ressourcen auf Kosten der Menschen und der Natur – erst durch die spanischen Invasoren, die Silber aus Bolivien raubten, nach der Unabhängigkeit machten dann lokale Eliten und transnationale Konzerne mit Zinn und Kautschuk ein Vermögen.

Diesen historischen Fehler will die bolivianische Regierung beim Metall Lithium nicht wiederholen und kündigt deshalb eine Industrialisierung des Rohstoffes im eigenen Land an. Nach Lithium gibt es weltweit eine sehr große Nachfrage, der seltene Rohstoff gilt als Schlüsselmetall in der Batterietechnologie für Elektrofahrzeuge. Bolivien verfügt im Salar der Uyuni, dem größten Salzsee der Erde, über etwa ein Fünftel der weltweit bekannten Vorkommen an Lithium. Von Bedeutung ist deshalb, wie die Regierung den Abbau und eine Industrialisierung umsetzt, die Ansprüche der am Salar de Uyuni lebenden Gemeinschaften regelt und gleichzeitig mögliche Umweltzerstörungen durch den Abbau von Lithium und durch den hohen Verbrauch von Wasser für die Gewinnung des Metalls verhindert.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

DIE URBANE BASIS FEHLT

Für die Regierung auf die Straße Die Marcha por la patria von MAS-Anhänger*innen in Achica Arriba, kurz vor La Paz (Foto: Josué Antonio Castañeta – ABI)

„Hier ist dein Volk, Bruder Lucho, es wird dich nicht verlassen“ rief Evo Morales dem aktuellen Präsidenten Luis Arce auf dem Plaza San Francisco im Zentrum von La Paz zu, als die Marcha por la patria (Marsch für das Vaterland) in der Innenstadt der Andenmetropole ankam. Der amtierende Präsident zeigte sich sichtlich gerührt und hatte Tränen in den Augen. Zuletzt hatten sich immer mehr Verbände und soziale Organisationen dem Marsch angeschlossen, auch die mächtigen Nachbarschaftsvereinigungen des benachbarten El Alto, die FEJUVES, beteiligten sich an der Mobilisierung. Deren Vizepräsident Ramón Quispe ließ verlauten: „El Alto hat sich immer darin ausgezeichnet, die Demokratie zu verteidigen und das werden wir auch weiterhin machen.“

Die Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) und die sozialen Bewegungen sahen sich gezwungen, die Demonstration der Unterstützung für die aktuelle Regierung auf der Straße zu organisieren, nachdem die Administration Arce durch Proteste der Opposition unter Druck geraten war. Diese hatten seit Oktober mit Streiks und Blockadeaktionen begonnen und so auf sich aufmerksam gemacht. Vor allem die Bürger*innenkomitees aus Santa Cruz und Potosí sahen sich unter Zugzwang. Die Ermittlungen wegen des erzwungenen Rücktritts von Evo Morales 2019 und den Massakern in Senkata und Sacaba (siehe LN 547 und LN 549) hatten bereits dazu geführt, dass Luis Fernando Camacho, der Gouverneur von Santa Cruz, wie auch sein Vater von der Staatsanwaltschaft zur Vernehmung vorgeladen wurde.

Camacho, zentrale Figur der Ereignisse im Jahr 2019, als Militärs den Rücktritt von Evo Morales forderten, ist auf einem Video zu sehen, das auf Dezember 2019 datiert ist. Dort erläutert er Mitstreiter*innen, dass sein Vater mit Führungsfiguren der Militärs und der Polizei gesprochen habe, um diese davon zu überzeugen, nicht gegen die Proteste vorzugehen, die schließlich zum Sturz von Evo Morales führten. Viele sehen in dem Video einen Beweis, dass es sich bei den Ereignissen vor zwei Jahren um einen Putsch handelte.

Opposition geht in die Offensive

Mit den Protestaktionen, die am 11. Oktober begannen, versuchte die Opposition wieder in die Offensive zu gelangen. Gelegenheit bot das Gesetz 1386, das die Bekämpfung von Geldwäsche und der Finanzierung von Terrorismus regeln sollte. Der Präsident des Bürger*innenkomitees von Santa Cruz, Rómulo Calvo sprach von „politischer Verfolgung“. Auch Händler*innen wendeten sich gegen die Rechtsverordnung. Diese fürchteten, dass der Staat die Gewinne der informellen Ökonomie abschöpfen wolle.

Die Ablehnung des Gesetzes durch die zwei unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft führte zu einer starken Dynamik, die die Regierung letztendlich zwang, das Gesetz zurückzunehmen. Dabei kam es zunächst nur lokal begrenzt zu Streikmaßnahmen. Die MAS versuchte es mit einer Gegenmobilisierung, die in einigen Regionen, wie in La Paz, auch gelang. Hier war von den angekündigten Blockaden so gut wie nichts zu verspüren. Und selbst in der Hochburg der Opposition, Santa Cruz, wurde der Streik nur teilweise befolgt. In Stadtvierteln in denen die MAS Anhänger*innen hat, kam es zum Teil zu Ausschreitungen zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen.

Dass die Regierung dennoch das Gesetz zurückzog und der Opposition damit einen Überraschungserfolg bescherte, lag daran, dass es Arce nicht gelang, die Händler*innen und Fernfahrer*innen davon zu überzeugen, dass das Gesetz gegen Geldwäsche den informellen Sektor nicht betreffen würde. Das Kommunikationsdesaster der Regierung führte dazu, dass die Bürger*innenkomitees in der Debatte die Oberhand gewannen. Als es zu einem eilig einberufenen Runden Tisch durch die Regierung in der ersten Novemberhälfte Absagen der Berufsverbände hagelte und die Fernfahrer*innen mit landesweiten Blockaden drohten, nahm die Regierung das Gesetz zurück.

Der Sieg der Opposition führte auch zu Kritik aus den eigenen Reihen. Juan Ramón Quintana, unter Morales Minister des Präsidialamtes, monierte: „Wir sind in eine schwierige Lage geraten, unseren Genossen in der Regierung und im Parlament fehlte die notwendige politische und ideologische Reife, um auf die Straße zu gehen und das Gesetz zu verteidigen.” Nicht zuletzt deshalb formierte sich der Marsch auf La Paz. Die MAS möchte nicht wieder, wie 2019, auf der Straße in die Defensive geraten. Insbesondere die erfolgreichen Mobilisierungen in den drei großen Städten La Paz, Santa Cruz und Cochabamba zeigten damals, dass es der MAS an Rückhalt in den Städten fehlt. Der Analyst Boris Ríos weist darauf hin, dass der populäre urbane Sektor ohne Koordination gewesen sei und die Partei auf diesen Teil der Gesellschaft nicht eingehen würde.

Das gilt auch für kleinere Städte im andinen Hochland. Yhilmer Poma ist dort seit einigen Monaten im Stadtrat für die Liste Jallalla in Viacha, einer Stadt vor den Toren El Altos. Der Aktivist setzt sich seit Jahren für Verbesserungen in der Jugendpolitik der Kommune ein, „Jallalla war offen für unsere Vorschläge, die MAS nicht“ meint der junge Politiker. Nun macht er Politik für die Liste des „Mallkus“, Felipe Quispe, der im Jahr 2020 den Widerstand im Departamento La Paz gegen die Übergangsregierung Añez in La Paz koordinierte und im Januar vergangenen Jahres überraschend an einem Herzinfarkt gestorben ist. Das Departamento La Paz wurde bei den Regionalwahlen Anfang des Jahres von Jallalla gewonnen, nicht von der MAS. In El Alto trat die bekannte Politikerin Eva Copa für die Liste an, nachdem sie von Evo Morales nicht als Kandidatin der MAS für die zweitgrößte Stadt Boliviens berücksichtigt wurde. Sie gewann prompt mit knapp 70 Prozent, dem Stimmenanteil, den die MAS in der Stadt bei den Präsidentschaftswahlen holte.

Die MAS, so meint Stadtrat Poma, sei sehr hierarchisch strukturiert und würde von oben dirigiert. So war es auch im Wahlkampf in Viacha und sei es jetzt in der Arbeit im Stadtrat: „Mit den jüngeren Stadträten*innen der MAS ist die Zusammenarbeit und der Austausch möglich, aber mit den Älteren ist es sehr schwierig.“

Solange dieses hierarchische Prinzip herrscht, wird es für die MAS schwer sein, eine solide Basis in den Städten aufzubauen. Zwar will die Partei das nun unter Führung von Evo Morales angehen. Aber die Mobilisierung des Marsches für das Vaterland hat gezeigt, dass es immer noch die traditionelle Basis der MAS ist, wie die Frauenorganisation Bartolina Sisa, die indigenen Organisationen des Einheitspakts (Pacto de Unidad) und des nationalen Gewerkschaftsverbandes COB, der den Marsch federführend orga-*nisierte, die das Rückgrat der Macht bilden.

Das Problem ist in der MAS bekannt. Der Analyst Gabriel Villalba, der die Regierung unterstützt, ist davon überzeugt, dass sich die MAS hier erneuern muss, wenn sie in den Ballungszentren eine solide Basis zurückgewinnen will. Zwar sind die Städte nach wie vor durch die Migration vom Land geprägt, die Migrant*innen seien inzwischen jedoch in der dritten Generation, so Villalba, „ihre Eltern sind vom Land in die Stadt gekommen, aber die jetzige Generation hat in der Stadt eine Schule besucht, ist zur Uni gegangen. Diese Generation hat eine andere Perspektive, die sich von denen ihrer Eltern und Großeltern unterscheidet. Wenn man am historischen indigenen Subjekt hängen bleibt, das aus dem ländlichen Raum kommt, hat man kein klares Panorama. Heute geht es nicht mehr nur darum, die Leute aus der Armut zu holen, sondern es gilt zu erklären, wohin die Reise gehen soll, dafür braucht es Projekte der Zukunft.“

Zum Beispiel in der Jugendpolitik, für die sich Yhilmer Poma im Stadtrat von Viacha einsetzt. Und hier, so der Jungpolitiker, ginge es zumindest auf kommunaler Ebene oftmals weniger um die Parteizugehörigkeit als um die Person, wie das Ergebnis für Eva Copa in El Alto gezeigt habe. „Die MAS setzte auf die Partei, aber auf der kommunalen Ebene entscheidet die Person, nicht die Partei.“ Für den aktuellen Konflikt interessiert sich Poma nur am Rande: „Die zwei politischen Kräfte werden sich weiterhin gegen-*überstehen, aber die Mobilisierungen werden sich jetzt totlaufen, nächstes Jahr gibt es vielleicht eine neue Runde“, meint er schulterzuckend.

Dort die proletarisierten Indigenen, hier die kreolische weiße Oberschicht

Sollte es so kommen, dann bleibt das Patt im Herzen Südamerikas bestehen. Die MAS ist zwar die politisch stärkere Kraft, wird die Opposition aber nicht besiegen können. Diese wiederum wird versuchen, mit Aktionen die Regierung zu schwächen. Eine konstruktive Opposition wird es mit den Bürger*innenkomitees, den Oppositionsparteien Creemos (Wir glauben) und Comunidad Ciudadana (Bürgergemeinschaft) nicht geben. Sie sind ebenfalls in der Vergangenheit verhaftet, wenngleich in einer anderen, der der katholischen Republik, in der die rassistisch begründeten Klassenverhältnisse klar waren: dort die proletarisierten Indigenen und hier die kreolische weiße Oberschicht.

Anfang Dezember veranstaltete die MAS in Mizque ihren elften Kongress auf dem Land in Zentralbolivien. Im staatlichen Fernsehen zählte der Vorsitzende der Partei, Evo Morales, die Organisationen auf, die an der Versammlung teilnahmen. Es war vor allem die traditionelle Basis, die anwesend war. Dem ehemaligen Präsidenten zufolge gehe es „um die Auswertung des Marsches fürs Vaterland, wir wollen sehen, welche neuen Mobilisierungen möglich sind“. Er sprach davon, dieses Mal auf die Hauptstadt Sucre und Santa Cruz, die Hochburg der Oppositionellen, zu marschieren. Er sprach von dem historischen Kampf gegen den kolonialen Staat und gegen den Neoliberalismus. Zu Ideen, wie Wählerschichten in den Ballungszentren gewonnen werden können, wie sich die MAS erneuern könnte, um an die veränderten Realitäten im Land anzudocken, sagte er kein Wort.

DER LANGE SCHATTEN VON EVO MORALES

Wie weiter? Präsident Luis Arce und Parteichef Evo Morales beim 26. Jahrestag der MAS (Foto: Ricardo Carvallo Terán, ABI, frei verfügbar)

Die Freiheit von Jeanine Áñez endete versteckt in einem Bettkasten. Früh am 13. März wurde sie unter einer Matratze im Haus ihrer Verwandten in Trinidad, der Hauptstadt des Departamentos Beni, von Polizeikräften entdeckt, dann festgenommen und nach La Paz geflogen. Der Vorwurf der Generalstaatsanwaltschaft: Beteiligung am damaligen Putsch gegen Präsident Evo Morales, außerdem Verschwörung, Aufwiegelung und Terrorismus. Morales und die Bewegung zum Sozialismus (MAS) hatten bei den Wahlen im Oktober 2019 zwar gesiegt, unter Vorwürfen des Wahlbetrugs wurde Evo Morales jedoch mit Unterstützung von Militärs zur Flucht aus dem Land gezwungen (LN 547). Die Macht übernahm als selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, die sich dann ein Jahr lang an dem Amt festhielt.

Am Tag vor Áñez’ Festnahme waren bereits zwei frühere Minister ihrer De-facto-Regierung verhaftet worden: Rodrigo Guzmán (Energie) und Álvaro Coimbra (Justiz). Weitere Minister*innen sind auf der Flucht, darunter der ehemalige Innenminister Arturo Murillo und der frühere Verteidigungsminister Fernando López; beide hatten sich direkt nach dem Wahlsieg der MAS im Oktober 2020 in die USA abgesetzt. Auch ehemalige Polizeikommandeur*innen und hohe Militärs werden von der Justiz gesucht.

Der Vorstoß der Staatsanwaltschaft kam nicht überraschend, viele hatten ihn längst erwartet. Bemerkenswert ist allerdings der Zeitpunkt nur sechs Tage nach den Regionalwahlen, bei denen am 7. März 2021 Gouverneur*innen, Regionalparlamente und Bürgermeister*innen neu bestimmt wurden. Wurde mit der polarisierenden Aktion absichtlich gewartet bis nach dem Wahltag? Oder sollte damit politische Handlungsfähigkeit gezeigt werden? Nach dem großen Erfolg bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl im Oktober 2020 erreichte die MAS nun bei den Regionalwahlen ein eher durchwachsenes Ergebnis, kann ihre Macht in ländlichen Regionen aber festigen: In den vier größten Städten Boliviens, Santa Cruz, El Alto, La Paz und Cochabamba verpasste sie wie schon 2015 das Bürgermeisteramt, in anderen Großstädten verlor sie deutlich. Bei den Wahlen der Gouverneur*innen siegte die MAS in drei der neun bolivianischen Departamentos, in vier weiteren erreichte sie die Stichwahl am 11. April.

Áñez räumte den Militärs per Dekret Straffreiheit ein


Die Rechte Boliviens verzeichnete bei den Regionalwahlen einige Erfolge, bleibt dabei aber zersplittert: In der Oppositionshochburg Santa Cruz siegte bei der Gouverneurswahl der rechtsklerikale Populist Luis Fernando Camacho, der im November 2019 die Proteste gegen Evo Morales organisiert und dann mit Bibel und Nationalflagge in den Händen den alten Präsidentenpalast in La Paz symbolisch zurückerobert hatte. Neuer Bürgermeister in La Paz wird Iván Arias, ein ehemaliger Minister der Regierung von Áñez. Während Camacho und Arias sich mit ihrer geplanten Amtsübernahme Anfang Mai Immunität vor Strafverfolgung sichern könnten, bleibt diese für Jeanine Áñez unerreichbar: Sie kandidierte im Amazonas-Departement Beni als Gouverneurin, landete bei der Wahl aber nur auf dem dritten Platz.

