„EINMAL AUSLÄNDERIN, IMMER AUSLÄNDERIN“

Donnerstagnachmittag in einem Café im mondänen Berlin-Schöneberg. Esther Andradi isst noch ein Stück Kuchen, bevor das Gespräch losgeht. Die Journalistin und Schriftstellerin ist seit Jahrzehnten in den Metropolen Lima, Berlin und Buenos Aires zu Hause, doch aufgewachsen ist die argentinische Schriftstellerin auf dem Land. Etwas mehr als 2.000 Einwohner*innen zählt ihr Geburtsort Atavila, von dem aus sie zum Studium der Kommunikationswissenschaft nach Rosario ging. Noch vor dem Militärputsch zog sie 1975 nach Lima und arbeitete als Journalistin. Entstanden ist in diesen, von der politischen Gewalt geprägten Jahren, auch ihr erstes Buch Ser mujer en el Perú („Frau sein in Peru“), das sie zusammen mit der Dichterin und Feministin Ana María Portugal veröffentlichte – ein Pionierwerk zu diesem Zeitpunkt.

Das Thema Frausein bildet eine der Hauptachsen, an denen entlang Esther ihre Werke ausrichtet: „Wenn eine Frau erzählt, tut sie das immer auch mit ihrem Körper und aus der alltäglichen Erfahrung heraus, eine Frau zu sein. Deshalb schreibe ich auch als Frau, mit allem, was ich gelernt, genossen und verloren habe. Ich empfinde es fast wie meine Pflicht, eine Ausdrucksweise zu finden, die für alle Frauen gültig ist … Zum Beispiel gefällt es mir, dass ‚die Macht’ im Deutschen feminin ist, während el poder im Spanischen maskulin ist. Aber das hilft wahrscheinlich nichts.“ Amüsiert von ihrer Beobachtung hat Esther den Satz lachend zu Ende geführt, um ernst fortzufahren: „Der Sexismus existiert einfach in der Gesellschaft. Solange sich am Sexismus in der Gesellschaft nichts ändert, wird er in der Sprache und überall sein.“

Mit der Art und Weise, wie Esther mit dem Thema Sexismus und Frausein umgeht, scheint sie einen Nerv zu treffen. Wegen ihres Buchs Tanta vida (Buenos Aires, 1998) – von der Literaturwissenschaftlerin Gina Canepa als „femizentrischer Anti-Roman“ bezeichnet – werde sie immer wieder zu Konferenzen eingeladen, wie zuletzt nach Lausanne. Sie produziere keine Best-, sondern Longseller, konstatiert die Schriftstellerin scherzhaft. Esther ist im Leben und im Schreiben aber nicht nur eine Frau, und wird immer eine bleiben, sondern auch die permanente Ausländerin. Und seit sie zum ersten Mal fortging, auch in ihrem Heimatland. Denn: „Einmal Ausländerin, immer Ausländerin.“ Es ist das alte Sprichwort vom Kommunisten, das Esther für sich umgemünzt hat. „Man ist immer an der Peripherie verortet. Dabei ist es ein sehr interessanter Ort, das nicht vollständige Dazugehören zur Heimat“, sagt sie. Ihr Freund Sebald habe darin bestens mit ihr übereingestimmt. Der Allgäuer Schriftsteller W.G. Sebald, der 2001 in England verstarb, blieb literarisch, genauso wie die Argentinierin, bis zuletzt in seiner Muttersprache zu Hause.

Das persönliche Fremdsein hat großen Einfluss auf Esthers Umgang mit der Sprache. Während wir uns auf Spanisch unterhalten, kommt sie nicht ohne ein paar deutsche Wörter aus: „Es ist eine ständige ‚Auseinandersetzung’, wie ihr auf Deutsch zu sagen pflegt, eine ständige Konfrontation damit, wie ich mich ausdrücke. Sowieso glaube ich, ist das Vermeiden von ‚Selbstverständlichkeiten’ genau das, was Literatur ausmacht. Nur wenn man in einer anderen Sprache lebt, ist das Bewusstsein dafür noch größer. Nicht, dass man ständig übersetzen würde, aber man spürt diesen permanenten Drang, den Bedeutungen auf den Grund zu gehen.“ 1982 ließ sich Esther in Westberlin nieder. Doch schon in Peru sei sie als Ausländerin aufgefallen und immer wieder gefragt worden, wie lange sie denn bleibe, als sei sie eine Touristin: „Bis dahin hatte ich im Glauben gelebt, dass die spanische Sprache eine Gemeinsamkeit sei. Das ist sie zwar in vielen Dingen, aber nicht im Alltag. Meine Umgangssprache war immer absolut argentinisch.“

