Krieg gegen die Landbevölkerung

Von den sieben Millionen Haitianern lebt eine Million im Ausland, zwei Millionen leben in Port-au-Prince und in zehn weiteren Provinzstädten, vier Millionen auf dem Land. Die Zukunft der Landbevölkerung ist der Einsatz eines strategischen Spiels der vergangenen 25 Jahre in Haiti.
Zwei Modelle stehen sich gegenüber: Einerseits eine demokratische Bewegung (Lavalas), die eine von der Basis ausgehende Entwicklung und demokratische Teilnahme an politischen Vorgängen an-strebte. Und damit auch Integration und Restrukturierung des ländlichen Raumes. Das andere Modell sieht das Ende des Kleinbauerntums mit der Entstehung großer Slums und der Freigabe billiger Arbeitskräfte für die Lohnveredelungsindustrien vor.
Die Struktur der Landbevölkerung ist für beide Modelle von Bedeutung. Deshalb gilt es, diese Struktur zu durchleuchten.
Die Landbevölkerung lebt in mehr oder weniger dicht besiedelten Weilern mit etwa hundert Hütten und etwa fünfhundert Bewohnern. Die Weiler weisen keine Dorfstruktur auf. Zwischen den Hütten sind individuelle Nutzgärten angelegt. Dies scheint auf Zersiedelung und fehlenden Zusammenhang hinzudeuten. Lange unterlagen sozial-wissenschaftliche Studien diesem Trugschluß, und man wollte die individualistisch denkenden Bauern in Basisgemeinschaften zusammenführen. Da- bei wurde die strenge Organisation des ländlichen Raumes übersehen und die Identifikation der Menschen mit einer bestimmten sozialen Einheit, die das Leben der Bauern seit jeher prägt. Die kleinste Einheit bildet die erweiterte Familie, die in Weilern zusammengefaßt ist. Eine Erhebung ergab 7500 solcher Weiler. Der Einflußbereich eines Marktes erreicht etwa 15 Weiler. Die Zentralmacht in Port- au-Prince teilte das Land verwaltungstechnisch in “sections rurales”. Eine Sektion umfaßt ebenfalls 15 Weiler und ist für die Verteilung der Landpolizei und Steuereintreiber von Bedeutung. Die Einteilung nach Märkten blieb jedoch die für die Bauern gültige Organisation ihres Gebietes.

Das alte Regime

Die Konflikte begannen um 1975, als die während der amerikanischen Besetzung (1915-34) und der Niederschlagung des Bauernaufstandes (1915-21) entstandene Struktur zu zerfallen drohte. Die damalige Struktur anerkannte eine eindeutige ökonomische, soziale und politische Vorherrschaft der Hauptstadt. Bauern und Händler arbeiteten für den zentralisierten Export landwirtschaftlicher Güter und erhielten nur zehn Prozent des auf dem internationalen Markt erzielten Wertes. Außerdem arbeiteten sie für die Lebensmittelversorgung des Binnenmarktes. Der massive Handel mit Arbeitskräften für die Zuckerplantagen in Kuba und später in der Dominikanischen Republik war ein Regulativ für die lokalen Probleme.
Inzwischen entnahm der Staat seine Steuern, die Kredithaie ihre Zinsen, die Import-Exportler ihre Profite, die Landbesitzer ihre Pachten… Das Gleichgewicht brach um 1975, und man forderte grundlegende Reformen, gegen die sich sowohl nationale Clans als auch internationale Begünstigte wehrten. Dann gründet heute der Krieg gegen Landbevölkerung und Slumbewohner. Ein Krieg auf allen Ebenen: lokal, staatlich und international. Ein Krieg mit unterschiedlicher Intensität, um internationale Öffentlichkeit und haitianische Diaspora nicht aufzuschrecken.
Die Verteilung der Landpolizisten erfolgt nicht auf zentraler Ebene. Die Bewerber für die Posten bestimmen selbst ihren Wirkungskreis. Somit hat die Verteilung der Landpolizei die räumliche Organisation der Bauern besser erfaßt als jede wissenschaftliche Studie. Etwa 20.000 Landpolizisten (chefs de section). kontrollieren die “sections rurales”. Auf einen Polizisten kommen zweihundert Bewohner. Jeder Sektionschef unterhält enge Beziehungen zur Armee und hat so viele Helfer, wie er es für notwendig hält, um “seine” Gegend zu kontrollieren. Der Polizist und seine Truppe haben alle Macht. Da sie von der Zentralmacht nicht bezahlt werden. entlohnen sie sich selbst durch Gebühren und Schutzgelder von den Bauern.
Diese Kriegsmaschinerie wurde nach dem Putsch sofort wieder in Gang gesetzt (Die Aristide-Regierung hatte sie abgeschafft. Anm. der Übersetzerin). Es ist nicht notwendig, die trostlosen Statistiken der Menschenrechtsorganisationen zu zitieren; hier sei nur auf die Flucht von etwa 300.000Menschen hingewiesen, die ihre Weiler verlassen, u m sich in einem anderen zu verstecken. Angesichts der Übermacht der Landpolizisten leben diese Menschen auch dort in ständiger Gefahr. In zwei Jahren der Repression zählt man Tausende von Toten auf dem Land. Der Krieg ist nicht zu Ende.

Das Projekt der Null-Migration

Das von dem Putsch unterbrochene Projekt der demokratischen Regierung wollte die Landflucht aufhalten. Durch eine Boden- und Wasserversorgungsreform sollten 250.000 lebensfähige Kleinbetriebe gegründet werden. Sie wären imstande gewesen, die von den Bauern zum Überleben notwendigen 4.000 Dollar jährlich zu erwirtschaften. Etwa 300.000 kleine industrielle Einheiten, die jene für die Landwirtschaft notwendigen Geräte, Samen und Dünger liefern und die Produkte weiterverarbeiten, sollten das Projekt ergänzen.
Dies wäre die Basis für eine lokal angesiedelte Entwicklung gewesen, die in der Lage gewesen wäre, die Landwirtschaft zu optimieren und überschüssige Arbeitskräfte zu absorbieren. Dieses Projekt scheiterte an der Raffgier einiger.
Auch auf internationaler Ebene herrscht Krieg gegen die haitianischen Bauern. Die USA errichteten die schwimmende Mauer, um die Flüchtenden aufzuhalten, und die Dominikanische Republik nutzt jeden Flüchtling für die Zuckerplantagen. Dieser Krieg wird aber nur mit gezielten Aktionen geführt, es ist ein Krieg geringer Intensität.
Der haitianische Bauer, gejagt in seinem Weiler, seinem Markt, seiner Sektion, ist ohne Möglichkeit, seine Lage im Sine der Demokratie zu verändern. Er lebt diesen Krieg im Widerstand. Es muß sich etwas ändern im ländlichen Haiti, auch wenn das Neue noch nicht klar erkennbar ist. Auch wenn das Schlimmste heute überwiegt, ist es noch nicht voraussehbar, wie sich das Kräfteverhältnis zukünftig entwickeln wird. Es sei denn, die Demokratie in Haiti erhält eine zweite Chance.

Der Haitianische Autor ist Professor der Geographie In Quebec. In der FebruarIMarz- Ausgabe von “Sciences Humaines” erschien sein Artikel zur haitianischen Bauernschaft (leicht geändert entnommen aus Haiti-Info).

Kasten:

Kommentar: Schlechtes Remake

Medienwirksam hat die Clinton-Regierung die Verhärtung ihrer Politik gegen das Militärregime in Port-au-Prince inszeniert. Doch die Einfallslosigkeit der AkteurInnen im karibischen Krisenherd Haiti erinnert eher an ein miserables Remake längst fehl­geschlagener Maßnahmen: Neues Embargo, neue Asyl­verfahren für haitianische Flüchtlinge, Errichtung von Flüchtlingscamps auf den Bahamas, neue Drohungen gegen die Militärs, ein neuer de-facto Präsident, der doch wieder nur eine Marionette der Putschisten ist.
Während das Embargo mit eklatanten Menschenrechts­verletzungen in Haiti begründet wird, schieben die USA nach wie vor haitianische Flüchtlinge in ihre Heimat ab. Daß ausgerechnet US-Kriegsschiffe im Hafen von Port-au-Prince einlaufen, um geflohene HaitianerInnen von Bord zu schicken, macht das ganze Ausmaß an Zynismus der US-Politik augenfällig.
Gleichzeitig erscheinen immer neue Nachrichten von Massakern: Bilder verstümmelter Opfer, deren Leichen von Hunden und Schweinen angefressen werden. Eine menschliche Antwort muß her. Der arg gescholtene Clinton zieht die Cowboy-Stiefel an und fordert vom UN-Sicherheitsrat die Verschärfung des Embargos. Es spielt keine Rolle, daß genau das bereits seit langem von Kanada und Frankreich gefordert wird. Bill ist der Held des Augenblicks. Die Drohung einer Militärintervention wird durch Seemanöver vor der haitianischen Küste untermauert. Hurra, wir nähern uns einer US-amerika­nischen Lösung! Was zählen in diesem Moment schon die Zweifel Aristides, der weder an die Wirksamkeit des Embargos glaubt, noch sein Plazet für ein militärisches Eingreifen geben möchte? Big brother befindet sich im Einsatz und ist entschlossen, eigene Interessen zu opfern. Das Einfuhrvolumen aus Haiti hat sich seit der Verhängung des Embargos vervielfacht. Die Produkte der Lohnveredelungsindustrien fielen nicht unter die Handelsblockade. US-Firmen können auch weiterhin billige Basebälle importieren.
ZT Absurdes Polittheater
Die Verschärfung des Embargos wird ausgerufen. Die Visa für 600 AnhängerInnen des Putsches werden annulliert. Doch Cedras gibt nicht auf, und die Spannung steigt! Sein Gegenschlag läßt nicht lange auf sich warten: Auf sein Geheiß wählt eine Handvoll korrupter ParlamentarierInnen eine neue Marionette zum Präsidenten. Kurz darauf wird die dritte de-facto-Regierung gebildet. Die internationale Gemeinschaft reagiert mit Mißachtung. Clinton befindet sich in Zugzwang, seinen Drohungen jetzt Taten folgen zu lassen: Einige Manöver mehr und eine wie bestellt klingende Rede Malvals, des ehemaligen Premiers der Aristide-Regierung, in der Offiziere und Parlaments­angehörige namentlich angegriffen werden. Woher nimmt der bereits in Vergessenheit versunkene Malval diesen Mut?
Zur selben Zeit berichtet die für Menschenrechte zuständige Beamtin der US-Botschaft in Port-au-Prince, AnhängerInnen des gestürzten Präsidenten hätten angebliche Menschenrechtsverletzungen in den meisten Fällen frei erfunden. Sogar die von UNO/OAS-Beobachtermissionen gemeldeten Fälle politisch motivierter Vergewaltigungen stellt sie in Frage. Diese Form der Gewalt sei Bestandteil der haitianischen Kultur. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte entsendet prompt eine weitere Delegation nach Haiti, die eine erschreckende Bilanz der alltäglichen Gewalt durch die Militärs zieht.
Also nichts Neues in Haiti? Wird es noch lange dauern, dieses abgekartete Spiel der “Wahrung US-amerikanischer Interessen” bei gleichzeitiger Wahrung der demokratischen Fassade? Würden die Menschen in Haiti nicht so schrecklich leiden, könnte man über dieses absurde Polit-Theater lachen.

Carole Sambale-Tannert

Ein Stolpern auf dem Weg zur neuen Verfassung

Im “Pakt von Olivos” (Vorort der Haupt­stadt, Wohnsitz des Präsidenten) hatten Menem und Alfonsín im November ver­gangenen Jahres nach wochenlangen Aus­einandersetzungen ihre Zusammenarbeit bei der Verfassungsreform besiegelt (vgl. LN 235). Gemeinsam haben Menems PJ mit 37 Prozent und Alfonsíns UCR mit 20 Prozent jetzt zwar die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung; da die Wahlbeteiligung aber trotz Wahl­pflicht bei nur 70 Prozent lag und fünf Prozent der Stimmen ungültig waren, ha­ben sich insgesamt nur etwa 40 Prozent der ArgentinierInnen für das Reformpro­jekt plus Wiederwahl ausgesprochen. Die Frente Grande hat es aber geschafft, sich mit insgesamt 12 Prozent als ernstzuneh­mende Konkurrenz zu etablieren. Die rechtsradikale MODIN unter Aldo Rico, die sich ebenfalls gegen Menems Reform ausspricht, erreichte landesweit fast neun Prozent, ein ähnliches Ergebnis wie bei den Parlamentswahlen im Oktober.

Die Hauptstadt wählte links

Ihren größten Erfolg hatte das Mitte-Links-Bündnis Frente Grande in der Bundeshauptstadt, wo sie mit 37,5 Prozent sowohl die PJ (24,4%) als auch die UCR (15,2%) weit abgeschlagen hinter sich ließ. Unter dem Spitzenkandidaten Carlos “Chacho” Alvarez hat sie hier ihren Stimmenanteil im Vergleich zum Oktober fast verdreifacht. Aber auch in eini­gen Provinzen war sie sehr erfolgreich: In der bevölkerungsreichsten Provinz Bue­nos Aires konnte der Filmregisseur Fer­nando “Pino” Solanas dem Ex-Präsidenten Raúl Alfonsín persönlich den zweiten Platz hinter dem amtierenden Gouverneur und Vizepräsidenten Eduardo Duhalde (PJ) streitig machen. Und in Neuquén ge­lang es dem Bischof Jaime de Nevares, dessen Kandidatur als Kirchenmann in­nerhalb der Frente sehr umstritten war, die traditionelle Vormachtstellung der Pro­vinzpartei Movimiento Popular Neuquino zu durchbrechen. Auch in einigen anderen Provinzen wie Entre Ríos, Santa Fe und Río Negro erreichte die FG gute Ergeb­nisse.
Von Anfang an hatte die Frente Grande sich vehement gegen Menems Projekt der Verfassungsreform plus Wiederwahl ein­gesetzt, im vergangenen Jahr hatten die FG und einige Teile der UCR zeitweilig sogar eine gemeinsame Kampagne des NO überlegt. Die Kehrtwendung Al­fonsíns weg von seiner vorher vehement vertretenen Ablehnung der Reform hin zur Unterstützung des menemistischen Re­formprojekts führte deshalb zu heftigen Konflikten innerhalb der UCR. Schon vor den letzten Wahlen hatte es kaum inhaltli­che Differenzen zwischen PeronistInnen und Radikalen gegeben, nach dem Ab­schluß des “Paktes” war die Trennlinie zwischen Regierung und Opposition gänzlich verwischt. Die FG hat deshalb viele Stimmen unzufriedener ehemaliger AnhängerInnen der UCR erhalten, die selbst mit knapp 20 Prozent noch 10 Pro­zent weniger als bei den Parlamentswah­len erhielt.
Aber auch ehemalige WählerInnen der Pe­ronistischen Partei gaben diesmal der Frente Grande ihre Stimme. Die PJ siegte zwar mit 37 Prozent der Stimmen, das sind jedoch fünf Prozent weniger als beim letzten Mal.
Menem sah auch nach der Abstimmung keinen Grund zur Selbstkritik und lehnte es ab, die jüngsten Korruptionsfälle als Erklärung für das schwache Abschneiden der PeronistInnen in der Hauptstadt und für den Er­folg der FG zu akzeptieren. Bis zum Ende hatten die PeronistInnen, vor allem auf Betreiben Menems, beispielsweise an Matilde Me­néndez auf dem zweiten Listenplatz fest­gehalten, obwohl sie als Chefin der staat­lichen Rentenversicherung PAMI wegen Bestechlichkeit angeklagt ist.

Protestwahlen in den Provinzen

Vor allem in den armen Provinzen des Nordwestens, in Jujuy und Salta zum Bei­spiel, gingen die jeweils nicht regierenden Parteien gestärkt aus der Abstimmung hervor. Überraschend war das vor allem in Tucumán, wo die PJ unter dem amtieren­den Gouverneur Ramón “Palito” Ortega gegen die Fuerza Republicana von Gene­ral Antonio Bussi verlor, der zur Zeit der letzten Militärdiktatur für Menschen­rechtsverletzungen verantwortlich war. Ortega wurde bisher als aussichtsreicher Kandidat für die Vizepräsidentschaft 1995 gehandelt, für die internen Ausscheidun­gen wird er zukünftig aber nur wenig Rückhalt haben.
Besonders erstaunlich war das Ergebnis in Santiago del Estero, wo soziale Unruhen und Demonstrationen gegen die peronisti­sche Provinzregierung Ende vergangenen Jahres darin gegipfelt hatten, daß Regie­rungsgebäude, Parlament und Justizpalast in Brand gesetzt wurden. Die daraufhin von Buenos Aires aus eingesetzte Übergangsregierung wurde finanziell sehr gut ausgestattet, um schnellstmöglich die Konflikte zu befrie­den. Trotz der Proteste im Dezember ge­wann die PJ hier unangefochten mit über 52 Prozent, allerdings wurden acht Pro­zent der Stimmzettel leer abgegeben. Eine Erklärung für den Erfolg der PJ könnte sein, daß sich die Proteste im Dezember auf die beiden großen Städte Santiago und La Banda beschränkt hatten.

Ein politischer Klimawechsel

Nach ihrem Überraschungserfolg im Ok­tober vergangenen Jahres, wo die Frente Grande auf Anhieb knapp 11 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, ist es ihr nun offenbar gelungen, das argentini­sche Zweiparteiensystem zumindest vor­läufig aus den Angeln zu heben. Zukünf­tig wird die nationale Parteienlandschaft also von vier Parteien bestimmt werden, denn auch die rechte MODIN hat es er­reicht, sich zu etablieren.
Doch bisher klaffen im Projekt der Frente Grande noch ganz erhebliche Lücken. Weder ist sie in allen Provinzen vertreten, noch hat sie als Partei eine wirkliche Ba­sis, ist bisher vielmehr Sammelbecken op­positioneller, vor allem linker WählerIn­nen gewesen und hat versucht, möglichst viele Gruppen zu integrieren. Das wird auch darin deutlich, daß ihre interne Struktur immer noch Thema heftiger Dis­kussionen ist, die sich vor allem um die Forderung nach offenen internen Wahlen drehen.
Auch für die Wirtschaftspolitik hat sie bisher kein Oppositionsprogramm vorgelegt, sondern sich auf sehr allgemeine Kritik am Neoliberalismus einerseits und an den sozialen Folgen der Maßnahmen Cavallos an­dererseits beschränkt. Doch ihr Erfolg läßt hoffen, daß mit der bloßen Verknüpfung von “Währungsstabilität” und “Menem” in Zukunft nicht mehr ganz so leicht Wahlen zu gewinnen sein werden.

Die Verfassungsänderungen

Möglichst schnell soll nun also die neue Verfassung verabschiedet werden, deren zentrale Teile schon damals zwischen Al­fonsín und Menem ausgehandelt worden waren: die Möglichkeit zur einmaligen Wiederwahl des Präsidenten, dessen Amtszeit aber verkürzt wird, und der in Zukunft auch nicht mehr katholisch sein muß. Zukünftig werden drei Senatoren für jede Provinz gewählt, zwei für die Mehr­heitspartei, einer für die Opposition, auch ihre Amtszeit soll verkürzt werden. Neu­geschaffen wird die Position eines “Kabinettschefs”, der vom Präsidenten er­nannt wird, aber vom Parlament abgesetzt werden kann und den Kontakt zwischen Regierung und Parlament erleichtern soll. Außerdem wird es zukünftig einen “Justizrat” geben, der für die Finanzen der Justiz verantwortlich ist und für die Er­nennung und Absetzung aller Richter, außer denen des Obersten Gerichtshofs, sorgt.
Verschiedene andere Punkte sind zwi­schen den Parteien noch umstritten wie zum Beispiel die Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Verfassung, so auch eine Stärkung des Föderalismus und größere kommunale Freiheit. Außerdem besteht noch Uneinigkeit über verschiedene Ein­zelelemente, wie zum Beispiel Garantien für die kulturelle Identität der indigenen Völker, für Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Frauen.
Der größte Streitpunkt ist aber immer noch die Besetzung des bisher absolut re­gierungstreuen Obersten Gerichtshofs. Die Ablösung von mindestens drei Richtern war im November eine Grundbedingung der UCR. Doch bisher sind erst zwei Stellen umbesetzt, und die ver­bleibenden Richter sitzen fest auf ihren Stühlen. Die PJ steht jetzt unter starkem Druck, den Forderungen des “Paktes von Olivos” nachzukommen, zumal sie in der Versammlung auf die Stimmen der UCR angewiesen ist.
Durch eine Änderung, die bisher von allen Parteien begrüßt wurde, soll der Haupt­stadt Buenos Aires mehr Autonomie als quasi eigene Provinz zugestanden werden. Ihr Bürgermeister soll demnach in Zu­kunft nicht mehr vom Präsidenten ernannt, sondern von der Bevölkerung gewählt werden. Nach den Ergebnissen der Ab­stimmung stellt sich jetzt die Frage, ob die PJ versuchen wird, diese Absprache rück­gängig zu machen. Denn eine Bürgermei­sterwahl im kommenden Jahr wird der Frente Grande die Möglichkeit eines weiteren Erfolges bieten.