Innerhalb der MAS hatte die Auswahl mancher Kandidat*innen zuvor für Streit gesorgt. In El Alto, der Stadt Potosí und Cochabamba beklagten protestierende Parteianhänger und verbündete soziale Bewegungen, dass Evo Morales als Parteivorsitzender die Kandidat*innen per dedazo, per Fingerzeig, bestimme, statt die Parteibasis entscheiden zu lassen. Besonders hitzig war der Konflikt in El Alto, Boliviens zweitgrößter Stadt, die von ländlicher, indigener Bevölkerung und starken sozialen Organisationen geprägt ist: Dort wurde die populäre ehemalige Senatspräsidentin Eva Copa trotz großer Chancen auf das Amt als Bürgermeisterin von der MAS-Parteispitze nicht aufgestellt – Copa entschied sich deshalb für eine Kandidatur in der neuen Gruppierung Jallalla La Paz, mit der sie die Wahl mit überragenden 69 Prozent der Stimmen gewann. Im Departamento Pando wird die frühere MAS-Politikerin Ana Lucía Reis für eine andere Partei Bürgermeisterin der Hauptstadt Cobija, die Stichwahl um das Gouverneursamt erreichte Regis Richter, der zuvor von sozialen Bewegungen als MAS-Kandidat bevorzugt, dann aber von der Parteispitze abgelehnt wurde.

Es brodelt an manchen Stellen innerhalb der MAS. Dabei hatten manche kurzzeitig eine mögliche Neuaufstellung der MAS vorausgesehen, als im Oktober 2020 Luis Arce mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staats Bolivien gewählt worden war. Das Ergebnis war damals in dieser Deutlichkeit eine große Überraschung, genauso wie die Erkenntnis: Die MAS kann auch ohne ihre Identifikationsfigur, den Parteivorsitzenden und langjährigen Präsidenten Evo Morales (2006-2019) gewinnen. Nach fast 14 Jahren an der politischen Macht gab es innerhalb sozialer Bewegungen und der MAS gerade von Seiten junger Menschen durchaus den Wunsch, die Korruption und den machismo stärker zu bekämpfen und Themen wie Feminismus und Umweltschutz mehr zu berücksichtigen. Es schien der Zeitpunkt einer Abnabelung gekommen − von Evo Morales und seinem einflussreichen Umfeld in Regierung und Partei. „Wir werden regieren, indem wir auf das bolivianische Volk hören“, hatte Vizepräsident David Choquehuanca noch als Kandidat vor der Wahl 2020 erklärt, „und sie fordern, dass die Entourage [von Morales] nicht zurückkehrt.“ Doch nur einen Tag nach der Vereidigung Arces am 8. November 2020 überquerte Morales von Argentinien aus die Grenze zu Bolivien, wo er von Tausenden Anhängern empfangen und auf einem Konvoi durch das halbe Land begleitet und bejubelt wurde.

Es brodelt an manchen Stellen innerhalb der MAS


Nachdem Morales nach einem Jahr im Exil zurückkehrte und als Parteivorsitzender der MAS im Regionalwahlkampf allgegenwärtig war und aus der ersten Reihe Entscheidungen trifft, scheint Präsident Arce häufig im langen Schatten der Identifikationsfigur Morales zu stehen. Am Tag der Festnahme von Áñez war es Morales, der sich via Kurznachrichtendienst Twitter meldete und in einem Tweet forderte: „Für Gerechtigkeit und Wahrheit für die 36 Todesopfer, die mehr als 800 Verwundeten und die mehr als 1.500 bei dem Staatsstreich illegal Inhaftierten. Dass die Täter und Komplizen der Diktatur, die die Wirtschaft ausgeplündert und das Leben und die Demokratie in Bolivien angegriffen haben, untersucht und bestraft werden.“ Áñez und die früheren Minister selbst nannten ihre Festnahmen „illegal“, sie sprachen von „politischer Verfolgung“ und „Machtmissbrauch“. Zu ihrer Unterstützung organisierten die rechten Bürgerkomitees von Santa Cruz, La Paz und Cochabamba große Kundgebungen.

Die Verhaftung von Áñez und Co. schlug auch international Wellen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) forderte die Freilassung der Gefangenen „bis zu unparteiischen Prozessen“ und schlug eine internationale Kommission zur Untersuchung der letzten Regierungsperiode des ehemaligen Präsidenten Morales bis zur Gegenwart vor − ein Vorschlag, den zwölf ehemalige Präsident*innen der Region, darunter Luiz Inácio „Lula“ da Silva und Dilma Rousseff aus Brasilien, in einer gemeinsamen Erklärung entschieden ablehnten. Die USA forderten die Freilassung von Áñez und ihren Ministern, die Europäische Union und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte forderten ordentliche Verfahren und eine transparente Justiz frei von politischem Druck. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador bewertete dagegen die Aufnahme des Verfahrens positiv.

Jeanine Áñez und ihre ehemaligen Minister sitzen nun erst einmal sechs Monate in Untersuchungshaft. Ihnen werden von der Generalstaatsanwaltschaft vor allem zwei folgenschwere Vorwürfe gemacht: Erstens der des Staatsstreichs, wobei die Opposition zur Verteidigung von Áñez argumentiert, diese habe gemäß der Rangfolge in der bolivianischen Verfassung das Amt als Präsidentin übernommen. Deshalb werden in Bolivien jetzt auch gründlich entscheidende Details diskutiert: Wann und warum genau hatte sich Morales 2019 zum Rücktritt und zur Flucht entschieden? War das, als ihn Oberbefehlshaber des Militär unter Druck setzten oder war der entscheidende Auslöser bereits zuvor die bröckelnde Unterstützung durch Verbündete wie den mächtigen Gewerkschaftsdachverband Central Obrera Boliviana (COB)? Auch die Rolle der geplanten Ausbeutung von Lithium und eine vermutete Finanzierung des Putsches durch die Regierung Großbritanniens wird ausgiebig erörtert.

Der zweite schwerwiegende Vorwurf der Anklage sind die Massaker in Senkata (La Paz), Sacaba (Cochabamba) und anderen Orten an Demonstrant*innen, bei denen im November 2019 nach offiziellen Ermittlungen mindestens 35 Menschen getötet und 833 verletzt wurden. Nach der Machtübernahme war es damals in mehreren Landesteilen zu massiven Kundgebungen für Evo Morales und gegen die rechte De-facto-Regierung gekommen, und zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften und zwischen verschiedenen politischen Lagern. Einen Tag nach ihrer Vereidigung als Präsidentin erließ Jeanine Áñez das Dekret 4078, das dem Militär bei Einsätzen zur Herstellung der öffentlichen Ordnung Straffreiheit einräumte – praktisch die Erlaubnis für das Militär, die Proteste mit brutaler Gewalt zu beenden. Und erst 20 Tage später, als die Proteste im Land nachließen, wurde das Dekret wieder aufgehoben.

Jeanine Áñez und die anderen Angeklagten sitzen nun erst mal sechs Monate lang in Untersuchungshaft. Boliviens Justizminister Iván Lima forderte bereits eine Strafe von 30 Jahren Haft für Áñez. Luis Arce meldete sich zweieinhalb Wochen nach der Festnahme von Jeanine Áñez dann doch noch und bekräftigte, dass die Justiz eine Strafverfolgung wegen Putsches verfolge: „Wir stellen hier noch einmal klar, dass es im November 2019 einen Staatsstreich gab“, sagte Arce am 1. April. Die Menschen würden Gerechtigkeit fordern, und diesem Wunsch werde man nachkommen, betonte er.

ERWARTUNGEN UND ZWEIFEL

Ein Jahr danach Gedenken an die Opfer des Massakers von Senkata (Foto: Thomas Guthmann)

Ein weitläufiger Platz in Senkata. Vor einem Bankgebäude ist ein Pavillon aufgestellt, darin ein langer Tisch, auf dem Fotografien stehen, die von Gebäck gesäumt sind, geschmückt mit bunten Pasankallas, einer Art Popkorn. An diesem Allerheiligen gedenken Nachbar*innen der Opfer des Massakers von Senkata.

Am 19. November vergangenen Jahres, mitten in der politischen Krise nach dem Abgang von Evo Morales, drangen in den frühen Morgenstunden Panzer in den Stadtteil von El Alto ein. Die Operation von Militärs und Polizeikräften hatte zum Ziel, die Blockade einer Raffinerie aufzuheben. Der Stadtteil ist eine Hochburg der Bewegung zum Sozialismus (MAS) und die Einwohner*innen hatten nach dem erzwungenen Rücktritt von Morales das Treibstofflager blockiert. Nachdem im benachbarten Regierungssitz der Treibstoff knapp wurde, entschloss sich die De-facto-Regierung von Jeanine Áñez zur fatalen Militäraktion. Gut ein Dutzend Menschen starben im Kugelhagel von Militär und Polizei.

„Wir wissen nicht genau, wie viele es sind“, meint David Inca von der ständigen Menschenrechtsversammlung in El Alto mit Tränen in den Augen, als er vor den Fotos steht. „Am 31. Oktober 2020 ist eines der Opfer noch seinen Verletzungen erlegen.“ Es sei ein campesino gewesen. „Viele haben sich direkt nach dem Massaker, vor einem Jahr, einfach aufs Land zurückgezogen und ihre Verletzungen aus Angst vor Repression nicht angezeigt.“ Damals ging die Angst um, Familien sollen Tote des Massakers beerdigt haben, ohne den Todesfall anzuzeigen. Es gibt auch Berichte vom Verschwindenlassen von Körpern: „Wir wissen von 13 Todesopfern, aber es ist gut möglich, dass es mehr sind.“

Inca setzte sich von Beginn an für die Opfer ein, verhandelte mit der De-facto-Regierung um Entschädigung, wurde bedroht und sogar kurzzeitig festgenommen. Heute, ein Jahr später, ist von der Spannung nicht mehr viel zu spüren. Der Akt für die Toten an Allerheiligen ist ein Akt, „um bewusst Zeit mit den Toten zu verbringen, die das ganze Jahr unter uns sind“, meint der Yatiri (Heiler der Aymara, Anm. d. Red.) während der Zeremonie. Jetzt, nach dem Wahlsieg, lassen sich Größen der MAS bei der Zeremonie blicken. Freddy Mamani, der neue Vorsitzende des Abgeordnetenhauses, Eva Copa, die bisherige Präsidentin des Senats und der frisch gewählte Präsident Luis Arce.

Für Inca ein ambivalentes Signal, einerseits gut, weil es Aufmerksamkeit bringt. Andererseits zweifelt der Menschenrechtsaktivist an einem wirklichen Aufklärungswillen der MAS. „Um einen Untersuchungsausschuss einzurichten benötigt man eine Zweidrittelmehrheit in der Plurinationalen Versammlung (Abgeordnetenhaus und Senat, Anm. d. Red.), die hatte die MAS bisher. Dennoch hat sie lange gezögert, den Ausschuss einzurichten und dann spät mit der Arbeit angefangen. In der neuen Plurinationalen Versammlung hat sie nur noch die einfache Mehrheit.“ Man werde natürlich weiter alles versuchen, um Gerechtigkeit zu erreichen, fährt er fort, zumindest auf juristischem Wege.

Die MAS hat ihre bisherige Zweidrittelmehrheit kurz vor dem Ende der jetzigen Legislatur dazu genutzt, um einige Verfahren, die nach der Parlamentsordnung nur mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden konnten, umzuwandeln: Diese können künftig schon mit absoluter Mehrheit beschlossen werden. Ob in der neugewählten Plurinationalen Versammlung eine Kommission zustande kommt, hält David Inca dennoch für nicht ausgemacht.

Am 5. November verübten Unbekannte einen Anschlag auf das Kampagnenbüro der MAS


Bei der Opposition sorgten die Modifikationen der Parlamentsordnung für große Aufregung. Sie heizten den anfänglich spärlichen Protest an. Am 3. November kam es in Santa Cruz und Cochabamba zu cabildos (Bürger*innenversammlungen) der Opposition. Am 5. und 6. November fand ein 48-stündiger Streik statt, der allerdings nur in Santa Cruz zum Stillstand führte. Geführt werden die Proteste im Tieflanddepartamento von der rechtsradikalen Gruppe Unión Juvenil Cruzeñista, einer teilweise paramilitärisch organisierten Gruppe. Damit ist der Kern der Protestierenden im Vergleich zu den Protesten nach den Wahlen im Vorjahr wesentlich radikaler.

In La Paz haben am Abend des 5. Novembers noch unbekannte Täter*innen einen Anschlag auf das Kampagnenbüro der MAS im Viertel Sopocachi verübt. Zu dem Zeitpunkt befand sich der neu gewählte Präsident Luis Arce zu einem Treffen mit seinem Kommunikationsteam in dem Gebäude. Verletzt wurde niemand.

„Sie haben versucht, gegen die Unversehrtheit des gewählten Präsidenten einen Anschlag zu verüben und vor der Amtsübergabe ein Klima der Destabilisierung zu schaffen. In El Alto werden wir vereint gegen jedweden Versuch zusammenstehen, den Willen des Volkes in Frage zu stellen“, twitterte die scheidende Senatspräsidentin der MAS, Eva Copa.

Die Proteste haben zwar nicht die Unterstützung in der Bevölkerung wie die nach den Wahlen 2019. Dennoch haben es die radikalen Kräfte geschafft, das Heft des Handelns an sich zu reißen. Bisher ist noch nicht absehbar, wie sich die Dynamik weiterentwickelt. Vieles erinnert an die erste Amtszeit von Evo Morales (2006-2009), als es in den Tieflanddepartamentos zu heftigen Protesten kam.

Von der MAS gibt es bisher nur spärliche Stellungnahmen zu den Protesten. Es scheint so, als ob man zunächst die Präsidentschaftsnachfolge am 8. November regeln möchte und sich dann diesem Problem widmen will. Dabei ist durch die Entwicklung der vergangenen Tage ein Kompromiss nur schwer vorstellbar. Zudem gibt es innerhalb der MAS und den sozialen Bewegungen die Tendenz, zur Not auch mit Gewalt gegen die Opposition regieren zu wollen. So forderte die Nationale Koordination zur Verteidigung der Demokratie laut der Nachrichtenagentur ANF die Gründung von bewaffneten Milizen zur Selbstverteidigung.

Ob in dieser Situation den Opfern der politischen Auseinandersetzungen Gerechtigkeit widerfahren wird, bleibt abzuwarten. In Senkata ist die Zeremonie inzwischen fortgeschritten, das Altarfeuer knistert vor sich hin. Iveth Savaría, die das Gedenken gemeinsam mit David Inca organisiert hat, blickt nachdenklich in die Flammen und meint: „Wir haben natürlich Erwartungen, aber auch Zweifel, ob die neue Regierung es ernst meint mit der Aufarbeitung. Wir müssen als Bürger*innen einfach weiter Gerechtigkeit einfordern, damit die Opfer nicht vergessen werden.“

ZWEITE CHANCE FÜR DIE MAS

SymboltrachtLuis Arce und David Choquehuanca bei einer Zeremonie in der Aymara-Stätte Tiwanaku (Foto: ABI, frei verfügbar)

Comeback nach einem Jahr: Mit Luis Arce stellt die Bewegung zum Sozialismus (MAS) den neuen Präsidenten Boliviens. Damit war nach dem erzwungenen Abgang von Evo Morales ins Exil am 11. November 2019 nicht zu rechnen. Damals schien die seit 2006 währende Regierungsära der MAS für längere Zeit beendet. Doch jetzt steht sie vor einem Neuanfang an der Regierung. Luis Arce, der Präsidentschaftskandidat der MAS, gewann die Wahlen am 18. Oktober mit 55 Prozent bereits im ersten Wahlgang, und sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat konnte seine Partei wieder eine absolute Mehrheit erzielen. In beiden Kammern verlor sie jedoch ihre Zwei-Drittel-Mehrheit, deshalb braucht sie für wichtige Entscheidungen wie die Wahl des Generalstaatsanwalts jetzt Stimmen aus anderen Parteien.

Das Ergebnis ist in dieser Deutlichkeit eine große Überraschung, genauso wie die Erkenntnis: Die MAS kann auch ohne Evo Morales gewinnen. Und die selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez ist fast ein Jahr nach dem Putsch gegen Morales Geschichte, Bolivien hat wieder ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt.

Für den Triumph der MAS gibt es viele Gründe. Evo Morales war und ist deren Identifikationsfigur. Aber bei der Wahl 2019 kandidierte er für eine vierte Amtszeit, die dritte in Folge unter der neuen Verfassung Boliviens von 2009 ­– dabei lässt diese nur eine Wiederwahl zu. Das verärgerte auch ehemalige Mitstreiter*innen und erleichterte der Rechten die Mobilisierung.

