MORALES’ DOPPELMORAL

Illustration: Joan Farías Luan

Eine Fläche etwa so groß wie Schleswig-Holstein ist den Flammen bereits zum Opfer gefallen. Besonders hart trifft es die Savannenregion Chiquitanía im östlichen Departament Santa Cruz. Das wichtige Ökosystem verbindet die beiden größten Biome Südamerikas, den Amazonas und den Gran Chaco. Von der Koordination der indigenen Organisationen des Amazonasbeckens (COICA) wurden Morales und Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro nun gleichermaßen zu unerwünschten Personen erklärt. „Die indigenen Völker machen die Regierungen der Präsidenten Jair Bolsonaro und Evo Morales verantwortlich für den physischen, ökologischen und kulturellen Genozid, der aktuell im Amazonas passiert”, heißt es in einer Erklärung.
Seit seinem Amtsantritt 2006 präsentiert sich Morales, national und international, als Verteidiger der Pachamama (Mutter Erde). „Meine Großeltern, meine Eltern und meine Gemeinschaft haben mich gelehrt, dass das Land unsere Mutter ist, es ist unser Zuhause, das respektiert und geschützt werden muss“, sagte Morales im April 2016 vor der UN-Versammlung. An solchen Worten wird er nun, da ein großer Teil Boliviens in Flammen steht, gemessen. Zu seinem Nachteil, denn seine Politik der vergangenen Jahre hat die aktuelle Katastrophe begünstigt.
Bereits 2015 erließ Morales Regierung das Gesetz 741, das die Rodung von bis zu 20 Hektar großen Grundstücken „zur Entwicklung von Land- und Viehwirtschaft im Einklang mit Mutter Erde“ erlaubt. Tatsächlich ist die Vorlage von nachhaltigen Bewirtschaftungsplänen für eine solche Genehmigung jedoch keine Praxis. Was der Ent­waldung zumindest bisher stellenweise Einhalt gebot, war eine Verordnung von 2001, aus der Zeit vor Morales Präsidentschaft. Diese verlangte zumindest für die Entwaldung in Santa Cruz, wo die Brände momentan besonders verheerend sind, Sondergenehmigungen, und stellte Brandrodung in Forst- und Schutzgebieten unter Strafe.
Im Juli dieses Jahres jedoch änderte Morales diese Verordnung mit dem Dekret 3.973. Dieses erlaubt seitdem „kontrollierte“ Brandrodungen zur Gewinnung landwirtschaftlicher Flächen auch in Santa Cruz und dem angrenzenden Amazonas-Departement Beni. Die Regierung begründete dies mit Bevölkerungswachstum und einer erhöhten internen wie externen Nachfrage nach Nahrungsmitteln. Auf einer Pressekonferenz sagte Morales, Kontrollen seien wichtig, dass es sich aber um kleine Familien handele, die sonst nicht zu essen hätten. „Wovon sollen sie leben? Es geht um einen halben Hektar für Mais, um die Situation des Kleinerzeugers, um einen Hektar Reis zum Überleben. Es sind jetzt andere Zeiten, wir müssen die Normen anpassen“, so Morales.
Umweltorganisationen haben da jedoch ihre Zweifel. Für sie hängen die Brände mit der Entscheidung der Regierung zusammen, die Grenzen für die industrielle Landwirtschaft und Viehzucht zu erweitern. „Die ganze Verwüstung ist das Ergebnis einer irrationalen Wirtschaftspolitik, die auf den Ausbau von Monokulturen und die Ausweitung der Viehzucht abzielt“, heißt es in einer Stellungnahme der Nationalen Koordination für die Verteidigung Indigener und Bäuerlicher Territorien (Contiocap). Das Dekret galt vielen offenbar als grünes Licht für die chaqueos, dem Verbrennen von Wäldern, der billigsten Methode der Entwaldung. Mutmaßlich wurden die Feuer, wie auch in Brasilien, durch Brandstifter aus der Landwirtschaft ausgelöst, um Weideflächen für die exportorientierte Fleischproduktion zu schaffen.
Bisher war Bolivien nicht gerade als Exportland bekannt, aber das soll sich bald ändern. Ende August, als die Flammen in Santa Cruz am höchsten schlugen, feierte Evo Morales im selben Departmento offiziell den Export der ersten Tonnen bolivianischen Rindfleischs für den chinesischen Markt. Erst im April hatte China seinen Markt für bolivianische Fleischimporte geöffnet. Der Präsident des bolivianischen Fleischproduzentenverbands Congabol, Oscar Ciro Pereyra, sagte, das Ziel bestehe darin, bis 2030 eine Produktion von 200.000 Tonnen Fleisch zu erreichen, was einem Umsatz von 900 Millionen Dollar entspricht und Bolivien zu einem der 15 Länder mit den größten Fleischexporten machen würde.
Und auch das Ausmaß der Flächen, die durch Morales Gesetze zur Rodung freigegeben wurden, spricht eine deutliche Sprache. Der Gouverneur von Beni, Alex Ferrier, zeigte sich nach der Unterzeichnung des Dekrets 3.973 erfreut, da dadurch „bis zu neun Millionen Hektar landwirt­schaftliche Nutzfläche entstehen könnten“. Bei einem halben Hektar für Kleinproduzent*innen wäre das ausreichend für 18 Millionen solcher Kleinproduzent*innen – allein in Beni – bei einer Einwohner*innenzahl von elf Millionen in ganz Bolivien.
Mehr als 80 Umweltorganisationen werfen der Regierung nun „Ökozid“ vor und fordern die Abschaffung des Gesetzes 741 und des Dekrets 3.973. Die Regierung der Bewegung zum Sozialismus (MAS) weigert sich jedoch, diese Regelungen aufzuheben. Stattdessen schlug Evo Morales ein großes „Rückgewinnungsprogramm“ für die zerstörten Gebiete vor, das sich auf die Phase nach den Bränden konzentrieren werde. Er verkündete zudem eine „ökologische Pause“, während der der Verkauf von verbranntem Land bis zu dessen Regeneration verboten ist, sodass aus den illegalen Brandrodungen zumindest vorerst kein Profit zu schlagen ist.
Doch noch brennt es und vielerorts ist die Lage nicht unter Kontrolle. Tausende Soldat*innen und Freiwillige kämpfen seit Wochen gegen die Feuer. Nach massivem Druck aus der Zivilbevölkerung hat Morales internationale Hilfe ange­fordert, diese kommt unter anderem aus Argentinien, Peru und Chile. Und auch Russland, China und die EU schicken Geld und Expert*innen.
Eigentlich steckt Bolivien gerade mitten im Wahlkampf. Am 20. Oktober sind Präsidentschaftswahlen, bei denen auch Evo Morales für eine vierte Amtszeit kandidiert. Den Wahlkampf hat Morales derweil offiziell ausgesetzt. Videos im Netz zeigen ihn im blauen Overall der Brigadistas, wie er in Chiquitanía mit Spaten und Wasserschlauch gegen die Flammen kämpft – manchmal ist kein Wahlkampf eben auch Wahlkampf. Lange blieb er jedoch nicht, denn am nächsten Tag erwartete man ihn schon zu der offiziellen Feier anlässlich der ersten China-Fleischexporte.
Morales’ Anti-Umwelthaltung ist nicht neu. Sein Versuch, eine Straße durch den TIPNIS-Nationalpark zu bauen (siehe LN 519/520), markierte bereits vor Jahren das Ende der Unterstützung von Teilen seiner Basis. Obwohl erste Umfragen ein knappes Ergebnis voraussagen, ist es dennoch unwahrscheinlich, dass die aktuelle Kritik an Morales ihn bei den anstehen Wahlen den Sieg kosten könnte. Nichtsdestotrotz steht Evo Morales vor der Herausforderung, seine Fehler zu korrigieren, das heißt das Gesetz 731 und das Dekret 3.973 aufzuheben und eine Gesetzgebung anzuwenden, die Umweltkriminalität verfolgt und bestraft. Andernfalls bleibt unklar, was ihn in Sachen Umweltpolitik von Bolsonaro unterscheidet und seine Inszenierung als Verteidiger der Pachamama rechtfertigt.