Kasten:

Kommentar

Eine Wahl gegen die Überheblichkeit

Dies waren einige der Fragen um 18.01 Uhr, als die Schlacht der Interpretationen begann: Hat die Frente Grande durch die Stimmen der Intellektuellen gewonnen? Ist das der Beginn eines sozialistischen Vaterlandes? Sind das die Stimmen der Snobs? Ist das eine Abstimmung gegen die Korruption? Soll ich zurück aufs Land ziehen?
Es ist dasselbe Problem wie immer: Einige mögliche Antworten erzeugen nur immer neue Fragen, in dieser Reihenfolge: Den Berechnungen zufolge, wenn in Bue­nos Aires eine solche Anzahl Intellektu­eller wohnte, stünden wir einem neuen, übervölkerten Athen gegenüber. Die Theorie, die das Progressive mit dem Intellektuellen verknüpft, wertet es gleichzeitig ab und ist so Teil eines Schlüsselelements in der Analyse dieser Wahl: der Überheblichkeit. Die Überheb­lichkeit, die den Menem-Alfonsín-Pakt gebar (eine selbstmörderische Überheb­lichkeit im Falle des radikalen Ex-Präsi­denten), die Arroganz, die Matilde Me­néndez noch auf der Treppe zum Justiz­palast zeigte, als die Regierung schon da­bei war, die Wahlplakate mit ihrem Foto dem Reißwolf zu übergeben, die Über­heblichkeit, die das Zurschaustellen von Reichtum und Macht ungestraft davon­kommen läßt und zu der gefährlichen Naivität führt, an eine Zukunft zu denken, dabei aber den Tag vor dem Abend zu loben. Viel­leicht wurde gegen diese Überheblichkeit gestimmt.
– “Die Gesellschaft versteht mich nicht”- sagte Alfonsín, und vergaß, daß die Auf­gabe für ihn als Politiker umgekehrt ge­stellt ist: Er muß die Gesellschaft verste­hen.
– “Das sind Marxisten”- zeigte Menem mit dem Finger, gefährlich arglos wie eine Ausgabe von Reader’s Digest.
– “Mein Erfolg ist mir sicher”- prophezeite Duhalde ganz ruhig und reiste zwei Wo­chen vor der Abstimmung nach Indien. In Indien hätte nicht mal Gandhi zwei Tage vor der Unabhängigkeit versichert, daß er über die Engländer siegen würde. Ja, Du­halde hat gewonnen. Aber war er diesen Montag Morgen genauso ruhig, wie noch am Samstagabend?
Der “Menemistische Sektor für die Mittel­schicht”, also Amadeo, Corach, Toma, etc. hat seine Hausaufgaben wie ein folgsamer Grundschüler erledigt: Zielstre­big, um nur möglichst schnell fertigzu­werden, die Wiederwahl zu überstehen und dann ruhig weiter an die Zukunft ihrer Kinder zu denken (der eigenen natürlich, doch nicht Eurer). Der Durchschnitt der Radikalen war nicht weniger überzeugend oder zynisch: Jesús Rodriguez war noch trauriger als damals, als er während der Hyperinflation Wirtschaftsminister wurde. Um es anders auszudrücken: Niemand glaubte, was er tat, oder in Wirklichkeit handelten alle aus Motiven, die sie noch viel weniger zugeben können.
Ist das der Anfang vom Ende des Men­emismus? Weit gefehlt. Vielleicht ein Warnschuß, ein Zeichen der Aufmerk­samkeit auf all’ die Skandale. In den letz­ten Umfragen kletterte die Zustimmung für Menem auf 39 Prozent. Das zu verges­sen wäre genauso bescheuert, wie auf einem Wahlkampffoto zusammen mit der PAMI-Chefin abgebildet zu sein.
Von heute Morgen an hat die Frente Grande ein Problem. Es ist kein neues Problem, sondern das ewige Problem de­rer, die anfangen, Macht auf sich zu ver­einen. Es sind eigentlich einige Fragen: Werden sie großzügig genug sein? Wer­den sie ein Programm für das ganze Land entwickeln können? Werden sie den Übergang von der Theorie zur Praxis be­wältigen? Sind sie sich dessen bewußt, daß das erst der Anfang und nicht etwa das Ende ist? Werden sie an die Kinder denken (an Eure, nicht nur an die eige­nen)? Werden sie diese instabile, abrupte, argentinische Leidenschaft in eine dau­ernde und tiefgreifende Liebe verwandeln können? Werden sie die Spaltung der Spaltung vermeiden können? Werden sie die Situation in Argentinien richtig einschätzen?
Hoffentlich kriegen sie das hin.

Jorge Lanata (Página/12)
Übersetzung: Silke Steinhilber

Sicherheitskräfte außer Kontrolle

Daß auch die neue Verfassung von 1991,in der einige wichtige Punkte zur Einhaltung der Menschenrechte festgelegt sind,keine großen Veränderungen bewirkte,beweist die unverminderte Anzahl von Menschenrechtsverletzungen. Viele Opfer werden im Zuge von “sozialen Säuberungen” getötet, die meist von Todesschwadronen ausgeführt werden und sich gegen “sozial unerwünschte” Personen wie Homosexuelle, Prostituierte oder Straßenkinder richten.
Es gibt zahlreiche Indizien dafür, daß sich die Todesschwadronen überwiegend aus”Sicherheitskräften” zusammensetzen,wobei ungewiß ist, ob bei den “sozialen Säuberungen” ebenso auf Befehl gehandelt wird, wie es im Kampf gegen dieGuerilla der Fall ist. Allerdings ist bekannt, daß die Todesschwadronen Unterstützung von Großgrundbesitzern und Geschäftsleuten erhalten.
Aber nicht nur Menschen, die nicht in das soziale Wunschbild einiger Personen passen, sind in Kolumbien ernsthaft gefährdet. Auch MenschenrechtsaktivistInnensind massiven Drohungen ausgesetzt. Den
Menschenrechtsorganisationen werden Kontakte zu den Guerillas nachgesagt, weshalb bereits viele Mitglieder solcher Organisationen von Militärs oder paramilitärischen Gruppierungen ermordet wurden oder spurlos “verschwanden”.

Wer Kritik übt, ist ein Terrorist

Im Kampf gegen Drogenmafia und Aufständische haben Polizei und Militär eine weite Spanne an Handlungsmöglichkeiten. Anti-Terrorismus-Gesetze, die verschärfte Strafbestimmungen beinhalten, garantieren eine große Freiheit im Umgang mit “TerroristInnen”. Der Begriff “Terrorist” kann sehr willkürlich gedeutet werden,
und häufig fallen Personen, die lediglich Kritik an der Regierung üben, in diese Kategorie. Außerdem werden Angehörige von Gewerkschaften oder BewohnerInnen kleiner Dörfer beschuldigt, die Guerilla zu unterstützen, weshalb auch sie vor Verhaftung, Folter und dem “Verschwinden- lassen” nicht geschützt sind. Für brutale Mißhandlungen sind auch die “Mobilen Brigaden” bekannt, Sondereinheiten der Armee zur Aufstandsbekämpfung.
Ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, liefern sich Armee und Polizei Gefechte mit angeblichen Guerilleros. Dabei getötete ZivilistInnen werden meist als “im Kampf gefallene Guerilleros” bezeichnet, oder es wird behauptet, sie seien während des Schußwechsels zwischen die Fronten geraten. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Massaker an ZivilistInnen nachträglich der Guerilla, wie beispielsweise der FARC, oder der Drogenmafia, zugeschrieben wurden.
Die Armee bedient sich brutaler Foltermethoden, um von Kleinbauern, die sie der Mithilfe bei der Guerilla verdächtigt, Informationen über Aktivitäten der Aufständischen zu erhalten. Jene Bauern, die keine Informationen geben können, werden kurzerhand dazu verpflichtet, der Armee als Träger oder Wegweiser zu dienen. Wer sich weigert, muß damit rechnen, er- mordet, gefoltert oder verschleppt zu werden.
Obwohl es bei den meisten politisch motivierten Verbrechen viele Indizien, häufig sogar klare Beweise für die Schuld von Polizei oder Militär gibt, bleiben ausreichende Nachforschungen nach den Tätern meist aus. Auch wenn die Namen der Verantwortlichen bekannt sind, kommt es in den wenigsten Fällen zu Urteilen, was dann mit der “mangelnden Beweislage” begründet wird. Eine der wenigen Aus- nahmen ist der Fall des Oberstleutnant Luis Felipe Becerra Bohórquez, der 1993 aus dem Dienst der Armee entlassen wurde, nachdem ihm die Verantwortung für ein Massaker nachgewiesen wurde, bei dem ZivilistInnen ums Leben gekommen waren. Im Zuge von Aufstandsbekämpfungsmaßnahrnen hatten Truppen des Bataillons Palacé, dessen Kommandeur Becerra war, im Oktober 1993 das Dorf Alto de la Loma umstellt. Bei einer Razzia im Haus der Familie Ladino wurden mehre Personen geschlagen, junge Frauen vergewaltigt und daraufhin sieben Familienmitglieder erschossen. Auch die Nachbarn der Ladinos verloren bei diesem Übergriff fünf Familienmitglieder.
Doch dies war nicht das erste Mal, daß Becerra an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt war. Bereits zuvor war er in einige Massaker verwickelt gewesen, hatte aber nie Konsequenzen ziehen müssen -im Gegenteil: Nachdem er 1991 vom Gericht für ein anderes Massaker zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wurde der Haftbefehl gegen ihn nicht vollstreckt. 1992 wurde Becerra, nachdem das Verfahren auf die Militärjustiz übergegangen war, sogar zum Leiter der Abteilung für Presse und Öffentlichkeitsarbeit der Armee ernannt. Im April 1993 kam der Generalstaatsanwalt zu dem Schluß, daß die Beweise für einen Antrag auf Dienstentlassung nicht genügten. Erst als Becerra im Oktober 1993 erneut ein Blutbad angerichtet hatte, wurde er dafür zur Rechenschaft gezogen, jedoch lediglich vom Dienst suspendiert.

Regierung gesteht Menschenrechtsprobleme ein

1992 wurden vom Generalstaatsanwalt neue Zahlen über Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht. Ihm lagen 2618 Beschwerden sowie Berichte über 3099 Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor. Der größte Teil dieser Beschwerden richtete sich gegen die Nationalpolizei, aber auch der Armee wurden einige Mißhandlungen angelastet, überwiegend die besonders schweren Delikte, wie Massaker und “Verschwindenlassen”.
Präsident Gavina und andere führende Politiker leugnen zwar nicht die von den “Sicherheitskräften” begangenen Menschenrechtsverletzungen und erkennen das Problem der Straflosigkeit durchaus an. Doch zeigen sie keine ernsthaften Bemühungen, Grundlagen für eine bessere Kontrolle der “Sicherheitskräfte” und Möglichkeiten zur härteren Ahndung von Menschenrechtsverletzungen zu schaffen. Sie begründen dies mit Mängeln im Justizwesen, wie zum Beispiel fehlenden Finanzmitteln oder unzureichenden Ausbildungsmöglichkeiten. Der Generalstaatsanwalt nennt allerdings noch einige andere Gründe dafür, warum Nachforschungen auf diesem Gebiet nur sehr schleppend vorangehen. Ein Grund sei, daß viele Vergehen in ländlichen Gegenden begangen werden, wo sich die Sicherung von Beweismitteln recht schwer gestaltet. Darüber hinaus stellen auch die armeeinternen Strukturen ein Problem dar. Befehle ohne rechtliche Grundlage werden nicht schriftlich festgehalten, werden aber wegen des Befehlsgehorsams und aufgrund von Beförderungschancen ausgeführt. Der Korpsgeist, der innerhalb der Streitkräfte herrscht, verhindert eine Zusammenarbeit mit den ermittelnden Behörden. Zudem wird bei Ermittlungen im Normalfall den Unschuldsbeteuerungen der Beschuldigten Glauben geschenkt, im Gegensatz zu den Aussagen der Zeuginnen, die nicht nur als nicht glaubhaft an- gesehen werden. Im Gegenteil: Aussage- willigen drohen massive Repressalien. Auch die Ermittlungsbeamten werden häufig eingeschüchtert. Einige wurden sogar ermordet.
Von seiten der Militärbefehlshaber wird versucht, Verfahren zu verzögern oder gar vollständig einstellen zu lassen, indem sie keine Namen von Angehörigen der Streitkräfte weitergeben, versuchen, Beweismaterial zu manipulieren, beziehungsweise zu vernichten oder Haftbefehle nicht vollstrecken. Häufig werden auch Armeeoffiziere, gegen die ein Verfahren anhängig ist, befördert oder in andere Gegenden versetzt, damit sie in einen anderen Gerichtszuständigkeitsbereich kommen. Wenn es allerdings doch einmal zu einem Verfahren kommt, meldet die Militärjustiz sofort ihre Zuständigkeit an. Damit ist ein Freispruch der Angeklagten so gut wie gewiß, es sei denn, ein Fall erlangt so viel Publizität, daß ein angemessenes Urteil aufgrund des öffentlichen Drucks nicht ausbleiben darf. Die Möglichkeit des Militärgerichts, Verfahren gegen Mitglieder der “Sicherheitskräfte” selber zu übernehmen, blieb 1991 trotz Änderung der Verfassung weiterhin bestehen.
In seltenen Fällen werden Verurteilungen ausgesprochen, die sich dann allerdings meist gegen rangniedrigere Mitglieder der Sicherheitskräfte richten, da es sehr schwierig ist, die für die Befehle verantwortlichen Vorgesetzten ausfindig zu machen, auch wenn eindeutig belastende Aussagen von Untergebenen vorliegen. Beispielsweise wurden 1992 gegen 191 Angehörige der Streitkräfte und gegen 512 Beamte der Nationalpolizei Disziplinarverfahren eingeleitet. 403 davon zogen Schuldsprüche und Sanktionen nach sich (in 373 Fällen gegen die Nationalpolizei und 31 gegen die Streitkräfte). Es gab aber nur wenige Dienstentlassungen. Meist handelte es sich um geringe Geldstrafen oder zeitlich befristete Dienstsuspendierungen.

Militärjustiz deckt Täter

Objektive Ermittlungen und Urteilssprüche werden vom Militärgericht selten gewährleistet, was nur mit politischen Beweggründen zu erklären ist, da oft genug Urteile gegen Soldaten ausgesprochen werden, wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Aufstandsbekämpfung stehen.
Auf formaler Ebene wurden in den letzten Jahren durchaus Maßnahmen getroffen, um die Einhaltung von Menschenrechten zu gewährleisten. So wurde zum Beispiel 1990 das Amt des örtlichen Bürgerbeauftragten geschaffen, der die Aufgabe hat, Berichte über Menschenrechtsverletzungen entgegenzunehmen und gegebenenfalls erste Ermittlungen durchzuführen. Polizei und Militär sind dazu verpflichtet, ihm alle in den letzten 24 Stunden erfolgten Festnahmen mitzuteilen, sowie ihm Zugang zu allen Einrichtungen zu gewähren, damit er sich über Aufenthaltsort und Zustand von Gefangenen in- formieren kann. Doch in vielen Fällen wird die Arbeit des örtlichen Bürgerbeauftragten durch die mangelnde Kooperationsbereitschaft stark eingeschränkt. Außerdem ist auch er Drohungen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt.
Durch die Gemeinderäte kann die Arbeit des Bürgerbeauftragten politisch beeinflußt werden, da diese sein Budget festlegen.
Mit Inkrafttreten der Verfassung von 1991 ist auch das Amt des Volksanwalts entstanden, der Teil der Generaistaatsanwaltschaft ist und eine gewisse Überwachungsfunktion über die Einhaltung der
Menschenrechte hat. Er führt keine Ermittlungen durch, dient aber als Anlauf- stelle und Berater für Opfer von Mißhandlungen und deren Angehörige, die die Möglichkeit haben. den Staat auf Schadensersatz zu verklagen. Der Staatsrat hat bereits vielen solchen Klagen stattgegeben, auch in Fällen, in denen die Verantwortlichen freigesprochen oder ihre Verfahren eingestellt worden waren.
Als weitere Maßnahme entstanden in Städten, in denen eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, auf Initiative von Generalstaatsanwalt und I Volksanwalt Menschenrechtsbüros. Das erste wurde 1991 in Medellín eingerichtet und nahm bereits in den ersten 16 Monaten 3563 Beschwerden entgegen. In 3554 Fällen, die meisten davon willkürliche Festnahmen oder Mißhandlungen, wurde es tätig.
Außer einigen praktischen Maßnahmen zur Eindämmung der politischen Gewalt, wurden 1991 einige formale Aspekte in der Verfassung eingeführt, die – würden sie eingehalten – eine erhebliche Reduzierung von Menschenrechtsverletzungen herbeiführen könnten.
Die drei verschiedenen Stufen der Notstandsgesetzgebung können vom Präsidenten nicht mehr ohne Zustimmung aller Minister und auf unbegrenzte Zeit ausgerufen werden. Bei der dritten Stufe, dem Notstand, werden die Menschenrechte, Grundrechte und die Grundsätze des humanitären Völkerrechts außer Kraft gesetzt. Außerdem wurden, die Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs- und Gewissensfreiheit, das Verbot der Folter sowie Vorkehrungen gegen willkürliche Verhaftungen und Mindeststandards für einen fairen Prozeß in die Verfassung aufgenommen.
Weitere wichtige Punkte wie das Verbot der Incomunicado-Haft, die Habeas-Corpus-Rechte und die Unabhängigkeit der Justiz wurden nicht mit in die Verfassung aufgenommen.
Die blutige Geschichte Kolumbiens der letzten Jahrzehnte hat gezeigt. daß viele Gesetze wirkungslos sind. Auch die juristischen Fortschritte im Menschenrechtsbereich, die in den letzten Jahren eingeführt wurden, scheinen bisher eher Ali- bicharakter zu haben. Nach wie vor wer-den MenschenrechtsaktivistInnen, wie etwa Mitglieder der kirchlichen Kommission “Justicia y Paz”, bei ihrer Arbeit schikaniert, bedroht und oft von Regierungsseite der Zusammenarbeit mit der Guerilla bezichtigt.
So beurteilt Javier Giraido auch die gesetzlichen Änderungen skeptisch: “Wenn auch neue Institutionen zum Schutz der Menschenrechte geschaffen wurden, so hat uns die tägliche Praxis gezeigt, daß keine von ihnen mit wirksamen Machtbefugnissen ausgestattet wurde, um die Rechte tatsächlich zu schützen. Eher könnte man sagen, daß die Verwielfachung der Institutionen die Anklageprozesse und die Suche um Schutz verlängert, erschwert und durcheinander bringt. Alle diese neuen Institutionen fühlen sich ermächtigt, einander die Anklagen durch schriftliche Anordnungen zuzuweisen, wobei keine sich dazu im Stande sieht, die Probleme wirksam anzugehen.”