Ihre erste Erfahrung des Fremdseins habe sie deshalb schon in Peru gemacht, sagt Esther. Bis heute trügen manche ihrer Texte eine „peruanische Patina“. Einen ihrer Texte hat sie mit dem spanischen Wort für Artischocke alcachofa betitelt, was – abgesehen vom Inhalt – an sich schon eine Provokation sei: „In Argentinien sagt man alcaucil. Mir gefällt alcachofa aber besser. Auch in anderen Texten kommt so etwas vor. Ich weiß genau, warum ich diese Wörter gewählt habe. Man könnte es auch die Distanzierung von der eigenen Muttersprache nennen.“ Geradezu ins Schwärmen gerät die Schriftstellerin, wenn sie über die deutsche Sprache mit ihrem überreichen Vokabular zu sprechen kommt. Es sei daher ein Privileg, hier zu sein. Die Annahme, dass es heutzutage nichts Besonderes mehr sei, wenn Autor*innen einer anderen Muttersprache auf deutsch schreiben, wie zuletzt mit der Einstellung des Adalbert-von-Chamisso-Preises suggeriert wurde, findet allerdings nicht ihre Zustimmung.
2003, als Esther nach sieben Jahren in Buenos Aires erneut nach Berlin kam, erntete sie teilweise Verwunderung darüber, dass sie noch nicht auf Deutsch schrieb. Auf diese offensichtliche Ignoranz antwortete sie mit der Anthologie Vivir en otra lengua („Leben in einer anderen Sprache“), die Porträts und Erzähltexte spanischsprachiger Autor*innen in verschiedenen Ländern Europas enthält. Zwar sei das Phänomen an sich kein neues, aber ihr sei es eben nicht um die viel besprochene Exilliteratur, sondern um diejenigen gegangen, die aus irgendeinem persönlichen Grund nicht in ihrem Heimatland leben. Mit der ursprünglichen Idee, einen „Kanon iberoamerikanischer Autoren im Lande Humboldts“ zu schaffen, hatte sie im Jahr 2007 in Deutschland vergeblich nach Interessierten gesucht. Ein argentinischer Verleger habe sich hingegen hellauf begeistert gezeigt und ihr Konzept von Deutschland auf Europa ausgeweitet.

Das veröffentlichte Buch kam gut an. Die 1. Ausgabe ist vergriffen, eine zweite erschien 2010 in Spanien. „Das muss mit dem Denken im jeweiligen Land zu tun haben. Argentinien ist sehr nach außen orientiert. Deutschland dagegen war zu diesem Zeitpunkt immer noch viel mehr auf seine deutsche Literatur konzentriert. Jetzt gerade erst beginnt man sich mit Projekten wie ‚Stadtsprachen’ in Berlin für die anderssprachigen Autoren zu interessieren. Dabei kämpfen wir schon seit Jahren um Aufmerksamkeit.“ Die periphere Perspektive tritt auch in Esthers auffallendem Interesse für die deutsche Literatur außerhalb des Kanons zutage: „Seit ich hier lebe, interessiert mich die deutsche Literatur, von der man nicht erwartet, dass sie zur deutschen Literatur gehört.“ Eine der Autor*innen, die dür diese Überraschung steht ist May Ayim, die sie 1991 bei einem Symposium kennenlernte. Nach deren Selbstmord wenige Jahre später übersetzte Esther die Gedichte der Afrodeutschen ins Spanische. „Sie kommt weder aus einer anderen Sprache noch aus einer anderen Kultur, da sie in der deutschen Kultur erzogen wurde. Sie fand erst spät heraus, dass ihr Vater aus Ghana stammte und traf sich mit ihm. Aber seine afrikanischen Wurzeln waren nicht ihre eigenen. May Ayim war hier geboren, aber wegen ihrer Hautfarbe wurde sie ständig gefragt: ‚Woher kommst du? Wie lange bleibst du? Wann gehst du wieder?’ Von dieser Zerrissenheit sprach May Ayim in ihren Gedichten auf eine wunderbare Weise.“