Morales und die MAS siegten zwar im Oktober 2019, unter Vorwürfen des Wahlbetrugs wurde Morales jedoch aus dem Amt geputscht und zur Flucht aus dem Land gezwungen. Er selbst hat Anfang dieses Jahres in seinem Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, noch einmal anzutreten.

Die MAS musste für die Neuwahl andere Kandidaten suchen und fand das passende Duo: Luis Arce ist Ökonom und war 13 Jahre Wirtschaftsminister unter Morales, er steht für den wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien und sprach als Bewerber auch die städtische Mittelschicht an. Der künftige Vizepräsident David Choquehuanca war lange Zeit Außenminister und rechnet sich der indigenen Nation der Aymara zu; er war der Kandidat der sozialen Bewegungen und der ländlichen, indigenen Bevölkerung.

Für die MAS sprach auch die Hoffnung auf Konjunkturerholung unter Ex-Wirtschaftsminister Luis Arce. Die Corona-Pandemie verschärfte die wirtschaftliche Krise in Bolivien, wegen sinkender Marktpreise verringerten sich bereits zuvor die Einnahmen durch den Export von Erdgas. Die De-facto-Regierung hielt die Landeswährung Boliviano zwar stabil, aber monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte traf vor allem Menschen, die Essen und Miete von Tag zu Tag verdienen müssen: Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen, Bäuerinnen und Bauern. Und Schätzungen zufolge arbeiten mehr als zwei Drittel der Bolivianer*innen in solchen informellen Jobs, also ohne Arbeitsvertrag und Sozialleistungen.

Áñez hielt sich fast ein Jahr an der Macht und verschob die Neuwahlen immer wieder

Die Angst, dass sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert, war bei vielen so groß wie die Hoffnung, dass sich die Lage mit der Rückkehr des Ex-Wirtschaftsministers erholen könnte und eine MAS-Regierung die weniger privilegierten, von der Krise besonders betroffenen Menschen, stärker unterstützen würde, beispielsweise durch direkte staatliche Geldzahlungen.

Auch die politische Konjunktur sprach für die MAS. Die selbsternannte Übergangsregierung von Áñez sollte eigentlich innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen organisieren. Tatsächlich hielt sie sich fast ein Jahr an der Macht und verschob die Abstimmung immer wieder. Von der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise heillos überfordert, erlangte die De-facto-Regierung Aufmerksamkeit durch Vetternwirtschaft, Zugeständnisse an Oligarchen im Agrarsektor und einen Skandal um den überteuerten Kauf von Beatmungsgeräten.

Nach den Massakern vom November 2019 in Sacaba und Senkata, als Sicherheitskräfte auf Demonstrant*innen schossen und dem neuesten Bericht einer Parlamentskommission zufolge mindestens 20 Menschen von Kugeln getötet wurden, zeigten Áñez und die zuständigen Minister wenig Tatendrang bei der Aufklärung. Mehr Eifer bewiesen sie darin, die Angst vor Evo Morales und der MAS zu schüren und deren Anhänger rassistisch zu beleidigen: Im Januar warnte Áñez via Twitter vor einer Rückkehr der „Wilden“. Gleichzeitig versuchten die Machthaber und ihre Verbündeten, eine Teilnahme der MAS an den Wahlen per Gericht zu verhindern.

Mit Arce und Choquehuanca hat die MAS nun eine zweite Chance. Er werde die Wirtschaft erneut zum Laufen bringen und das Land wieder einen, versprach Luis Arce nach der Wahl. Angesichts der Krise wird es für die künftige Regierung wohl schwieriger, Stabilität und Wachstum zu garantieren. Es bietet sich aber die Gelegenheit, das extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja für den Export zu überdenken, da dies die Natur und indigene Territorien zerstört. Zudem ziehen sich Gräben durch die bolivianische Gesellschaft, zwischen Indigenen im Hochland und Indigenen im Tiefland, zwischen Stadt und Land, Arm und Reich, soziale Ungleichheit und Rassismus sind allgegenwärtig.

Der Neustart bietet für die MAS auch die Möglichkeit einer Neuausrichtung nach fast 14 Jahren an der Regierung bis November 2019, vielleicht sogar einer Abnabelung von Evo Morales. Arce gilt als Verbündeter des früheren Präsidenten, der seine Rückkehr nach Bolivien für den 9. November angekündigt hat, einen Tag nach der für den 8. November angesetzten Amtseinführung von Arce. Auf Fragen zu einer politischen Rückkehr von Morales antwortete Arce bislang verhalten: „Er kann jederzeit ins Land zurückkehren, denn er ist Bolivianer. Aber ich habe zu entscheiden, wer Teil der Regierung ist und wer nicht.“

ALLES DREHT SICH UM DIE MAS

Luis Arce, der Präsidentschaftskandidat der Bewegung zum Sozialismus (MAS), war unter Präsi-dent Evo Morales (2006–2019) Wirtschaftsminister und gilt in Bolivien als einer der Architekten der Wirtschaftspolitik der vergangenen 13 Jahre. Unter dem Label economía comunitaria („kommunitäre Wirtschaft”) wurden strategische Unternehmen wie das Erdgasunternehmen YPFB verstaatlicht, ein System von staatlichen Subventionen, wie die „Rente der Würde“ für arme Bevölkerungsteile, aufgebaut, und versucht, die Industrialisierung voranzutreiben. Insbesondere durch die Verarbeitung des im Salzsee Salar de Uyuni reichlich vorhandenen Lithiums erhoffte sich Bolivien einen Modernisierungsschub.

Die Fernsehdebatte der Kandidat*innen war ein Novum in der jüngeren Geschichte des Landes

In einer Fernsehdebatte aller Kandidierenden versuchte der ehemalige Minister seine wirtschaftliche Kompetenz auszuspielen. Um aus der Krise zu gelangen, setzt er auf die „Reaktivierung des heimischen Konsums“. Dabei, so fuhr er fort, würden die Subventionen für die ärmeren Bevölkerungsschichten aufrechterhalten, „um mit diesen Mitteln die interne Konjunktur zu stimulieren“. Zudem forderte er die Besteuerung von Vermögen.

Die Fernsehdebatte unter Präsidentschaftskandidat*innen war ein Novum in der jüngeren Geschichte des Landes, sie fand erstmals seit 18 Jahren statt. Der Gegenspieler von Arce, der neoliberale Ex-Präsident Carlos Mesa (2003-2005), schlug ein staatliches Programm zur Schaffung von Arbeitsplätzen vor. Langfristig, so steht es im Wahlprogramm, will Mesa die Wirtschaft aus der Abhängigkeit von Rohstoffverkäufen herausführen und sie „diversifizieren“.

Die weiteren Kandidat*innen sind im aktuellen Wahlkampf eher Randfiguren. Alle gehören dem Anti-MAS-Lager an und stellen vor allem für Carlos Mesa ein Problem dar. Denn je zersplitterter das Lager ist, umso besser stehen die Chancen für Luis Arce von der Bewegung zum Sozialismus, die Wahl bereits in der ersten Runde zu gewinnen. Nach dem bolivianischen Wahlrecht gewinnt ein*e Kandidat*in in der ersten Runde, wenn er*sie 40 Prozent der Wähler*innenstimmen erhält und gleichzeitig zehn Prozentpunkte Vorsprung vor dem*der Zweitplatzierten hat.

Durch den Rückzug von De-Facto-Präsidentin Jeanine Áñez aus dem Rennen um die Präsidentschaft Mitte September ist die Zersplitterung des Lagers zwar etwas geringer geworden, dennoch kann sich Carlos Mesa nicht sicher sein, dass er es mit Arce in eine Stichwahl schafft. Nur dann kann er sich Chancen auf einen Sieg ausrechnen. Die letzten Umfragen gaben ein unklares Bild ab. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ciesmori Anfang Oktober lag Luis Arce sechs Prozentpunkte vor Mesa. In einer Stichwahl, die auf dieses Ergebnis folgen würde, würde Carlos Mesa laut der Befragung gewinnen. Anders sieht es dagegen bei der Umfrage des Instituts CELAG aus. Hier erhält der Kandidat der Bewegung zum Sozialismus in der ersten Runde 44,4 Prozent und würde Carlos Mesa, der 34 Prozent erhält, mit 10,4 Prozentpunkten Vorsprung in der ersten Runde schlagen.

Die MAS gibt sich bereits siegessicher und spricht von einem „versteckten Stimmverhalten“. Ihrer Meinung nach geben viele, die die Bewegung zum Sozialismus wählen würden, diesen Umstand nicht an und mit diesen Stimmen würde man auf jeden Fall gewinnen. Geht es um die Mobilisierungsfähigkeit, liegt die ehemalige Regierungspartei auf jeden Fall vorne. Sie ist die einzige politische Kraft, die in der Lage ist, im ganzen Land Anhänger*innen in großen Mengen zu mobilisieren, während die anderen Kandidat*innen allenfalls regional begrenzt größere Menschenansammlungen zustande bringen.

Die Wahl wird die Spaltung des Landes nicht beenden

Eine große Rolle wird der Umstand spielen, ob die Wahlen transparent ablaufen und die Ergebnisse für alle Parteien glaubhaft sind. Zwar haben die EU und die UN in der Einigung um den Wahltermin am 18. Oktober zugesagt, den Wahlprozess zu überwachen. Dieser wichtige Baustein in der Einigung um die Wahlen, deren erneute Verschiebung im August zu massiven Blockaden von indigenen Bewegungen, Bäuer*innenverbänden und Gewerkschafter*innen im ganzen Land führten, sollte Vertrauen in den Wahlprozess schaffen.

Genau das Vertrauen in transparente Wahlen wird mittlerweile jedoch von beiden Seiten untergraben. Die MAS spricht davon, dass „Familienangehörige“ der jetzigen Regierung die Wahlbehörde kontrollieren würden und diese kein Interesse an freien Wahlen hätten. Auf der anderen Seite warnte Innenminister Murillo den Generalsekretär der OAS, Luis Almagro, vor einem möglichen Wahlbetrug und vor durch die MAS angezettelte politische Unruhen.

Unter diesen Vorzeichen ist es eher unwahrscheinlich, dass nach den Wahlen Ruhe in das südamerikanische Land einkehrt. Je näher die Wahl rückt, umso höher wird die Nervosität. Denn beide Seiten misstrauen sich im höchsten Maße. Das macht eine friedliche Amtsübergabe nach den Wahlen unwahrscheinlich. Der Vorsitzende der Wahlbehörde, Salvador Romero solle „transparente Wahlen garantieren, weil das Volk sie braucht. Sollte das nicht geschehen, wird das Volk sich erheben“, meinte der Vorsitzende der „Interkulturellen“, Henry Nina. Die indigene Organisation gehört dem Einheitspakt verschiedener Campesino- und Indigenenorganisationen an, der sich in der Regierungszeit von Morales gespalten hatte und nach seinem Sturz wieder zusammenfand. Für den Einheitspakt wie für viele Gewerk- schafter*innen des bolivianischen Gewerkschaftsverbands COB kommt nur eine Regierung Morales in Frage. Viele Anhänger*innen der anderen Kandidaten*innen fürchten dagegen die Rückkehr der MAS an die Regierung. Deswegen ist es wahrscheinlich, dass die Wahl die Spaltung des Landes, die zur aktuellen politischen Krise geführt hat, nicht beenden wird.

SOZIALE BEWEGUNGEN GEWINNEN DIE STRASSE ZURÜCK

Bergbaudorf Quime Die Tourist*innen bleiben aus (Foto: flickr.com / Wandering Tamil (CC BY-SA 2.0)

„Sie unterschätzen die Kraft des Volkes“, ließ Orlando Gutiérrez, Generalsekretär der Bergarbeiter*innengewerkschaft FSTMB Anfang August verlauten. Er und weitere Vertreter*innen des nationalen Gewerkschaftsbundes COB, des Einheitpakts indigener Organisationen, der Landfrauenunion Bartolina Sisa und anderer Organisationen hatten die Verhandlungsrunde mit der Wahlbehörde TSE ergebnislos verlassen. Einige Tage zuvor hatten die sozialen Bewegungen begonnen, weite Teile des Landes durch eine Blockade lahmzulegen. Die Forderung: Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen Wahltermins bis spätestens 6. September. Diesen Wahltermin hatte der Wahlrat auf den 18. Oktober verschoben. Begründet hatte die Behörde die erneute Verschiebung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit der Corona-Pandemie und dem erwarteten Höhepunkt im August/September. Jetzt war der Vorsitzende des TSE, Salvador Romero, nicht bereit, mit den Vertreter*innen der Blockierenden einen Kompromiss auszuhandeln.

Romeros sture Haltung verleitete Innenminister Arturo Murillo zum Vorwurf, der Behördenleiter würde das Land in Brand setzen, „weil er den Wahltermin willkürlich verschoben hat“. Sichtlich nervös versuchte Murillo jede Verantwortung von sich zu weisen. Dabei hatte die Regierung zuvor auf die Verschiebung der Wahlen gedrängt. Aber die Wucht der Mobilisierung Anfang August hatte den Innenminister, wie die gesamte De-facto Regierung, überrascht. Vor allem die zunehmenden Rücktrittsforderungen der Blockierer*innen musste der Innenminister ernst nehmen. Die Proteste hatten das Potenzial, zu einer echten Gefahr zu werden.

Die Basis der Proteste findet man an der Peripherie der großen Städte, in der indigenen Metropole El Alto und vor allem auf dem Land

Dass es dennoch am 12. August zu einer Einigung kam, auf die sich auch die Protestierenden auf der Straße einließen, lag an der Führung der Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS). Diese setzt nach wie vor auf eine erneute Machtübernahme durch Wahlen. Die Ausweitung und Radikalisierung der Proteste hatten zwar das Potenzial, die aktuelle Regierung aus dem Amt zu jagen, nicht geklärt war allerdings, was dann kommen würde. Aus diesem Grund twitterte Ex-Präsident Morales: „Man sollte verantwortlich zwischen dem Rücktritt von Jeanine Áñez, der unsere Rückkehr zur Demokratie weiter verzögern würde, oder schnellen Wahlen unter der Aufsicht der Vereinten Nationen entscheiden.“

Dass eine Radikalisierung der sozialen Bewegungen auch eine gewisse Gefahr für die MAS bot, wurde auf der Pressekonferenz deutlich, die die sozialen Bewegungen nach der Verkündung des Kompromisses abhielten. Segundina Flores von der Landfrauenunion Bartolina Sisa, warf den MAS-Funktionär*innen vor, den Kompromiss „hinter dem Rücken des Einheitspakts und ohne uns ausgehandelt zu haben“, und fuhr fort: „Wir sind die Gründer*innen des politischen Instruments (MAS) und wir müssen darin die entscheidende Rolle spielen.“ Eine klare Ansage gegen die politischen Funktionär*innen der Bewegung zum Sozialismus. Dass die Organisationen den Kompromiss dennoch akzeptierten und zu einer Pause der Blockaden aufriefen, lag sicherlich auch daran, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits unrealistisch war, die Wahlen für den 6. September zu organisieren.

Die De-facto Regierung versuchte die Einigung und den ausgebliebenen Aufstand als Erfolg für sich zu verbuchen. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in den vergangenen Monaten in die Defensive geraten ist. Die Journalistin Verónica Zapata stellt fest, dass sich neun Monate nach der Wahl die Kräfteverhältnisse grundlegend verändert haben: „Konnte man 2019 noch einen Mangel an Organisierung innerhalb der sozialen Bewegungen feststellen, der den Verlust der Straße durch die Gewalt der Streitkräfte zur Folge hatte, hat sich dieses Kräfteverhältnis neun Monate später verändert.“ Bergarbeiter*innen, indigene und Campesino-Organisationen haben auf der Straße inzwischen die Oberhand. Während der Blockaden ließ sich das Militär gar nicht, die Polizei nur sporadisch blicken. Nur an ganz wenigen Stellen wurden Blockadepunkte aufgelöst.

Die Basis der Proteste findet man an der Peripherie der großen Städte, in der indigenen Metropole El Alto und vor allem auf dem Land. „Hier haben wir alle an den Blockaden teilgenommen“, meint José Antonio, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, während er auf Fahrgäste für sein Sammeltaxi wartet, mit dem er von Inquisivi nach Quime pendelt. Die Provinz liegt etwa drei Autostunden vom Regierungssitz La Paz entfernt. Von der Regierung hält er gar nichts, sie würden sich nur um ihre persönliche Bereicherung kümmern, während es für sie auf dem Land immer schlechter laufe: „Die Corona-Maßnahmen haben uns wirtschaftlich stark geschädigt.“ Durch den Lockdown sei außerdem der Handel mit El Alto behindert.