Eine Antwort, kein Friedensver­trag

Manuel Camacho Solis:
1. und 2. Von den 34 Punkten des Forderungskata­loges sind die beiden, die sich auf die Demokratie auf nationaler Ebene bezie­hen, nicht Teil der Verhand­lungen, sind aber klar beantwortet wor­den. Statt die Konfrontation an einen Punkt voranzu­treiben, von wo aus es kei­nen Ausweg mehr gibt, sollten wir alle Teil eines Pro­zesses der institutionellen politischen Ver­änderungen sein, die in­nerhalb der Instan­zen der zivilen Gesell­schaft ausgehandelt werden müssen: in den politischen Par­teien, in den Organen des Zentralstaates und in der öf­fentlichen Meinung. Die Ankündigung, daß es mit Zustim­mung aller Parteien eine außeror­dentliche Kongreßperiode geben soll, um Reformen zu entwickeln, die die Unpar­teilichkeit der Wahlbehörden ga­rantieren und die Betei­ligung der Bürger, ist ein wichtiger Schritt auf einen demo­kratischen Wandel hin, der zum Frieden in Chiapas beiträgt.
3. Der Geist der politischen Verpflichtung für einen würdigen Frieden und die kon­krete Friedensübereinkunft in Chiapas ge­ben der EZLN volle Garantien und ge­währleisten denjenigen eine würdige und respektvolle Behandlung, die sich in die­sen Prozeß integrieren. Es wird bei der EZLN liegen, über die Art und Weise ih­rer zukünftigen sozialen und politischen Beteiligung zu entscheiden. Wenn man davon ausgeht, daß diese im Respekt ge­genüber der Verfassung der Republik er­folgt, wird die Regierung jede Form der legalen Registrierung erleichtern, die von der EZLN oder ihren Mitgliedern bean­tragt wird.
4. Den Forderungen der Gemeinden, die die politisch, wirtschaftlich und kulturell au­tonomen indianischen Kommunen bil­den werden, soll mit der Einsetzung eines “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indianischen Gemeinden” entsprochen werden. Die Gesetzesinitiative wird die traditionellen Institutionen, Autoritäten und Organisationen der indianischen Ge­meinden und ihre Kontrollfunktion als gültig im Sinne der Rechtssprechung an­erkennen. Das gleiche gilt für die Schritte auf dem Weg zur Annahme dieses Geset­zes, wenn es um indigene Gewohnheits­rechte, Bräuche und Traditionen, familiäre und gesellschaftliche Beziehungen, den inneren Handel, die Sanktion von Fehl­verhalten, Fragen des Grundbesitzes und der landwirtschaftlichen Nutzung ihrer Güter geht. Dies gilt auch für die Gestal­tung der traditionellen Organe selbst, so­fern sie nicht gegen die fundamentalen Rechte ihrer Mitglieder oder die öffentli­che Ordnung verstoßen. Auch müssen sie mit den Festlegungen der Verfassung, der Erklärung der Universellen Menschen­rechte und der Internationalen Konvention über indigene Völker und Stämme über­einstimmen. Letzere wurde in Genf be­schlossen und von Mexiko im August 1990 unterzeichnet.
Das neue Gesetz wird das Recht auf den Gebrauch der eigenen Sprache anerken­nen, sowohl im Bereich von Amtshandlun­gen, in Bildung, Kommuni­kation und in den Beziehungen zu Dritten. Beim Kon­takt mit kommunalen bundes­staatlichen oder regionalen Autoritäten muß Indí­genas ein Übersetzer zur Verfü­gung ge­stellt werden.
5. Im Bundesstaat Chiapas werden allge­meine Wahlen abgehalten, an denen alle politischen Kräfte der Region legal teil­nehmen können. Um die Transparenz die­ses Prozesses zu gewährleisten, wird ein neues Wahlgesetz geschaffen, das die er­forderlichen Maßnahmen enthält, um die Unparteilichkeit des Wahlprozesses zu ga­rantieren. Um die gleichmäßige Reprä­sentanz der Ethnien im Kongreß von Chiapas zu gewährleisten, werden die Wahlbezirke neu eingeteilt.
Sowohl die Verfassung des Bundesstaates Chiapas als auch das Gesetz über die kommunalen Organe werden reformiert, um auf dem gegenwärtigen Territorium von Ocosingo und Las Margaritas neue Kommunen zu bilden. Hiermit soll eine bessere Vertretung der Bevölkerung und eine größere Nähe zwischen den Autori­täten und dem Volk ermöglicht werden.
6. Die Programme zur Elektrifizierung der ländlichen Gemeinden sollen dop­pelt so schnell vorangehen wie bisher.
7. Binnen 90 Tagen wird eine sorgfältige Erhebung über die verschie­denen produk­tiven Aktivitäten in Chiapas vorliegen, insbesondere in Bezug auf die indiani­schen Kommunen. Von dieser Un­tersuchung ausgehend, werden unter Mit­wirkung der Kommunen Konzepte zur be­ruflichen Weiterbildung entwickelt, die produktive Aktivitäten und Beschäftigun­gen, Anpassungsprozesse und neue For­men der Vermarktung betreffen.
8. In Chiapas wurde der Prozeß der Agrarre­form der Mexikanischen Revolu­tion nicht voll realisiert. Es ist notwendig, eine Lö­sung für die zahlreichen Agrarkon­flikte zu finden, indem den Kleineigentü­mern Ga­rantien gegeben werden. Der Pro­zeß, um dies zu erreichen, ist mit der Dis­kussion, Verabschiedung und Bekannt­gabe des “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indianischen Gemeinschaften” ver­bunden – einem Gesetz, das ausgehend von den Forderungen, Meinungen, Sorgen und der Zustimmung der indianischen Kommunen in Chiapas und anderen Tei­len des Landes, vorbereitet wird.
Dieses Gesetz wird beinhalten:
– Die Etablierung geeigneter Maßnah­men, Bräuche, Bestände und Bestim­mungen in Bezug auf Ländereien, Was­ser und Wälder.
– Die notwendigen Vorgänge für eine Aufteilung der Latifundien.
– Die Festlegung von Fällen, in denen die Enteignung und Besetzung von Privat­eigentum von öffentlichem Nutzen ist.
– Der Schutz des Eigentums und des Zu­sammenhaltes der gemeinschaftlichen Ländereien der indigenen Kommunen.
– Die Rückerstattung von Land mit Hilfe einer objektiven Schätzung, die sich der Ausplünderung von Ländereien und Gewässern entgegensetzt, welche den indianischen Völkern oder Kommunen zugesprochen werden sollen.
Dieser Prozeß soll in einem ständigen und direkten Dialog mit der EZLN und ande­ren sozialen Organisationen in Chiapas er­folgen.
Es wird eine Initiative für ein “Landwirtschaftliches Gesetz im Staat Chiapas” vorbereitet, das drei Haupt­aspekte enthalten soll:
Bei den Anstrengungen für eine Diversifi­zierung der Produktion werden die Maß­nahmen im Bereich der Infrastruktur und die langfristigen Finanzplanungen von be­sonderer Wichtigkeit sein, um die Kapita­lisierung der Kommunen und ejidos zu fördern.
9. Um die Probleme im Gesundheitsbe­reich zu bekämpfen, sollen da, wo Krankenhäu­ser vorhanden sind, diese so schnell wie möglich instandgesetzt und mit komplet­ten chirurgischen Abteilungen ausgestattet werden. In den Orten, wo keine Hospitäler oder Kliniken existieren, sollen Investitio­nen getätigt werden, die das Basisversor­gungsnetz stärken.
Im Zuge einer vollständigen Reorganisa­tion des Gesundheitssystems in Chiapas soll ein Notprogramm vorangetrieben werden. Die Gesundheitskampagnen sol­len neu organisiert werden, um die Be­treuung aller Kinder zu gewährleisten, in­klusive derjenigen, die in den entlegensten Teilen des Landes leben. Im März werden Kampagnen zur Bekämpfung von Mala­ria, Cholera und Infektionskrankheiten ge­startet.
10. Es wird die Erlaubnis erteilt, einen von der Regierung unabhängigen indigenen Sender einzurichten.
11. Es wird ein Spezial­programm gestar­tet, um den Bau und die Verbesserung von Wohnungen in den in­digenen Kommunen zu fördern, ebenso wie die Einrichtung ei­ner Basis­versorgung mit Elektrizität, Trinkwasser, Straßen und Kontrollstatio­nen im Umwelt­bereich. In diesem Pro­gramm werden ebenfalls Un­terstützungsmaßnahmen für Sport und Kultur enthalten sein.
12. Es soll eine unmittelbare Übereinkunft zwischen den Lehrern der verschiedenen öffentlichen Einrichtungen und ihren ge­werkschaftlichen Sektionen erreicht wer­den, um ein Programm zur Verbesserung der Qualität der öffentlichen Bildung in der Region zu schaffen. Die Entwicklung zweispra­chiger Bildungsmöglichkeiten im mittle­ren und höheren Bereich soll unter­stützt werden. Das gleiche gilt für den Bau von Grundschulen, Mittelschulen und techni­schen Schulen oder Vorbereitungs­kursen in den indigenen Kommunen.
Um den Zugang der Indí­genas zur mittle­ren und höheren Bildung zu erleichtern, wird ein System staatlicher Stipendien ge­schaffen, die aus öffentlichen und privaten Quellen finan­ziert werden. Dies beinhaltet auch die Unterstützung künstlerischen Schaffens und der wissenschaftlichen Entwicklung junger Talente in den indige­nen Kommunen.
13. Die zweisprachige Erziehung in den indi­genen Gemeinschaften wird in dem “Allgemeinen Gesetz über die Rechte der indigenen Gemeinschaften” verankert, in den staatlichen Gesetzen und im Erzie­hungs- und Bildungsprogramm des Bun­desstaates Chiapas.
14. Die Forderung nach einer Respektie­rung der Kultur und Tradition, der Rechte und der Würde der indigenen Völker ist das Rückgrat des “Allgemeinen Gesetzes über die Rechte der indigenen Gemeinschaf­ten”, und wird seinen kon­kreten Nieder­schlag in den verschiedenen Bereichen von Regierung, Verwaltung, Justiz und Kultur finden.
15. Um die Diskriminierung und Verach­tung der indigenen Völker zu vermeiden, ist der beste Weg eine Veränderung der Wertvorstellungen von Kindern und Ju­gendlichen. Daher mußder Erziehung in diesem Bereich eine besondere Aufmerk­samkeit geschenkt werden.
Es wird eine Gesetzesinitiative vorbe­reitet, um in unserem Rechtssystem erst­mals die Diskriminierung von Privatper­sonen gegenüber Indígenas unter Strafe zu stellen, und um die staatlichen Institutio­nen zu verpflichten, die gesetzliche Gleichheit effek­tiv umzusetzen. Dies be­inhaltet auch die Schaffung einer Staats­anwaltschaft zur Verteidigung der Rechte der Indígenas.
16. Dieser Punkt wird mit dem Allgemei­nen Gesetz über die Rechte der indiani­schen Kommunen, mit der Verfassungsre­form des Bundesstaates Chiapas, mit der neuen Wahlkreisaufteilung, mit den diver­sen Refor­men der Justizverwaltung, mit der Steuer­übereinkunft zwischen der Regie­rung und den Kommunen in Chiapas und mit der Schaffung neuer Gemeinden in­nerhalb der jetzigen Landkreise Oco­singo und Marga­ritas beantwortet.
17. Es werden Reformen der Verfassung von Chiapas vorangetrieben werden, Refor­men des Gesetzes, das die Organe der Rechtsprechung in Chiapas regelt, Refor­men der Landespolizei in Chiapas und an­dere Verordnungen mit dem Ziel:
– Gerichtsstandorte festzulegen, die mit der Gebietsaufteilung der indigenen Kommunen zusammenfallen. Ziel ist, daß die örtlichen Richter auf Vorschlag der Gemeinden selbst ausgewählt wer­den. Dadurch soll garantiert wer­den, daß die Richter Indígenas sein können, oder von ihnen respektierte Ju­risten, die die Gesetze und gleichzeitig die Ge­wohnheiten und Ge­bräuche kennen und diese bei ihrer Entscheidung mit einbe­ziehen.
– [Paralleles auch für öffentliche Dienste und Arbeitsgesetzebung]
– Es wird eine Verwaltung zur Verteidi­gung der Indígenas geben. [Indígena-Beauftragter] Deren Leitungsgremien müssen zweisprachig sein und die indi­genen Rechte genau kennen. Der Be­auftragte wird durch das Landesparla­ment von Chiapas auf Vorschlag der indigenen Kommunen gewählt.
– Es wird eine vollständige Überprü­fung der rechtlichen Situation jener Personen geben, die als Ergebnis sozi­aler Kon­flikte im Gefängnis einsitzen, ebenso in allen Fällen von Indígenas, deren rechtliche Situation eine baldige Frei­lassung ermöglicht.
18. Die Existenz würdiger Arbeitsplätze und gerechter Löhne hängt von der Verbesse­rung der Ausbildung ab, von den Investi­tionen zur Steigerung der Produkti­vität, der verbesserten Gesetzgebung zum Schutz der Arbeitnehmer.
Ein ebenso wichtiger Faktor ist eine ver­besserte Organisation und Verteidigung der legitimen Rechte der Landarbeiter.
19. Es werden Entscheidungen getroffen, wie in den indigenen Kommunen teil­weise die Auswirkungen plötzlicher Ver­änderungen des Weltmarktpreises für landwirtschaftliche Produkte ausgeglichen werden können.
Dazu werden, ausgehend von den beste­henden Erfahrungen, Projekte nationaler und internationaler Vermarktung geför­dert, die den Zwischenhandel aus­schalten und in Form von Genossen­schaften die Vermarktung der chiapaneki­schen Agrar­produkte organisieren.
20. Für Chiapas, für Mexiko und für die inter­nationale Gemeinschaft ist die Verpflich­tung zum Schutz der natürlichen Ressour­cen der Region sehr bedeutsam.
Auf diese Pflicht werden die Bundesregie­rung und die internationalen Institutionen, Stiftungen und Ökologie-Gruppen mit ei­ner koordinierten Hilfsaktion zum Tech­nologie-Transfer, Projekten der nachhalti­gen Entwicklung und der Finanzierung des Umweltschutzes reagieren. Ausgangs­punkt ist die Pflege der Umwelt durch die indigenen Kommunen.
21. [Der Punkt ist nicht genau zu verstehen, ohne den Wortlaut der zapati­stischen For­derung Nr. 21 zu kennen. Es geht noch einmal um die Sicherung der Ar­beitsplätze, d.Ü.]
22. Zusammen mit den sozialen Organisatio­nen, den Gemeinden und der Regierung wird ein Programm durchge­führt werden, daß die Ernährungslage von Kindern bis sechs Jahren mit deutlichen Mangeler­scheinungen verbessert. Grund­lage ist die lokale Landwirtschaft. Mit der Verbesse­rung der Infrastruktur und des Transports von Waren durch die indige­nen Gemein­den selbst soll die Versorgung verbessert werden. Gemeinschaftliche Einkaufslä­den, die die Zwischenhan­delsmargen minimieren und daher ge­rechtere Preise anbieten können, werden gefördert.
23. Am Tage nach der Unterzeichnung ei­nes Friedensabkommens wird das Amnestie­gesetz in Kraft treten. Darunter fallen alle Personen, gegen die aufgrund des Kon­fliktes in Chiapas ein Strafverfah­ren er­öffnet wurde. Es werden alle not­wendigen Maßnahmen getroffen, um die betroffenen Personen innerhalb einer Wo­che nach In­krafttreten des Gesetzes auf freien Fuß zu setzen.
Des weiteren wird eine Kommission eine vollständige Überprüfung der Fälle aller Indígenas und Bauernführer vornehmen, die sich in Haft befinden und nicht unter das Amnestiegesetz fallen. Sie wird die rechtlichen Schritte empfehlen, um die Fälle zu lösen, deren rechtliche Situation eine baldige Freilassung erlaubt.
24. [Bezugnahme auf vorangegangene Punkte zur Durchsetzung allgemeiner Rechte der Indígenas]
25. Als Teil der Friedensvereinbarungen wer­den die Opfer, die Witwen und Wai­sen, die der Konflikt hinterlassen hat, finan­zielle Unterstützung erhalten.
26. [Hierzu sagt Camacho nur, die Forde­rung Nr. 26 sei durch alle anderen angespro­chenen Punkte erledigt, d.Ü.]
27. Der derzeitige Strafkatalog des Bundes­staates Chiapas wird aufgehoben. Es wird ein neuer ausgearbeitet, dessen Zielset­zung der Respekt vor den individu­ellen und politischen Rechten ist, und der zu ih­rer Ausübung volle Rechtssicherheit bie­tet.
28. In das neue Strafrecht wird die Vertrei­bung von Indígenas aus ihren Ge­meinden aufgenommen werden. Durch schnellen und effektiven Dialog oder durch die An­wendung des Rechtes werden neue Ver­treibungen verhindert werden.
29. Eine der wichtigsten Impulse, die heute aus Chiapas kommen, ist, die Situa­tion der Bäuerinnen und Indígena-Frauen zu verbessern. Von der Situation in der Familie und bei der Arbeit bis zur Be­teiligung an der Gemeinschaft und der kulturellen Entwicklung.
A Kliniken im Rahmen des schon vorge­stellten Gesundheitsprogrammes
B Mit den Kommunen zusammen werden Kindergrippen aufgebaut werden.
C [Lebensmittelprogramm]
D [Einrichtung von Volksküchen]
E [Aufbau von Mühlen und Backöfen]
F [Förderung der Kleintierzucht]
G [Kleine Bäckereien]
H [Förderung des Kunsthandwerks]
I [Technische Ausbildung der Indígena-Frauen]
J [Bau von Vorschulen]
K [Förderung des Transportwesens und damit der Selbstorganisation der Frauen]
30. Mit diesen Übereinkünften sollen die ent­standenen Spannungen überwunden wer­den. Der Geist des Friedens und der Ver­ständigung soll alle Chiapaneken bei der Lösung politischer Fragen einbezie­hen.
31. Mit dem Friedensabkommen, den in die­sem Angebot enthaltenen Entscheidun­gen und dem Amnestiegesetz wird nicht nur das Leben der Mitglieder der EZLN re­spektiert, sondern es wird auch garan­tiert, daß es keine Strafprozesse oder repressi­ven Aktionen gegen EZLN-Mit­glieder, Kämpfer, Sympathisanten oder Kollabo­rateure geben wird.
32. [Betrifft die Menschenrechte:] Es ist meine Meinung, daß die Bildung der Na­tionalen Menschenrechtskommission (CNDH) in der Art, wie die Verfassung und die Gesetze sie vorsehen, ein wichti­ges Instrument für die Verteidigung der Rechte gewesen ist.
Weitergehende Fortschritte bei der Einbe­ziehung der Zivilgesellschaft in der CNDH oder in anderen Modalitäten zum Schutz der Menschenrechte werden Teil eines gesellschaftlichen und politischen Prozesses ab Dezember 1994 sein.
33. Unter noch festzulegenden Bedingun­gen wird die Regierung die Bildung einer “Nationalen Kommission für einen ge­rechten und würdigen Frieden” unterstüt­zen. Diese Kommission wird eine Schlüs­selrolle spielen und die Einhaltung dieser Verpflichtungen überwachen.
34. Humanitäre Hilfe für die Opfer des Kon­fliktes wird über die Vertreter der indige­nen Kommunen verteilt werden.

Nachtrag:
A: Zur Bearbeitung ähnlicher Forderun­gen aus anderen indigenen Regionen des Landes wird die “Nationale Kommission für die integrale Entwicklung und die so­ziale Gerechtigkeit der Indigenen Völker” in Zusammenarbeit mit den Regierungen der Bundesstaaten und den betroffenen Kommunen ähnliche Programme ausar­beiten.
B: Die bundesstaatlichen und kommuna­len Regierungen werden die notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit die indige­nen Kommunen in grundlegender Weise an der Definition der sie betreffenden Entwicklungsprogramme teilnehmen kön­nen. Bei der Überwachung der ihnen zu­gedachten Ressourcen sollen soziale Kontrollorgane geschaffen werden, die von den Betroffenen kontrolliert werden.
C: Für die Erfüllung der Übereinkünfte, die sich auf die regionalen Entwicklungs­projekte beziehen, wird durch eine Verfü­gung des Prä­sidenten eine dezentrale und autonome öf­fentliche Institution geschaf­fen.
Diese Institution wird über ein Regie­rungsorgan verfügen, das sich aus den Vertretern der indianischen Kommunen zusammensetzt, Vertretern der Bundesre­gierung und aus Bürgern von anerkanntem moralischem Prestige und erwiesenem Engagement in der Arbeit mit indiani­schen und ländlichen Kommunen.

USA schieben Aristide aufs Abstellgleis

Zu der in Miami durchgeführten Konferenz wurden RepräsentantInnen aller haitianischen politischen Parteien, Organisationen und Gruppen eingeladen. Außerdem sollten VertreterInnen internationaler Organisationen und der nordamerikanischen zivilen Gesellschaft dabei sein. Die zahlenmäßige Beteiligung übertraf alle Erwartungen. Die nationale Konferenz fand ohne die Militärs statt, obwohl Aristide eine Einladung an den von ihm vorgesehenen Nachfolger des derzeitigen Armeechefs Cédras geschickt hatte. Die US-Regierung drohte bis kurz vor dem Beginn mit einem Boykott. Der Zankapfel war ein von Aristide in den Mittelpunkt gerücktes Thema: haitianische Flüchtlinge und US-Abschiebepolitik. Die dreitägige Konferenz brachte aber nur Vorschläge, die der Regierung Aristides vorgelegt wurden. Eine durchsetzungsfähige Resolution oder sogar Mittel zur endgültigen Beendigung der Herrschaft der Militärs in Port-au-Prince wurden jedoch nicht beschlossen.
Still und fast unbemerkt verstrich unterdessen am 15. Januar das Ultimatum, das die sogenannten Vier Freunde Haitis, die USA, Kanada, Frankreich und Venezuela, den Militärs gestellt hatten. Sie hatten mit schärferen Sanktionen gedroht, falls die Putschisten nicht bis zum gesetzten Datum die Macht übergeben haben sollten. Frankreich schlug ein totales Embargo vor, wogegen sich die USA aus humanitären Gründen wandten. Kanada beschloß die Bildung einer haitianischen Polizei außerhalb Haitis; die USA waren in Zugzwang geraten und froren das Guthaben aller haitianischen Militärs auf US-amerikanischem Boden ein. Das Tauziehen um die Vorlage einer Verschärfung der UNO-Sanktionen vor dem Sicherheitsrat findet gegenwärtig unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Bisher geschah jedoch nichts Neues, was die Macht der Militärs ernsthaft gefährdet hätte. Einzig die verschärfte Erdölknappheit in Haiti und die dadurch erzeugte Putschmüdigkeit in den bürgerlichen Kreisen scheinen zu fruchten.
Angesichts der andauernden Verzögerung wandte sich Aristide Anfang Februar an die UNO, die OAS und einzelne “befreundete Staaten”, um Schutz für die verfolgten und flüchtenden HaitianerInnen zu erbitten. Er kritisierte dabei die widersprüchliche Politik der USA gegenüber den haitianischen Flüchtlingen. Das US-Außenministerium hatte einige Tage zuvor in seinem Bericht zur Lage der Menschenrechte in der Welt die Situation in Haiti als katastrophal bezeichnet und die Militärs dafür verantwortlich gemacht. Trotzdem schwimmt die “Berliner Mauer” weiter, wie Aristide die US-amerikanischen Schiffe, die haitianische Flüchtlinge auf hoher See abfangen, genannt hat. Er bezeichnete diese Praxis als unvereinbar mit den internationalen und interamerikanischen Konventionen, denen die USA und Haiti angehören. Er drohte auch mit der Kündigung des Staatsvertrags, den seinerzeit Jean-Claude Duvalier unterzeichnet hat. Dieser gestattet es den USA, die abgefangenen HaitianerInnen ohne jegliche Einschaltung der US-Einwanderungsbehörde und ohne die gesetzlich vorgeschriebene Prüfung der möglichen Asylanträge nach Haiti zurückzubringen.
Die US-Regierung reagierte prompt und kündigte einen Plan zur Rückkehr der Demokratie in Haiti an, der die sofortige Ernennung eines Premierministers vorsieht, aber die Rückkehr Aristides nach Haiti nicht mehr erwähnt. Daß hiermit die Clinton-Administration hinter die Position des Vorgängers Bush zurückgefallen ist, scheint die US-Öffentlichkeit derzeit nicht zu wundern. Gleichzeitig werden Gerüchte lauter, denen zufolge der Druck der USA auf Aristide, einen ihnen genehmen Premier sehr bald zu ernennen, sich verstärkt haben soll. Der angeblich geeignete Kandidat ist Julio Larosillière, ein Abgeordneter, der sich eindeutig zugunsten des Putsches ausgesprochen hatte. Larosillière reiste bereits nach Washington, um Kontakt mit der US-Administration aufzunehmen. Aristide seinerseits zögerte nicht und veröffentlichte am 15. Februar seine Stellungnahme: “Unter den gegenwärtigen Umständen wäre die Ernennung eines neuen Premierministers unverantwortlich. Nach dem Abkommen von Governors’ Island (das den Rücktritt der Anführer des Staatsstreichs sowie die Rückkehr Aristides zu einem späteren Zeitpunkt vorsah, d. Red.) habe ich bereits einen Premierminister ernannt. Die Gewalt und Unterdrükkung des Militärregimes verhinderten die Regierungsfähigkeit des neu ernannten Premierministers. Das politische Vakuum ist das Ergebnis der Angst, die die Militärs schüren. Die Regierung wird einen neuen Premierminister ernennen, wenn die Putschisten abgetreten und durch Offiziere ersetzt sind, die die zivile Macht anerkennen.”
Es bleibt noch offen, in welchem Ausmaß der Druck der US-Regierung zunehmen und welchen Einfluß dies auf die Position der anderen “Vier Freunde” haben wird. Die Auseinandersetzung zwischen der gewählten Regierung Aristides und den de facto-MachthaberInnen in Port-au-Prince ist bereits seit langem auch zum Kampf zwischen den USA und den haitianischen demokratischen Kräften geworden.