 

PERONISTISCHE SCHACHZÜGE

Wer darf einziehen? Der Präsidentschaftspalast Casa Rosada in Buenos Aires / Foto: Lars Curfs (CC BY-SA 3.0 NL)

Alberto Fernández hat das strategische Dilemma der Peronisten vor geraumer Zeit auf den Punkt gebracht: „Ohne Cristina geht es nicht und mit Cristina reicht es nicht.“ Cristina ist Cristina Fernández de Kirchner und das Dilemma besteht darin, dass sie Argentinien polarisiert, aber auch auf der linken Seite mobilisiert wie derzeit kein anderer argentinischer Politiker oder Politikerin.
Mit zwei Schachzügen wurde auf das Dilemma reagiert: Cristina Kirchner tritt bei den Präsidentschaftswahlen am 27. Oktober nur als Vizepräsidentschaftskandidatin an, Alberto Fernández, ehemaliger Kabinettschef von Nestór Kirchner (Präsident von 2003 bis 2007, 2010 verstorben) als Präsidentschaftskandidat. Cristina in die zweiten Reihe und damit aus der direkten Schusslinie der Konkurrenten zu nehmen, ist der eine Schachzug. Der andere ist, ein breites Bündnis innerhalb des peronistischen Lagers anzustreben, das bekanntlich von links bis rechts reicht. Und bei Letzterem ist Alberto Fernández ein Coup gelungen, der Cristina Kirchner kaum gelungen wäre: Sergio Massa wieder ins Boot zu holen. Der Rechtsperonist Massa war 2015 maßgeblich mitverantwortlich für die Spaltung des peronistischen Lagers in zwei Blöcke und bereitete somit dem Wahlsieg Macris in der Stichwahl gegen Daniel Scioli den Weg.
Mitte Juni gaben Massa und Alberto Fernández ihre Allianz für die Wahlen im Oktober bekannt. „Seit einiger Zeit erwartet ein großer Teil der Gesellschaft, dass wir uns vereinen, um vorrwärts zu kommen“, sagten sie beim Verlassen der gemeinsamen Sitzung. Dass Massa nicht wieder selbst antritt wie 2015 und zum Duo Fernández/Kirchner gewechselt ist, erhöht deren Chancen beträchtlich. Welche Rolle Massa genau spielen wird, ist noch nicht ausgemacht.
Der Name des Bündnisses von Fernández/Kirchner, Frente de todos (Bündnis von allen), kommt nicht von ungefähr: Denn neben Massa findet auch Máximo Kirchner darin Platz, Sohn von Cristina Kirchner und Anführer der linken kirchneristischen Jugendbewegung „La Cámpora“. Diese Organisation nahm ihren Ausgangspunkt in der Präsidentschaft von Néstor Kirchner ab 2003, der mit „La Cámpora“ einen Weg suchte, die Jugend für sein linksperonistisches Regierungsprojekt zu mobilisieren und politischen Rückhalt zu gewinnen.