Von Esther selbst wurden bislang nur wenige Bücher ins Deutsche übersetzt, neben Erzählungen in Anthologien die zweisprachige Miniaturen-Sammlung Sobre vivientes – Über Lebende. Gerade scheint sich das aber zu ändern. Eine deutsche Version des Romans Berlín es un cuento (deutscher Titel: „Die Erfindung Berlins“) ist in Arbeit, während das Buch Mein Berlin. Streifzüge durch eine Stadt im Wandel schon Ende letzten Jahres erschien. Bei der dafür zu treffenden Auswahl aus den Texten, die sie zwischen 1983 und 2014 fast monatlich für Zeitungen und Zeitschriften in Peru, Argentinien und Mexiko schrieb, sei ihr bewusst geworden, wie sehr sich nicht nur sie selbst, sondern die Stadt und das tägliche Leben verändert hätten, erzählt Esther. Und erinnert sich, wie sich das Vorhaben Politikkorrespondentin zu werden, bald nach ihrer Ankunft zerschlug, da Westberlin in den 80er Jahren politisch völlig uninteressant war: „Die Politik spielte sich damals in Paris ab, mit etwas Glück in Moskau, mit noch mehr Glück in Bonn, und mit noch viel mehr Glück in – wie es damals hieß – ‚Berlin Hauptstadt der DDR’. Das war, glaube ich, mein Glück. Denn sonst hätte ich nie diese Art des Schreibens entwickelt.“

Mit all den subjektiven Beschreibungen, humorvollen Schattierungen und manchem erhellenden Gedanken lässt sich anhand von Mein Berlin nachvollziehen, wie eine Argentinierin über drei Jahrzehnte hinweg einem lateinamerikanischen Lesepublikum die geteilte und wiedervereinte Stadt vermittelt hat: Ein Schiff namens „Amor“, Fahrraddemonstrant*innen, Tschernobyl und natürlich der Mauerfall haben hier ihren Platz, von Rosa Luxemburg über Prag als Zentrum Europas bis hin zum aufflammenden Rassismus Anfang der 90er Jahre ist die Rede. Und wie es so kommt, bringt Esther das Buch zurück zur Politik: Bei einer Lesung in einem Frauentreffpunkt in Treptow-Köpenick –„Tiefste DDR“ – sah sie sich überwältigt vom Ausdruck des heftigen Grolls, den die Thematik ihrer Texte hervorgerufen hatte: „Die Kritik war überhaupt nicht gegen mich gerichtet, aber ich fühlte die absolute Enttäuschung dieser Frauen. Sie sagten: ‚Wir haben auch viel gearbeitet, um die DDR aufzubauen, und plötzlich gab es dieses Land nicht mehr. Keine Arbeit, keine Kita. Wir sind überhaupt nichts wert.’“ Die Unsichtbarkeit dieses schwelenden Unmuts unter den Menschen, der kaum Räume findet, sich zu äußern, sieht Esther als Gefahr an. „In den 90er Jahren erzielten die Republikaner bis zu 20 Prozent der Stimmen (höchstes Ergebnis 1992: 12,8 Prozent in Neukölln, 14,4 Prozent in Wedding; Anm. der Red.), dann flaute es von selbst wieder ab. Trotzdem darf man mit bestimmten Dingen nicht leichtfertig umgehen. Uns wird gesagt, Deutschland stehe finanziell so gut da wie noch nie. Aber wofür wird das Geld ausgegeben? Das wird nicht gesagt.“
Und wofür würde sie es ausgeben? Keine Frage, für die Schulen.

 

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