Gewalt ist manchmal die Medizin

Die Rebellion in Chiapas hat Gewissen aufgewühlt. Im Guten wie im Schlechten. Für viele Intellektuelle, die sich an der kontinuierlichen Diskussion nationaler Probleme in den Medien beteiligen, hat der von der EZLN erklärte Krieg die Hoffnung auf revolutionäre Veränderungen wiederbelebt. Auf Veränderungen, die erlauben, daß die Güter für alle erreichbar sind und nicht nur für einige Privilegierte. Und diese Hoffnung ist wiedergeboren, nicht weil die Zapatisten sich Marxisten oder Maoisten nennen, sondern eben weil sie sich Zapatisten nennen.
Die Armen und Ausgegrenzten, die nicht mit der Ersten Welt konkurrieren können, zu der Salinas uns angeblich hinführen will, haben plötzlich VerfechterInnen gefunden, die grundsätzliche Veränderungen der nationalen Politik und der internationalen Einschätzung unserer ökonomischen Situation erreicht haben. Sie warfen einen Innenminister, der eine Garantie für Wahlbetrug war, und einen kazikischen Gouverneur hinaus. Sie eröffneten die Möglichkeit sauberer Wahlen in Mexiko, was wir, die politischen Parteien, nicht hatten erreichen können. Diejenigen, die ausgeschlossen sind von Reichtum, Gerechtigkeit und Freiheit finden sich in der EZLN wieder. Nicht nur die Indígenas auf dem Land, sondern auch die, die in den großen Städten leben, haben ihnen ihre Symphatie bekundet, außerdem die MestizInnen. Deshalb erweisen auch viele Intellektuelle ihnen ihre Zustimmung, schreiben ermutigende Botschaften an die KämpferInnen, veranstalten Sammlungen, um Kleidung, Lebensmittel oder Medikamente in die chiapanekischen Dörfer zu schicken, die durch Armee und EZLN von der Außenwelt abgeschnitten sind.
Diese Intellektuellen beteiligen sich an den Diskussionsrunden und an den Märschen durch die Straßen und einige schreien, schreien sich heiser vor lauter Enthusiasmus. Sie haben selbstverständlich weder die Verbrechen Hitlers noch die Stalins vergessen, und auch nicht die Korruption, wie man sie in der Ex-UdSSR gesehen hat. Noch weniger vergessen sie, daß in den Ländern, wo das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft wurde, eine politisch dominante Klasse zu einer neuen Bourgeoisie wurde, noch privilegierter als in den kapitalistischen Ländern. Aber der Kampf in Chiapas enthält einen Bestandteil, der dem Ganzen erst die Würze gibt: Der Kampf geht um die Rechte von Millionen Indígenas, ausgegrenzt aus ihrem eigenen natürlichen Reichtum, zu unerwünschten AusländerInnen in ihrem eigenen Vaterland geworden. Es geht um nichts geringeres als um die Forderung nach sauberen Wahlen und damit um den Übergang zur Demokratie. Herausragende Intellektuelle wie Octavio Paz, die der Regierung nahe stehen, kritisieren das Verhalten der anderen Intellektuellen, die von dem Aufstand in Chiapas begeistert sind und verurteilen die Gewalt im Abstrakten. Sie übersehen dabei geflissentlich, daß die größten sozialen Errungenschaften der Geschichte nur durch schonungslose Gewalt, wie bei der Französischen Revolution zustande kamen. Paz hat vergessen oder täuscht das jedenfalls gut vor, daß einer der wichtigsten Faktoren des Aufstandes in Chiapas die korrupten Machenschaften der Regierung Carlos Salinas waren, für den er nur flammendes Lob und sanfte Kritik hat.

Der Mangel an Sensibilität der herrschenden Klasse

Octavio rühmt die jüngsten Handlungen von Salinas und ignoriert, daß der das Jahr damit begann, gegen die “Delinquenten und professionellen Gewalttäter” zu wettern, und wie er die KämpferInnen der EZLN sonst noch nannte. Man kann ja zum Frieden und zur Eintracht aufrufen. Man darf dann aber nicht vergessen, daß es die Freunde von Octavio Paz sind, die den Betrug organisiert haben, der Carlos Salinas de Gortari zum Präsidenten der Republik aufsteigen ließ. Paz hat wohl mitbekommen, daß Mexiko eines der am wenigsten vertrauenswürdigen Länder in Bezug auf die Legitimität von Wahlen ist. Darüber hat er allerdings nichts gesagt. Wir stehen auf Seiten der Aufständischen von Chiapas, weil wir mit ihnen in der Kritik der aktuellen Situation übereinstimmen. Aber vor allem unterstützen wir ihre Vorschläge zur Beendigung der fünfhundertjährigen Ausgrenzung der Indígenas. Der Mangel an Sensibilität der regierenden politischen Klasse hat unerträgliche Ausmaße erreicht. Der Luxus einiger Weniger ist eine Beleidigung der Armen. Nicht nur in Chiapas, sondern auch in Morelos, Veracruz, Hidalgo, Guerrero und Oaxaca. Und nicht nur Unternehmer und Geschäftsleute schwelgen im Luxus, nein auch die Regierungsbeamten. Die Korruption in Mexiko stinkt, aber einige riechen sie wohl nicht mehr. Je mehr die angesehenen Intellektuellen sich durch durch ehrenvolle Erwähnungen, Auszeichnungen und andere Preise ködern lassen, desto schwächer wird ihre Kritik an der Regierung bis sie vollständig verschwindet. Das ausgegrenzte, verletzte, gedemütigte, seiner Würde beraubte Volk schaut zu. Der Mangel an Sensibilität einiger Intellektueller wächst in dem Maße, wie das System sie mit Ehren und Gunstbezeugungen überhäuft.
Wir dürfen die Unzulänglichkeiten und Gebrechen unseres Systems nicht nur im Abstrakten erkennen. Es ist gut, daß die Parteien kritisiert werden (alle, denn bei allen gibt es Fehler, Mängel und Sektiererei) genauso wie die Militärs und ihre Führer. Aber wir müssen auch die Lektion verstehen, die uns die KämpferInnen der EZLN in Chiapas erteilt haben. Ihre Führung habe sich in das indianische Volk eingeschleust, behauptet Paz. Aber um das zu schaffen, mußten sie mit ihnen und wie sie leben und nicht nur einige Tage, Wochen oder Monate, sondern Jahre. Der richtige Ausdruck wäre hier also nicht, “sich eingeschleust haben”, sondern integriert sein. So und nur so ist es möglich, das Vertrauen dieser ausgestoßenen und seit jeher gedemütigten Bevölkerung zu gewinnen.
Der Friede in Mexiko ist gefährdet. Es liegt in den Händen der Regierung, das Land an die Indígenas von Chiapas zu übergeben und dafür die Landbesitzenden im öffentlichen Interesse zu enteignen. Es liegt außerdem in ihren Händen, schnell Gerechtigkeit zu schaffen und die Menschenrechte dieser MexikanerInnen zu respektieren. Ihre wichtigste Aufgabe aber ist, klare und saubere Wahlen zu garantieren, die von unabhängigen BürgerInnen beaufsichtigt werden. Das Vertrauen der Indígenas kann sicherlich nicht gewonnen werden, indem Salinas überraschenderweise Tuxtla Gutierrez besucht und dabei wie ein Präsident, mit dunklem Anzug und Krawatte, gekleidet ist, wenn er an seinen Sitzungen sonst im Hemd teilnimmt. Zur Krönung des Aufzuges fehlte nur noch die Präsidentenschärpe. Es wird keinen Fortschritt geben, wenn er in die Schweiz fliegt, um sich mit den großen Bankiers zu treffen, während die Gemeinden in Chiapas vom Militär umzingelt sind. Es ist Zeit, daß Salinas Bereitschaft zum Handeln erkennen läßt, nicht repressiv, sondern politisch. Es sind keine Devisen mehr notwendig in Mexiko. Was die Regierung vielmehr braucht, ist Vernunft, Besonnenheit, Sensibilität, Liebe zu den Marginalisierten und Respekt für die Würde der freien Männer und Frauen. Die regierungsnahen Intellektuellen werden noch mehr unter dem Taten der Marginalisierten und der Begeisterung der unabhängigen Intellektuellen leiden müssen. Ihre gescheiten Analysen stoßen zusammen mit der elementaren Rationalität derjenigen, die seit Jahrhunderten unter der Unterdrückung leiden und nun Basta gesagt haben. Gewalt ist manchmal die beste Medizin, um soziale Ungerechtigkeiten zu kurieren. Dies zeigten uns Hidalgo, Morelos und Zapata und andere unvergeßliche MexikanerInnen. Und außerdem zeigten sie, wie irgendein Intellektueller von kleinerem Format gesagt hat, daß die Gewalt gewöhnlich gegen die zurückschlägt, die sie anwenden, um das Volk zu befreien. Die Zeitgenossen beklagten den Tod dieser Helden. Millionen von MexikanerInnen segnen heute die Entscheidung, daß sie ihr Leben opferten, damit wir heute würdevoller leben können.

Jahrhundertwahlen unter Beschuß

Nach den Meinungsumfragen der letzten Monate wird es nach den Wahlen in El Salvador wieder eine rechte Regierung geben. Armando Calderón Sol, Präsidentschaftskandidat der rechtsextremen Regierungspartei ARENA liegt bei allen Umfragen klar in Führung. Zuletzt kam er bei einer Umfrage der “Technologischen Universität” auf 40,2% gegenüber 22,2% für Rubén Zamora vom Mitte-Links-Bündnis FMLN-CD (Convergencia Democrática) und 14,1% für den rechten Christdemokraten Fidel Chávez Mena. All zu viel Bedeutung sollte man den Umfragen jedoch nicht beimessen. Bis zur Hälfte der Befragten gibt an, sich noch nicht entschieden zu haben. Verständlich in einem Land, in dem die Äußerung der eigenen Meinung oft tödlich war und auch heute noch – und in letzter Zeit wieder vermehrt – Todesschwadronen Terror verbreiten. Bezeichnender für den Wahlkampf ist da schon die Aussage, daß je ein Viertel der Befragten den Wahlkampf als “langweilig” bzw. “voller Lügen” empfindet.

Kontrollierte Medien – kontrollierte Meinung

Die Verwicklung von Calderón Sol in die Aktivitäten der Todesschwadrone Anfang der 80er Jahre, die im November durch die Veröffentlichung von Geheimdokumenten der USA belegt wurde (vgl. LN 234), war eher in den internationalen Medien als in El Salvador selbst ein größeres Thema. Auch die Tatsache, daß Calderón Sol im Dezember angekündigt hat, die Empfehlungen der UN-Wahrheitskommission, die die schwersten Menschenrechtsverletzungen in den 80er Jahren untersucht hat, nicht zu erfüllen, blieb folgenlos. Die Medien in El Salvador werden weitgehend von der Rechten kontrolliert und damit auch die Themen vorgegeben. Die Opposition kann kaum mithalten mit der riesigen Propagandakampagne der Regierung, die mit dem Beginn des Wahlkampfes im November angelaufen ist. Dabei läßt die Regierung nichts unversucht, sich in positivem Licht zu präsentieren. Ganz zufällig fanden im Januar die “Zentralamerikanischen Spiele” in El Salvador statt, und “ganz unabhängig von den Wahlen” haben die Beschäftigten im öffentlichen Dienst kürzlich eine satte Bonuszahlung von eineinhalb Monatslöhnen bekommen, für die sie sonst wochenlang streiken müßten.
Die Opposition ist sich dessen bewußt und sucht daher die direkte Auseinandersetzung mit dem Präsidentschaftskandidaten der Rechten. Doch Calderón Sol weigert sich bislang beharrlich, eine öffentliche Debatte mit Rubén Zamora und Fidel Chávez Mena zu akzeptieren. Im direkten Vergleich sähe Calderón Sol auch ziemlich schlecht aus: Seine Ausstrahlung ist gleich Null, und argumentieren kann er nicht. Außerdem würde er mit den Korruptionsfällen konfrontiert werden, die mittlerweile gegen die ARENA-Regierung erhoben werden. Dies ist für ARENA umso bedrohlicher, da ihr vorher noch keine Korruptionsfälle nachgewiesen werden konnten und ihr 1989 die Abwahl der Christdemokraten insbesondere deshalb gelang, weil die PDC-Regierung von Präsident Duarte als korrupt galt.

Wahlkampfthema Innere Sicherheit

Da redet Calderón Sol schon lieber über das Thema Innere Sicherheit (Wer hatte die Idee wohl zuerst, Schäuble oder Calderón Sol?). Allgemein bekannt als Hardliner, hofft er, daß ihm am ehesten zugetraut wird, die in den letzten zwei Jahren angeblich extrem gestiegene allgemeine Delinquenz in den Griff zu bekommen. Um Stimmung zu machen, werden innerhalb von ARENA Stimmen laut, die die Einführung der Todesstrafe fordern. Dabei ist gerade die ARENA-Regierung an der Verzögerung beim Aufbau der “Zivilen Nationalpolizei” (PNC) schuld. Die Kriminalität ist in den Gebieten, in denen die PNC mittlerweile arbeitet, deutlich zurückgegangen, und die Bevölkerung hat weitgehend positive Erfahrungen mit der neuen Polizei gemacht. Im Gegensatz zur berüchtigten und in weiten Teilen des Landes noch agierenden Nationalpolizei scheint die PNC die Menschenrechte bislang einzuhalten. Für die Menschen in El Salvador ist dies ein riesiger Fortschritt.
Dabei steht es um die Menschenrechte nicht mehr so gut wie noch am Anfang des Friedensprozesses. Anfang Februar haben die Vereinten Nationen ihren neuesten Bericht vorgelegt und für 1993 eine deutliche Zunahme der Menschenrechtsverletzungen festgestellt. Die Todesschwadronen sind – vor allem seit Beginn des Wahlkampfes – wieder verstärkt aktiv. Nach drei politischen Morden 1992 waren es 1993 bereits 33, in vielen Fällen an AktivistInnen und KandidatInnen der FMLN. Außerdem fallen nach Angaben der katholischen Kirche mittlerweile pro Woche drei Menschen der politischen Gewalt zum Opfer. Und die Tendenz ist steigend: Allein in der ersten Februarwoche wurden sechs Menschen ermordet.

Terror gegen die Einheit der Linken

Die Terrorkampagne der Rechten ist auch eine Antwort auf den Einigungsprozeß der Linken in der Präsidentschaftskandidatur. Nach langem Zögern hat sich auch die sozialdemokratische MNR entschlossen, Rubén Zamora zu unterstützen und hat ihren eigenen Kandidaten, den MNR-Vorsitzenden Victor Manuel Valle, zurückgezogen. Spannend dürfte die Wahl auf jeden Fall werden. Selbst wenn Calderón Sol die relative Mehrheit bekommen sollte, ist sein Sieg in einer Stichwahl noch längst nicht sicher. FMLN-CD und PDC haben ein Abkommen geschlossen, wonach der Drittplazierte im zweiten Wahlgang im April auf jeden Fall den Zweitplazierten unterstützt. Obwohl die Parteirechte, die bei den Christdemokraten den Vorstand stellt, den PDC-Dissidenten Zamora heftigst bekämpft und auf keinen Fall als neuen Präsidenten sehen will, mußte sie sich auf diesen Deal einlassen, da die PDC-WählerInnen mehrheitlich sowieso Zamora statt Calderón Sol wählen würden und eine Empfehlung des Vorstands, Calderón Sol zu wählen, die Partei spalten könnte.
Bei den Parlamentswahlen haben sich die Mitte-Links-Parteien vorgenommen, eine erneute Mehrheit der Rechten (ARENA, PCN, MAC) zu verhindern, um zumindest die Legislative zu kontrollieren, falls ARENA erneut den Präsidenten stellt. Die Convergencia geht mit einem klaren Handicap ins Rennen. Als drei CD-Vertreter am 31. Januar, dem letzten Tag der Einschreibung, die KandidatInnenliste für die “Nationale Liste” (auf der 20 der 84 Abgeordneten gewählt werden) beim Obersten Wahlrat abgeben wollten, wurden sie von der Polizei gestoppt und längere Zeit festgehalten, da die Papiere ihres Wagens nicht in Ordnung waren. Als sie endlich weiter konnten, war der Wahlrat bereits geschlossen. Diese Mischung aus Verschwörung gegen die CD und eigener Trotteligkeit wird sie zwei bis drei Mandate kosten.
Die große Unbekannte bei den Wahlen ist, wie stark die beiden Evangelikalen-Parteien (MSN und MU) abschneiden werden, die erstmals zu Wahlen antreten werden. Sie sind längst nicht so stark wie im Nachbarland Guatemala, wo sie nach den letzten Wahlen bis zum “Selbst-Putsch” von Jorge Serrano im Mai 1993 den Präsidenten stellten. Aber immerhin bekennen sich in El Salvador mittlerweile 20% der Bevölkerung zu evangelikalen Sekten und Kirchen. Auch ihre ideologische Einordnung ist schwierig. Ihre Programme beinhalten eine Mischung aus fortschrittlichen sozialen Forderungen und reaktionären Wertvorstellungen. Mit ihrem “Schützt-die-Familie-Populismus” könnten sie insbesondere bei der ARENA-Basis Stimmen holen, im Parlament werden sie wohl eher mit der Rechten stimmen.

Streit ums Bürgermeisteramt

Schlechter für die Linke sieht es hingegen bei der Kandidatur um das Bürgermeisteramt von San Salvador aus, das wegen der Bedeutung der Hauptstadt als zweitwichtigstes Amt in El Salvador angesehen wird. Dort treten FMLN und Convergencia Democrática getrennt an. Die CD ist sauer, weil sie angeblich von der FMLN nicht konsultiert wurde, als diese den FMLN-Koordinator Shafik Handal als Kandidaten aufstellte. Die CD, die daraufhin den Rektor der “Universidad de la Paz” Luis Domínguez Parada nominierte, meint nicht zu Unrecht, daß Handal als Vorsitzender der Kommunistischen Partei (PCS) nicht der geeignete Kandidat sei, um die notwendigen Stimmen der Mittelschicht zu bekommen. Eine Rolle spielt jedoch auch die Haltung von Mario Aguiñada Carranza, der sich vehement gegen Handal ausgesprochen hat. Aguiñada Carranza ist Chef der unbedeutenden UDN, die über 20 Jahre die legale Wahlpartei der verbotenen Kommunistischen Partei war, sich aber 1992 mit der PCS zerstritt, von ihr lossagte und wenig später der CD anschloß. Von der Spaltung profitieren werden insbesondere ARENA-Kandidat Mario Valiente und José Napoleón Duarte, der für die heillos zerstrittenen Christdemokraten ins Rennen geht und dessen entscheidende Qualifikation ist, der Sohn des früheren Präsidenten Duarte zu sein.

Basta!

Freiheit statt Coca-Cola

Natürlich geht es in materieller Hinsicht, wie auch dem ‘Tagesspiegel’ klar sein dürfte, nicht um koffeinhaltige Erfrischungsgetränke, sondern um einen verzweifelten Aufschrei gegen Hunger und Verelendung. Natürlich geht es um den Kampf gegen Landraub und Massenarmut. Schon im Landesdurchschnitt lebt die Hälfte der MexikanerInnen unterhalb der Armutsgrenze. In Chiapas, einem bedeutenden Rohstofflager des Landes, ist es aufgrund von Rassismus, Flüchtlingselend und einem perfekt geschmierten Kazikensystem ein bedeutend höherer Anteil der Bevölkerung, der um das tägliche Überleben bangen muß. Und natürlich war das neoliberale Schockprogramm der 80er Jahre, inklusive der Reprivatisierung von Gemeinschafts- und ejido-Land, nicht nur die Eintrittskarte zu NAFTA, sondern außerdem Ursache von verstärkter Ausbeutung und Unterdrückung des indigenen Teils der Bevölkerung.
Eine rein ökonomische Betrachtungsweise jedoch versperrt den Blick auf das Freiheitsbedürfnis der Aufständischen. Der Schlachtruf “Tierra y Libertad” ist weder nur aus revolutionärer Tradition heraus gewählt worden, noch als alleiniger Protest gegen die Raffgier von Großgrundbesitzern, Viehzüchtern und Holzunternehmen. Der Schrei nach Freiheit richtet sich gegen die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko und gerade in Chiapas, gegen die Repression organisierten Protests, gegen Bevormundung, illegale Verhaftungen, Folter und Morde. Da diese Verbrechen erst mit der Duldung oder Förderung durch lokale und regionale PRI-PolitikerInnen möglich sind, ist der Aufstand zugleich eine Herausforderung des politischen Systems, eines Herrschaftsapparates, dessen Funktion die organisierte Unterdrückung freier Meinungsäußerung ist. Jede Bombe auf ZivilistInnen und jede Exekution von gefangenen Zapatistas legitimiert diesen Aufstand aufs Neue.