In der Provinz Inquisivi geht es seither noch gemächlicher zu. Auch Abel bestätigt das. Er verwaltet eines der beiden Hostels in dem Bergbaudorf Quime, besser gesagt, er passt darauf auf. Weniger als ein halbes Dutzend Tourist*innen hätten sich seit den Unruhen im November vergangenen Jahres hier her verirrt. Auch die Haupteinnahmequelle, der Bergbau, ist teilweise zum Erliegen gekommen. „Die fallenden Rohstoffpreise sind schlecht für uns“, meint ein Bergbauarbeiter, der sich die Zeit auf dem Dorfplatz vertreibt. Die Preise sind bereits seit geraumer Zeit im Keller und wegen der Corona-Krise ist kein Ende in Sicht. Das Virus macht den Menschen hier weniger Sorgen, bestätigt der örtliche Apotheker. „Wir haben bisher keine schweren Fälle gehabt, die wenigen Infizierten befinden sich in Quarantäne.“ Kaum eine*r trägt hier einen Mund-Nasen-Schutz, das Leben verläuft normal, allerdings in noch ruhigeren Bahnen als vorher, wegen der Reisebeschränkungen.

Die Gelassenheit überrascht, denn Bolivien gilt mit rund 120.000 bestätigten Corona-Fällen bei einer Bevölkerung von 11,5 Millionen als eines der am stärksten betroffenen Länder Lateinamerikas. Ganz anders ist die Stimmung am Regierungssitz La Paz. Im Stadtzentrum tragen 90 Prozent der Menschen Gesichtsmasken und nicht selten sieht man auch Passant*innen vorbeihuschen, die Infektionsschutzanzüge, Gasmasken und Schutzbrillen tragen. Größer könnte der Kontrast kaum sein. Dabei ist es schwer, wirklich verlässliche Zahlen über den Verlauf der Pandemie zu erhalten. Die Regierung und die zuständigen Behörden, so scheint es, haben den Überblick verloren. Offiziell gibt es bisher rund 5.000 Menschen, die mit oder an Covid-19 gestorben sind. Am 22. August berichtete die New York Times, dass seit Juni die Sterblichkeit in Bolivien um 20.000 Tote höher war als im Vergleichszeitraum vergangenen Jahres. Chefvirologe Prieto dementierte die Zahlen sofort und meinte: „Würden diese Zahlen stimmen, wären unsere Friedhöfe bereits kollabiert, das ist aber nicht der Fall“. Auf dem Friedhof in Obrajes geben Friedhofarbeiter*innen dagegen an, dass sie zurzeit die dreifache Anzahl an Beerdigungen haben. Auch die Preise für Beerdigungen sind stark angestiegen.

Der Macht- und Vertrauensverlust in die Exekutive ist enorm

Selbst die Anhänger*innen von Áñez trauen der Regierung nicht mehr zu, der Situation Herr zu werden. Sie hat es zu keinem Zeitpunkt geschafft, sich als Macherin in der aktuellen Krise zu präsentieren. Vielmehr sind ihre Maßnahmen begleitet von Dilettantismus und wahrscheinlich auch von Korruption. So fehlte bei 170 Beatmungsgeräten, die im Mai ankamen, nicht nur die Software und es wurde ein überhöhter Preis bezahlt, sondern inzwischen sind angeblich auch die meisten der Geräte nicht mehr auffindbar.

Der Vertrauensverlust in die Exekutive ist auch deswegen enorm. Zum Machtverlust auf der Straße kommt auch der Machtverlust innerhalb der Institutionen. Die beiden Parlamentskammern übernehmen immer mehr die Aufgaben der Exekutive. So hat Eva Copa von der MAS, die Vorsitzende des Senats, Ende August mehrere Gesetze unterzeichnet. Laut Verfassung ist das dann möglich, wenn der*die Präsident*in des Landes ihre Unterschrift ohne triftigen Grund verweigert. Zu den von Copa unterzeichneten Gesetzen gehört eine Verordnung, die Privatkliniken dazu verpflichtet, Corona-Fälle zu behandeln, und eine Verordnung, die es Mieter*innen erlaubt, ihre Miete während der Pandemie um 50 Prozent zu mindern. Auch der Kompromiss um den Wahltermin wurde von den Parlamentskammern mit der Wahlbehörde, der UNO und der katholischen Kirche ausgehandelt. Áñez konnte danach lediglich ihre Unterschrift daruntersetzen.

Dennoch ist der Machtkampf in Bolivien noch nicht entschieden. Trotz der Unzufriedenheit mit der De-facto-Regierung gibt es immer noch einen relevanten Teil der Bevölkerung, die einen möglichen Wahlsieg der MAS fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Ab September beginnt die Einschreibung ins Wahlregister und damit die heiße Phase des Wahlkampfs. Das Anti-MAS-Lager ist nach wie vor uneinig und es ist wenig wahrscheinlich, dass sich das ändert. Der Vorsitzende der bolivianischen Bischofskonferenz Ricardo Sentellas bezweifelte kurz nachdem seine Kirche als Vermittlerin bei der Festlegung des Wahltermins auftrat, dass es transparente Wahlen geben werde. „Mit dem aktuellen Wählerverzeichnis kann es keine freien Wahlen geben“, ließ der Geistliche verlauten und wies auf das (seiner Meinung nach) „Schweigen der Justiz zum Wahlbetrug vergangenen Oktober“ hin.

Diese Position zeigt, dass es wahrscheinlich ist, dass auch mit den Wahlen im Oktober die Spaltung des Landes nicht überwunden wird, und liefert jetzt bereits beiden Seiten Argumente, einen Wahlsieg der anderen Seite nicht anzuerkennen. Damit sind Konflikte über den 18. Oktober hinaus ziemlich wahrscheinlich. Gewinnt die MAS, sind Proteste der Bürgerkomitees vor allem in Santa Cruz absehbar, gewinnen Jeanine Áñez oder Carlos Mesa, dann kann es gut sein, dass die sozialen Bewegungen und indigenen Organisationen das nicht akzeptieren werden.

OLIGARCHIE ESSEN DEMOKRATIE AUF

Para leer en español, haga clic aquí.

NADESDHA GUEVARA OROPEZA

ist Anwältin und Menschenrechtsaktivistin und vertritt einige der Opfer des im November 2019 durch das bolivianische Militär in Senkata verübten Massakers. Sie hat bei den Vereinten Nationen eine Reihe von Beschwerden zu Menschen- rechtsverletzungen eingereicht und kooperiert mit der Assoziation für Men- schenrechte in Bolivien, die die Menschenrechte aus einer dekolonialen Perspek- tive betrachtet und sich für die verarmten Sektoren im Land einsetzt. Guevara sieht sich in der Tradition des andinen Widerstands von Tupac Amaru II, Micaela Bastidas und Tupac Katari (indigene Anführer*innen, die im 18. Jh. gegen die Kolonialmacht Spanien rebellierten) sowie deren Ziel eines vereinigten Hispano- amerikas. Sie nutzt ihren Beruf als Anwältin zur Durchsetzung des Suma Qamaña (Aymara) bzw. Sumak Kawsay (Quechua), dem in der boliviani- schen Verfassung verankerten indigenen Konzept des “Guten Lebens”.

(Foto: Privat)


Können Sie uns etwas über den politischen Kontext des Putsches in Bolivien erzählen?

Der Putsch in Bolivien ereignete sich im Kontext verschiedener Szenarien. Hier spielt zunächst die Agrarindustrie von Santa Cruz de la Sierra eine wichtige Rolle. Dieser Sektor strebte nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Macht an, von der er seit 14 Jahren ausgeschlossen war. Nachdem die Regierungspartei MAS eine strategische Allianz mit der Agraroligarchie eingegangen war, wurden ihr politische Zugeständnisse in der Exekutive und Legislative gemacht. Die haben sie auch dazu genutzt, paramilitärische Gruppen zu bilden, wie wir jetzt sehen.

Zudem stand die MAS vor internen Herausforderungen, wie der Konsolidierung des plurinationalen Staates und der Bildung einer neuen Führungsspitze. Diese erwiesen sich als Versäumnisse, die die bolivianische Mittelschicht später zu ihrem Vorteil nutzte. Ein weiterer Fehler war es, zuzulassen, dass anstelle der Indigenen-, Kleinbauern- und Arbeiterbewegung die Mittelschicht zum historischen Subjekt des Kampfes wurde.

Aus geopolitischer Perspektive ist das Interesse an unseren natürlichen Ressourcen gewachsen, vor allem am Lithium. Hinzu kam, dass die bolivianische Mittelklasse behauptete, dass sie unter der Regierung der MAS in einer Diktatur lebe und für ihre Freiheit kämpfe. Die hauptsächlichen Ursachen des Putsches waren jedoch der politische Machtkampf und die Kooperation der Regierung mit den oligarchischen Sektoren.


Wie kam es vor diesem Hintergrund zu dem Putsch?

Nach dem Referendum vom Februar 2018, bei dem sich das Volk gegen die Möglichkeit einer dritten Kandidatur von Evo Morales zur Präsidentschaftswahl entschied, ließ dieser sich vom Verfassungsgericht seine Wiederaufstellung genehmigen. Als Morales die Präsidentschaftswahl im Oktober 2019 gewann, erhob die Organisation Amerikanischer Staaten den Vorwurf des Wahlbetrugs, woraufhin die rassistische Gewalt der paramilitärischen Gruppen gegen das Volk und gegen Repräsentanten der MAS begann und viele Politiker der MAS zurücktraten. Der Rücktritt von Evo Morales verursachte ein Machtvakuum und nachdem seine Nachfolgerin, Adriana Salvatierra, ebenfalls zurückgetreten war, wurde Jeanine Áñez auf nicht-demokratischem Weg von Polizei und Militär als Präsidentin eingesetzt.

Kaum an der Regierung, verbrannten sie die Wiphala, Flagge und Symbol der indigenen Nationen, und machten deutlich, dass die Indigenen an den Platz zurückgekehrt waren, der ihnen ihrer Ansicht nach zustand. Nachdem Áñez dem Militär und der Polizei per Dekret Immunität zusicherte, verübten diese im November 2019 die Massaker von Sacaba und Senkata, die von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte als solche anerkannt wurden.


Was waren die Folgen des Putsches bezüglich der politischen Verfolgung und der Funktion der Rechtsinstitutionen in Bolivien?

Die ersten Folgen waren die Massaker und ein politischer Pakt, welcher die MAS im Parlament entmachtete und die Durchführung von Wahlen garantieren sollte. Dies war zunächst das einzige Ziel der De-facto-Regierung. Doch mit dem Ausbruch von Covid-19 begann eine noch kompliziertere Periode, die den Klassenkampf verstärkt, den Rassismus verdeutlicht und in der keines der strukturellen Probleme des Landes gelöst wird.

Unter der De-facto-Regierung gibt es einen institutionellen Kollaps und alles bewegt sich nur noch ausgehend von Regierungsanweisungen. Es gibt politisch Verfolgte der MAS, und solche, die ihr nicht angehören und deren einziges Vergehen es war, die Regierung zu kritisieren. Seit den Massakern gibt es Gefangene, die auf illegale und willkürliche Art und Weise inhaftiert wurden. Frauen mit pollera wurden von Militärs und Polizisten vergewaltigt (in Bolivien ist die pollera eine typische Bekleidung der indigenen Frauen und Kleinbäuerinnen, Anm. d. Red.). Der argentinische Fotograf Facundo Molares befindet sich weiterhin in Gefangenschaft, ebenso wie viele Frauen noch immer in den Strafanstalten für Frauen inhaftiert sind.

Der institutionelle Bruch zeigt sich auch darin, dass die paramilitärischen Gruppen von der Regierung nicht nur toleriert, sondern auch finanziert werden. Vor einigen Tagen ließ die Regierung verlauten, dass es politisch angemessen sei, die Demonstranten zu erschießen. Hinzu kommt, dass in Bolivien drei Millionen Arbeitslose und ein Anstieg der extremen Armut erwartet werden. Das Gesundheitssystem wurde privatisiert, das Schuljahr wurde aufgrund der Pandemie ausgesetzt.

Das sind die Folgen des Putsches und eines Staates, der kein Rechtsstaat ist und der auf Kritiker das Strafrecht anwendet, das diese nicht als Bürger behandelt, sondern als Terroristen brandmarkt. Aufgrund dieser Situation sehen sich die sozialen Bewegungen nun gezwungen, sich zu äußern. Gleichzeitig schürt die Regierung Hass und stigmatisiert diejenigen, die von ihrem Recht auf Protest Gebrauch machen, als Angehörige der MAS. Die Bevölkerung ist unzufrieden und mobilisiert sich, aber gleichzeitig ist sie auch tief getroffen, denn seit neun Monaten ist kein neuer sozialer Pakt (gemeint ist ein gesellschaftliches und politisches Übereinkommen zur Überwindung der Spaltung der Gesellschaft, Anm. d. Red) ausgehandelt worden.


Wie ist die aktuelle Situation in Bolivien und wie ist es zu den erneuten Mobilisierungen gekommen?

Viele sahen in den Wahlen, die für den 6. September angesetzt waren, einen politischen Ausweg. Zwar bestand Unsicherheit darüber, welche Partei gewinnen würde, aber es wurde angenommen, dass ein neuer sozialer Pakt verhandelt werden würde. Dann jedoch gab der Wahlprüfungsausschuss bekannt, dass sich die Wahl auf den 18. Oktober verschieben würde. Daraufhin wurde in El Alto ein Treffen von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften einberufen und dem Wahlprüfungsausschuss ein Ultimatum von 72 Stunden gestellt, um zum ursprünglichen Wahltermin zurückzukehren. Würde dies nicht geschehen, käme es zu nationalen Blockaden.

Wie angekündigt begannen nach Ablauf der 72 Stunden die Blockaden. Nachdem regierungsnahe Sektoren wie das oligarchische Bürgerkomitee von Santa Cruz verlauten ließen, dass wir von der indigenen Bewegung Bestien seien, dass wir es nicht verdient hätten, Bürger zu sein, und dass wir die Hand beißen würden, die uns zu essen gäbe, erhielten die Blockaden Zulauf. Die Indigenen und Kleinbauern repräsentieren über 80 Prozent der Bevölkerung des Landes und die Indigenen sind in der Verfassung mit 36 Nationen anerkannt. Zudem ließen das Bürgerkomitee und die Regierung verlauten, dass Bolivien „zur Republik zurückkehren“ sollte (gemeint ist eine Rückkehr zur vor der MAS-Regierungszeit gültigen Verfassung, Anm. d. Red.). Diese Vorkommnisse verschärften die Streitigkeiten, weswegen sich die Losung der Mobilisierungen schließlich nicht mehr auf den Wahltermin bezog, sondern auf den Rücktritt von Áñez.

Es wurde versucht, die Blockaden unter anderem mit dem Vorwurf, sie würden den Transport von Sauerstoff für Covid-19 Patienten verhindern, zu delegitimieren. Doch es hat seit zwei Monaten keine Sauerstofflieferungen gegeben und das Gesundheitssystem ist seit neun Monaten praktisch inexistent. Schließlich jedoch akzeptierte das Parlament, in der die MAS die Mehrheit stellt, den neuen Wahltermin am 18. Oktober und hob die Blockaden auf, rief aber gleichzeitig die permanente Alarmbereitschaft aus.


Wie wird es jetzt weitergehen, nachdem der neue Wahltermin akzeptiert und die Blockaden aufgehoben wurden?

Es zeichnet sich ab, dass es zu einer politischen Verfolgung derjenigen kommt, die zu den Mobilisierungen aufgerufen haben. Es wurden diesbezüglich Anzeigen erstattet, die von der Staatsanwaltschaft aufgenommen wurden. In Samaipata wurden 43 Personen auf unrechtmäßige und willkürliche Weise festgenommen. Drei von ihnen befinden sich in Präventivhaft. In San Ignacio de Moxos haben drei Menschen Schusswaffenverletzungen durch die Paramilitärs erlitten und wir haben im Resultat ein in seiner Würde verletztes Volk. Heute sehen wir die Notwendigkeit uns zu organisieren, denn wir wissen, dass der Staat durch Polizei, Militär und Paramilitär darauf vorbereitet ist, das Volk zu unterdrücken. Angesichts der Verschärfung des Problems ist das Einzige, was uns bleibt, eine Volksmacht zu organisieren. Wir wissen nicht, ob die Wahlen tatsächlich stattfinden werden. Aber was wir wissen,ist, dass es notwendig ist, uns zu organisieren, uns zu vereinen und zu kämpfen.