Macri kommt durch das breite Bündnis im peronistischen Lager in Bedrängnis

Um ein „Bündnis von allen“ unter den Peronisten zu schmieden, dem freilich nicht alle Fraktionen, aber doch bemerkenswert diverse angehören, mussten die handelnden Personen über ihren Schatten springen: mit Cristina Fernández de Kirchner hatte sich sowohl Alberto Fernández als auch Sergio Massa einst überworfen. Fernández wurde im Mai 2003 von Präsident Néstor Kirchner zum Kabinettschef ernannt. Diesen Job hatte er auch noch im ersten Jahr der Präsidentschaft von Cristina Kirchner (2007 bis 2015), bis er aufgrund von Meinungsverschiedenheiten im Konflikt zwischen Regierung und dem Agrarsektor zurücktrat. Die Erhöhung der Exportabgaben auf Agrarprodukte, insbesondere den Exportschlager Soja 2008 durch Cristina Kirchner, brachte die Agrarlobby und ihre Verbündeten um den Medienkonzern Clarín, der bis dahin kirchnerfreundlich berichtet hatte, auf die Barrikaden. Kirchner konnte sich nur durch Konzessionen an den Agrarsektor im Amt halten. Alberto Fernández stand damals auf der Seite der Agrarlobby und von Clarín, distanzierte sich vom Kirchnerismus und musste seinen Job als Kabinettschef an Massa abgeben, der diesen Job ein Jahr später hinwarf und fortan auf eigenem Ticket weiter Politik machte. Jetzt sind alle drei wieder vereint.
„Alle Seiten hatten etwas aufzugeben”, erklärte Alberto Fernández mit Hinblick auf das Bündnis mit Massa. „Was wir aber niemals aufgeben werden, ist unsere Identität, und das muss auch Sergio Massa nicht machen. Wir haben uns in der Diversität vereint, nicht, um uns gleichzumachen.”
Der 60-jährige Alberto Fernández ist kein Vertreter des linken Flügels, sondern ein Zentrumsperonist und gewiefter Verhandler, der nach allen Seiten offen ist. Ihm wird ein guter Draht zur Partei- und Gewerkschaftsbürokratie nachgesagt und auch zum mächtigen Medienkonzern Clarín.
Macri kommt durch das breite Bündnis im peronistischen Lager in Bedrängnis. Reagiert hat er schon: Er konnte als Vizepräsidentschaftskandidat an seiner Seite den peronistischen Senator Miguel Ángel Pichetto gewinnen. Pichetto kommt aus dem Block der „Justizialisten“, die im Senat die größte Fraktion stellten und Macri dort auch ohne offizielles Bündnis seine Unterstützung leisteten, zum Beispiel bei der als Rentenreform etikettierten Rentenkürzung. Pichetto gilt als einflussreicher Strippenzieher innerhalb des Peronismus und stand lange an der Seite Cristina Kirchner und ihres Vorgängers und Ehemanns Néstor Kirchner.
Neben Macri/Pichetto und Fernández/Kirchner treten noch sechs weitere Duos an, ohne Chancen auf einen Sieg, aber mit Einfluss darauf, ob es zu einer Stichwahl kommt wie 2015. Darunter ist mit Manuela Castañeira, die mit Eduardo Mulhall als Vize für die Bewegung zum Sozialismus (MAS) antritt, nur eine Frau. Die mit 34 Jahren jüngste aller Kandidat*innen steht unter anderem für die Bewegung der Befürworter*innen der Aufhebung des Abtreibungsverbots und bezeichnet sich selbst als “Feministin und Sozialistin”. Dass sie sich für ein Ende der Geschlechtergewalt (“Ni una menos”) einsetzt, versteht sich von selbst.
Mehr als die Zustimmung zu seinen Gegner*innen könnte Mauricio Macri die drastisch gesunkene Zustimmung für seine Regierung Stimmen kosten. Nichts ist aus der 2015 versprochenen Flut von Investitionen geworden, stattdessen leidet die Bevölkerung unter hoher Inflation, zunehmender Arbeitslosigkeit und Armut. Bisher hat Macri es mithilfe von Clarín halbwegs erfolgreich geschafft, die Dauerkrise in seiner Amtszeit als Folge der Ära Kirchner zu verkaufen und Geduld gepredigt. Dass er damit im Oktober noch mal durchkommt, ist eher unwahrscheinlich.

 

AUS ALT MACH NEU


Wer hier einzieht, was schon hier Regierungspalast Palacio Quemada in La Paz // Foto: Rodrigo Achá / Flickr (CC BY 2.0)

Bisher läuft der Präsidentschaftswahlkampf in Bolivien weitestgehend ohne inhaltliche Auseinandersetzungen ab. Die Opposition nörgelt am Umstand herum, dass sich Evo Morales trotz Ablehnung beim Referendum illegitim wiederwählen lassen will und die Regierung bezichtigt die Opposition, „Kandidaten der Vergangenheit zu sein“. Debatten darüber, wohin man das Andenland steuern will, haben bis jetzt nicht stattgefunden. Anfang Juli will zumindest die „Bewegung zum Sozialismus – das politische Instrument zur Souveränität der Völker“ (MAS-IPSP) in Cochabamba ein Wahlprogramm beschließen.
Eigentlich gibt es genügend Themen, über die Opposition und Regierung inhaltlich streiten könnten. Ein Thema sind die zahlreichen Konflikte der Zentralregierung mit lokalen sozialen Bewegungen. So blockieren seit Ende Juni die Coca-Bauern aus der Yungas-Region die Routen, die vom Regierungssitz La Paz Richtung Norden führen. Zwischen den Coca-Produzent*innen und der Regierung aus den Bergnebelwäldern der Yungas schwelt seit langem ein Konflikt.