Der Verrat des revolutionären Erbes

Als im November 1991 der Artikel 27 der mexikanischen Verfassung über Landverteilung und Eigentumsrechte modifiziert wurde, um eine Privatisierung von Gemeinschaftsland und damit eine Ausdehnung von Großgrundbesitz zu ermöglichen, fiel eine zentrale rechtliche Säule des sozialen Teils der Verfassung von 1917. Vergebens appellierte der Vorsitzende der Linksopposition PRD, Cuauhtémoc Cárdenas, an das revolutionäre Erbe und folgerte: “Es ist wieder an der Zeit, sich mit den Fahnen von Emiliano Zapata zu erheben, für wirtschaftliche Unabhängigkeit und nationale Souveränität”. Der Erfolg von Cárdenas bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 war ein deutliches Zeichen an die PRI, daß weite Teile der Bevölkerung das einfordern, was die Verfassung aus der Revolutionszeit vorschreibt: Soziale Gerechtigkeit, nationale Unabhängigkeit und ein Vorgehen des Staates gegen die Privilegien der Eliten. Daß die PRI, wie ihr Name vorgibt, die Revolution ‘institutionalisiert’ habe, wollte eine stetig steigende Zahl von MexikanerInnen nicht mehr glauben. Die Dominanz von ausländischem, besonders US-amerikanischem Kapital, die Verquikkung von Wirtschaftselite und politischer Führung und der undemokratische Charakter des Systems sprechen eine andere Sprache.
Die Erhebung mit den Fahnen Zapatas, die Cárdenas gefordert hatte, findet nun statt, allerdings anders, als sich das die linkspopulistischen Neocardenistas vorgestellt hatten. Tiefgreifende Veränderungen, so das Signal aus Chiapas, lassen sich nicht über Wahlen erreichen, sondern nur über eine Erhebung des Volkes, in dessen Namen, aber gegen dessen Interessen, regiert wird. Zu tief sitzt das Mißtrauen gegenüber dem politischen System. Dieser militante Widerstand, so betonen die Zapatistas, ist nicht nur notwendig, sondern entspricht dem eigentlichen Geist der Verfassung. So wird im ersten Aufruf der EZLN die Verfassung zitiert: “Das Volk hat zu jeder Zeit das unveräußerliche Recht, die Form seiner Regierung zu wechseln oder zu ändern”. Der PRI wird somit das Recht abgesprochen, als Treuhänderin der Revolution zu regieren, als deren legitime VertreterInnen sich die Zapatistas betrachten. Die Revolte von Chiapas ist somit ein Fanal, das die PRI innenpolitisch weiter schwächt und außenpolitisch diskreditiert. Von der EZLN wird Salinas in einem Atemzug mit General Porfirio Díaz genannt, dem Diktator, gegen den sich Zapata vor 80 Jahren erhob. Die Parallelen zu dessen Aufstand sind so offenkundig, daß das Emblem ‘Verräter der Revolution’ nun dauerhaft an der PRI kleben bleiben wird.

“An das Volk von Mexiko”

Das Berufen auf revolutionäre Traditionen gilt seit fünf Jahren im internationalen politischen Diskurs als äußerst unfein. Von daher hat Mario Vargas Llosa in seinem Kommentar zum Aufstand in ‘El Pais’ aus seiner Sichtweise heraus natürlich völlig recht, wenn er von der EZLN als einer “anachronistischen Bewegung” spricht. Es ist in der Tat kaum anzunehmen, daß ein ‘Marsch auf Mexiko-Stadt’ die Regierung Salinas stürzt und im Gegenteil zu befürchten, daß das brutale Vorgehen der Militärs noch zahlreiche Opfer fordern wird, bis Chiapas ‘befriedet’ ist und der Repressionsapparat mit gesteigerter Gründlichkeit wieder arbeiten kann. Mit dem “ideologischen Salto rückwärts” (der ultimativen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und radikaler Demokratisierung), den Llosa anprangert, müssen sich die Verfechter der ‘Strukturanpassungsprogramme’, zu denen der peruanische Schriftsteller gehört, schon auseinandersetzen. Offensichtlich ist der Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit zu populär, um ihn noch glaubwürdig in die Mottenkiste der Geschichte verbannen zu können.
Wie also kann eine Wirtschaftspolitik gerechtfertigt werden, die nur einer dünnen Oberschicht zugute kommt? Llosas Argumentation schwankt zwischen der Alternativlosigkeit nationaler Wirtschaftspolitik angesichts der Rahmenbedingungen des Weltmarkts (was auf staatlicher Ebene schwer zu bestreiten ist) und den auf lange Sicht wohltätigen Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftspolitik für alle. Der Anspruch der PRI, die ganze Nation zu vertreten, kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn der proklamierte Sprung des Landes in die ‘Erste Welt’ allen Bevölkerungsschichten Vorteile bringt. Die sozioökonomischen Realitäten Mexikos widersprechen dieser Lesart neoliberaler Schockprogramme grundlegend, und diesen Widerspruch betonen die Aufständischen. Der PRI wird nicht nur abgesprochen, legitime Vertreterin des revolutionären Erbes zu sein, sondern ebenso, ‘nationale’ Politik zu betreiben.
Die EZLN prangert in ihrem Aufruf nicht nur die “Abhängigkeit von ausländischen Mächten” und die Politik der Regierungskreise an, die “bereit sind, unsere Heimat zu verkaufen”. Dieser Vorwurf wurde zwar medienwirksam durch das zeitgleiche Inkrafttreten von NAFTA und dem Beginn des Aufstandes unterstrichen, doch die Zielrichtung ist eine andere, innenpolitische. Warum sonst, wenn die Mobilisierung der EZLN bereits seit Jahren läuft, fand die Revolte nicht vor der Abstimmung des US-amerikanischen Senats über NAFTA statt? Der Aufruf der Zapatistas wendet sich bewußt “an das Volk von Mexiko”, und, so betonen die Kämpfer, “wir haben ein Vaterland, und die Trikolore wird geliebt und respektiert”. In einem Interview führt Commandante Marcos explizit aus: “Wir sind MexikanerInnen, das eint uns, außerdem die Forderung nach Freiheit und Demokratie. Wir wollen unsere wirklichen RepräsentantInnen wählen”. Die EZLN besetzt auf diese Weise den Begriff ‘Nation’, und prangert zugleich die politische Elite als ‘Verräter’ und ‘unpatriotische’ Vertreter von Partikularinteressen an. Mehr als alles andere greift dieser Vorwurf die ideologische Hegemonie der PRI an.
NAFTA gewinnt durch diese Lesart eine andere Bedeutung: Über Jahrzehnte ist der ‘Antiimperialismus’ gegen die ‘Gringos’ aus dem Norden ein zentraler Bestandteil der nationalen Ideologie Mexikos gewesen. Durch die Öffnung der Grenzen ist diese Haltung von seiten der Regierung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Durch das Brandmarken des ‘Ausverkaufs’ des Landes erhält so die Opposition ein wirkungsvolles propagandistisches Instrument in die Hand, um generell die Defizite der PRI-Politik aufzuzeigen.

Internationaler Imageverlust

Fortwährend hatte die liberale Presse in den USA für die Annahme von NAFTA getrommelt. Zwar wurde in Kommentaren von Zeit zu Zeit auch die Wahrung der Menschenrechte in Mexiko gefordert, aber grundsätzlich war dies eine zu vernachlässigende Größe. Nunmehr finden endlich die progressiven Kräfte in den Medien Widerhall, die von jeher ein Überdenken des Freihandelsabkommens mit einem repressiven Regime gefordert haben, und die relativ wenig mit dem Nationalpopulismus eines Ross Perot gemeinsam haben. Das Konzept von Salinas, sein Regime als aufstrebende Demokratie auf dem Sprung in die ‘Erste Welt’ auszugeben, wird durch den Aufstand empfindlich geschwächt. Mehr als alle Wirtschaftsdaten zeigt der militante Protest der Ausgebeuteten, daß die Ungleichheit in Mexiko strukturell ist, und nicht etwa ein unbedeutender Schönheitsfleck einer im wesentlichen erfolgreichen ‘Modernisierung’. Die Massaker durch Militärs, die Bombardierung der Zivilbevölkerung, die Verletzungen von Pressefreiheit und Genfer Konvention zeigen auch dem blauäugigsten Freihandelsenthusiasten auf, mit was für einem Regime hier Handel getrieben wird. Dies wird aller Voraussicht nach NAFTA nicht kippen. Aber die mexikanische Regierung kann den internationalen Druck nicht ignorieren, und sei es auch nur, um InvestorInnen nicht zu verschrecken.
Die Legitimität der PRI-Dominanz ist durch den Aufstand in Chiapas ein weiteres Mal und in unübersehbarer Form in Frage gestellt worden. Noch ist nicht absehbar, ob die Vorherrschaft der PRI so stark geschwächt wurde, daß die Tage der ‘Demokratur’ bereits gezählt sind. Aber die Parteibonzen sind durch den Aufruf der EZLN gewarnt: “Heute haben wir gesagt: Basta!”

Mit der Machete gegen die Korruption

Am 28. November entschieden die HonduranerInnen über den Präsidenten, drei Vizepräsidenten, 128 Parlamentsabgeordnete, 291 BürgermeisterInnen sowie – ein Novum – 20 Abgeordnete für das Zentralamerikanische Parlament. Die PL mit dem 67jährigen Reina an der Spitze gewann die Wahlen mit 53 Prozent der Stimmen und wird mit 71 von 128 Parlamentssitzen über eine sichere Mehrheit verfügen. Der 46jährige Ramos Soto von der PN konnte dagegen nur 42 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Auch bei den Kommunalwahlen lagen die Liberalen vorn. Auf die KandidatInnen der traditionell schwachen kleinen Parteien entfielen nur wenige Prozente. Somit setzt sich die honduranische Tradition des “Bipartidismo” fort. Bei einer für Honduras geringen Wahlbeteiligung von 60 Prozent waren aber die NichtwählerInnen die größte Gruppe. Die am Vorabend der Wahl getroffene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, denjenigen BürgerInnen, die nicht in die amtlichen WählerInnenlisten eingetragen waren, die Stimmabgabe zu verweigern, verwehrte etwa 200.000 AnhängerInnen der Oppositionsparteien die Teilnahme. Häufig schafft es die marginalisierte Landbevölkerung nicht, auf die WählerInnenlisten zu gelangen, da hierfür gültige Dokumente, Zeit und Geschick im Umgang mit der Bürokratie erforderlich sind.

Eine schmutzige Kampagne

Honduras verfügt nicht gerade über die sauberste Wahltradition. Bei den letzten Wahlen 1989 gelang die illegale Registrierung von damals 100.000 im Lande lebenden Flüchtlingen und Contras aus El Salvador und Nicaragua. Diesmal behauptet das nationale Wahlgericht jedoch, die WählerInnenregister seien, unter Mitwirkung von 119 BeobachterInnen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), sorgfältig von Verstorbenen, Minderjährigen, DoppelgängerInnen, Fiktivpersonen und (nicht wahlberechtigten) Militärs bereinigt worden. Wenn damit die Wahlpraxis auch verbessert wurde, wird es jedoch noch immer, zumindest auf dem Land, Stimmenkauf und Stimmdruck gegeben haben.
BeobachterInnen sprechen vom schmutzigsten und teuersten Wahlkampf in der jüngeren Geschichte des Landes. So sollen die PN und PL zusammen 28 Mio. US-Dollar für den Wahlkampf ausgegeben haben. Statt Sachfragen zu diskutieren, hätten die Kandidaten vorwiegend Beleidigungen ausgetauscht. Ramos nannte Reina einen Kommunisten, der die Kirchen schließen und ein marxistisches Regime errichten wolle. Der Beleg: Ein Foto aus dem Jahre 1960, auf dem Reinas Bruder zusammen mit Che Guevara zu erkennen ist. Reina dagegen konterte, Ramos sei ein korrupter Vertreter der extremen Rechten; er sei bereit, mit dem Teufel zu paktieren und Honduras in die Zeit der Todesschwadrone zurückzuversetzen. Ramos war tatsächlich in den Jahren, als diverse StudentenführerInnen und GewerkschafterInnen spurlos verschwanden, Rektor der Nationaluniversität von Tegucigalpa und gehörte, wie Ex-Präsident Callejas der seit 1983 verbotenen rechtsradikalen “Asociación para el Progreso de Honduras” (APROH) an, die zusammen mit den Militärs Anfang der 80er Jahre den “schmutzigen Krieg” gegen die Bevölkerung initiierte. Obwohl verschiedene Seiten gefordert hatten, die Verschwundenen der 80er Jahre nicht zum Wahlkampfthema zu machen, begann eine makabre Aufrechnung nach dem Motto: “Während in unserer Regierungszeit ‘nur’ 50 Linke abgeschlachtet wurden, waren es bei Euch 100”.
Noch kurz vor der Wahl kam es zu einer Krise, weil sich beide großen Parteien gegenseitig verschiedener Fehler bei der Volkszählung bezichtigten. Trotz der Furcht vor gewalttätigen Zwischenfällen verlief der Wahltag dann aber ruhig. Nur in der “boom town” San Pedro Sula im Norden des Landes detonierten zwei Sprengsätze. Immerhin wurde die Hälfte der insgesamt 27.000 honduranischen Soldaten eingesetzt, um einen ordnungsgemäßen Verlauf der Wahlen zu garantieren.

Keine Chance für kleine Parteien

Die sozialdemokratische Reformpartei PINU (Partido de Innovación Nacional y Unidad) und die christdemokratische PDC (Partido Demócrata Cristiano) wurden vor etwa 20 Jahren als Protestbewegungen gegen das Duopol von Nationalen und Liberalen gegründet. Die PINU kommt aus der intellektuellen Mittelschicht, während die PDC vor allem Unterstützung aus der Bauernbewegung erhält. Beide Parteien haben jedoch keine große Basis und erreichen zusammen kaum mehr als 5 Prozent der Stimmen. Sie haben dem Interessenfilz und der erprobten Organisation der beiden Traditionsparteien wenig entgegenzusetzen und sind eher intellektuelle “pressure groups” als ein Machtfaktor. Dies gilt noch mehr für die Partido Comunista de Honduras (PCH), die Partido Comunista Marxista-Leninista und die Partido Socialista (PASO). Diese Parteien kommen zusammen auf kaum mehr als ein Prozent der Stimmen. Nachteilig für die kleinen Parteien wirkt sich auch die Regelung aus, nach der Präsident und Parlamentsabgeordnete mit einer Einheitsstimme gewählt werden. SozialreformerInnen und linke Kräfte haben sich in Honduras historisch eher in Interessengruppen als in Parteien organisiert.
Auch die Gründung neuer Parteien ist schwierig: So sind eine Reihe rechtlicher Formalitäten erforderlich, die Kosten von etwa 130.000 US-Dollar verursachen.

Ex-RebellInnen gründeten politische Partei

Das Parlament verabschiedete Ende September ein Gesetz, das der von ehemaligen linken Rebellengruppen gebildeten Partei der Demokratischen Vereinigung (PUD) die offzielle Registrierung ohne die üblichen aufwendigen Formalitäten ermöglichte. Die regierungskritische Tageszeitung “El Tiempo” wertete dies als außergewöhnliche Öffnung, die nur dank des Zerfalls der kommunistischen Welt möglich sei. Diese Partei schaffe Raum für Intellektuelle und Anhänger sozialistischer Ideen. Die PUD darf allerdings erst 1997 an den allgemeinen Wahlen teilnehmen. Schon vor zwei Jahren hatten sich die Guerilleros von den Volksbefreiungsbewegungen “Cinchoneros” und “Lorenzo Zelaya” vom bewaffneten Kampf losgesagt. Die Regierung Callejas verzichtete im Gegenzug auf eine strafrechtliche Verfolgung der etwa 300 aus dem Exil in Kuba und Nicaragua zurückgekehrten Rebellen. 1982 gelang den “Cinchoneros” mit der Geiselnahme von 100 Industriellen in einem Hotel in San Pedro Sula die spektakulärste Aktion, die mit Lösegeldzahlung und Freiflug nach Havanna endete.

El Presidente

Reina ist schon seit Mitte der 60er Jahre Führungspersönlichkeit des linken Parteiflügels, der Liberalen Volksallianz ALIPO. “Unter uns Liberalen sind die Kämpfe oft härter als mit den Konservativen”, klagte Reina im Wahlkampf 1985, als er wieder einmal Spitzenkandidat seiner Partei werden wollte. Tatsächlich wurde die ALIPO häufig innerparteilich ausmanövriert, 1984 sogar durch Manipulation unter konservative Führung gebracht, was Reina veranlaßte, ALIPO zu verlassen und eine neue Faktion, die radikalere sozialdemokratische M-LIDER zu gründen. Diese forderte unter anderem den Rückzug Honduras aus den regionalen Kriegsvorbereitungen, die Revision des alten Bündnispaktes mit den USA und die Rücknahme der Steuergeschenke an die Multis, die weite Teile der honduranischen Wirtschaft kontrollieren.
1993 war Reina endlich der unbestrittene Kandidat der Liberalen. Der angesehene Jurist und Universitätslehrer, der in London und Paris studiert hatte, war schon Ende der 50er Jahre stellvertretender Außenminister von Honduras und in den frühen 60er Jahren Botschafter in Frankreich. Während der Militärdiktatur saß er mehrfach im Gefängnis. Im Zeitraum von 1979 bis 1985 war er zunächst Richter, dann Vorsitzender des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte in San José. 1992 agierte er als honduranischer Vertreter beim Rechtstreit mit El Salvador vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Beide Staaten beanspruchten Grenzgebiete (“bolsones”) die nach dem Urteil des Gerichtshofes weitgehend Honduras zugesprochen wurden.

Das Volk an die Macht?

Reina bestritt den Wahlkampf mit den Losungen “Das Volk an die Macht” und “Es ist Zeit für eine moralische Revolution”. Er versprach, vor allem die Korruption im Lande zu bekämpfen. “Keine Schurken mehr in die öffentliche Verwaltung!” rief er der jubelnden Menge zu. “Wenn Ihr einen diebischen Beamten kennt, laßt es mich wissen. Ich habe eine Machete, um ihm die Finger abzuschneiden”. Reina kündigte an, einen Ehrenkodex für die im öffentlichen Dienst Beschäftigten einzuführen und die Schlüsselinstitutionen wie Justiz und Wahlorgane moralischer zu gestalten. So solle der Wahlzensus gründlich erneuert und das Wahlgericht reformiert werden – er werde keinen Haushaltsposten “Geheimes” dulden. Weiter sagte er, Honduras solle ein “demokratischer Leuchtturm” werden, an dem sich Zentralamerika ausrichten solle. Als Vorbild für Demokratie und Entwicklung nannte er Costa Rica.
Für die armen Bevölkerungsschichten versprach er Sozialprogramme (besonders für Gesundheit und Bildung), “die viel Geld kosten werden”. Das unter Callejas begonnene Projekt des neoliberalen Umbaus will Reina fortsetzen.
Der obligatorische Wehrdienst soll abgeschafft, der Verteidigungshaushalt gekürzt werden und die Kontrolle der Polizei in zivile Hände übergehen – die Reformen sollen aber in Übereinkunft mit den Militärs getroffen werden. Außerdem will Reina den Drogenschmuggel bekämpfen und den Tourismus vorantreiben.

Ein Blick zurück

Nach zwei Jahrzehnten Militärherrschaft wurde 1980 mit der Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung ein Prozeß der Redemokratisierung in Gang gesetzt. Die beiden seitdem abwechselnd regierenden großen Parteien entstammen der Oligarchie. Dennoch lassen sich ihre Programme nicht klar definierten Interessen zuordnen, und in beiden Parteien finden sich Vertreter aller sozialer Gruppen, die vom wirtschaftlichen und sozialen status quo profitieren. Im Gegensatz zur PN stand jedoch die PL der Armee traditionsgemäß distanziert gegenüber und ihr Meinungsspektrum war etwas breiter.
Der nach langer Zeit erste frei gewählte Präsident Suazo Córdova vom rechten Flügel der PL (1981 bis 1985) teilte sich die Macht in Wirklichkeit mit Reagans Botschafter und dem Armeechef. Der US-Botschafter gab häufig Regierungsentscheidungen bekannt, bevor sie überhaupt getroffen worden waren. In dieser Zeit wurde Honduras im Zusammenhang mit den Konflikten in Nicaragua und El Salvador zum Flugzeugträger der USA ausgebaut. Auch das Regierungsprogramm von Präsident Ascona (1986-1989), ebenfalls von der PL, wurde von Washington bestimmt. Durch politisch motivierte Zahlungen aus Washington wurde die ökonomische Schieflage Honduras über einen langen Zeitraum kaschiert: Rund 200 Mio. US-Dollar$, genau der Betrag, der den Staatshaushalt auszugleichen vermochte, flossen Jahr für Jahr ins Land. Als das Interesse der USA an der Region abnahm, und sie ihre Zahlungen drastisch reduzierten, wurde der wirtschaftliche Niedergang und die zunehmende Auslandsverschuldung deutlich. Weite Bevölkerungsteile stellten daher Heilserwartungen an den stets lächelnden und als Reaganomic bekannten Kandidaten der PN, Callejas, dem sie 1989 zum triumphalen Wahlsieg verhalfen. Mit dieser sicheren Mehrheit versuchte Callejas, ein von Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank (BID) formuliertes wirtschaftliches Strukturanpassungsprogramm durchzusetzen.