“HAY UN QUIEBRE INSTITUCIONAL”

Für die deutschsprachige Version hier klicken

NADESDHA GUEVARA OROPEZA

es activista por los derechos humanos y abogada de algunas de las víctimas de la masacre de Senkata, Bolivia, cometida por el ejército boliviano en noviembre del 2019. Realizó una serie de denuncias de violaciones a los Derechos Huma- nos ante las Naciones Unidas y coopera con la Asociación de Derechos Huma- nos en Bolivia, una organización que lucha por los Derechos Humanos desde una perspectiva descolonizadora y que apoya a los sectores más vulnerables, indígenas y campesinos. Guevara se ve en la tradición de la resistencia de Tupac Amaru II, Micaela Bastidas y Tupac Katari (líderes indígenas que se rebe- laron contra el poder colonial español en el siglo XVIII) y su meta de una patria grande. Además Guevara utiliza su profesión como abogada para alcanzar el Suma Qamaña (Aymara) o Sumak Kawsay (Quechua), en español El buen vivir, concepto indígena que fue acogido en la constitución de Bolivia.

(Foto: privado)


¿Nos puede contar sobre el contexto político del golpe de Estado en Bolivia?

El golpe de Estado se da en diferentes escenarios. Uno de los escenarios principales es del sector agroindustrial ubicado en Santa Cruz de la Sierra, la burguesía agroindustrial, que no solamente quería tener el poder económico sino también el poder político que por 14 años les había sido arrebatado. El gobierno del Movimiento al Socialismo (MAS) formó una alianza táctica con este sector y empezó a hacer grandes concesiones de poder político.

Otro escenario es el proceso que se estaba viviendo en el interior del MAS y el proceso de cambio donde había una necesidad de consolidar el estado plurinacional y de hacer una renovación de dirigentes. En ese escenario tuvimos errores estratégicos y eso fue un argumento para una clase media que ya no se sentía pobre y quería sentirse rica. Otro de los errores que se han cometido fue cambiar al sujeto histórico de la lucha. En el último periodo el sujeto histórico ya no era el movimiento indígena, campesino y obrero, el sujeto histórico eran las clases medias.

Otro escenario es geopolítico. Los intereses por nuestros recursos naturales, especialmente por el litio, van cobrando fuerza. Entonces en Bolivia habían empezado a influenciar a las clases medias, las cuales tomaron el discurso de que en estos 14 años de proceso de cambio se había vivido una dictadura, que no vivíamos en democracia y que estaban luchando por su libertad. Y eso nosotros lo identificamos como un efecto, no como una causa. La causa está en esas pugnas de poder y en la coexistencia política con los sectores oligárquicos.


¿ Cómo condujo esto a un golpe de Estado?

En febrero del 2018 habíamos ido a un referendo para decidir si Evo Morales continuaba o no postulándose a la presidencia. Ganó el „No“. Se vuelve a repostular Evo Morales a partir de un control de convencionalidad y sale favorable en el tribunal constitucional plurinacional, lo que le permite ser nuevamente candidato. Y ahí nuevamente el rol geopolítico. Gana Evo Morales, pero bajo el rol nefasto de la Organización de Estados Americanos se da a entender de una manera difusa que hubo un fraude electoral.

Ahí fue donde los grupos paramilitares empezaron a ejercer actos de racismo y de violencia contra el pueblo. El golpe de Estado empieza a crear miedo a partir del ejercicio de la violencia contra los representantes del MAS en la Asamblea Legislativa. Empiezan a quemar las casas, a secuestrar a sus familiares, lo que provocaba la renuncia de muchos ministros, gobernadores y diputados. Después de la renuncia de Evo Morales, que había causado un vacío de poder, y después de la renuncia de la segunda presidenta del senado, Adriana Salvatierra, los policías y los militares dan el poder a Jeanine Áñez para que asuma la presidencia.

Lo primero que hacen al tomar el poder es realizar la quema de la Wiphala, la bandera símbolo de las naciones indígenas, originarias y campesinas. Es decir, demostrar que los pueblos indígenas, originarios y campesinos habían vuelto al lugar „que les correspondía”, fuera del poder. En noviembre de 2019 el ejército y la policía cometen masacres contra la población civil, denunciadas también por la Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH). Esas denuncias no han sido investigadas hasta ahora por el Ministerio Público.


¿Cuáles fueron los resultados del golpe en relación a la persecución política y al funcionamiento de las instituciones judiciales en Bolivia?

Hubo un pacto político que garantizaba la realización de las elecciones como único objetivo. Después vino un periodo mucho más complicado con la pandemia del Covid-19. Ahí se hizo mucho más clara esta lucha de clases, se revelaron más aspectos racistas y no se pudo resolver ninguna de las problemáticas estructurales.

Tenemos nueve meses de un gobierno transitorio donde hay un quiebre institucional, donde todo se mueve a partir del poder ejecutivo y de la instrucción del Ministerio de Gobierno. Tenemos perseguidos políticos tanto del MAS como de personas que no son del MAS y que han osado criticar al gobierno. Hay detenidos y aprehendidos de manera ilegal y arbitraria desde las masacres. Muchos de ellos han hecho las denuncias correspondientes ante las instancias internacionales. Tenemos testimonios de mujeres de pollera (falda, vestimenta típica de la mujeres indígenas y campesinas de Bolivia, nota de la redacción) que han sido violentadas por militares y policías. Sigue aprehendido Facundo Molares hasta el día de hoy, está perdiendo su vista en los dos ojos y tiene problemas renales. También siguen aprehendidas muchas mujeres.

La ruptura institucional en Bolivia hace posible que estos grupos paramilitares se refugien bajo el consentimiento y permisibilidad del Estado, porque es el Estado el que financia los grupos paramilitares y mercenarios. Desde el Ministerio de Gobierno se dice que lo políticamente correcto es meter bala a todos los que están movilizados. Hasta el día de hoy se estima que hay tres millones de desempleados en Bolivia y hay personas que están volviendo a la pobreza extrema. Se ha privatizado la salud, se comete corrupción con la salud. El año escolar ha sido clausurado dejando sin escuela a todas nuestras niñas, niños y adolescentes. El problema económico no se ha podido resolver. Entendemos que es una situación muy difícil. Sin embargo, no hay ninguna política social por parte del Estado para mitigar este problema.

Esos son los efectos del golpe, del quiebre institucional del Estado de no-derecho. A quien le provoque cuestionar los problemas estructurales no resueltos se le aplica el derecho penal del enemigo, el que ve a estas personas como no-ciudadanos, tipificándolos como terroristas, como sediciosos o como financiadores de terrorismo. Por eso, los movimientos sociales, el movimiento indígena, campesino, obrero, están asumiendo que tienen que pronunciarse. El gobierno es un precursor del odio, esas personas siempre hacen esas distinciones, estigmatizan a las personas que ejercen su derecho a la protesta como Masistas. Todo eso engloba un quiebre institucional en Bolivia y tiene como resultado un pueblo insatisfecho y movilizado, pero también profundamente golpeado porque en nueve meses no se ha podido encontrar un pacto social en Bolivia (un convenio social y político para superar la polarización de la sociedad, nota de la redacción).


¿Cuál es la situación actual en Bolivia y cómo es que empezaron de nuevo las movilizaciones?

Para muchos la salida política eran las elecciones que se iban a dar el 6 de septiembre, sin una seguridad real de qué partido vaya a ganar, pero sí con la idea de que se vaya realizando un pacto social que pueda afrontar de mejor forma esta situación. El Tribunal Electoral dio el anuncio de que se trasladará la fecha del 6 de septiembre al 18 de octubre. Y eso lleva a un nuevo escenario de confrontación. Se llamó a un Cabildo, un encuentro, en la ciudad de El Alto, y se determinó dar 72 horas al Tribunal Electoral para que vuelva a declarar la fecha de elecciones el 6 de septiembre. De lo contrario se realizarían bloqueos nacionales.

En 72 horas se realizaron los bloqueos nacionales. Los bloqueos empezaron a cobrar más fuerza a partir de las declaraciones de sectores afines a este gobierno, como el Comité Cívico pro Santa Cruz, que señalaban al movimiento indígena como “unas bestias que no merecemos ser ciudadanos y que mordemos la mano de quien nos da de comer”. Los indígenas representan más del 80% de este país, además se reconocen en la Constitución Política del Estado más de 36 naciones indígenas. Miembros del Comité Cívico y también personas afines al gobierno han expresado que deberíamos volver a la república (se refiere a volver a la constitución vigente antes del gobierno del MAS, nota de la redacción). Esos discursos han ido calando en la población y han profundizado las contradicciones, a tal nivel que la consigna del movimiento popular ya no eran las elecciones, sino la renuncia de Jeanine Áñez.

Los bloqueos han empezado a ser satanizados por el gobierno con el argumento de que estos influyen en la falta de oxígeno para los pacientes de Covid-19, a pesar de que el oxígeno hacía falta aquí en Bolivia ya hace dos meses atrás y que la crisis de salud la tenemos ya desde hace nueve meses. Sin embargo, la Asamblea Legislativa donde tiene la mayoría el MAS, aprobó las elecciones para el 18 de octubre. En estos momentos se ha dado la instrucción de desbloqueo, pero con un estado de alerta permanentemente.


¿Cómo va a seguir la situación después de que la nueva fecha para las elecciones sea aceptada y después de que los bloqueos se terminen?

Nosotros estamos monitoreando y denunciando que se está ejerciendo una persecución política a los dirigentes que han llamado a estas manifestaciones. Ya han salido denuncias admitidas por el Ministerio Público. Tenemos 43 aprehendidos de manera ilegal y arbitraria en Samaipata, de los cuales tres están con detención preventiva. Tenemos tres heridos de bala en San Ignacio de Moxos por estos grupos paramilitares y tenemos un pueblo herido en su dignidad. Hoy afrontamos la resistencia popular, afrontamos también la necesidad de organizarnos porque sabemos que el Estado desde los policías, los militares y sus grupos paramilitares están preparados para golpear al pueblo Y hoy, en toda esta agudización del problema solamente nos queda asumir el planteamiento de un poder popular. Tenemos la incertidumbre de si se van a realizar o no las elecciones. No es algo certero para el pueblo, pero de lo que sí tenemos certeza es de la necesidad de organizarnos, unirnos y luchar.

VORWAHLCHAOS IN BOLIVIEN

Regierungssitz La Paz Im Mai sollte sich entscheiden, wer hier ans Ruder kommt (Foto: Jonas Klünemann)

Er hatte letztendlich Glück. Das Projektil, das in seinem Kopf steckte, konnte mit einem einfachen Eingriff entfernt werden. Es hatte sich lediglich unter die Kopfhaut geschoben und wie durch ein Wunder weder Schädeldecke, noch Gehirn ernsthaft verletzt. Glück hatte Pablo auch, weil er den Eingriff durch Spenden bezahlt bekam. Seit dem Massaker in Senkata am 19. November sammeln Aktivist*innen Spenden, organisieren Solidaritätsveranstaltungen und kümmern sich um die Hinterbliebenen der gut zwei Dutzend Toten und um die rund 100 Verletzten. Unter den Opfern sind auch viele, die an diesem Tag einfach an der Raffinerie in Senkata in El Alto vorbeigingen. „Mein Cousin kam gerade von der Arbeit“, meint etwa Joel, „er wurde angeschossen und musste sich auf eigene Kosten ärztlich versorgen lassen, nachher kam die Polizei und drohte ihm mit Konsequenzen, sollte er über die Vorfälle reden.“

Die De-facto-Regierung behauptet bis heute, die Sicherheitskräfte hätten bei ihrer Operation in Senkata keinen Schuss abgefeuert. Dabei gibt es längst eine Vielzahl von Hinweisen, dass Militärs geschossen haben. Auch in der Stadt Sacaba waren Mitte November bei einer Demonstration von Kokabauern nahe der Stadt Cochabamba fünf Protestierende getötet worden, zahlreiche Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Trotz der zahlreichen Indizien verweigert sich die Regierung, die Vorfälle unabhängig aufklären zu lassen. Das Abgeordnetenhaus, in dem die Bewegung zum Sozialismus die Mehrheit hat, wollte die zuständigen Minister Arturo Murillo (Polizei) und Fernando López (Militär) zu den Vorfällen in Senkata und Sacaba befragen, die Minister sind bisher nicht erschienen, mit der Begründung, die MAS habe dort die Mehrheit.

Es ist nicht nur dieses Verhalten der Minister, das Zweifel aufkommen lässt, dass es der De-facto-Regierung von Jeanine Añez um die Wiederherstellung der Demokratie geht. Inzwischen gibt es auch mehrere hundert Verhaftungen, vor allem von MAS-Funktionär*innen. Der Vorwurf lautet fast immer: Korruption, Aufruhr oder Verschwendung öffentlicher Gelder. Viele, die sich nicht ins Ausland absetzen konnten, befinden sich in Untersuchungshaft. In Bolivien ist das gleichbedeutend mit unbefristeter Haft. Laut der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch sind über 16.000 Gefangene auf rund 5.000 Haftplätze im Land verteilt. Viele der Gefangenen sitzen Jahre in Untersuchungshaft, ohne dass sie einen Prozess bekommen. Das war auch unter der MAS-Regierung von Evo Morales so. Die Anordnung von Untersuchungshaft ist ein probates Mittel, um politische Gegner*innen auszuschalten.

Ein Sieg der MAS in der ersten Runde ist möglich

Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen am 3. Mai tritt für die MAS der ehemalige Wirtschaftsminister Luis Arce an, als Vize der frühere Außenminister David Choquehuanca. Trotz der Betrugsvorwürfe gegenüber der Morales-Regierung bei den Wahlen im Oktober 2019 und der aktuellen Politik der De-facto-Regierung, die auf eine Ausgrenzung der MAS bedacht ist, ist die Partei des Ex-Präsidenten in den Umfragen stark. In den vergangenen Umfragen im Februar lag sie mit bis zu 32 Prozent zwischen 10 und 15 Prozentpunkten vor dem zweitplatzierten neoliberalen Carlos Mesa, der bis zu 23 Prozent Zustimmung verbuchen konnte. Da bei den Umfragen in der Regel der ländliche Raum, und damit ungefähr 20 Prozent der Wähler*innen­stimmen, nicht berücksichtigt werden, ist davon auszugehen, dass die Zustimmung für die MAS noch höher ist. Damit läge ein Wahlsieg in der ersten Runde im Bereich des Möglichen.

Die Umfrageergebnisse lösten bei den Gegner*innen der MAS Bestürzung aus. Luis Camacho, der Anführer der Bürgerplattform von Santa Cruz und wesentlich mitverantwortlich für den Sturz von Morales, bot nach der Veröffentlichung der Umfragen Jeanine Añez an, auf seine eigene Kandidatur zu verzichten und sich mit ihr zusammen zu schließen, damit die „Tyrannei“ nicht wiederkehre. Añez, die im November 2019 noch verkündete: „Ich habe nicht den Wunsch bei den nächsten Wahlen zu kandidieren, diese Regierung ist eine Übergangsregierung“, hatte im Januar ihre Kandidatur erklärt. Den Gegner*innen der MAS ist es zwar gelungen, Morales im November zu stürzen, die Stabilisierung der eigenen Macht danach bleibt jedoch prekär. Das liegt auch daran, dass die Rechte zum ländlichen und indigenen Teil der Bevölkerung fast keinen Zugang hat, beziehungsweise diese nicht als vollwertige Bürger*innen wahrnimmt. Das sei ein Wähler*innenpotenzial, das exklusiv der MAS vorbehalten sei, so der Soziologe Fernando Mayorga: „Die MAS ist die einzige Partei, die in den vergangenen 20 Jahren 60 Prozent der Wählerstimmen, mindestens jedoch 40 Prozent, erhalten hat.“ Lediglich eine Koalition der drei größten Oppositionsbündnisse, von Añez, Mesa und Camacho könnte den Sieg der MAS verhindern. Zwar reden die Kandidat*innen alle davon, das Land einen zu wollen, allerdings gilt es eher als unwahrscheinlich, dass es vor dem Wahltermin zu einem echten Bündnis der drei kommt.