Die MAS ist längst keine Regierung der sozialen Bewegungen mehr


Es geht um die Balance zwischen den beiden Coca-Hauptanbauregionen. Auf der einen Seite das traditionelle Anbaugebiet der Yungas und auf der anderen Seite die Provinz Chapare, wo Evo Morales immer noch – im Nebenposten sozusagen – Chef der örtlichen Coca-Bauernvereinigung ist. Vor zwei Jahren wurden die legalen Produktionsmengen gesetzlich neu festgelegt. Die Coca-Produzent*innen aus den im Departamento La Paz gelegenen Yungas sehen sich benachteiligt, weil sie ihrer Meinung nach schlechter wegkommen, als ihre Kolleg*innen im Chapare, das zum Departamento Cochabamba gehört. Sechs Menschenleben hat der Konflikt bisher gekostet, und der Anführer der Vereinigung der Coca-Produzent*innen aus den Yungas sitzt seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, am Tod eines Polizisten beteiligt gewesen zu sein. Der Konflikt in den Nebelwäldern nördlich des Regierungssitzes ist nur einer von vielen regionalen Konflikten, die zwischen den sozialen Bewegungen und der MAS-IPSP besteht. Interessenskonflikte zwischen Bevölkerungsgruppen und der MAS-geführten Zentralregierung treten immer häufiger auf. Dabei ist längst deutlich geworden, dass die MAS keine Regierung der sozialen Bewegungen mehr ist. Vielmehr besteht die Strategie zunehmend darin, diese zu zersplittern und zu schwächen.
Auf der anderen Seite haben die Kandidat*innen der Opposition auch keine Basis bei dem abtrünnigen Teil der sozialen Bewegungen, die vor knapp fünfzehn Jahren der MAS zur Macht verholfen hatten. Carlos Mesa, Präsidentschaftskandidat der Bürgergemeinschaft (Comunidad Ciudadana) und aussichtsreichster Gegenspieler von Evo Morales, konnte auf Twitter lediglich konstatieren, dass die MAS die sozialen Bewegungen spalten möchte.
Carlos Mesa repräsentiert die weiße Mittel- und Oberschicht des Landes. Unter Gonzalo Sánchez de Lozada war er von 2002 bis 2003 Vizepräsident und nach dem Krieg ums Erdgas 2003 und der Flucht von Sánchez de Lozada war er Interimspräsident bis zum Machtantritt von Evo Morales im Januar 2006 (siehe LN 473). Seine Beziehungen zu den sozialen Bewegungen, die mit der MAS-Regierung im Clinch liegen, gestalten sich wegen der Vorgeschichte schwierig und das ist sicherlich eine der Herausforderungen seiner Kandidatur.
Im Februar kündigte Mesa an, sein Wahlprogramm „im Dialog mit den Wähler*innen“ zu erarbeiten. Dadurch versuchte er zu Beginn sein programmatisches Defizit zu kaschieren. Vergangenes Jahr wollte er noch die von der MAS eingeführten Sozialleistungen, wie das Schulgeld oder die Rente der Würde, abschaffen. Für die Idee erntete er viel Kritik und inzwischen ist er davon wieder abgerückt.
Jetzt, so scheint es, nimmt sein Wahlprogramm jedoch Konturen an. Ob dies als Resultat des Bürger*innendialogs zu bewerten oder den tagespolitischen Konjunkturen geschuldet ist, bleibt allerdings unklar. Er hat angekündigt, die Korruption in der Polizei bekämpfen zu wollen, die jüngst durch einen Drogenskandal erschüttert wurde. Auf einem Video war zu sehen, wie ranghohe Polizeioffiziere mit einem der gesuchtesten Drogenbosse eine Party feierten. Immer öfter wird über Verbindungen der Drogenmafia in den Staatsapparat spekuliert. Bolivien gilt als ein zunehmend wichtiger Drogenumschlagplatz, auch die Menge des produzierten Kokas soll wieder zugenommen und das Niveau von 2005 erreicht haben. Doch der Ausgang der Präsidentschafts­wahlen wird weder an der Korruption noch an der Tatsache, dass ein Teil der Coca-Ernte auf dem Schwarzmarkt „verschwindet“, etwas ändern können. Bis zu einem Drittel schätzen Expert*innen den Anteil der Drogenökonomie an der Volkswirtschaft.
Zur Wirtschaftspolitik hat Mesa ebenfalls erste Aussagen gemacht und angekündigt, dass er die Wirtschaft stärker öffnen möchte. Genau das betreibt die Regierung um Evo Morales bereits seit einigen Jahren. Der Plan der Regierung sieht vor, das Lithium zu industrialisieren, den Export von Landwirtschaftsprodukten voranzutreiben und die Infrastruktur sowie den Zugang zu den Märkten zu verbessern. Im Juni tagten die Regierungen von Peru und Bolivien, um den Ausbau des Hafens im peruanischen Ilo voranzutreiben. Gleichzeitig gibt es Verhandlungen mit Paraguay, über die Wasserstraße Paraná einen Zugang für den Export bolivianischer Waren über den Atlantik zu bekommen. Im Hintergrund steht der Wunsch Boliviens, einen Schienenverkehrsweg zwischen Pazifik und Atlantik zu bauen. Diese liberale Wirtschaftspolitik kommt bei den Märkten gut an und hatte in der jüngsten Vergangenheit zu einer zehnjährigen Boomphase geführt.
Carlos Mesa erkennt diese Erfolge an. Seiner Meinung nach gibt es allerdings Defizite bei der Investitionssicherheit und dem Bürokratieabbau. Dabei sind ausländische Investitionen in der Regierungszeit von Morales gestiegen. Zuletzt hat sich Deutschland mit einer Investition von 1,2 Milliarden US-Dollar an der Entwicklung der Lithiumindustrie beteiligt und auch China will in die Kommerzialisierung des bolivianischen Lithiums investieren.
Die wirtschaftliche Prosperität Boliviens ist ein Problem für die Opposition. In einer jüngst von der Tageszeitung La Razón veröffentlichten Umfrage unter dem Titel „Das Gute und das Schlechte von Evo“ gab ein Großteil der Bolivianer*innen an, dass sie das wirtschaftliche Wachstum und die Verbesserung der Infrastruktur dem Präsidenten zugute halten. Als wichtigster Negativpunkt sehen die Wähler*innen sein Bestehen auf einer erneuten Wiederwahl, mit dem Morales das Referendum von 2016 ignoriert. Damals hatte die Mehrheit sich gegen eine Wiederwahl aus gesprochen.