Hungern für die Schuldenrückzahlung

Callejas “paquetazo” erzielte zwar ansatzweise die erwünschte Stabilisierung: Sanierung der Staatsfinanzen und der Auslandsschulden. Jedoch nur durch eine Abwertung der Währung, Preissteigerungen und erhöhte Arbeitslosigkeit. Ein nachhaltiger Wirtschaftsaufschwung blieb aus. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt seit 1991 etwas stärker anwächst als die Bevölkerung, dümpelt das durchschnittliche Pro-Kopf-Jahreseinkommen der rund 5,4 Mio. HonduranerInnen noch immer bei 660 US-Dollar vor sich hin und ist damit neben dem Nicaraguas und Haitis das niedrigste der westlichen Hemisphäre. Während die Produktion für den Binnenmarkt zurückging, sprießen die für die USA produzierenden Maquiladora-Industrien wie Pilze aus dem Boden. Bis 1995 werden hier mehr Arbeitsplätze vorhanden sein als in den traditionellen Industriesektoren Honduras’. Auch die Exporte können seit 1990 infolge der niedrigen Weltmarktrohstoffpreise die magische Zahl von jährlich 800 Mio. US-Dollar nicht mehr deutlich überschreiten, schon gar nicht seit Einführung der hohen EU-Zölle für “Dollarbananen”, von denen Honduras traditionell einen Löwenanteil lieferte. Dieser Beschluß bedeutet für Honduras voraussichtlich einen Verlust von 200 Mio. US-Dollar und 14.000 festen Arbeitsplätzen in drei Jahren. Die Kosten für die Strukturanpassung sind hoch: Nach Zahlen der Vereinten Nationen gelten 72 Prozent der Bevölkerung als arm und verelendet. Über 60 Prozent der Erwerbspersonen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Auch weite Teile der Mittelschichten fallen in die Armut zurück. Hunger ist mittlerweile weit verbreitet. Immer häufiger werden völlig unterernährte Kinder in Krankenhäuser eingeliefert. Das Modernisierungsprogramm für die Landwirtschaft führt zur Aufgabe der Agrarreform und zur Reprivatisierung der Wälder. Fast ein Drittel der honduranischen Bevölkerung ist von Vertreibung und Verlust ihrer Subsistenzgrundlage bedroht. Den Großgrundbesitzern ist dagegen ein Waldvermögen von ca. 3 Mrd. US-Dollar in die Hände gefallen. Skandalös ist das Verhalten der Weltbank, die ganz offen eine “unfreiwillige Umsiedlung” der Bevölkerung aus den in Wert zu setzenden Waldgebieten forderte.
Warum kam es nicht zu breiteren Aufständen gegen dieses Programm? Geschickt förderte die Regierung regierungsfreundliche Parallelstrukturen in Gewerkschaften und Interessenverbänden – die Organisationen wurden unterwandert und bespitzelt, und teilweise wurden ihre Vorsitzenden aus den Ämtern manipuliert. Länger andauernde Streiks wurden mit militärischer Gewalt beendet. Weiterhin wurde versucht, den gravierendsten sozialen Problemen mit nur kurzfristig wirkenden Hilfsprogrammen entgegenzutreten.
Der wachsende Unmut der Unter- und Mittelschichten, die Kritik von UnternehmerInnen an einer Schwächung der Binnennachfrage und die Sorge der Militärs um ihren Machterhalt brachten die Callejas-Regierung zum Ende ihrer Amtszeit jedoch in arge Bedrängnis.

Unlösbare Aufgaben für die neue Regierung

Die wirtschaftliche Ausgangslage für die neue Regierung ist schlecht: Wie in Lateinamerika üblich, sind in Honduras aus taktischen Gründen in den Monaten vor den Wahlen die Preise mit Hilfe von Subventionen und der Ausgabe von hochverzinsten Staatspapieren künstlich tief gehalten worden. Nach den Wahlen ist ein umso größerer Teuerungsschub zu erwarten. Das Budgetdefizit liegt wieder bei fünf Prozent.
Das Militär hat die Macht nie wirklich aus der Hand gegeben hat. Daher ist kaum zu erwarten, daß die Militärs die angekündigte politische und finanzielle Schwächung hinnehmen. Eine soziale Abfederung der Strukturanpassung ist unter den herrschenden Weltmarktbedingungen nur über die Aufnahme neuer Kredite finanzierbar – das will aber niemand. Also bleibt die Notwendigkeit einer enormen sozialen Umverteilung. Daran hat sich aber in der Geschichte des Landes bisher noch niemand gewagt. Abzuwarten bleibt, wie stark Reinas Rückhalt in der eigenen Partei ist und welche programmatischen Zugeständnisse er dem konservativen Flügel vor seiner Nominierung machen mußte. Zumindest besteht Hoffnung auf eine weitere Demokratisierung.

Menschenrechte und Repression in Chiapas

LN: Die Repression in Chiapas hat ja schon eine längere Geschichte. Worauf beruht sie?
Barragán: Das Regierungssystem hat immer die privilegierten Familien oder Kasten begünstigt, das politische Kazikentum in allen öffentlichen Ämtern gestärkt, die ohnehin von derselben politischen Klasse kontrolliert werden.
Im allgemeinen wurde den Indiogemeinschaften die Möglichkeit, Landkonflikte gerichtlich klären zu lassen, verwehrt. Die bundesstaatliche Justiz wird nach wie vor von der herrschenden Klasse verwaltet.
Jeder Widerstand und jeder Protest wurde mit Waffengewalt durch die Polizei, und in den letzten Monaten das Militär, unterdrückt.

Hat das Eingeifen der Militärs in der Region nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen?
In der Tat ist der militärische Eingriff in der Region illegal, da er eigentlich der Genehmigung des Kongresses bedarf, so wie es in der Verfassung steht.
Nach Zeugenaussagen, die wir erhalten haben, wird bestätigt, daß Zivilisten ermordet wurden, daß Verletzte sterbend liegen gelassen wurden oder ihnen eine medizinische Behandlung nur bei dem medizinischen Personal des Militärs erlaubt war.

Hat es in Mexiko schon früher ähnlich bedeutende Guerilla-Bewegungen gegeben?
Die letzte wichtige Guerillabewegung war vor 20 Jahren im Bundesstaat Guerrero, die damals zuerst von Génaro Vázquez und dann von Lucio Cabañas angeführt wurde. Der General, der Lucio Cabañas besiegte, hieß Absalón Castellanos, und er wurde zur Belohnung Gouverneur von Chiapas. Daher kann seine Entführung zu Beginn des Aufstandes der EZLN in Verbindung mit den Ereignissen von damals gebracht werden.

Worin unterscheidet sich denn die EZLN von der damaligen Guerilla?
Vielleicht liegt der wichtigste Unterschied darin, daß die EZLN besser vorbereitet ist und über einen größeren Anhang verfügt.

Kam der Aufstand der Zapatisten überraschend?
Schon vor 6 Monaten war bekannt, daß es Guerilla-Aktivitäten gab. Es gab sogar Konfrontationen mit dem Militär. Dies teilte die stellvertretende Innenministerin Socorro Díaz mit, und der neue Innenminister Carpizo bestätigte es.

Inwieweit haben die Militärs sich an Menschenrechtsverletzungen beteiligt?
Immer gab es eine starke Militärpräsenz wegen der Gefahr, daß die guatemaltekische Guerilla in Chiapas eindringen könnte. Doch die Repression gegen die Indios und Bauern ging hauptsächlich von den “guardias blancas” (paramilitärische Einheiten, Anm. d. Red.) aus, die im Dienste der Großgrundbesitzer arbeiten. Diese “guardias blancas” genießen die Unterstützung der staatlichen Behörden. Genaue Angaben über ihre Stärke gibt es nicht, da sie immer wieder neu rekrutiert werden.

Was hat die staatliche Menschenrechtskommission (CNDH) gegen die Menschenrechtsverletzungen in Chiapas getan?
Die Kommission hat sich vor den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit vielen Problemen in Zusammenhang mit den Landkonflikten, der Repression und dem Zugang zu den Justizbehörden befaßt. Sie veröffentlichte zahlreiche Studien dazu. Sie hat sogar 29 schriftliche Empfehlungen zu über 200 Beschwerden gemacht, aber ohne Erfolg, da niemand sie beachtet. Nun hat sich die Kommission aufgrund der bewaffneten Konflikte um humanitäre Hilfen bemüht: wie durch die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften, durch die Registrierung von Übergriffen, z.B. der Erschießung von Guerilleros und Zivilisten. Sie hat aber nichts getan, um die Massaker gegen die Zivilbevölkerung und die Repression gegen JournalistInnen und die Presse zu verhindern.
Unabhängige Menschenrechtsgruppen haben über Menschenrechtsverletzungen berichtet und sind nach Chiapas gereist, doch sie werden ebenso wie die Presse zurückgehalten. Für viele MexikanerInnen ist die CNDH nur eine Fassade, um die gravierenden Menschenrechtsverletzungen der Regierung dahinter zu verbergen.

Was kann sich in Bezug auf die Menschenrechtssituation durch das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada verändern?
Einen politischen Richtungswechsel wird es praktisch nicht geben, da die USA auf ihre wirtschaftlichen Interessen achten werden. Und das Fehlen einer wirklichen Demokratie in Mexiko interessiert die USA zumindest zur Zeit nicht, nicht einmal die gravierenden Menschenrechtsverletzungen.
Das Freihandelsabkommen wird für das Land andere Veränderungen bringen, vor allem wirtschaftliche und juristische. In wirtschaftlicher Hinsicht wird sich die Handelsbilanz nachteilig verändern und die Arbeitslosigkeit verstärken, wodurch der informelle Sektor weiter anwachsen wird. In Sachen Justiz werden die Veränderungen sehr wichtig sein, da das mexikanische Recht dem kanadischen und US-amerikanischen untergeordnet wird. Auf diese Weise kann ein Mexikaner (im wirtschaftspolitischen Bereich, Anm.d.Red.) in Zukunft seine Konflikte vor den Gerichten dieser beiden Länder schlichten lassen und so die sehr schlechte mexikanische Justiz übergehen.

In welcher Weise kontrolliert die Regierung die Opposition? In welcher Weise wird sie vereinnahmt?
Die Regierung charakterisiert sich durch ihr Bemühen, sozialen Protest über die Kontrolle der institutionellen Organe zu vereinnahmen. Daher wurde zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode das Nationale Solidaritätsprogramm (PRONASOL) geschaffen, das wie CARITAS oder eine Einrichtung für das öffentliche Wohl wirkt, aber letztendlich Wahlziele (für die PRI, Anm. d. Red.) verfolgt. Doch selbst die Studien von PRONASOL verdeutlichen, wie schwierig es für die Regierung ist, den Unmut in der Bevölkerung abzubauen.
Die Kontrolle über die politischen Parteien ist zudem komplett, nicht zuletzt wegen der jüngsten Wahlreform, die Parteikoalitionen verbietet. Diese Wahlreform begünstigt die PRI, die auch, wenn Unvorgesehenes eintreten sollte, die Wahlgerichte kontrolliert, da diese dem Innenministerium unterstellt sind. Mensch kann sagen, daß, wenn Wahlbetrug notwendig werden sollte, dieser wie bisher auch ohne Schwierigkeiten und ohne Verstösse gegen geltendes Recht stattfinden kann.

Innerhalb der mexikanischen Regierung scheinen Veränderungen stattgefunden zu haben, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in Chiapas stehen. So wurde beispielsweise als neuer Innenminister Jorge Carpizo ernannt, der vormals Vorsitzender der CNDH war. Gleichzeitig wurde Camacho Solís, der dem linken Flügel der PRI angehört, als Emissär nach Chiapas entsandt. Welche Bedeutung haben diese Veränderungen? Könnten sie zu einer Demokratisierung führen?
Im allgemeinen wurden die Veränderungen, die zur Ernennung von Jorge Carpizo geführt haben, sehr begrüßt. Insgesamt scheint jedoch die Regierung mit Ausnahme von Camacho über keine guten Politiker zu verfügen. Jorge Carpizo ist ein sehr schlechter politischer Unterhändler, wie er bewiesen hat, als er Rektor der UNAM (Nationalen Autonomen Universität von Mexiko in Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.) war. Er ist hervorragend, um die Korruption aufzudecken und um auf die Schlechtigkeiten des Systems hinzuweisen, aber dann trägt er zu nichts Nützlichem bei, da er sich zurückzieht und sich dem System anpaßt, das ihn begünstigt. So war es, als er Präsident der CNDH und der Bundesstaatsanwaltschaft war: in letzterer Funktion brachte er in Mexiko das Corcuera Gesetz ein, das ja sehr kritisiert wurde.

Was beinhaltet dieses Gesetz?
Dieses Gesetz ermächtigt das Innenministerium (ministerio público), das über der Justizpolizei steht, in schweren Fällen oder in solchen, wenn es kein Gericht in der Nähe gibt, Haftbefehle und Hausdurchsuchungsbefehle zu erlassen. Darüber hinaus ermöglicht es, MexikanerInnen und AusländerInnen bis zu 96 Stunden ohne gerichtliche Genehmigung in Haft nehmen zu können.

Was ist die Regierungsstrategie, um die Probleme in der Region zu lösen und den Konflikt zu beenden?
Zunächst setzte die Regierung nur auf Repression und entsandte deswegen Truppen dorthin.
Danach bildete sie einen runden Tisch, um eine Lösung für die sozialen Probleme der Region zu suchen. An diesen runden Tisch wurden Vertreter des Verteidigungs-, Sozial-, und Innenministeriums und der Bundesstaatsanwaltschaft berufen.
Wie man sieht, handelt es sich hier – mit Ausnahme des Sozialministeriums – um eine Repressionsrunde. Es gibt bis jetzt keinen tiefgreifenden Vorschlag. Zum Beispiel müßte eine echte Agrarreform in Chiapas durchgeführt werden, die die Indiogemeinschaften und generell die Bauern begünstigt. Es muß eine politische Initiative unternommen werden, mit dem Ziel, die Ethnien anzuerkennen, mehr Selbstbestimmung und politische Partizipation einzuräumen. Ihnen muß ein Minderheitenvotum bei allen lokalen und bundesstaatlichen Regierungsentscheidungen ermöglicht werden. Und es muß eine tiefgreifende Sozialreform begonnen werden, die ihnen die minimalen sozialen Dienstleistungen (Trinkwasser, Strom, medizinische Versorgung, Schulen usw.) garantiert. Nichts von dem wird jedoch gemacht, da die Haushaltsmittel in die Präsidentschaftswahlkampagne fließen werden, und weil solche Reformen dem neoliberalen Kurs der Regierung widersprechen. Hier sagt man, daß zuerst Reichtum geschaffen werden muß, damit die Reichen den Armen gegenüber wohltätig sein können. Dies ist absurd.

Es bleibt nur eine Alternative: Lula

ALAI: Wieder wird Brasi­lien von Korruptionsge­schichten erschüttert, diesmal sind Parlamenta­rier darin ver­wickelt. Wo­hin kann all dies füh­ren?
L.E. Greenhalgh: Die Lage im Land ist sehr ernst, wir sind in einer Sackgasse. Die Korruption hat mit der Absetzung von Collor nicht aufgehört, sondern ist noch schlimmer geworden, nachdem nun auch Parlamentarier und Richter in Verdacht gekommen sind.
Das Land ist gelähmt, und alle Blicke sind nur auf die Korruptionsskandale gerichtet. Die Regierung regiert schon nicht mehr, die Streitkräfte tun so, als sei nichts, das Parlament verabschiedet keine Gesetze, seit es die Überarbeitung der Verfassung unterbrochen hat, die Justiz erfüllt ihre Funktion nicht mehr, und das Volk ist empört. Das alles hat eine politische Si­tuation geschaffen, die den Zeitplan für die Verfassungsreform durcheinanderge­bracht hat. Es gibt möglicherweise vorge­zogene Wahlen, und man kann auch Putschpläne nicht mehr ganz ausschlies­sen.

Präsident Itamar Franco persönlich hat geklagt, auf ihn werde Druck aus­geübt, einen Staatsstreich nach Fujimori-Art durch­zuführen. Wie wahrscheinlich er­scheint Ihnen eine solche Entwick­lung?
Hätte Itamar die politische Macht, hätte er bereits den Kongress geschlossen und einen Staatsstreich wie Fujimori gemacht, aber er hat keine Macht. Er wurde Präsi­dent, weil Collor abgesetzt wurde, er­nannte Männer mit guten Absichten zu Ministern, aber die Regierung bewegt nichts, diese Leute treten auf, reden viel, aber sie tun nichts. Zum Beispiel der Fi­nanzminister ist ein angesehener Mann, der sich hier verausgabt, denn das brasi­lianische Volk möchte, daß die Inflation von monatlich 40 Prozent gestoppt wird, aber das schafft er nicht. Hätte er die In­flation eingedämmt, wäre die Regierung Itamars aus dem Skandal im Parlament gestärkt hervorgegangen, aber da er es nicht konnte, haben sie keine politische Kraft und können keinen Putsch à la Fu­jimori wagen.
Meiner Ansicht nach gibt es in Brasilien nur eine Alternative: die von Lula, die im Aufbau eines demokratischen Gemeinwe­sens besteht, mit dem Wirtschaft und Po­litik gesunden können. Es wird keine linke Regierung, keine sozialistisch-revolutio­näre, aber es wird eine revolutionäre Re­gierung in Bezug auf die Lage, in der Bra­silien sich befindet. Eine Regierung, die die Agrarreform im Griff hat, den Reich­sten Steuern auferlegen kann, die Straflo­sigkeit beendet, Ausbildung und Gesund­heitsversorgung verbessert und ein wenig die Inflation kontrollieren kann. Wenn das alles in Brasilien geschieht, können wir schon von einer Revolution sprechen: Für Brasilien gibt es keine an­dere Möglich­keit, es gibt nur eine, und das ist Lula.

Seit einiger Zeit scheint es, als ob in einigen Staaten separatistische Be­wegungen an Bedeutung gewinnen…
Meiner Meinung nach ist diese Welle von separatistischen Bewegungen in der Welt eine der Folgen des Endes des Kalten Krieges. Die Erde war lange in zwei Lager gespalten mit dem Ost-West-Konflikt. Aber nachdem diese Polarisierung ver­schwunden ist, verlagern sich die Ge­wichte auf die Regionen, und nun sehen wir die separatistischen Bewegungen mitten in Europa aufkommen und ebenso in Südamerika, in Brasilien, in Argenti­nien, in Chile. Ich glaube, daß das Ende der Bipolarität der Welt die regionale Bi­polarität hervorgebracht hat.
Darüber hinaus gibt es in Brasilien wirt­schaftliche Bedingungen, die die separati­stischen Bewegungen besonders im Süden des Landes fördern, denn die brasiliani­sche Wirtschaft spielt sich größtenteils im Süden ab. Und da entsteht ein Gefühl, daß der Süden dafür arbeitet, die Last des gan­zen Landes zu tragen und daß das nicht gerecht ist; sie denken, daß sie weiter entwickelt sein könnten, wenn es nicht die große Asymmetrie zwischen dem Norden und besonders dem Nordwesten und dem Süden gäbe.
Die Situation verschärft sich, denn die Regierung kann nicht damit umgehen. Sie möchte das Gesetz über die Nationale Si­cherheit umarbeiten, um es auf die Führer der Separatistenbewegungen anwenden zu können. Wenn sie dieses Gesetz anwen­den können, kann die Regierung solche Gruppen politisch verfolgen. Die Regie­rung von Itamar ist eine dumme Regie­rung. Ich glaube, wenn Brasilien seine “finanzielle Gesundheit” verbessert, dann werden diese Bewegungen wieder an Be­deutung verlieren.
So unglaublich es klingt, aber Lula ist eine der ganz wenigen Personen, die die mora­lische Autorität besitzen, das Land zu einen auf der Basis einer Zukunftspla­nung, und damit wird er die nationale Einheit fördern.

In Bezug auf Amazonien hört man, daß es einen Plan geben soll, die bra­silianische Armee zurück­zuziehen, um eine interna­tionale Kontrolle dieser Re­gion einzurich­ten. Wie steht die PT dazu?
Ein Hauptpunkt in den Gesprächen der PT mit den Militärs wird Amazonien sein und besonders das Projekt Calha Norte [Calha Norte war ursprünglich ein militärisches Projekt zur Sicherung der Grenze Amazo­niens; s. LN 180.], nicht, um etwas mit den Militärs auszuhandeln, sondern um einen Dialog über ihre mögliche Rolle in einer demokratischen, an den Interessen des Volkes orientierten Regierung zu be­ginnen.
Die PT und die Militärs haben seit jeher sehr verschiedene Grundauffassungen. Die PT wurde während der Militärregie­rung verfolgt. Im Demokratisierungspro­zeß haben die Militärs nie das Gespräch mit der PT gesucht. Jetzt wollen die Mili­tärs mit der PT sprechen, denn es besteht eine reale Möglichkeit, daß wir die Regie­rung stellen. Die Militärs erkennen an, daß die PT die einzige Partei mit einem Pro­gramm ist, das einen Ausweg für Brasilien aufzeigt. Deshalb versuchen beide Seiten, sich gegenseitig ernstzunehmen.
Außerdem reden wir mit den Militärs, um zu wissen, was ihre Vorstellungen und Schwerpunkte sind. Ihr erster Schwer­punkt, so sagen sie, ist die Professionali­sierung der Armee, die nie stattgefunden hat, da die Regierungen dafür keinen Etat hatten. Sie sagen, daß jedenfalls theore­tisch die Streitkräfte umso weiter von der Politik entfernt sind, je professionalisierter sie sind.
Ihre zweite Aufgabe ist die Verteidigung des nationalen Territoriums und der Gren­zen. Die Doktrin der Nationalen Sicher­heit, die einen äußeren und einen natürli­chen inneren Feind voraussetzt, ist über­holt. Deshalb sind die Militärs anderer Meinung wie Brizola, der möchte, daß die Militärs den Drogenhandel bekämpfen. Nach Ansicht der Militärs ist das Sache der Polizei, der Militärpolizei und der Mi­lizen, und nicht der Armee. Sie wollen keine Außenstelle des Pentagons oder des US-Heeres sein.
Außerdem ist ihnen die Notwendigkeit bewußt, das nationale Territorium in Amazonien zu erhalten. In diesem Sinne wollen sie das Projekt Calha Norte disku­tieren. Die Gespräche laufen gut, wir re­spektieren uns gegenseitig, wir reden frei, klar und ohne Angst, damit sie wissen, was wir von ihnen erwarten, und sie von uns.
Vom Standpunkt der nationalistischen In­teressen Brasiliens aus werden wir das Projekt Calha Norte unterstützen, soweit es die Erhaltung Amazoniens beinhaltet, jedoch mit einigen Einschränkungen.