Die Aufrufe zur Einheit können zudem den Bruch mit der indigenen Bevölkerung nicht kitten. Das zeigt sich im Verhalten der Regierung zu den Massakern in Senkata und Sacaba, bei dem es keine Versuche gibt, das Geschehene unabhängig untersuchen zu lassen. Diese Politik spielt der MAS und Evo Morales in die Hände, die sich vor den Unruhen durchaus auch in ihren Hochburgen wie El Alto vielen kritischen Stimmen gegenüber sahen.


„Evo Morales war ein Symbol indigener Bürgerlichkeit.“

„Für viele Leute, die im Zentrum von La Paz wohnen, sind die Bewohner aus El Alto keine Mitbürger, sondern Indios“, erläutert der Philosoph Boris Chamani, „Evo Morales war ein Symbol indigener Bürgerlichkeit.“ Den Status als gleichwertige Bürger*innen sehen viele durch den Putsch und die Massaker vom vergangenen November in Frage gestellt. Das hat dazu geführt, dass die MAS die Reihen hinter sich schließen konnte. Man hört öfters von Leuten, die vergangenen Oktober die MAS nicht gewählt haben, dass sie es bei den kommenden Wahlen aber wohl tun werden, um Añez und Camacho zu verhindern.

Selbst der neoliberale Herausforderer von Evo Morales bei den Wahlen im Oktober 2019, Carlos Mesa, hat sich in den Augen vieler Wähler*innen diskreditiert. In einem Radiointerview wurde er von Maria Galindo, einer bekannten Feministin, ins Kreuzverhör genommen. Im Laufe des Interview kam heraus, dass es im Moment des Rücktritts von Evo Morales ein Treffen von ihm mit Luis Fernando Camacho und Vertreter*innen der brasilianischen Botschaft gab, auf dem man beschloss, die Senatorin Añez ins Präsidentenamt zu hieven. Galindo, die im Oktober noch von einem „legitimen Aufstand gegen das Regime Morales“ gesprochen hatte, sieht den Umsturz nun auch als Putsch. Als Añez ihre Kandidatur für die kommenden Wahlen ankündigte, meinte selbst Carlos Mesa, jetzt hätten diejenigen, die von einem Putsch sprachen, die „Bestätigung“ erhalten.

Die Konflikte könnten nach den Wahlen wieder aufflammen

Die MAS hatte in der vergangenen Legislaturperiode auch in den eigenen Reihen viel Sympathie eingebüßt. Ein immer autoritärer werdender Regierungsstil, der sich gegen Teile der sozialen Bewegungen richtete, die ihre Basis bildeten und die Partei 2005 an die Macht brachten, hatte dazu geführt, dass ihre Basis erodierte. Beim Konflikt mit den Kokabauern und -bäuerinnen in den Yungas, nördlich vom Regierungssitz La Paz, oder den Auseinandersetzungen mit den Kooperativen der Bergbauarbeiter*innen zeigten sich deutliche Risse zwischen der Basis und der Regierung. Die Auseinandersetzungen mit den Minenarbeiter*innen forderten 2016 mindestens vier Tote. Neben dem Staatssekretär Rodolfo Illanes, der von den protestierenden Bergleuten getötet wurde, kamen auch drei der Protestierenden, wahrscheinlich durch Sicherheitskräfte, ums Leben. Auch hier gibt es keine Aufklärung.

Im Januar bezeichnete es Evo Morales in einem Interview mit Radio Coca Kawsachun als einen Fehler, während seiner Amtszeit keine „Milizen wie in Venezuela” aufgebaut zu haben, um den Prozess des Wandels zu verteidigen. Zwar distanzierte er sich später von dieser Aussage, aber es bleibt insgesamt unklar, wie die MAS mit der Spaltung im Land umgehen will, sollte sie die Wahlen gewinnen und den nächsten Präsidenten stellen. Da sich beide Seiten nicht anerkennen, ist davon auszugehen, dass die Konflikte nach den Wahlen wieder aufflammen. Das Bürgerkomitee von Santa Cruz hatte Mitte Februar bereits mit Blockaden gedroht, sollte Evo Morales als Kandidat für den Senat zu den Wahlen zugelassen werden. Morales, der sich im Exil in Argentinien befindet, wurde nicht zugelassen. Er habe keinen ständigen Wohnsitz in Bolivien, begründete der Präsident des Obersten Wahlgerichts diese Entscheidung. Sollte Luis Arce von der MAS tatsächlich gewinnen, ist davon auszugehen, dass es im östlichen Tiefland zu Protesten kommen wird, wie zu Beginn der Amtszeit von Evo Morales in den Jahren 2007/2008. Auf der anderen Seite ist es unwahrscheinlich, dass die MAS, beziehungsweise der große Teil der indigenen Bewegungen, Landarbeiter*innengewerkschaften und anderen Basisorganisationen eine Präsidentin Añez oder einen Präsidenten Mesa anerkennen würden. Añez hat zudem ein Glaubwürdigkeitsproblem, da sie sich von der Übergangspräsidentin in eine Kandidatin verwandelt hat, die den gesamten Regierungsapparat für ihren Wahlkampf nutzen kann. Carlos Mesa dagegen gilt als schwach und opportunistisch.

Ob es eine wirklich unabhängige Aufklärung der Vorfälle in Senkata und Sacaba geben wird, ist daher ungewiss. Pablo, der Glück hatte, weil das Projektil nicht ins Gehirn eindrang, ist immer noch arbeitsunfähig. Für seine Tochter, die Mitte Februar geboren wurde, fehlt es am Notwendigsten, an Kleidung und Windeln. Das kann er nicht kaufen, da er kein Einkommen hat. Wie Pablo geht es vielen der Betroffenen in Senkata. Neben dem Verlust von Familienangehörigen und den Verletzungen, mussten sie auch die Beerdigungskosten oder ärztliche Behandlungen begleichen und sich mit Einnahmeausfällen aufgrund von Arbeitsunfähigkeit auseinandersetzen.

DEMOKRATIEFREIE WAHLEN

Nach wochenlangen Mutmaßungen hat das Oberste Wahlgericht Boliviens den Termin für die Präsidentschaftswahlen auf den 3. Mai festgelegt. Die Partei von Morales, dem die neue argentinische Regierung seit Mitte Dezember Asyl in Buenos Aires gewährt, einigte sich am 19. Januar auf ihren Präsidentschaftskandidaten: Luis Arce, ehemals Wirtschaftsminister unter Morales, soll die MAS an die Regierungsspitze Boliviens zurückführen. Seine zahlenmäßig erfolgreiche Wirtschaftspolitik in den drei Amtszeiten von Morales und sein moderates Image als Mann aus der Mittelklasse stehen für wirtschaftliche Stabilität, mit der Arce bei breiten Bevölkerungsschichten punkten soll. Als Vizepräsident kandidiert mit ihm Ex-Außenminister David Choquehuanca, der als Aymara die Stimmen der indigenen Bevölkerung einfangen soll. In MAS-Kreisen wurde er zunächst als wahrscheinlicher Präsidentschaftskandidat gehandelt, doch angeblich setzte sich Morales letztlich mit einem Votum für Arce durch. Der Gegenwind aus den eigenen Reihen ließ nicht lange auf sich warten: MAS-nahe soziale Organisationen ließen verlauten, sie fühlten sich von dem Entschluss gegen einen indigenen Kandidaten an der Spitze verraten.

Auch im ultrarechten Spektrum gab es einigen Wirbel um die Ernennung der Kandidat*innen. Luis Camacho, der ehemalige Vorsitzende des Bürgerkomitees von Santa Cruz, und Marco Pumari, Präsident des Bürgerkomitees Potosí, überraschten mit der Ankündigung, nach öffentlich ausgetragenen Streitereien nun doch gemeinsame Sache machen zu wollen. Camacho, der als einer der Strippenzieher des Putsches gegen Morales gilt, hatte sich zuerst im Alleingang als Kandidat deklariert. Für die größte Überraschung sorgte jedoch Áñez: Nach monatelangen Beteuerungen, neutral zu bleiben und keine*n Kandidat*in unterstützen zu wollen, kündigte sie kurz vor dem Stichtag doch ihre Kandidatur mit Luis Revilla, dem Bürgermeister von La Paz, an. Zuvor hatte sie vor einer Zersplitterung der Stimmen und einer Rückkehr der „Wilden“ an die Macht gewarnt. Durch Áñez’ Teilnahme wird die wiederholt angekündigte Transparenz der Wahlen offensichtlich untergraben. Kritik an ihrer Entscheidung kam unter anderem von Kommunikationsministerin Roxana Lizágarra, die umgehend zurücktrat. Daraufhin forderte Áñez alle ihre Minister*innen zum Rücktritt auf, um das Kabinett neu zu strukturieren.

Unter den weiteren Präsidentschaftskandidat*innen befindet sich neben Ex-Präsident Jorge ‚Tuto‘ Quiroga (2001-2002) auch der für das Bündnis Bürgergemeinschaft kandidierende Carlos Mesa, der sich im Oktober 2019 erfolglos gegen Morales zu behaupten versucht hatte.

Die Wiederwahl von Morales und seinem Vize Álvaro García Linera ist hingegen faktisch unmöglich. Das Gesetz zur Durchführung der Neuwahlen, das beide Kammern des Parlaments im November letzten Jahres verabschiedet hatten, sieht vor, dass kein*e Kandidat*in mehr als zwei Mal zur Wahl antreten darf. Unter Morales war ebendiese Klausel durch das Verfassungsgericht ausgesetzt worden. Daran hatte sich im Vorlauf der letzten Wahlen eine kritische Debatte über die Legitimität Morales‘ als Präsidentschaftskandidat entzündet (siehe LN 541/542).

Morales selbst sowie García Linera dürfen nicht nur nicht kandidieren, auch eine Teilnahme als Wähler wird ihnen verwehrt. Denn das Oberste Wahlgericht hat entschieden, die dafür nötige aktualisierte Eintragung ins Wählerverzeichnis nur den im Inland lebenden Bolivianer*innen zu ermöglichen, obwohl im Ausland lebende Bürger*innen ebenso wahlberechtigt wären. Nur wer bereits bei den letzten Wahlen am 20. Oktober 2019 im Ausland abgestimmt hat, kann das wieder tun. Außerdem haben die Wähler*innen nur neun Tage Zeit, um eine Aktualisierung vorzunehmen – eine ungewöhnlich kurze Zeit, die das Oberste Wahlgericht mit zeitlichen Zwängen begründet. Dahinter könnte allerdings vielmehr der Versuch stehen, exilierte MAS-Politiker*innen von einer Wahlbeteiligung abzuhalten.

Die Repression hat System

Damit nicht genug der Diffamierungsversuche: Erst Ende Dezember hatte das Oberste Wahlgericht mehrere Klagen abgelehnt, die zum Ziel hatten, die MAS als politische Partei komplett aufzulösen. Gegen Morales wurde ein Haftbefehl wegen Aufruhr und Terrorismus erlassen – auf Basis eines umstrittenen Audiomitschnitts, in dem er angeblich zur Blockade von Städten aufruft. Und Anfang Januar hatte Arturo Murillo, Minister der De-Facto-Regierung, auf einer Pressekonferenz mit Handschellen in der Hand behauptet, es wäre von Interpol ein internationaler Haftbefehl gegen ihn ausgegeben worden. Dies wurde allerdings kurz darauf von der bolivianischen Staatsanwaltschaft dementiert.

Die Repression hat System. Zu den ersten Verhaftungswellen nach dem Putsch kommen gezielte Korruptions-Ermittlungen gegen ehemalige Regierungspolitiker*innen wie Ex-Innenminister Carlos Romero. Romero wurde am 14. Januar im Krankenhaus festgenommen, da er aufgrund seines gesundheitlichen Zustands nicht zur Aussage vor Gericht erschienen war, und kurzerhand präventiv ins Gefängnis gebracht. Auch das harte Vorgehen gegen Demonstrant*innen und besonders Indigene, das von der Interimsregierung nicht nur gebilligt, sondern auch angestachelt wurde, erschreckt (siehe LN 547). Kurz vor dem 22. Januar zeigte das Militär erneut massiv Präsenz auf den Straßen, angeblich um für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. MAS-nahe Organisationen hatten zu Protesten an diesem Tag aufgerufen, an dem traditionellerweise Feierlichkeiten zur Gründung des „plurinationalen Staates“ stattfinden. Sie protestierten damit auch gegen eine Verlängerung des Mandates der De-facto-Präsidentin, da an diesem Tag die Mandate der Abgeordneten und der Ex-Regierungsmitglieder abgelaufen wären. Um dieses theoretische Machtvakuum zu füllen, hatten Verfassungsgericht und Parlament jedoch einer Mandatsverlängerung bis zu den Neuwahlen zugestimmt und nach heftigen Diskussionen offiziell den Rücktritt von Morales und García Linera akzeptiert.

Von einem fairen Wahlkampf kann keine Rede sein

Tatsächlich ändert dies nichts an der Tatsache, dass Morales‘ Rücktritt erzwungen wurde. Vor diesem Hintergrund und den mannigfaltigen Repressionen gegen seine Partei kann keine Rede von einem fairen oder gar demokratischen Wahlkampf sein. Dazu trägt auch die Zensur in den Medien bei: Die TV-Sender Telesur und Russia Today wurden bereits kurz nach Morales‘ Rücktritt abgeschaltet, im neuen Jahr widerfuhr den 53 kommunitären, mehrheitlich MAS-nahen Radiostationen das gleiche Schicksal. Inwieweit es der De-facto-Regierung mit ihrer gezielten Diffamierungs-Strategie gelingen wird, die MAS nachhaltig zu schwächen, ist schwer abzusehen. Zumindest in den Wahlumfragen liegt Arce noch weit vor seinen Konkurrenten Mesa und Camacho. Zu De-facto-Präsidentin Áñez lagen aufgrund der späten Anmeldung ihrer Kandidatur bei Redaktionsschluss noch keine Umfragewerte vor.

Die turbulenten politischen Ereignisse der letzten Wochen scheinen die Kritik an Morales und an den Unstimmigkeiten der letzten Wahlen teilweise zu übertünchen. Währenddessen inszeniert sich die De-facto-Regierung als demokratische Instanz, die das Land in die Normalität zurückführen will – nun auch mit eigener Präsidentschaftskandidatin. Dabei greift sie allerdings massiv in die bolivianische Politik ein und überschreitet dadurch weit ihre eigentlich einzige Aufgabe, Neuwahlen zu organisieren. Wer von Freiheit und Transparenz spricht und gleichzeitig das Militär auf die Straßen schickt, kann nicht ernsthaft an einer demokratischen Lösung des aktuellen politischen Konflikts interessiert sein.

KLIMA DER ANGST

Foto: Jonas Klünemann

In der Kirche des Heiligen Franz von Assisi, im Stadtteil Senkata von El Alto, liegen auf den Bänken mehrere Leichen, eingewickelt in Decken. Darauf liegen Zettel mit den Namen und den Geburtsdaten der Toten. Dazwischen sitzen Angehörige, manche mit einem stieren Blick, andere weinen leise. In einer Ecke, neben dem einfachen Altar der Kirche, ist eine Pritsche aufgestellt, darauf ein Leichnam mit zwei Einschüssen, einem in der oberen linken Brust und einem im Gesicht. Vier Forensiker untersuchen die Leiche. Es ist Mittwoch, der 20. November, ein Tag nach dem Massaker im Stadtteil Senkata von El Alto. „Nicht alle haben ihre Toten in die Kirche gebracht“, meint Carlos, dessen Bruder am Vortag erschossen wurde, „sie trauen den Forensikern nicht. Wir haben beschlossen, uns nicht zu verstecken.“

Die De-facto-Regierung hat in kürzester Zeit ein Klima der Angst geschaffen, das dazu geführt hat, dass viele Menschen eingeschüchtert sind. In der öffentlichen Debatte, die auch die meisten großen Medien in Bolivien mittragen, wurden die Bewohner*innen El Altos pauschal als „MAS-Horden“ und „Terroristen“ abgestempelt. MAS steht für „Bewegung zum Sozialismus“, die Partei des ins Exil nach Mexiko getriebenen Präsidenten Evo Morales, der inzwischen nach Argentinien weitergezogen ist und dort Asyl beantragt hat, kurz nachdem der Mitte-Links-Peronist Alberto Fernández in Buenos Aires die Amtsgeschäfte übernommen hat. Kaum ein*e Journalist*in aus La Paz hat sich die Mühe gemacht, vor Ort zu recherchieren und zu berichten. Einfacher war es, die Verlautbarungen der De-facto-Regierung zu übernehmen. Der Verteidigungsminister Fernando López behauptete noch am selben Tag, die Operation sei friedlich verlaufen, es sei kein einziger Schuss abgefeuert worden. Das wiederholte auch Jeanine Áñez in der ersten Dezemberwoche in einem Interview: „So weit ich weiß, ist alles friedlich verlaufen!“

Laut den Anwohner*innen hat das Militär die tödlichen Schüsse abgegeben, so auch die Auffassung des Sicherheitsexperten Samuel Montaño, er hat Fotos von den Tatorten in Sacaba/Cochabamba und Senkata/El Alto ausgewertet. Es gibt mindestens zwei Fälle, so der Experte, bei dem Soldat*innen geschossen haben.