Evo Sí Überall finden sich Aufrufe zur Wiederwahl // Foto: Thomas Guthmann

Bis dato ist der Wahlkampf daher von dem Thema Wiederwahl geprägt. Die Opposition stellt in ihren Äußerungen vor allem die Illegitimität der erneuten Kandidatur von Evo Morales in den Vordergrund. Seit dem Referendum von 2016 versuchen Bürgerkomitees im ganzen Land, eine Volksbewegung gegen die Wiederwahl zu organisieren. Bisher ohne großen Erfolg. Denn trotz des weit verbreiteten Unbehagens innerhalb der Bevölkerung über die Form mit der sich die Regierung Evo Morales über Volkes Willen hinwegsetzte, ist eine breite Front der Ablehnung bisher nicht zustande gekommen. Das liegt auch daran, dass die sozialen und indigenen Bewegungen zwar in ihrer Mehrheit der Regierung kritisch gegenüber stehen, allerdings bisher einzeln die Auseinandersetzung suchen, wie der Konflikt mit den Coca-Bauern in den Yungas verdeutlicht.
Die bürgerliche Opposition hat es zudem bisher nicht vermocht, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Carlos Mesa ist bisher der einzige Kandidat, dem die Umfragen zutrauen, an Evo Morales heranzukommen. Allerdings gibt es bisher insgesamt sieben Kandidaten und eine Kandidatin. Im Mai scheiterte ein Versuch der Opposition, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Bei einem Treffen aller Oppositionskandidat*innen und den Bürgerkomitees konnten sich die Versammelten lediglich auf die Rücktrittsforderung des obersten Wahltribunals einigen. Zu Beginn hatte Carlos Mesa den Reportern zugerufen, dass seine Kandidatur die einzige sei, die gewinnen könne. Sehr zum Unmut der anderen Kandidat*innen. Schließlich warf Edwin Rodriguez, Vize von Präsidentschaftskandidat Oscar Ortíz Mesa vor, „er ist schuld, dass es keine Einheit in der Opposition gibt“.
So sehen die meisten Umfragen Evo Morales weit vor Carlos Mesa. Laut einer Umfrage der Tageszeitung Página siete glauben 52 Prozent der 800 Befragten in den neun Departamentshauptstädten und El Alto an einen Sieg von Evo Morales, nur 23 Prozent sehen Carlos Mesa vor ihm. Die Befragung der Tageszeitung La Razón, die in 17 Städten und 31 ländlichen Gemeinden durchgeführt wurde und damit auch den ländlichen Raum berücksichtigt, ergibt eine Zustimmung für Evo Morales von 49 Prozent gegenüber einer Ablehnung von 43 Prozent. Dabei hat Carlos Mesa insgesamt mehr Sympathien bei den jungen städtischen Wähler*innen, während Evo Morales eher die Zustimmung älterer Wähler*innen auf seiner Seite hat.
So kann es gut sein, dass der aktuelle Präsident auch der neue Regierungschef wird. Sollte die Opposition sich nicht einigen, ist sogar ein Sieg im ersten Wahlgang möglich. Ein Sieg für Morales ist möglich, wenn er 50 plus eine Stimme gewinnt oder sich mit zehn Prozent Vorsprung zum Zweiten platziert, dann benötigt er keine absolute Mehrheit. Dennoch trifft der Wahlrat bereits Vorkehrungen für eine zweite Runde im Dezember. Denn die Umfragen sind mit Vorsicht zu genießen. Es gibt viele Unbekannte und genaue Vorhersagen sind schwer zu treffen. Es gibt in Bolivien keine regelmäßigen Wahlumfragen, damit auch keinen statistischen Datenvorrat, der es erlauben würde, genauere Vorhersagen zu treffen.
Auch wenn die MAS die Präsidentschaftswahlen gewinnt, so wird sie wahrscheinlich die Mehrheit in den beiden Parlamentskammern, die sie in der aktuellen Legislaturperiode noch innehatte, verlieren. Damit wird ein Durchregieren der MAS wie bisher wohl nicht mehr möglich sein, womit sich in Bolivien in jedem Fall gesellschaftliche und politische Umbrüche ankündigen.

 

FÜR ODER GEGEN EVO MORALES

Hungerstreik am Avaroa-Platz: Martha Yujra mit ihren Mitstreitern (Foto: Thomas Guthmann)

In einer Ecke am Avaroa-Platz im Zentrum von La Paz steht ein Zelt, davor ein Banner mit der Aufschrift „Forum Meinungsfreiheit, für die Erneuerung der Demokratie!“, daneben sitzen einige Männer und Frauen, Gegner*innen von Evo Morales, in der Mittagssonne. Plötzlich kommt ein Dutzend Männer und Frauen, teilweise in Ponchos, Filzhüten und Polleras (langer Faltenrock), Erkennungszeichen der Aymaras, der größten indigenen Bevölkerungsgruppe in La Paz. Einige tragen Westen, auf denen „Fejuve El Alto“ steht, der Verband der Nachbarschaftsvereinigungen. Sofort steigt die Spannung. Einer aus der Gruppe will ein Plakat mit der Aufschrift „Bolivien hat Nein gesagt!“ von einem Baum reißen, eine Frau von der Zeltgruppe interveniert und schreit „Hände weg!“, die Polizei muss einschreiten. Als sich die Lage etwas beruhigt, bezichtigen beide Gruppen die andere Seite, provoziert zu haben. Eine kleine Szene an diesem sonnigen Morgen, die einen Vorgeschmack darauf geben kann, was dieses Wahljahr für Bolivien an politischen Auseinandersetzungen bringen kann. Befürworter*innen und Gegner*innen der Kandidatur von Evo Morales bringen sich in Stellung.

Im Dezember hatte der oberste Wahlausschuss endgültig die Kandidatur von Evo Morales Ayma und seinem Vize Alvaro García Linera zugelassen. Mit ihnen wurden acht weitere Gespanne, Präsident und Vizepräsident, für die Wahlen im Oktober akkreditiert. Seitdem kochen die Gegner*innen von Evo Morales vor Wut. Direkt nach der Entscheidung traten mehrere Mitglieder der oppositionellen Comites Cívicos in verschiedenen Teilen des Landes in befristete Hungerstreiks.

Ein paar Meter entfernt vom Wortgefecht, gibt es eine kleine Ansammlung von Zelten. Hier verweigert Martha Yujra vom Gewerkschaftsverband COR aus El Alto seit dem 14. Januar die Nahrungsaufnahme, „wenn es sein muss bis zum bitteren Ende“ meint die Gewerkschaftsaktivistin, denn sie möchte, dass die „Vaterlandsverkäufer und Verräter, die unsere Verfassung mit Füßen treten, verschwinden. Wir haben Goni rausgeschmissen und wir werden auch ihn rausschmeißen.“ Martha Yujra ist Gewerkschaftsführerin und hat sich trotzdem gegen Evo Morales gestellt. Während der gewerkschaftliche Dachverband COB sich im Streit um die Kandidatur von Evo Morales auf die Seite des Präsidenten gestellt hat, sprechen sich regionale Untergliederungen, wie die COR aus El Alto, gegen die Kandidatur von Evo Morales aus.

„Wir haben Goni rausgeschmissen und wir werden auch ihn rausschmeißen“

Befürworter*innen und die Gegner*innen des Präsidenten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Dabei steht eigentlich außer Frage, dass die inzwischen vierte Kandidatur von Evo Morales nicht verfassungskonform ist. Die unter Federführung der MAS, der Bewegung zum Sozialismus, ausgearbeitete Verfassung sieht nur die Möglichkeit von zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten vor. Wird Morales, der Kandidat der MAS, im Herbst gewählt, wäre dies die vierte Amtszeit in Folge. Um das möglich zu machen, setzte die Regierung am 21. Februar 2016 eine Volksabstimmung an. Mit einem „Ja“ wäre die Verfassung geändert worden und die Wiederwahl möglich gewesen. Eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Bolivianer*innen stimmte jedoch gegen die Verfassungsänderung und damit auch gegen die Wiederwahl von Evo Morales. Dieser hatte vor der Abstimmung verlauten lassen, er würde „die Klappe halten und gehen“ und sich Volkes Wille beugen.