Welche sind die Einschrän­kungen? Was zum Beispiel sagen Sie zu der Kon­trolle der Bevölkerung, die die­ser Plan enthält?
Unsere Einwände betreffen die sozialen Auswirkungen. Wir haben uns schon aus­gesprochen gegen ACISO (Acción Civica Social), mit deren Hilfe ganze Gemein­schaften unterdrückt und kontrolliert wur­den. Wir wollen die Verteidigung der Grenzen, die Verteidigung der territorialen Integrität Amazoniens als Teil Brasiliens.

Heißt das, Sie würden die Freizü­gigkeit der indigenen Bevölkerung re­spektieren, denn es gibt ja Völker wie die Ya­nomami, deren Gebiet bis nach Venezuela reicht…
Das Territorium der Indígenas gehört ih­nen, in dieser Hinsicht ist die Staatsgrenze eine Fiktion. Eine Regierung Lula würde die Grenzen im indigenen Territorium nicht festlegen, im Interesse der Einheit der indigenen Nation. Es entsteht auch ein Dialog zwischen den Indígenas und den Militärs, denn die Militärs beklagen sich, daß sie keinen Zugang zur Staatsgrenze haben, die zu schützen ihre Aufgabe ist, weil sie auf Stammesterritorium liegt. Wir ermöglichen Verhandlungen, ziehen auch CIMI und CNBB hinzu und das Justizmi­nisterium, damit die Militärs das Gebiet nicht besetzen, sondern das Gebiet nur betreten und durchqueren im Interesse der Verteidigung, ohne die Lebensweise und die Bräuche der Indígenas zu stören.

Sprechen wir von den an­stehenden Wahlen. Wie ste­hen Sie diesem Pro­zeß des Bündnisses gegenüber?
Es gibt eine Meinungsverschiedenheit in­nerhalb der PT darüber, ob das Bündnis die PSDB (Partido Social Democrático de Brasil) miteinbeziehen soll oder nicht: 40 Prozent unserer Partei ist der Meinung, daß die PSDB nicht Teil des Bündnisses sein darf. 60 Prozent dagegen meint, daß das Bündnis auch die PSDB umfassen sollte und einige Teile der PMDB. Das ist die offizielle Position unserer Partei.
Das Problem ist, daß die PSDB “eine schwierige Liebe” ist. Sie erklären sich, zeigen Ihre Absichten, möchten mit ihr reden, verhandeln und sie bei der Hand nehmen, und die PSDB will nicht, ist Jungfrau und Puritanerin und sträubt sich. Also wäre es sehr kompliziert, müßte Lula als potentieller Wahlsieger weiterhin die PSDB umwerben, die sich ihrerseits nicht entscheidet. Die Haltung der PT ist fol­gende: Wir bleiben weiterhin mit der PSDB im Bündnis, wenn es jedoch nicht hält, ist das nicht die Schuld der PT son­dern der PSDB.
Die PSDB hat keine Massenbasis aber sie hat Führungskräfte. Die PT hat eine Mas­senbasis, jedoch nur wenige Kader; also könnten wir uns zusammentun, was einen Machtwechsel in Brasilien garantieren würde. Mit Lula an der Spitze und einem der PSDB als Stellvertreter können wir im ersten Wahlgang diese Wahlen gewinnen, aber die PSDB macht alles kompliziert.

Worauf ist es zurückzufüh­ren, daß sich die Glaub­würdigkeit nun im Bereich der Zivilgesellschaft be­findet?
Es ist in Brasilien nichts Neues, daß die Zivilgesellschaft glaubwürdig ist, das war schon immer so. In der Zeit der Militär­diktatur gab es zwei politische Parteien, die eine war Instrument der Diktatur und hieß ARENA, die andere, die MDB, war in der Oppositon, d.h. die Diktatur ließ sie Opposition sein.
Wir sagten im Scherz, der Unterschied zwischen den beiden Parteien bestehe darin, daß die ARENA “Ja, mein Herr” und die MDB nur “Ja” sage. Aber wer das Land aus der Diktatur herausholte, das war das Volk, die Zivilgesellschaft, die StudentInnen, die Menschenrechtsorgani­sationen, etc..
Der erste große Kampf, der gegen die Diktatur geführt wurde, war der Kampf für die Amnestie. Und der wurde nicht von den Parteien ausgelöst, sondern von Persönlichkeiten und von der organisier­ten Zivilgesellschaft. Danach, mit Einset­zen der Amnestie, betreten die politischen Parteien die Szenerie und fangen dort wieder an, wo sie vor dem Militärregime aufgehört hatten. Die einzige Neuerschei­nung ist die PT.
Nachdem sich die Parteien rekonstruiert hatten, waren Direktwahlen für die Prä­sidentschaft notwendig. Wer macht die Wahlkampagne für die Direktwahlen? Die Parteien und die Zivilgesellschaft. Danach kommt die verfassungsgebende Ver­sammlung, die Parteien wählten ihre Ab­geordneten, aber es war die Zivilgesell­schaft, die die Anträge für die Verfassung einreichte. Anschließend fand die Kampa­gne gegen Collor statt. Wer die Kampagne zu seiner Entlassung veranlaßte, war die Zivilgesellschaft. Und erst danach stiegen die Parteien mit ein.
Also hat die Zivilgesellschaft in Brasilien eine herausragende Position. Heutzutage, da sich das Land in einem Zustand der Auflösung befindet ist die Kampagne ge­gen den Hunger das einzige, was sich be­wegt. Sie wird zwar von der Regierung unterstützt, aber von der Zivilgesellschaft getragen. Diese Kampagne, die von Be­tinho angeführt wird, bezieht den Bürger und die Bürgerin als politisches Wesen mit ein. Sie ist die einzige zur Zeit ernst­zunehmende Bewegung in Brasilien.
Es gibt Komitees gegen den Hunger in Stadtvierteln, Gemeinden und Regionen. In einer gemeinsamen Organisation wäre dies die größte Volksmacht, die es in un­serem Land je gegeben hat. Betinho ist ein guter Drahtzieher für die Kampagne, aber ein schlechter Organisator. Wenn er ein guter Organisator wäre, würde er als Er­gebnis der Kampage gegen den Hunger die größte Volksmacht in Brasilien auf­bauen.
Aber außerdem existieren noch andere Komitees, für Ethik, StaatsbürgerInnen, BürgerInnenrechte … wir arbeiten am Konzept des Staatsbürgers und der Staats­bürgerin. Gegen Ende der Diktatur in Bra­silien setzten wir uns für Menschenrechte ein. Aber die Charta der Vereinten Natio­nen spricht nur von individuellen Men­schenrechten. Wir müssen damit begin­nen, die kollektiven, kommunalen und Gruppenmenschenrechte einzufordern, wie zum Beispiel das Recht auf Wohnung, auf Erziehung und Gesundheit. Bald wer­den wir erreichen, daß diese Rechte in der Bundesverfassung verankert sind. Dann muß die Bevölkerung die Verfassung in die Hand nehmen und sagen: Wir sind brasilianische StaatsbürgerInnen, und hier haben wir unsere Rechte. Dieses ist der beste Abwehrmechnanismus gegen einen Putschversuch und die beste Garantie für den Demokratisierungsprozeß.

Ein Neuer bei Interpol

Während der Regierung Allende genoß Mery noch den Ruf, der Unidad Popular nahezustehen. Mit dem Putsch aber scheinen sich für ihn die Zeiten gewandelt zu haben. VertreterInnen chilenischer Menschenrechtsorganisationen und ehemalige politische Gefangene geben an, Mery sei eine der Schlüsselfiguren für die Organisation der Repression in der Region Linares gewesen, deren Kriminalpolizei er seinerzeit leitete.

Merys Grill

In dieser Position organisierte er im Verbund mit der berüchtigten Geheimpolizei DINA und dem militärischen Geheimdienst SIM die Verhaftung von GewerkschafterInnen und Linken, die dann in den Kellern der Artillerieschule von Linares inhaftiert wurden. Seine Beteiligung an den Folterungen wurde bereits in der Ende 1992 herausgegebenen Dokumentation “Labradores de la esperanza” des CODEPU (Comité de defensa de los derechos del pueblo) benannt und wird nun unter dem Titel “Merys Grill” erneut in der September-Ausgabe der Zeitschrift “Punto Final” herausgestellt.
In den meisten Berichten der Opfer wird Mery nicht als der unmittelbare Folterer bezeichnet. Er bestimmte, wer verhaftet und wer gefoltert wurde. Im Zusammenhang mit den Folterungen selbst nahm er vor allem die Rolle des “Guten” ein, der selbst keine Gewalt anwendete, sondern nach der Folter den Weg zur Kooperation und zur Aussage ebnen sollte. “Mery war der Ideologe während der Folter und des Verhörs. Er war immer vor dem Folterraum, aber er entschied, wann der Zeitpunkt gekommen war, an dem die Folter beendet und die Kooperation versucht wurde”, so Solidia Leiva von der Vereinigung der Familienangehörigen von Verschwundenen. Silvia Sepúlveda, in den 70er Jahren Vorsitzende der Bauerngewerkschaft Luciano Cruz und in Linares gefangen und gefoltert, beschreibt, daß Mery den Gefangenen klarzumachen versuchte, Schweigen sei sinnlos. “Mery hat mir gesagt, ich solle alles sagen, was ich weiß, dann würde ich schnell freigelassen.”
Frau Sepúlveda berichtet weiter, sie habe gesehen, wie Mery den Gefangenen Alejandro Mella dazu bringen wollte, eine Erklärung über seine Freilassung zu unterschreiben. Gefangene, die eine solche Erklärung unterschrieben, wurden häufig sofort danach umgebracht. Derartige Dokumente gehörten ins feste Repertoire des Verschwindenlassens: So konnte die Polizei ihre Hände in Unschuld waschen, da sie nachweisen konnte, den Gefangenen freigelassen zu haben.

Ahnungslose Interpol?

Sicher kann man nicht annehmen, daß sämtliche Delegierte der Interpol-Generalversammlung über die Rolle des chilenischen Kripo-Chefs informiert waren. Kein Grund allerdings, gegenüber einem Sicherheitsbeamten aus der Zeit der chilenischen Diktatur nicht generell vorsichtig zu sein. In einer Organisation, die sich in Artikel 2 ihrer Statuten ausdrücklich auf die Erklärung der Menschenrechte bezieht, ist eine solche Wahl mehr als eine Kleinigkeit.
Die Versuche, Folterer und andere Verantwortliche für schwerste Menschenrechtsverletzungen durch Amnestien vor einer Verurteilung zu bewahren, das Beharren der Militärs auf einer Teilhabe an der Macht im Land, sind in allen seriösen Zeitungen nachzulesen. Mit der Wahl Mery Figueroas in eine Schlüsselposition beteiligt sich die Interpol-Generalversammlung an der nachträglichen Rechtfertigung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur.
Die nach Kontinenten gewählten Delegierten sollen vor allem die polizeiliche Zusammenarbeit in ihrer Region fördern – ein Vorhaben, das Interpol seit den 80er Jahren verstärkt betreibt. Als einer der zwei Delegierten für Amerika im Exekutivkomitee übernimmt Mery eine bedeutende Position in der einzigen weltweiten Polizeiorganisation, der mittlerweile über 170 Länder angehören. Das Exekutivkomitee von Interpol hat die Aufgabe, die Arbeit des Generalsekretariats in Lyon zu überwachen. Mery dürfte dafür kaum der geeignete Mann sein, denn auch unabhängig von seiner Rolle während der Militärdiktatur des Generals Pinochet hätte der chilenische Kripo-Chef bei den Herren von Interpol auf gesteigertes Interesse stoßen müssen. So veröffentlichte z.B. die chilenische Zeitschrift “Apsi” in ihrer Ausgabe vom 21.9.92 einen längeren Bericht über den Drogenhandel in Chile. Darin findet sich ein Foto, das ihn in freundlicher Begrüßungsszene mit Cabro Carrera zeigt. Der Handschlag der beiden, so betont das Blatt, sei keineswegs ein Einzelfall gewesen. Carreras Name steht in Chile für Drogenhandel, illegales Glücksspiel und andere Dinge, die Hans-Ludwig Zachert, Präsident des BKA und ebenfalls neu gekürtes Mitglied des Interpol-Exekutivkomitees, hierzulande sonst als “organisierte Kriminalität” bezeichnet.

Bearb. Vorabdruck aus “Bürgerrechte und Polizei/CILIP”, Nr.46 (3/93)

Feminismus -heraus aus dem Untergrund

LN: Welche Frauengruppen bereiten das VI. Frauentreffen vor und wer wird daran teilnehmen?
Mercedes Cañas: An der Vorbereitung sind verschiedene Gruppen beteiligt, in erster Linie die “Concertación (Zusammenschluss) für Frieden, Würde und Gleichheit”. Die “Concertación” wurde 1990 von Frauen aus EI Salvador gegründet, die an dem V. Treffen in Argentinien teilgenommen hatten. Wir suchten eine Alternative zu der herkömmlichen Frauenpolitik, die immer der Parteilinie und den Klasseninteressen untergeordnet war. Dagegen sind frauenspezifische Forderungen Schwerpunkt unserer Politik.
Wir möchten, daß die Frauen, die an dem Treffen teilnehmen, sich mit der feministischen Bewegung auseinandersetzen, sich gegen jede Form der Frauendiskriminierung und des Rassismus wenden und die Teilnahme am Treffen als Teil ihres Kampfes begreifen. Sie sollten die zentralen Ansichten der Feministinnen teilen.

Wenn nur Frauengruppen teilnehmen, die sich als feministisch begreifen,
schließt das nicht viele Frauen aus? Es nehmen keine Gruppen oder Organisationen teil. Bei einem feministischen Treffen ist die Teilnahme individuell. Jede Frau übernimmt für sich selbst die Verantwortung. Für den Feminismus einzutreten, heißt, sich ganz persönlich einzulassen.
Wir haben alle Frauengruppen angesprochen, auch solche, die sich nicht feministisch begreifen, denn in jeder gibt es Feministinnen, Natürlich wissen wir, daß viele Frauen sich noch nicht darüber klar sind, was Feminismus bedeutet; einige Frauen fühlen sich auch nicht als Feministinnen, und trotzdem nähern sie sich jeden Tag mehr an. Wir wollen, daß diese Frauen am Treffen teilnehmen.

Es gibt Kritik an der Organisation, zum Beispiel wegen der Teilnehmerinnenbegrenzung.
Wir bereiten ein Treffen für 1000 Frauen vor. Unsere Vorbereitungsgruppe der Frauen aus Zentralamerika hat sich für diese Teilnahmebegrenzung entschlossen, weil wir wollen, daß das Treffen effektiv verläuft.
In Argentinien kamen ungefähr 2500 Frauen; hinterher hieß es “Das Treffen des Nichttreffens” (siehe auch LN 199). Über 600 Argentinierinnen und Ca. 200 Frauen aus Uruguay nahmen teil. Das war kein lateinamerikanisches und karibisches Frauentreffen mehr, sondern ein südamerikanisches, an dem sich einige Frauen aus anderen Ländern beteiligten. Darum haben wir entschieden, für jedes Land eine Teilnehmerinnenbegrenzung zu setzen.

Ihr nennt Euch “Zentrum für feministische Studien” (CEF). Bedeutet nicht der Begriff Feminismus an sich schon eine Provokation, auch für viele Frauen?
Die feministische Bewegung in E1 Salvador ist noch sehr jung und entsprechend klein. Es gibt erst wenige Frauen, die wissen, was Feminismus heißt. Doch je länger wir den Feminismus im Untergrund halten, um so weniger lernen die Frauen ihn kennen. Für uns ist der Feminismus eine politische Option. So wie andere sich Sozialistinnen, Sozialdemokratinnen, Christdemokratinnen oder Nationalistinnen nennen, bezeichnen wir uns als Feministinnen. Und wir haben einen konkreten Vorschlag für die Zukunft. Wir wollen eine Demokratie für alle, und wir fordern von der Gesellschaft, Pluralität und Unterschiedlichkeit zu respektieren.
Das CEF hat eine Reihe von Aktivitäten durchgeführt, zum Beispiel zur selbstbestimmten Mutterschaft oder zur verantwortungsvollen Vaterschaft, damit die Gesellschaft die feministische Ideologie kennenlernt. Aber es gibt immer noch viele Leute, die erschreckt reagieren, die glauben, Feminismus sei Libertinage, sei Lesbianismus. Wir wollen die Gesellschaft mit unseren Vorschlägen vertraut machen. Nur wenn sie uns zuhören, können sie erkennen, daß unsere Vielfalt Freiheit bedeutet.

Wie sieht das Verhältnis zwischen der Frauen und der feministischen Bewegung aus?
Die feministische, die Frauenbewegung insgesamt ist eine der aktivsten Strömungen in unserer Gesellschaft. Und sie zeigt einen größeren Zusammenhalt als andere Bewegungen, trotz der vielen Widersprüche, die existieren. Wir haben einen gemeinsamen Ursprung. In den Frauengruppen haben wir darum gekämpft, die wirtschaftlichen Lebensbedingungen zu verbessern. Aus diesen Gruppen ist die feministische Bewegung entstanden. Das läßt sich nicht so genau abgrenzen, dort sind die Feministinnen und dort nicht. Trotzdem sind beide Bewegungen nicht identisch. Wir Feministinnen haben spezielle Frauenforderungen, z.B. die selbstbestimmte Schwangerschaft, den Kampf gegen Vergewaltigung, gegen Sexismus. Da gibt es Differenzen und Widersprüche.
Oder die Beziehung zu den Lesben. Es gibt in dem Sinn noch keine lesbische Bewegung in E1 Salvador. Aber nach dem Frauentreffen in Nicaragua (siehe LN 215) hat sich ein lesbisches Kollektiv “media luna” (Halbmond) gegründet. Die salvadorianischen Lesben hatten bei dem fünftägigen Treffen in Nicaragua die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen, sich zu identifizieren. Die Lesben sind Teil der feministischen und der Frauenbewegung. Auch wenn sie hier noch keine große Öffentlichkeit haben, und die patriarchalische Ideologie die Gesellschaft noch stark belastet. Doch es passiert etwas, was mich persönlich sehr freut. Das Lesbenkollektiv hat das zweite nationale Frauentreffen, das im Juli stattfand, mit vorbereitet und sich mit verschiedenen Aktivitäten in der Öffentlichkeit präsentiert. Wir haben begonnen, das Recht einzufordern, daß alle Frauen sich öffentlich ausdrücken können.

Wie ist Euer Verhältnis zu den linken Volksorganisationen und zur FMLN?
Ich muß vorausschicken, daß die meisten von uns aus diesem Spektrum kommen. Ich selbst war Militante in einer der FMLN Organisationen. Doch die Mehrheit der Feministinnen hat diese Gruppen verlassen. Ich bin bereits 1990 aus der FMLN ausgetreten, nach 10 Jahren Mitgliedschaft. Als Parteimitglied arbeitete ich in einer Frauengruppe mit. Als ich mehr Autonomie forderte, verweigerte die Partei mir dies. Sie wollten mir meine Schritte immer vorschreiben; das erschwerte mir die Arbeit oft. Mir wurden so Handlungsmöglichkeiten genommen, Türen verschlossen, deshalb dachte ich, es ist besser zu gehen.
Diesen Prozeß haben viele von uns durchgemacht, auch ganze Gruppen wie z.B. die “dignas” (“Mujeres por la dignidad y la vida”, Frauen für die Würde und das Leben), die sich nach schwierigen internen Auseinandersetzungen von der “resistencia nacional” (Nationaler Widerstand, eine der fünf FMLN-Organisationen) löste.
Als wir die Ergebnisse der Friedensverhandlungen lasen, fühlten wir uns hinweggefegt aus der Geschichte, unsere Situation wurde nicht berücksichtigt. Es wurden auch andere Bereiche der Gesellschaft außer acht gelassen, aber wir sind nicht irgendein Bereich, wir sind die Mehrheit der Bevölkerung. Auch im nationalen Wiederaufbauplan, den die FMLN und die Regierung vorlegte, kommen wir nicht vor. Das einzige Mal, wo wir in den Abkommen von New York erwähnt werden, ist bei der Beteiligung an der neuen “Zivilen Nationalpolizei”. Also wir sehen nicht, daß die FMLN unsere Interessen vertritt.