Von der De-facto-Regierung wird behauptet, es wäre darum gegangen, einen terroristischen Anschlag zu verhindern. In der regierungsnahen Tageszeitung Página Siete hieß es, Anhänger*innen von Evo Morales wollten ein Treibstofflager in Brand setzen. Andere Quellen ließen verlauten, dass Dynamit im Spiel gewesen sei. Bisher gibt es aber keine stichhaltigen Beweise dafür, dass es um mehr ging, als eine Blockade des Treibstofflagers. Augenzeug*innen vor Ort berichten, dass niemand mit Dynamit hantiert hat, „nicht einmal Knallfrösche hatten wir, als Polizei und Militär auf uns schossen“, meint eine Anwohnerin.

Wie die Anwohnerin wollen die meisten anonym bleiben. Es wird von Polizeibesuchen berichtet, wo den Betroffen nahegelegt wird, besser keine Aussagen zu machen, auch anonyme Drohanrufe gibt es. Das bestätigen auch Mitglieder der permanenten Menschenrechtsversammlung. „Es ist sehr schwer, im Moment als Menschen­rechts­verteidiger zu arbeiten. Das Misstrauen der Leute ist sehr groß, außerdem erhalten wir Drohungen von der Regierung“, sagte ein Mitarbeiter gegenüber den LN.

Daher bleibt bisher auch im Dunkeln, wie viele Menschen beim Massaker in Senkata umgekommen sind. Es wird berichtet, dass es neben den zehn offiziellen Toten sechs weitere gibt, bei denen die Familien sich geweigert haben, sie offiziell anzugeben. Zudem gibt es Berichte über mindestens zehn gewaltsam verschwundene Personen, von denen man nicht weiß, ob sie tot sind oder was mit ihnen passiert ist. Darunter soll, nach Zeug*innenberichten, auch ein zwölfjähriges Mädchen sein, das zwei Einschusslöcher aufwies und von Polizist*innen weggeschafft wurde.
Für die bolivianische Öffentlichkeit spielen diese „Details“ kaum eine Rolle. Die Version eines „terroristischen Anschlags“ und eines „friedlichen Polizei- und Militäreinsatzes“ stehen im Vordergrund.

45 Verletzte sind von Hilfsorganisationen in El Alto registriert worden, es wird jedoch von bis zu 100 Verletzten ausgegangen. „Von den Registrierten haben alle Schussverletzungen“, erklärt Danuta Orea, die sich mit um die Verletzten kümmert. „In vielen Krankenhäusern der Stadt wurden die Verletzten wie Terroristen behandelt. In der Holländischen Klinik ist keiner der Verletzten in den normalen Krankenzimmern untergebracht worden, sondern alle wurden im Hof abgestellt.“

Die De-facto-Regierung setzt die Stimmen, die eine unabhängige Untersuchung fordern, unter Druck. Als der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Ereignisse untersuchen wollte, wurde von Anhänger*innen der Regierung der Eingang zum dessen Tagungsort blockiert, Zeug*innen sollten an der Aussage gehindert werden. Lokale Menschenrechtsorganisationen wie die permanente Versammlung der Menschenrechte Boliviens oder Aktivist*innen wie die Ombudsfrau für Menschenrechte Nadja Cruz erhalten ebenfalls Drohungen. Als eine Delegation aus Argentinien unter der Leitung von Juan Grabois Ende November das Land besuchte, warnte Innenminister Arturo Murillo, man werde es nicht zulassen, dass „Ausländer aufrührerisch im Land tätig werden“ und man werde die Delegation „sehr genau beobachten“.

Dass die Regierung mehr Interesse an Verschleierung denn an Aufklärung hat, zeigt auch das Angebot, dass sie den Familien der Toten gemacht hat. Jede Familie soll rund 6.500 Euro Entschädigung erhalten, wenn sie darauf verzichtet, den Fall vor ein internationales Gericht zu bringen. Dies soll im Rahmen der „Befriedung des Landes“ geschehen. Im Rahmen der Befriedung wurde auch das Militär in die Kasernen zurückgeschickt und auch ein Dekret, das für die Soldaten*innen Straffreiheit vorsah, wieder zurückgenommen. Eine Maßnahme, die auf internationalen Druck zustande kam und der Tatsache, dass während der zehntägigen Blockade in El Alto der Regierungssitz bereits mit Engpässen bei Lebensmitteln und Benzin zu kämpfen hatte.

Kritische Stimmen in der Presse werden bedroht und angefeindet

Die De-facto-Regierung fährt eine Doppelstrategie: Während sie aufgrund des Drucks teilweise auf die Gegner*innen zugeht, versucht sie auf der anderen Seite, so weit es geht, Fakten zu schaffen und lässt viele politische Gegner*innen verfolgen. Neben mindestens 34 Toten und 700 Verletzten sind unzählige Mitglieder der MAS, Mitglieder der Wahlbehörde und andere Funktionär*innen verhaftet worden. Auch in wirtschaftlichen Fragen werden Fakten geschaffen. So verabschiedete die Regionalregierung Ende November im Departamento Beni ein neues Agrargesetz, das in Zukunft fast die Hälfte der Fläche des Departamentos als Agrarfläche ausweist – die indigene Bevölkerung wurde dazu nicht konsultiert.

Kritische Stimmen in der Presse werden massiv bedroht und angefeindet. Der bekannte Karikaturist Al-Azar hat aufgrund von massiven Drohungen gegen seine Familie aufgehört, in der Tageszeitung La Razón zu veröffentlichen. Hinter den Drohungen stecken immer häufiger paramilitärisch organisierte Gruppen, die den zivilgesellschaftlichen Bürgerkomitees des Landes nahe stehen, wie die Resistencia Juvenil Cochala aus Cochabamba.
Teile der neuen Machthaber*innen und ihre Unterstützer*innen versuchen, zu verhindern, dass die MAS bei Neuwahlen antritt. Sie müssen befürchten, dass die Partei von Morales bei einem erneuten Urnengang als Siegerin hervorgeht. Der Politologe Fernando Mayorga sieht in der MAS die einzige Kraft, die im ganzen Land eine Basis hat, während die übrigen Akteur*innen, wie zum Beispiel der neoliberale Präsidentschaftskandidat Carlos Mesa, nur im Departamento La Paz eine wirkliche Basis hat.

Die Stimmen, die sich für den Entzug der Zulassung der MAS als politische Partei aussprechen, sehen sich durch den Abschlussbericht der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigt und sprechen von einem „gigantischen Wahlbetrug“. Von „Wahlbetrug“ berichtet das Abschlussdokument zwar nicht, weist jedoch auf schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen im Oktober hin. So gab es eine nicht vorhergesehene Änderung bei der elektronischen Erfassung der Stimmen, bei dem ein Server zugeschaltet wurde, der vorher nicht im System vorgesehen war. Das wertet die OAS als „vorsätzliche Manipulation“. Auch bei den Stichproben der Niederschriften der Wahlergebnisse in den einzelnen Wahllokalen gibt es bei etwa fünf Prozent der Niederschriften Unregelmäßigkeiten. Zudem stellt der Abschlussbericht fest, dass eine Überprüfung des Wahlergebnisses unmöglich ist, da ein Teil der Wahlunterlagen von Gegner*innen der MAS verbrannt wurden. Im Zuge der Unruhen nach den Wahlen gingen in den Departamentos Potosí und Chuquisaca 100 Prozent der Wahlunterlagen, in Santa Cruz immerhin 75 Prozent verloren. Am Montag nach der Wahl steckten Gegner*innen von Morales die lokalen Wahlbehörden in mehreren Departamentos in Brand.
Unter den Bürgerkomitees nehmen die Spannungen inzwischen zu. Luis Fernando Camacho, bisher Vorsitzender des Bürgerkomitees in Santa Cruz, hat sich im Alleingang zum Präsidentschaftskandidaten erklärt und damit Marco Pumari, den Vorsitzenden des Komitees in Potosí, vor den Kopf gestoßen. Eigentlich wollten beide als Duo gemeinsam kandidieren. Neben Camacho haben auch Ex-Präsident Carlos Mesa, der am 20. Oktober gegen Evo Morales angetreten war, und der evangelikale Prediger Chi Hyun Chung bereits ihren Hut in den Ring geworfen. Die MAS will voraussichtlich noch dieses Jahr klären, mit welchen Kandidat*innen sie bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr antreten wird, die voraussichtlich im März stattfinden sollen. Festgelegt hat sich die MAS schon auf ihren Wahlkampfleiter: Evo Morales.

EVO MORALES IM ABWÄRTSTREND

Konfrontation Protest in La Paz im Oktober (Foto: Paulo Fabre via wikimedia, CC BY-SA 4.0)

„Ich habe dreimal Evo Morales gewählt“, erklärte mir eine Bekannte kurz nach der Wahl in einem mondänen Café im reichen Süden von La Paz und seufzte, „dieses Mal ging es wirklich nicht mehr, aber Carlos Mesa konnte man eigentlich auch nicht wählen.“ Das Statement bringt das ganze Dilemma derjenigen zum Ausdruck, die in der Präsidentschaftswahl gerne Kandidat*innen gesehen hätten, die sich mit Vorschlägen, wie sie das Land gestalten wollten, einbringen. Stattdessen wurde seit Anfang des Jahres in Bolivien vor allem darüber gestritten, wer ein legitimer Kandidat für die Wahlen sei.
Evo Morales lastet ganz klar der Makel an, dass er in einem Referendum 2016 kein Mandat für eine weitere Wiederwahl erhalten hatte. Eine knappe Mehrheit stimmte damals gegen eine Verfassungsänderung. Damit blieb die Amtszeit eines Präsidenten oder einer Präsidentin auf zwei direkt aufeinanderfolgende Wahlperioden beschränkt. Das Verfassungsgericht hebelte diese Regelung Ende 2018 für Evo Morales aus und ebnete so den Weg zur erneuten Kandidatur.
Das umstrittene Wahlergebnis liegt im Rahmen des Erwartbaren. Evo Morales verlor massiv an Stimmen, blieb dennoch mit Abstand Wahlsieger, der zweitplatzierte rechtskonservative Carlos Mesa schnitt etwas stärker ab als erwartet. Auf dem dritten Platz landete als Überraschungskandidat Chi Hyun Chung, der durch sein strikt konservatives, antifeministisches und homophobes Familienbild den Kandidat der Cruzeños, (der Tieflandbewohner*innen um Santa Cruz) Oscar Ortíz, auf den vierten Platz verwies.
Da es bei der Auszählung der Stimmen am Wahlabend des 20. Oktober zu Unstimmigkeiten kam – zunächst lag Carlos Mesa nur sieben Punkte hinter Evo Morales, am nächsten Tag waren es mehr als zehn Prozentpunkte – akzeptierte die Opposition das Ergebnis nicht. Bereits vor den Wahlen hatte die Opposition eine reguläre Durchführung der Wahlen angezweifelt und verkündet, es würde ein Wahlbetrug organisiert. Am Montag nach den Wahlen kam es im Süden des Landes, in Potosí, Sucre und Tarija zu heftigen Ausschreitungen. Es wurden Straßenbarrikaden errichtet und Büros der Wahlbehörde in Brand gesetzt.

In Santa Cruz rief die Opposition zu einer unbefristeten Blockade auf


In Santa Cruz rief die Opposition zu einer unbefristeten Blockade auf. Seitdem ist die Wirtschaftsmetropole des Landes paralysiert. Auch im Süden des Landes gibt es Blockaden und Proteste. In anderen Regionen, wie dem Regierungssitz La Paz, gibt es zwar Proteste, diese haben bisher jedoch nicht die gleiche Kraft entfaltet. Hier kommt es bisher nur teilweise zu Störungen des öffentlichen Lebens, vor allem wegen Demonstrationen nahe des Regierungspalastes. In El Alto, der zweitgrößten Stadt, die indigen geprägt ist, verläuft das Leben weitgehend normal. Im Panorama der Proteste spiegelt sich die Spaltung des Landes wider, die sich bereits in den Wahlergebnissen zeigten.
„Man kann den Verschleiß von Evo Morales und seine Entfernung von der Bevölkerung nicht mehr leugnen“, meint der Journalist Julio Prado und ergänzt: „Er kam an die Macht, weil er einmal Teil der einfachen Leute war. Aber in den vergangenen fünf Jahren hat er keinen Kontakt mehr zu den Leuten.“ In der Tat haben sich Regierung und Präsident in der vergangenen Regierungsperiode weiter von einer Regierung mit Beteiligung der sozialen und indigenen Bewegungen entfernt und immer mehr mit traditionellen Methoden des Machterhalts regiert. Es handelt sich hier um eine Rückkehr der paternalistischen Republik, in der klientelistische Strukturen und Loyalitätsverhältnisse eine wichtigere Rolle spielen als themenorientierte Politik. Unter diesen Bedingungen ist eine Polarisierung entstanden, die, so der Wirtschaftswissenschaftler Huáscar Salazar, „die Kämpfe wie den Widerstand gegen den Extraktivismus tendenziell unsichtbar macht.“
Das Regierungshandeln basiert schon seit längerer Zeit auf der Vertiefung eines extraktivistischen Wirtschaftsmodells auf der Basis der Ausbeutung von Rohstoffen. Forderungen wie die Autonomie indigener Gebiete, der Schutz von Mutter Erde, einer alternativen wirtschaftlichen Entwicklung oder der Bildungsreform, wurden weitgehend ins Reich der Sonntagsreden verwiesen. Für Gabriel Villalba, ein junger Anwalt aus La Paz und MAS-Anhänger, ist diese Politik notwendig: „Es ist blauäugig, zu glauben, dass ein alternatives Wirtschaftsmodell ohne eine wirtschaftliche Entwicklung möglich ist. Zuerst müssen wir die Wirtschaft mit der Ausbeutung der Ressourcen entwickeln, und dann können wir über Alternativen nachdenken. Wir haben in den vergangenen Jahren große Erfolge erzielt.“

Experten*innen der OAS zählen die Stimmen aufgrund der Wahlbetrugsvorwürfe erneut aus


Die MAS, Partei von Evo Morales, setzte im Wahlkampf von Anfang an darauf, dass die gute Wirtschaftslage ausreichen würde, um die Wähler*innen zu überzeugen, dass es gut sei, weitere fünf Jahre mit der MAS zu leben.
Seit Anfang November ist klar: Es ist alles andere als sicher, ob Morales auch die nächsten fünf Jahre an der Macht bleibt. Im Moment zählen Expert*innen der OAS die Stimmen aufgrund der Wahlbetrugsvorwürfe erneut aus. Das Ergebnis wird in den kommenden Tagen erwartet. Die Opposition hat jedoch bereits angekündigt, dass sie das Ergebnis nur dann anerkennt, wenn die OAS einen Wahlbetrug feststellt und die Wahl annulliert. Zudem werden seit einigen Tagen die Stimmen immer lauter, die einen sofortigen Rücktritt von Evo Morales fordern. Das zeigt, dass in der Opposition immer mehr radikale Kräfte die Oberhand gewinnen. Inzwischen hat Fernando Camacho, Vorsitzender des Bürgerkomitees von Santa Cruz, den Präsidentschaftskandidaten Carlos Mesa als Oppositionsführer in der öffentlichen Erscheinung abgelöst. Der frühere Vorsitzende der Jugendvereinigung Santa Cruz (Unión Juvenil Cruceñista), einer paramilitärisch organisierten ultrarechten Gruppe, die zu Beginn der Regierung von Morales mit rassistischen Aktionen gegen Indigene auf sich aufmerksam machte, redet bei den Versammlungen gerne mit der Bibel in der Hand. Er hat inzwischen offen zum Sturz der Regierung aufgerufen und gebärdet sich in Anlehnung an Venezuelas Oppositionsführer als bolivianischer Guaidó. Im Gegensatz zu Mesa kann Camacho jedoch noch weniger im Hochland punkten, damit hat sich die Spaltung auch regional verfestigt.
Die MAS schart derweil ihre Anhänger*innen um sich. Das sind vor allem die sozialen Organisationen, die seit Jahren im Bündnis mit der Regierung stehen, wie die Frauenorganisation Bartolina Sisa, die nationale Koordination für den Wandel (CONALCAM) oder den Gewerkschaftsverband COB. Das Problem dabei: Die Politik der vergangenen Jahre und die Strategie der Spaltung hat die Loyalitätsverhältnisse innerhalb der Gewerkschaft zur MAS ausgehöhlt. Ein Resultat ist, dass der Gewerkschaftsverband COB in seiner Position gespalten ist. Während die nationale Führung hinter Morales steht, haben sich einige regionale Verbände der Opposition angeschlossen. Auch innerhalb der indigenen Bevölkerung genießt die Regierung lange nicht mehr den Rückhalt.
Die Opposition hat ein größeres Interesse an einer Verschärfung des Konflikts auf der Straße, denn nur so kann sie den Druck auf Morales aufrecht erhalten. Immer wieder kommt es zu heftigen Zusammenstößen zwischen Regierungsanhänger*innen und Oppositionellen. Am 6. November starb in Cochabamba ein Demonstrant, der dritte Tote im bisherigen Konflikt. In diesen Tagen ist der ultrarechte Fernando Camacho erneut nach La Paz gereist. Dort hat er mit den oppositionellen Cocaleros (Bewegung der Cocabäuerinnen und -bauern) eine Verbrüderung inszeniert.