Dieses Versprechen warf er allerdings nach der Abstimmung über Bord. Bereits im Sommer 2016 ließen die Kokabäuerinnen und -bauern aus dem Chapare verlauten, dass sie das Ergebnis des Referendums nicht akzeptierten und brachten eine Unterschriftensammlung ins Spiel. Es sollten 20 Prozent der Wahlberechtigten unterschreiben, um erneut ein Referendum zur Verfassungsänderung anzusetzen. Dazu kam es aber nie. Vielmehr dachte die Regierungspartei MAS laut darüber nach, die Verfassung mit der Zweidrittelmehrheit, die sie momentan noch im Parlament hat, zu ändern. Als weiteres mögliches Szenario galt eine Zeit lang der Rücktritt von Evo Morales kurz vor Ende der Amtszeit, um sich schließlich als ‚neuer Kandidat‘, der kein amtierender Präsident ist, zu präsentieren. Schließlich war alles nicht nötig, weil am 28. November 2017 das Verfassungsgericht in einer weiteren Kandidatur von Morales keinen Verfassungsbruch sah. Das Gericht stellte fest, dass alle Kandidat*innen in Bolivien ein Recht auf unbegrenztes passives Wahlrecht hätten und erklärte den entsprechenden Verfassungsartikel 168 für nicht rechtmäßig. Die Opposition war entsetzt und sprach von einem Putsch.

Rafael Puente, in der ersten Regierung von Evo Morales noch Staatssekretär und 2008 für kurze Zeit Präfekt in Cochabamba, sieht den moralischen Verfall der Regierung in der politischen Kultur verankert. „In der Geschichte Boliviens“, so Puente, „war es immer so, dass sich andere Leute am Staat bereicherten, jetzt, so dachten 2006 viele an der Basis der MAS, sind wir dran. Das war gewissermaßen der genetische Defekt der Bewegung zum Sozialismus, die Funktionäre und die sozialen Bewegungen interpretierten den Staat nicht anders als das alte Establishment“. Zu Beginn seiner Amtszeit stellte sich Morales noch gegen diese Position, „Ich erinnere mich an eine Sitzung 2009, bei der Evo einem Kandidaten klar sagte: ‚Genossen, der Prozess des Cambios gehört allen‘“, meint Puente, „diese Meinung änderte Morales 2010, als die MAS die Wahlen mit 64 Prozent gewonnen hatte“. Seitdem beanspruchte auch er die Macht alleine für sich und seine Partei, alle wären regelrecht berauscht gewesen von der Macht, so der Jesuit.

Die einsetzende Klientelpolitik führte in den darauffolgenden Jahren dazu, dass auch Teile der Basis von Evo Morales auf Distanz gingen. Ein Knackpunkt, vielleicht der Wichtigste, war der Konflikt um den Bau einer Straße durch den Nationalpark TIPNIS. Hier zerbrach 2011 der Pacto de Unidad (Einheitspakt) zwischen den wichtigsten indigenen Dachverbänden, Campesino-Organisationen, Cocaleros und dem Frauenverband Bartolina Sisa. Der Einheitspakt war eine wichtige Säule des Projekts des Cambios. In der Folge erlitt die Regierung Morales ihre erste schwere Niederlage. Die Mobilisierungen der indigenen Bewohner*innen von TIPNIS führten dazu, dass die geplante Überlandstraße nicht gebaut wurde. Die Regierung erließ ein Gesetz zur Unantastbarkeit des TIPNIS. Vor allem relevante Teile der indigenen Verbände CIDOB und CONAMAQ stellten sich auf die Seite der Bewohner*innen des Nationalparks.

„Evo hat sich als Wolf im Schafspelz entpuppt“

Im Herbst 2018 wurde das Gesetz, das die Unantastbarkeit des TIPNIS festschreibt, aufgehoben. Morales ist auch hier ein Getriebener der Interessengruppen, in deren Hände er sich nach 2010 gegeben hat. Eine der wichtigsten sind die Cocaleros aus seiner Heimatregion, dem Chapare, deren Verbandspräsident er bis heute ist. Diese wollen, neben dem brasilianischen Ölriesen Petobras, auf jeden Fall, dass die Straße durch den TIPNIS gebaut wird. Auch in diesem Fall wird wenig Rücksicht auf die Verfassung genommen, die die Autonomie der indigenen Bevölkerungsgruppen festschreibt. Die Regierung hat demnach kein Recht, ohne die Zustimmung der Indigenen, auf ihren Territorien Straßen zu bauen.

Zurück auf dem Avaroa-Platz: Die Zersplitterung der Basis zeigt sich auch hier. Während auf der einen Seite eine Gruppe von indigenen Aymaras sich mit dem Comite Cívico, das sich mehrheitlich aus der weißen Mittel- und Oberschicht rekrutiert, ein Wortgefecht liefert, unterstützt die hungerstreikende Martha Yujra die Forderungen der Opposition. Sie ist wie die anderen aus El Alto, Gewerkschafterin, und eine Aymara mit der traditionellen Pollera. Eigentlich eine typische Anhängerin des Präsidenten. Jetzt sagt sie, „Evo hat die Frauen in Pollera verraten, er hat sich als Wolf im Schafspelz entpuppt“.

Die rechte Opposition, die bisher uneins war, hat es geschafft, das Misstrauen in die Regierung zu säen und Morales hat mit seinem Klammern an die Macht – um jeden Preis – seinen Anteil an dieser Entwicklung. Bisher gab es innerhalb der indigenen Bewegung, den Bäuerinnen und Bauern und Arbeiter*innen immer eine gewisse Distanz zu den oppositionellen Comites Cívicos. Die Tricksereien der Regierung haben diese Distanz kleiner werden lassen. Das hat dazu geführt, dass der neoliberale Präsidentschaftskandidat Carlos Mesa zu einem ernstzunehmenden Gegner geworden ist. Damit dies auch bleibt, versucht die Opposition nun, ihre Zersplitterung zu überwinden. Bisher gibt es acht Gegenkandidaten zu Evo Morales. Bleibt dies so, ist ein Sieg des Präsidenten wahrscheinlich. Am 17. Januar haben sich die Comites Cívicos und fünf der acht Gegenkandidaten in Santa Cruz getroffen, um über eine gemeinsame Strategie zu beraten. Sollte es gelingen, eine Koalition zu schmieden, wäre der Wahlausgang im Oktober weitaus offener. Julio Prado, Herausgeber der Wochenzeitung El Ciudadano ist skeptisch, ob das gelingt. „Die Opposition verfolgt bisher kein eigenes Projekt, sie interessiert sich nur für ihren eigenen Vorteil“, meint der Journalist, „und die acht Kandidaten haben ganz unterschiedliche Interessen, ich halte es für unwahrscheinlich, dass eine Koalition zustande kommt“.

Darauf hofft Evo Morales. Er hat über Twitter verlauten lassen, dass die Vorwahlen am 27.01.2019 das Referendum vom Februar 2016 vergessen machen lassen und als Datum der „Wahrheit, der Toleranz und der Demokratie“ in die Geschichte eingehen. Bei den Vorwahlen werden die jeweiligen Kandidaten*innen von ihren Parteianhänger*innen bestätigt. Abstimmen können nur Anhänger*innen, die sich offiziell registrieren ließen. Und hier hat die MAS eindeutig die Nase vorn. So wird Morales diese Wahl wohl auf jeden Fall gewinnen und die meisten Stimmen in den Vorwahlen erhalten.

 

EVO MORALES KLEBT AN DER MACHT

Ende Oktober reiste Evo Morales nach Venezuela. Boliviens Präsident wollte seinen Amtskollegen Nicolás Maduro moralisch unterstützen. Dieser sieht sich momentan mit einer starken Opposition im Parlament konfrontiert, die das Abwahlverfahren gegen den Präsidenten forciert. Morales sparte nicht mit markigen Worten und nannte die Initiative des Parlaments einen „Staatsstreich, eine offene Verschwörung der USA gegen die bolivarianische Revolution in Venezuela“. Während in Venezuela die Opposition am Drücker ist und die chavistische Bewegung sich mit allen Mitteln gegen die Abwahl ihres Präsidenten stemmen muss, sitzt Evo Morales in Bolivien derzeit fest im Sattel. In Umfragen erreicht der Präsident selbst in der einstmals separatistischen Hochburg Santa Cruz Zustimmungswerte von über 50 Prozent, die Opposition ist zersplittert und uneins.