Die Opposition hat ein Interesse an einer Verschärfung des Konflikts auf der Straße


Es scheint so, als ob er schnell eine Entscheidung sucht und den Druck jetzt am Regierungssitz konzentrieren will. „Bis 11. November wird Evo Morales zurücktreten“, hat er angekündigt und ergänzt, „ich bleibe in La Paz, bis die Regierung abgedankt hat.“ Ob die Strategie der Spannung aufgeht, ist jedoch ungewiss. Bisher sind die Truppen, die er in La Paz aufbieten kann, begrenzt. Die Studierenden der Universität UMSA in La Paz haben wenig Kampferfahrung und die Organisation der Kokabäuerinnen und -bauern, ADEPCOCA, mit der er sich verbündet hat, ist durch interne Auseinandersetzungen geschwächt. Die Mittel- und Oberschicht aus den Stadtvierteln Zona Sur und Sopocachi organisieren Blockaden, die aber oft nur von neun bis fünf und mit Mittagspause stattfinden.

Die verschiedenen Fraktionen der Opposition sind sich nur in der Ablehnung von Evo Morales einig

Zudem gibt es einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung, die zwar Morales nicht mehr wollen, Camacho aber noch weniger. Viele wollen Camacho nicht folgen, vor allem in La Paz nicht und im indigenen El Alto noch weniger. Die Radikalisierung der Opposition zeigt ihre Schwäche. Denn die verschiedenen Fraktionen einigen sich in der Ablehnung von Evo Morales, ansonsten sind sie aber zersplittert.
Allmählich beginnt sich die Position stärker zu artikulieren, die sich auf keine der beiden Seiten stellt. Maria Galindo, bekannte Feministin in Bolivien, machte bereits vor der Wahl deutlich, dass sie keinen der „Streithähne“ für wählbar hält. Dafür wurde sie von den Evo-Gegner*innen heftig ausgebuht. Fernando Camacho hält sie für einen Faschisten, der weder Frauen, noch die Rechte der Indigenen respektiert. Es sind vor allem Frauen, die in den vergangenen Wochen Versammlungen im ganzen Land organisierten, um alternative Positionen zu bestimmen. Shezenia Hannover, Aktivistin aus El Alto: „In der jetzigen Situation ist es wichtig, die Zivilgesellschaft zu stärken, damit wir die soziale Kontrolle zurück gewinnen und bestimmen können, wer regiert.“ Im Moment scheint es jedoch unmöglich, mit einer themenorientierten Position durchzudringen. Der Journalist Julio Prado sieht hier erst eine Möglichkeit in ein bis zwei Jahren: „Sollte Morales im Amt bleiben, dann bestünde die Möglichkeit, dass sich die Gesellschaft reorganisiert und in zwei Jahren ein Abwahlverfahren organisiert, das wäre laut Verfassung möglich.“

 

WIRTSCHAFT GUT, EVO GUT

„Bolivien sagt Nein“ Slogan des Außenseiterkandidaten Oscar Ortíz (Foto: Paula Fischer)

Die ausgedehnten Waldbrände überschatten Evo Morales’ jüngste Erfolge: Händeschütteln auf der Expocruz, der größten Messe Boliviens, Blitzlichtgewitter, zufriedene Gesichter. Boliviens Präsident verkündete im Juli, dass man mit China übereingekommen sei, Rindfleisch dorthin zu exportieren. Óscar Ciro Pereyra, Präsident der bolivianischen Viehzuchtvereinigung Congabol, zeigte sich hoch erfreut über den Deal. Zur gleichen Zeit unterzeichnete der Präsident ein Dekret, das in den Departamentos Santa Cruz de la Sierra und Beni „kontrollierte Feuer“ im Rahmen des Modells der nachhaltigen Bewirtschaftung des Waldes zuließ, um die landwirtschaftlichen Flächen des Landes zu erweitern. Was dann geschah, waren keine kontrollierten Feuer, sondern ein Flächenbrand in den Trockenwäldern der Chiquitanía im Osten des Landes, der eine Fläche etwa der Größe Brandenburgs vernichtet hat. Jeder Hektar mehr kostet Morales Stimmen. Wirtschaftsexpert*innen warnen schon, dass das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts sich durch die Feuer von den vorhergesagten vier Prozent in diesem Jahr auf zwei Prozent halbieren könne.
Der Journalist Tuffi Aré aus Santa Cruz vergleicht den Wahlkampf in Bolivien mit einem Fußballspiel: „Bis zu den Waldbränden schien die MAS mit 4:2 in Führung zu liegen.“ Man versuchte das Spiel zu kontrollieren, gab sich staatstragend und hielt sich in den Auseinandersetzungen weitgehend zurück. „Jetzt könnte die Situation kippen“, denn wie überall auf der Welt macht sich auch die junge und städtische bolivianische Bevölkerung, die gut ein Drittel der Stimmen und die unentschlossenste Gruppe von Wähler*innen ausmacht, zunehmend Sorgen ums Klima.
Bringen die Feuer in der Chiquitanía den Vorsprung von Evo Morales ins Wanken? Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat die Umfragen der vergangenen fünf Jahre untersucht und kommt zum Ergebnis, dass Morales seit dem Jahr des Referendums 2016 einen Aufwärtstrend verzeichnen konnte. Im November 2016 war die Zustimmung mit 27 Prozent am niedrigsten, als der Staatschef an einer erneuten Wiederwahl festhielt, obwohl er die Abstimmung um die Verfassungsänderung verloren hatte. Seitdem ging es jedoch bergauf. Im ersten Halbjahr erreichten die Zustimmungswerte ein gutes Drittel. Der größte Widersacher von Evo Morales, Carlos Mesa, kam nach der Zusammenfassung der Umfragen lediglich im November 2018 an den Staatschef heran, als er seine Kandidatur verkündete. Seitdem verliert er an Zustimmung und liegt nun bei Zustimmungswerten von 25 bis 27 Prozent. Ein Grund dafür ist die zunehmende regionale Stärke eines weiteren Kandidaten, Oscar Ortíz von der Wähler*innenvereinigung Bolivia Dice No („Bolivien sagt Nein“), die vor allem in den Tiefland-Departamentos hohe Zustimmungswerte erreicht und landesweit auf rund zehn Prozent kommt.
Inwiefern die jeweiligen Einzelumfragen und ihre Zusammenfassung aber ein genaues Bild zeichnen, ist fraglich. Zum einen gibt es die bereits erwähnten städtischen Jungwähler*innen, die weniger an traditionelle politische Lager gebunden sind und sich in den Umfragen unentschlossen zeigen. Zum anderen gibt es die ländlichen Wähler*innen aus den sogenannten zerstreuten Regionen, die von keiner Umfrage erfasst werden. Die im Andenhochland oder im amazonischen Urwald lebende Bevölkerung hat ein anderes Wahlverhalten als die städtischen oder stadtnah lebenden Wähler*innen und macht etwa ein Fünftel der Wähler*innen aus.
Meist liegen diese abgelegenen Regionen geografisch gar nicht sehr abgeschieden. Nicht weit vom Regierungssitz La Paz entfernt, wo die Anden zerklüftet und schwer zugänglich ins Tiefland abbrechen, befinden sich kleine Bergwerkstollen. In den provisorischen Minen wird von kleinen Kooperativen oft Gold geschürft, häufig unter unsicheren Bedingungen und selten unter Einhaltung von Umweltstandards. Die mineros (Bergleute) hatten vor drei Jahren einen heftigen Konflikt mit der Zentralregierung. Mehrere Bergleute wurden von der Polizei getötet, außerdem kam der Staatssekretär Rodolfo Illanes ums Leben, als er in die Hände der protestierenden Bergleute geriet. Es ging damals um die Kontrolle des Bergbaus. Den Konflikt gewann die Bewegung zum Sozialismus (MAS) von Evo Morales, die nach dem Tod des Staatssekretärs mit harter Hand gegen die Kooperativen durchgriff. Bis heute wirkt der Konflikt nach: „Die mineros werden dennoch Evo Morales wählen“, davon ist Veronika Cardenas* überzeugt. Die junge Umweltingenieurin macht Fortbildungen mit den Kooperativen und bereist die abgelegenen Orte des Departamentos La Paz. Ihrer Meinung nach hat die MAS es geschafft, die Führungskräfte der Kooperativen auf ihre Seite zu ziehen. „In letzter Zeit sieht man öfter modernes Gerät in den Bergwerken, das kommt von der MAS“, meint sie, „die Chefs der Kooperativen sind gekauft und die werden dafür sorgen, dass die Mehrheit der Bergleute die Regierung wählen“.
Immer wieder kursieren Gerüchte, dass die MAS Gruppen von Wähler*innen gezielt in solchen Regionen platziert, um den Wahlsieg zu sichern. Grundsätzlich kann sich jede Wählerin und jeder Wähler in Bolivien registrieren lassen, wo er oder sie möchte, der Wohnort verpflichtet nicht zu dortigen Registrierung.
Ob alle abgelegenen Regionen automatisch mehrheitlich die MAS wählen, ist indes nicht ausgemacht.

„Die mineros werden dennoch Evo Morales wählen“

Grundsätzlich ist das Land gespalten. Im Tiefland haben sich Indigene auf den Weg gemacht, um gegen die Feuer im östlichen Tiefland und das Krisenmanagement der Regierung zu protestieren. Auch in den Städten herrscht ein gewisser Unmut über die Zentralregierung. Von daher könnte Tuffi Aré recht damit behalten, die verheerenden Feuer könnten den Präsidenten entscheidende Stimmen kosten, die zumindest zu einer Stichwahl führen könnten. Hunderttausende gingen wegen der Feuer am 4. Oktober in Santa Cruz auf die Straßen und forderten, Morales bei der Wahl abzustrafen. An dem Protestzug nahmen auch indigene Gruppen aus dem Amazonasgebiet teil. Um in der ersten Runde zu gewinnen, müssen mindestens 40 Prozent der Stimmen und ein Vorsprung von zehn Punkten gegenüber dem Zweit­pla­zier­ten erreicht werden._Auf der anderen Seite gibt es auf dem Land Menschen, die die Brandrodungen durchführen und im Prinzip für die Feuer verantwortlich sind. Diese wollen das Vorhaben der Regierung umsetzen, die landwirtschaftlichen Flächen in Bolivien zu erweitern. Und so vom in Aussicht stehenden Geschäft mit China profitieren.
„Natürlich hat unsere Regierungspolitik eine extraktivistische Komponente“ meint Gabriel Villalba, Anwalt und Aktivist der MAS, „alles andere wäre blauäugig.“ Die Ausbeutung der Ressourcen sei notwendig, um das Land zu entwickeln, „erst in einer zweiten Stufe können wir darüber nachdenken, eine andere Wirtschaftsform zu entwickeln.“ Damit meint er die Idee einer gemeinschaftlichen Ökonomie, die im Regierungsprogramm der MAS steht, von der die Partei aber seit geraumer Zeit abgerückt ist. Priorität haben momentan der Bergbau, die Industrialisierung des Batterie-Grundstoffs Lithium und der Ausbau der Landwirtschaft. So hatte es der Vizepräsident Álvaro García Linera vor zwei Jahren in der Zeitung La Razón verkündet. Das Projekt der Industrialisierung Boliviens hat Evo Morales Stellvertreter erst bei einer Rede am 6. August beim Nationalfeiertag betont. Dabei erklärte er auch, dass Bolivien seiner Meinung nach mehr für den Klimaschutz tue als andere Länder, „Bolivien hat laut Weltbank 5.465 Bäume pro Einwohner, Deutschland hat 107 Bäume“. Auch beim CO2-Ausstoß liege Bolivien mit 1,9 Tonnen pro Kopf weit hinter Deutschland, wo pro Einwohner*in immerhin neun Tonnen CO2 verbraucht würden.
Während die MAS versucht, das Thema der größten Waldbrände seit Jahren in der Öffentlichkeit so klein wie möglich zu halten und hofft, dass der Spuk vor den Wahlen vorbei ist, versuchen die beiden Herausforderer Morales’, Carlos Mesa und Oscar Ortíz, naturgemäß politisches Kapital daraus zu schlagen. Beide warfen der Regierung Unfähigkeit in Sachen Brandbekämpfung vor. In der Tat hat die Regierung das Ausmaß der Feuer unterschätzt. Allerdings wissen auch Morales’ Herausforderer, dass zu einer wirtschaftlichen Entwicklung auch eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion gehört. Denn trotz der immensen Flächen, die das Land hat, importiert Bolivien noch immer Nahrungsmittel.
Im Wahlkampf bekämpfen sich Oscar Ortíz und Carlos Mesa fast schärfer untereinander, als dass sie Morales angehen. Sie haben es bisher versäumt, eine klare Abgrenzung zur Regierungspolitik im Themenfeld Wirtschaft zu finden. Carlos Mesa versucht mit Korruptionsbekämpfung zu punkten. Oscar Ortíz hat den Hauptpunkt seines Wahlprogramms im Namen seiner Wähler*innenvereinigung Bolivia Dice No zur Wiederwahl von Evo Morales. Dies bezieht sich auf das Referendum von 2016, bei dem eine knappe Mehrheit der Bolivianer*innen gegen eine mögliche Aufstellung von Evo Morales zur Wiederwahl gestimmt hatte. Entgegen dieser Entscheidung hatte das Verfassungsgericht 2017 allerdings seine erneute Kandidatur als Präsident erlaubt. Am 20. September verkündete der Ex-Sprecher der Bürger*innenplattform (Comunidad Ciudadana) von Carlos Mesa, Diego Ayo, in der Presse, Ortíz habe ihm viel Geld angeboten, um einen Krieg gegen Carlos Mesa anzuzetteln.
Die Uneinigkeit der Opposition erhöht die Chancen, dass Evo Morales die Wahl vielleicht schon in der ersten Runde gewinnt. Denn dazu kommt, dass im Land keine Wechselstimmung herrscht und über 50 Prozent glauben, dass der alte Staatslenker auch der neue sein wird. Allerdings mit einem knappen Ergebnis und eventuell einem Parlament, dass von der Opposition beherrscht wird. Denn neben dem Präsidentenamt werden auch die 36 Sitze des Senats und die 130 Mandate im Abgeordnetenhaus neu vergeben.

 

Newsletter abonnieren