Dennoch hat sich das gesellschaftliche Klima in der Andenrepublik verändert. In der Zustimmung zur Regierung ist keine Euphorie mehr zu spüren, wie zu Beginn der Regierungszeit von Morales, der seit Januar 2006 an der Spitze des Staates steht. Vielmehr ist die Zuneigung der Bevölkerung zu ihrem Präsidenten deutlich abgekühlt. Das gilt überdurchschnittlich für jenen Teil, der zu Beginn der Amtszeit des ersten indigenen Präsidenten zu seinen größten Unterstützer*innen gehörte. Gleichzeitig ist der Präsident und seine Partei, die Bewegung zum Sozialismus (MAS), gegenüber Kritik und Protesten spürbar dünnhäutiger geworden. Bei Protesten oder Streiks ist immer häufiger die Rede davon, dass die USA – das Imperium –, die Finger im Spiel hat, und der revolutionären Regierung in Bolivien schaden will.
Dieses Jahr gab es eine ganze Reihe von sozialen und politischen Mobilisierungen, die von Akteuren der Regierung als rechts deklariert wurden. Zunächst waren es die Proteste von Menschen mit Behinderung, die eine Rente der Würde forderten (siehe LN 507/508). Dann demonstrierten Arbeiter*innen von Enatex, einer staatlichen Textilfirma, die von der Regierung im Juni auf die Straße gesetzt wurden. Im August kam es mit der Auseinandersetzung zwischen kooperativistischen Minenarbeiter*innen und der Regierung zum vorläufigen Höhepunkt dieses Jahres. Bei den Protesten starben fünf Minenarbeiter und der Staatssekretär des Innenministeriums Rudolfo Illianes.
Im Kern ging es in jeder Mobilisierung darum, gegenüber der Regierung eigene Interessen durchzusetzen. Während die Menschen mit Behinderung eine finanzielle staatliche Unterstützung forderten, um ihre soziale Situation zu verbessern, forderten die entlassenen Enatex-Mitarbeiter*innen, die abrupte Schließung der Textilfabriken rückgängig zu machen. Der Verband der in Kooperativen organisierten Minenarbeiter*innen forderte dagegen, dass sich die Regierung aus ihren Geschäften mit multinationalen Konzernen raushalte und lehnten die Möglichkeit von gewerkschaftlicher Organisierung innerhalb ihrer Unternehmungen ab (siehe LN 507/508). Die Konflikte, die alle nicht im Dialog gelöst werden konnten, haben dazu geführt, dass sich ein weiterer Teil der Basis von der Regierung entfernt hat. Die Regierung sieht in den Protesten eine Form der Intervention der Vereinigten Staaten. Bereits zu Beginn dieses Jahres gab Milton Barón, Senator der MAS, gegenüber dem Sender Telesur an, dass ein Plan der Intervention existiere. Es gebe „ein Dokument, das in den USA ausgearbeitet wurde, um den Prozess des Wandels in Bolivien auszubremsen“.
Viele Probleme, mit denen die Regierung konfrontiert ist, sind dabei hausgemacht. So wurden die Enatext-Mitarbeiter*innen ziemlich abrupt auf die Straße gesetzt. Auch die Proteste der in Kooperativen organisierten Minenarbeiter*innen waren nicht überraschend. Wollte doch die Regierung deren Handlungsspielräume in einem neuen Gesetz einschränken. Raúl Prada, einst selbst Teil der Regierung Morales und heute ein linker Kritiker, sieht die Ursache des Konflikts im Streit einstmals Verbündeter um die mineralischen Ressourcen. „Der Staat muss sich gegen die Kooperativisten als Partner der transnationalen Unternehmen durchsetzen“, schreibt der ehemalige Staatssekretär, im Konflikt im August ging es darum, „zu zeigen, dass der Staat die einzige Instanz ist, die mit den transnationalen Unternehmen Geschäfte macht“.
Sowohl mit der Tendenz der Monopolisierung des Staates als auch mit der Zurückweisung jeglicher Kritik am Modernisierungsmodell als „rechts“ oder durch die „USA gesteuert“, verfolgt die Regierung Morales eine Strategie, die Macht zu zentralisieren. Die Idee, den Staat zu dezentralisieren, beziehungsweise zivilgesellschaftliche Akteure in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen und die Gesellschaft zu einem kommunitären Gemeinwesen umzubauen, scheint die Regierung weitgehend aufgegeben zu haben.
In der ersten Amtszeit des Präsidenten herrschte noch die Idee einer partizipativen Regierung, die die sozialen Bewegungen in Entscheidungsprozesse mit einbeziehen sollte. Indigene Organisationen, Campesino-Gewerkschaften und Nachbarschaftsvereinigungen wurden als Basis der Regierung verstanden. Dieses Konzept scheiterte 2011, als der Streit um ein Straßenprojekt den Bruch der Koalition der Indigenen- und Kleinbäuer*innen-Organisationen herbeiführte. Die Regierung wollte auf Druck des brasilianischen Erdölriesen Petobras hin eine Überlandstraße bauen, die Cochabamba mit Beni verbinden sollte. Die Straße war durch das Indigene Territorium und den Nationalpark Isiboro-Secure (TIPNIS) geplant. Die dort ansässige indigene Bevölkerung der Mojeños, Yuracarés und Tsimanes lehnten das Infrastrukturprojekt ab und pochten auf ihre in der neuen Verfassung verankerten Rechte auf autonome Selbstbestimmung über ihre Territorien. Die Kokabäuer*innen dagegen befürworteten das Straßenprojekt.
Nach heftigen Protesten der Indígenas legte die Regierung das Straßenbauprojekt auf Eis. Ein Teil der Indigenen-Verbände entzog der Regierung ihre Unterstützung. Der Pacto de Unidad (der Einheitspakt), der eine wichtige Voraussetzung für die erste Wahl von Morales gewesen war, zerfiel. Im Pacto de Unidad waren die Kleinbäuer*innen-Organisationen, Bartolina Sisa, die Landarbeiter*innen-Gewerkschaft CSUTCB, die Colonizadores (Siedler*innen im Tiefland) und die indigenen Dachverbände CONAMAQ und CIDOB zusammengeschlossen.
2010, also bereits vor den Auseinandersetzungen um TIPNIS, zeichnete sich ab, dass ein Teil der MAS einem zentralistischen Regierungsmodell den Vorzug geben würde. Dessen wirtschaftliche Basis ist die Ausbeutung der Rohstoffe und es basiert politisch auf einem starken Zentralstaat. „Die Verbände, die im Pacto de Unidad zusammengeschlossen waren, veröffentlichten damals ein Dokument, in dem sie forderten, dass die Regierung wieder auf den Weg des gesellschaftlichen Umbaus zurückkehren sollte“, erklärt Raúl Prada.
Gleichzeitig sind in dieser Phase eine größere Zahl von Bolivianer*innen Mitglied der MAS geworden, die in der Partei gute Chancen auf eine politische Karriere sahen. Nicht wenige davon waren vorher in der Opposition. So traten nach der gescheiterten Sezession von Santa Cruz eine ganze Reihe von Funktionär*innen der Cruzeñistischen Jugendunion (UJC) in die MAS ein, die während der politischen Krise 2008 die radikalste Opposition zur Regierung repräsentierte. Diese Akteure hatten kein Interesse an einem Umbau der Gesellschaft. Zur selben Zeit verließen linke Aktivist*innen, wie Raúl Prada oder Rafael Puente, die Regierung. Damit war das Projekt des gesellschaftlichen Umbaus bereits nach der ersten Amtszeit geschwächt.
Ariadna Soto, Juristin und in der ersten Wahlperiode im Justizministerium tätig, beschreibt die gegenwärtige Situation so: „Die Politik des Wandels ist nur noch in offiziellen Reden präsent. Viele Elemente des Wandels werden heute eher international diskutiert und wahrgenommen, als im Land selbst.“
Das gute Leben, Mutter Erde als Rechtssubjekt, De-Patriarchalisierung und De-Kolonisierung. Das alles ist im Diskurs präsent, „aber es gibt keine reale Praxis dazu“, meint die Juristin. Die Architektur des Staates ist die Gleiche geblieben. Ein fundamentaler Umbau zu einem plurinationalen Staatswesen hat bisher nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Unter Morales sind die klassischen Strukturen der postkolonialen Republik gestärkt worden. War der Staat früher auf dem Land kaum präsent, bekommen heute die Gemeindeverwaltungen in der Provinz Geld von der Zentralregierung. Diese Verteilung stärkt aber nicht die ländliche Entwicklung, meint Felix Gutiérrez von einer Aymara- Basisorganisation, sondern das Funktionärswesen. Das entspricht der Architektur der Republik. Diese hat in Bolivien nicht die Funktion, das Gemeinwesen zu stärken, sondern der Staat ist vielmehr dazu da, die Beamt*innen und die Mitglieder der Regierungspartei zu alimentieren. Diese Funktion hat sich bisher nicht wesentlich verändert. Die Situation auf dem Land, nur ein zwei Autostunden vom Regierungssitz La Paz entfernt, nennt Gutiérrez heute dramatisch: „Die Reduzierung der Armut, die es nach statistischen Angaben gibt und für die Bolivien international gefeiert wird, ist hier nicht zu spüren“.
Trotzdem kann es gut sein, dass Evo Morales dennoch, wie von der MAS gewünscht, bis 2025 regieren kann. Die Zentralisierung der Macht und die wirtschaftlichen Einnahmen durch das Erdgas haben Bolivien eine nie gekannte politische und wirtschaftliche Stabilität gebracht. Viele Bolivianer*innen in den Städten profitieren von dem Wirtschaftswachstum. So hat sich das Bruttosozialprodukt in der Amtszeit von Morales verdreifacht. Daher könnte es gut sein, dass die Bolivianer*innen Evo auch für eine weitere Amtszeit ihre Stimme geben würden.
Momentan arbeitet die Partei daher daran, das Ergebnis des Referendums vom Februar aufzuheben. Die Verbände der Koka-Bäuer*innen im Chapare haben im Mai eine Initiative gestartet, die das Ergebnis vom Februar annullieren soll. 1,2 Millionen Unterschriften sollen gesammelt werden, dann könnte ein erneutes Referendum anberaumt werden. Sollte das nicht gelingen, hätte die MAS noch eine zweite, wenngleich weniger elegante Möglichkeit: Sie könnte die Verfassung mit ihrer Zweidrittel-Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments ändern. Das hätte den Nachteil, dass man sich offensichtlich über das Ergebnis vom Februar hinwegsetzen würde. Welchen Weg die MAS wählt, will sie im Dezember bei ihrem Parteikongress entscheiden.

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