‘Wir sehen nicht, daß die FMLN uns vertritt’

Allerdings will ich nicht übergehen, daß immer mehr Compañeras der FMLN sich mit der Frauenbewegung identifizieren und innerhalb der Partei um ihren Platz in der Hierachie kämpfen und die Interessen der Frauen verteidigen. Zum Beispiel entstand vor gut einem Jahr die Gruppe “Melida Anaya Montes” (MAM), ein Zusammenschuß von Frauen der FPL, die innerhalb ihrer Organisation versuchen, mehr Autonomie zu erlangen und gleichzeitig hinter den Forderungen der feministischen Bewegung stehen.
Die FMLN als politische Partei weist viele Strukturen auf, die sie an anderen Organisationen kritisiert: Hierarchie, autoritäres Verhalten, die Unterordnung von Sektoren, die keine Macht besitzen, obwohl sie vielleicht sogar Mehrheiten in der Bevölkerung stellen.
Während des Krieges verpflichtete die FMLN die Frauenorganisationen, mit denen sie zusammenarbeitete, darauf, ihre Interessen und Forderungen dem revolutionären Prozeß unterzuordnen. Während der Friedensverhandlungen hieß es, nach dem Frieden, jetzt sagen einige, nach den Wahlen ’94, und so wird die Frauenfrage immer vertagt. Doch wir Frauen machen das jetzt nicht mehr mit.

‘Ohne den Krieg könnten wir uns nicht organisieren’

Eine andere Sache ist, daß in der Geschichte E1 Salvadors die FMLN ganz klar eine Alternative zu den traditionellen Bewegungen war. Es muß auch gesehen werden, was die FMLN durch den Kampf in fast 12 Jahren Krieg erreicht hat. Wir wissen, daß es ohne den Krieg keine Möglichkeit gäbe, sich frei zu organisieren. Das ist ein großer Erfolg, Ergebnis des Krieges, dem wir 75.000 Tote und über 10.000Verschwundene geopfert haben. Die Institutionen, die gegründet wurden, zum Beispiel die neue “Zivile Nationalpolizei” (PNC) sind Hoffnungen für die Demokratisierung des Landes, die Verteidigung der Menschenrechte, all das negieren wir nicht. Wir kennen den historischen Prozeß, und wir wissen, welchen Terror wir hinter uns haben.
Doch auch die FMLN hat während des Krieges ihre Macht mißbraucht und in einigen Fällen die Gewehre statt für den Aufbau der Demokratie dazu benutzt, unbequeme Leute zu liquidieren, wie Roque Dalton oder Melida Anaya Montes, aber auch in nicht so bekannten Fällen. Wenn die FMLN sich nicht wirklich verändert in ihrem Denken und ihrer täglichen Politik, könnte sich einiges wiederholen.
Trotzdem finden wir es wichtig, daß die FMLN an den Wahlen teilnimmt; das ist Teil des Demokratisierungsprozesses.Aber wir haben ein kritisches Bewußtsein entwickelt, wir fragen, was ist wirkliche Demokratie.
Das ist meine persönliche Meinung. Es gibt Compañeras, die noch immer in der FMLN sind, die daran glauben, und ich haben keinen Grund, sie zu disqualifizieren.

Letzte Meldung

Anfang Oktober hat die salvadorianische Rechte eine Hetzkampagne gegen das Frauentreffen gestartet. In der rechtsextremen Tageszeitung “Diario de hoy” wurden Anzeigen veröffentlicht, in denen behauptet wird, daß der Kongreß im Auftrag der FMLN stattfände und unmoralisch sei, weil Homosexualität thematisiert wird und und lesbische Frauen nicht von der Teilnahme am Treffen ausgeschlossen werden. Mittlerweile ist die Durchführung des Kongreß gefährdet, da der Besitzer des Tagungshotels in Costa del Sol und umliegende Gästehäuser die Verträge mit der Vorbereitungskoordination gekündigt haben.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Der Militärputsch am 11. September 1973 ist nicht nur ein für die chilenische Geschichte einschneidendes Ereignis, sondern er markiert auch den Beginn für die größte Flucht und Migrationsbewegung in Lateinamerika seit den Unabhängigkeitsbestrebungen Anfang des 19. Jahrhunderts. Schätzungen der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comite de Defensa de los Derechos del Pueblo) zufolge haben in den Jahren nach dem Militärputsch insgesamt 1,6 Millionen ChilenInnen ihre Heimat verlassen, außerdem mehr als 700.000 ArgentinierInnen nach dem Staatsstreich im Jahr 1976. Schließlich folgten die Fluchtbewegungen aus Uruguay und Peru mit jeweils rund 500.000 Menschen.
Das politische Exil hat in den siebziger und achtziger Jahren die lateinamerikanischen Migrationsbewegungen bestimmt. Heute hat die Emigration dagegen ihre eindeutig politische Konnotation verloren. An die Stelle der offenen Gewaltanwendung gegenüber politisch Andersdenkenden ist die Gewalt der neoliberalen Wirtschaftspolitik getreten. Die Menschen fliehen nicht mehr primär vor dem Militärterror und den Todesschwadronen, sondern vor der wirtschaftlichen Verelendung, von der heute bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
In diesem Sinne ist eine klare Trennung in politische Flüchtlinge und die vielfach diskriminierten Armutsflüchtlinge gar nicht möglich und erweist sich als ethnozentrisches und interessengeleitetes Konstrukt.

Deutsch-chilenische Migration

Mit dem Putsch 1973 wurde Deutschland zum Einwanderungsland für exilierte ChilenInnen. Man sollte aber nicht vergessen, daß schon seit der Unabhängigkeit Chiles 1818 immer wieder große Migrationsbewegungen stattgefunden haben, allerdings in umgekehrter Richtung, von Deutschland nach Chile. Zunächst kamen durch die Anwerbung des chilenischen Staates und deutscher Handelsunternehmen zahlreiche deutsche Siedlerfamilien, die das Handwerk in den großen Städten modernisierten und vor allem die IndianerInnengebiete südlich des Flusses BioBio für die Landwirtschaft nutzbar machen sollten.
Seit der chilenischen Staatsgründung hat es fünf große Einwanderungswellen aus Deutschland gegeben: Die erste große Fluchtbewegung erfolgte nach der Revolution von 1848, die zweite nach der Verkündung der Sozialistengesetze unter Bismarck 1878; sie hielt bis Ende der 80er Jahre an. In diesem Jahrhundert löste die Wirtschaftskrise in den 20er Jahren erneut eine große Auswanderungsbewegung aus. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren starken Migration nach Chile. Während das Land zunächst flüchtende NazigegnerInnen und jüdische EmigrantInnen aufnahm, tauchte hier nach dem Krieg eine große Zahl von
SS-Angehörigen und Nazigrößen unter, deren Verbindungen zu den Reichsdeutschen im Süden Chiles seit jeher sehr gut waren.

Exil in der Bundesrepublik

Mit dem Putsch vor zwanzig Jahren wurde nun also das Einwanderungsland Chile über Nacht zum Auswanderungsland. Was hätte sich da mehr angeboten, als Zuflucht in den Herkunftsländern der Vorfahren zu suchen? Doch diese schlossen nach einem ersten Ansturm von Flüchtlingen ihre Botschaften in Santiago (mit Ausnahme Spaniens, das die Einreise ohne Reisepaß und Visa ermöglichte), obwohl die Medien voll von grauenhaften Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Chile waren und internationale Kommissionen zu folgenden Untersuchungsergebnissen kamen: “Die Praktiken der Folter und Hinrichtungen werden derart systematisch angewandt, daß sie an Völkermord grenzen, wie er von den Vereinten Nationen definiert wurde”.
Zwar beschloß das bundesdeutsche Kabinett noch im Oktober, daß den ChilenInnen unbürokratisch geholfen werden sollte, doch schließlich wurde nur die Aufnahme eines Kontingentes von 2.000 ChilenInnen zugesagt. Im Rahmen dieser Quotenregelung durften in die Bundesrepublik aber ausschließlich inhaftierte ChilenInnen einreisen, deren Prozesse bereits abgeschlossen waren und deren Haftstrafen in Landesverweise zwecks Ausreise umgewandelt werden konnten. Aber gerade die Gefangenen ohne rechtskräftiges Urteil waren der Folter und der Gefahr des ‘Verschwindens’ besonders ausgesetzt. Diesen Menschen hätte also besonders geholfen werden müssen.
In der Folge kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen Bundesregierung und einzelnen Bundesländern, als diese ihre Zusage zur Aufnahme der Verfolgten mit den unterschiedlichsten Bedingungen verknüpften. Während das Saarland und Bayern die Aufnahme kategorisch verweigerten, stellte BadenWürttemberg folgende Forderungen: “Die Bundesregierung muß unbedingt sicherstellen, daß von der Aufnahme Angehörige extremistischer und anarchistischer Gruppen und darüberhinaus solche Personen ausgeschlossen sind, deren Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates ist”.
Angesichts dieser Logik, mit der die ChilenInnen als ‘Sicherheitsrisiko’ stigmatisiert wurden, war es dann nur konsequent, daß ein Vertreter des Verfassungsschutzes aus Köln die Sonderkommission der Bundesregierung im November nach Santiago begleitete, um bei der Befragung der Verfolgten anwesend zu sein, was schon damals eine eklatante Verletzung beziehungsweise Nichtbeachtung des Artikels 16 des Grundgesetzes war. Trotz scharfer Proteste von SPD, Diakonischem Werk, Amnesty International und Chile-Komitees kam es zu den Verhören der chilenischen Flüchtlinge in Santiago, und erst nach der Zustimmung des Verfassungsschutzes wurde den ersten 23 ChilenInnen Mitte Dezember 1973 die Ausreise erlaubt.
Angesichts der breiten Debatten über das ‘Sicherheitsrisiko’ und die Übernahme der Kosten für die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge zeigte sich, daß je reicher ein Land ist, desto perfekter auch sein Machtapparat zur Ausgrenzung der Fremden funktioniert.

Koordinierung der Chilesolidarität

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Ineffizienz staatlicher Strukturen kam es bereits Ende 1973 zu einer Koordinierung der ChileKomitees mit Amnesty International, an der sich bereits im Mai 1974 auch die Stiftung Mitbestimmung der Gewerkschaften (heute HansBöcklerStiftung) beteiligte, um den Flüchtlingen über die Vergabe von Stipendien oder Arbeitsverträgen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Viele Gemeinden der Evangelischen Kirche halfen mit Notunterkünften aus, zur Überbrückung wurden Sach und Geldspenden mobilisiert, und die chilenischen Flüchtlinge wurden persönlich betreut und bei ihren Wegen zu den Ämtern begleitet.
Innerhalb weniger Monate wurde so eine effiziente Struktur für verfolgte ChilenInnen errichtet, die nicht unter die Regelungen des staatlichen Kontingentes fielen. In Einzelfällen wandte sich sogar die deutsche Botschaft mit der Bitte um Hilfe an die ChileKoordination. Neben der breit gefächerten praktischen “Integrationsarbeit” leisteten die Komitees vorrangig eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, die die Lage in Chile sowie das Verhalten der Behörden in der Bundesrepublik thematisierte. Ohne diesen Druck, der gemeinsam von Gewerkschaften, Diakonischem Werk, Amnesty International und ChileKomitees ausgeübt wurde, und der eine positive Resonanz in den öffentlichen Medien fand, wäre es sicherlich nicht zur Aufnahme der circa 4.000 Exil-ChilenInnen gekommen, die in den folgenden Jahren Schutz in der Bundesrepublik fanden. Denn nach wie vor mahlten die Mühlen der staatlichen Aufnahmeverfahren – inzwischen in der Kompetenz des Innenministeriums- äußerst langsam.
“Während es in England oder den Niederlanden etwa sechs bis zwölf Wochen dauerte, und manche skandinavischen Staaten in dringenden Fällen innerhalb von Stunden Einreisevisa erteilten, benötigten die deutschen Behörden wegen der eingehenden Sicherheitsprüfungen häufig ein dreiviertel oder gar ein volles Jahr”.
Als Beispiel für den Erfolg der internationalen Öffentlichkeitsarbeit sei an den Fall der Gefangenen Gladys Diaz erinnert, die mehrfach gefoltert und vergewaltigt wurde und tagelang spurlos aus den Gefängnissen verschwand, sowie an die Prozesse der Holzarbeiter von Panguipulli, die für einen nicht nachgewiesenen Überfall auf eine Polizeistation Höchststrafen zu erwarten hatten. In beiden Fällen konnte die Ausreise erwirkt werden.
Im Zentrum der Aktivitäten der privaten bzw. nicht-staatlich organisierten Solidaritätsaktionen stand die Basisarbeit in Komitees und Nicht-Regierungs-Organisationen in den vielfältigsten Formen und auf verschiedensten Ebenen, weniger die Lobby-Arbeit.
Getragen von der Überzeugung einer notwendigen Solidarität mit Verfolgten und dem klaren Feindbild einer Militärdiktatur ist es nach und nach zu einer Übernahme staatlicher Aufgaben durch die Solidaritätsbewegung gekommen, die sich heute unter anderem in dem Nichtvorhandensein offizieller Daten oder einer analytischen, inhaltlich bewertenden Stellungnahme zum chilenischen Exil ausdrückt. Selbst nach ausgiebigen Recherchen war es nicht möglich, offizielle Daten über die chilenischen Flüchtlinge in Deutschland zu erhalten. Zwar gibt es eine allgemeine Bevölkerungsstatistik, die unter anderem auch die Zahl der chilenischen Bürger in Deutschland aufweist. Diese enthält jedoch weder Hinweise auf die Verhältnisse während der Ein und Ausreise, noch gibt sie Aufschluß über die Einreisegründe.
Hochrechnungen chilenischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen ergeben aber eine relativ gleiche Zahl, nämlich ca. 1600 anerkannte politische Flüchtlinge bei einer Gesamtzahl von 6000 chilenischen Staatsbürgern in der Bundesrepublik. Diese Zahl von rund 6000 Flüchtlingen ist weitgehend konstant geblieben, weil die seit 1984 verstärkt einsetzende Rückkehr von Exil-ChilenInnen durch den Zuzug von Familienangehörigen, Studenten oder Arbeitssuchenden ausgeglichen wurde.

Ende des Exils

Mit dem Plebiszit im Jahr 1988, mit dem die chilenische Bevölkerung die Beendigung der Militärregierung und die Rückkehr zu demokratischen Politikformen einleitete, war die politische Begründung des chilenischen Exils nicht mehr gegeben. Die Verteidigung der Menschenrechte muß heute nur noch in Einzelfällen vor Gerichten eingeklagt werden und nur in einigen wenigen Fällen muß die Rückkehr von Flüchtlingen, deren Militärgerichtsprozesse in Chile noch anhängig sind, weiterhin erkämpft werden. Somit kann man sagen, daß das chilenische Exil mit der Regierungsübernahme durch Präsident Aylwin im März 1990 beendet wurde. Heute gilt es, in Chile selbst die psychischen Wunden und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Diktatur zu heilen, beziehungsweise deren menschenrechtsverletzenden Charakter anzuklagen und ihre Ursachen zu beseitigen.

Die Integration

“Das Exil wurde uns mit Gewalt aufgezwungen. Wir wurden gezwungen, unser Land zu verlassen. Es war eine nicht gewollte Erfahrung, eine ungerechte und unendliche Strafe, ohne irgendwelche rechtfertigenden Gründe. Das Exil gehört zu den gravierenden Verletzungen der Menschenrechte des Pinochetregimes”.
In dieser kurzen Aussage wird bereits der zentrale Unterschied benannt, der das Exil von jeder anderen Form der Migration unterscheidet und der das Leben der Menschen als Exilierte grundlegend charakterisiert. Es ist der Gewaltcharakter, der zur Folge hat, daß Menschen aus ihren politischen, beruflichen und familiären Zusammenhängen gerissen werden und sich gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun, oftmals völlig unvorbereitet, in einer völlig fremden Gesellschaft wiederfinden, zu der sie keine Beziehungen haben, deren Menschen in anderen Sozialisationsmustern handeln, von denen sie sich tendenziell ausgeschlossen fühlen; die eine ihnen fremde Sprache spricht und dadurch die Herstellung von normalen Alltagsbeziehungen ungemein erschwert.
Obwohl diese Charakteristika des Exils zunächst alle gleichermaßen betrafen, gab es im Umgang mit den Problemen große Unterschiede, z.B. zwischen jüngeren und älteren Flüchtlingen: Es war erstaunlich, mit welchem Pragmatismus sich erstere in die Universitäten einschrieben, sich um Umschulungen beziehungsweise Lehrberufe bemühten und in kürzester Zeit über das notwendige Beziehungsnetz verfügten, um die Sprache zu lernen und an Gelder heranzukommen.
Frauen haben vielfach, nachdem sie sich in den ersten Jahren total auf den Zusammenhalt der Familien konzentrierten, eigenständige Entwicklungen genommen, sich stark mit den deutschen Sozialisationsmustern auseinandergesetzt und an selbständigen Beziehungen zu deutschen Freundinnen gearbeitet. Viele haben sogar Ausbildungsgänge erfolgreich abgeschlossen, während Männer sich oft, nach den ersten bestätigenden Erfahrungen als Vertreter revolutionärer Bewegungen, in ihrer traditionellen Rolle in Familie und Gesellschaft zu behaupten suchten.
Zudem hat es deutliche Unterschiede im Aufeinanderzugehen zwischen den deutschen, mehrheitlich mittelständisch geprägten Mitgliedern der Solidaritätsbewegung sowie den exilierten ChilenInnen akademisch-mittelständischer oder proletarischer Provenienz gegeben. Besonders im ersten Jahr, als hauptsächlich StudentInnen und AkademikerInnen ankamen, gab es ein unausgesprochenes Einverständnis, sich gegenseitig als gleich anzuerkennen und über die “gemeinsame Sache” zu kommunizieren. In den Folgejahren, als nach und nach immer mehr GewerkschaftsführerInnen und ArbeiterInnen flüchteten, funktionierte dies nicht mehr so bruchlos. Man achtete viel stärker auf Distanz, was für viele chilenische Familien einem zweiten Exil gleichkam, d.h. sie wurden hierdurch tendenziell auf ihre eigenen Familien oder ihre chilenischen Vertretungsorganisationen zurückgeworfen.
Quer durch alle Schichten und Untergruppen des chilenischen Exils läßt sich sagen, daß ein Hauptproblem für viele in den ersten Jahren war, überhaupt zu akzeptieren, daß das Exil möglicherweise von längerer Dauer sein würde. Denn dieses anzuerkennen bedeutet nicht nur, seinem Leben eine andere berufliche und politische Perspektive zu geben, sondern vor allen Dingen zu akzeptieren, daß es “das Modell Chile der Unidad Popular” nicht mehr geben würde. Zur Verhinderung dieses Eingeständnisses wurden alle Energien für die Kontaktpflege mit dem Widerstand in Chile mobilisiert, der Aufbau von Exilvertretungen der Parteien in der Bundesrepublik wurde vorangetrieben, und die deutschen Solidaritätsorganisationen wurden in deren Aktivitäten einbezogen. Vielfach wurden die alten parteipolitischen Rivalitäten im Exil – ohne die Sachzwänge des chilenischen Alltags – erbitterter als im Herkunftsland selbst ausgetragen.
Auch viele Deutsche aus der Solidaritätsbewegung haben sich in diese Auseinandersetzungen – oder waren es Fluchtbewegungen vor der Realität? – einspannen lassen. Es galt die Vision einer utopischen Wirklichkeit in Chile. Aber vielleicht waren dies notwendige Prozesse, um den brutalen Bruch, das Hinausgeschleudertsein aus seinem eigenen Leben, zu verkraften.

Verlust von politischer Identität

Die chilenische Migration wurde fast ausschließlich politisch begründet, das heißt die Ankommenden hatten in Chile viele Jahre ihres Lebens in kollektiven Prozessen nicht nur für einen abstrakten “Neuen Menschen” gekämpft, sondern hatten ihr individuelles Leben stark an gesellschaftliche Veränderungsprozesse geknüpft. Ihr Alltag war – neben dem Beruf und den traditionellen vielfältigen familiären Aktivitäten – geprägt von einer aktiven Suche nach alternativen gesellschaftlichen und politischen Modellen. Diese wurden in den Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, MütterOrganisationen, Jugendverbänden und Parteien gelebt, und zwar desto leidenschaftlicher, je stärker die Außenbedrohung durch die Rechten wurde. Hierdurch ging tendenziell der Blick für die Außenwelt immer mehr verloren, und der Bruch des Exils war um so brutaler.
Über Nacht befand man sich in der reichen deutschen Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus identifiziert wurde und die Wurzeln des Nationalsozialismus noch immer in sich zu tragen schien. Beeinflußt von vielen USMedien, die in Chile stark das Bild von Deutschland geprägt hatten und von dem elitären, geschlossenen Charakter der deutschen Kolonie (Colonia Dignidad), gab es zunächst ein großes Mißtrauen gegenüber dieser deutschen Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung schien zudem nicht opportun, weil die ganze Kraft für die Arbeit dem Widerstand in Chile gewidmet werden sollte.
Schwierigkeiten entstanden auch aus den gegenseitigen Projektionen. Erst heute können uns Vertreter des Exils offen sagen, daß sie schon lange nicht mehr an den Widerstand in Chile geglaubt hatten, aber weil die Deutschen es so haben wollten, sie entsprechende Informationen auf großen Veranstaltungen weitergaben. Jeder hatte seine Funktion in dem Bild, das sich die 68er Generation von einer besseren Gesellschaft gemacht hatte. Die ExilchilenInnen waren greifbare Beweise dafür, daß es MärtyrerInnen und Henker gibt und daß es nur eine Frage von konsequenter Haltung und Informationsmacht ist, diese Bilder in ihrer Ungebrochenheit zu reproduzieren und zu verbreiten.
Damals hat niemand richtig durchschaut, daß der Preis hierfür der Verlust von politischer Identität, Authentizität und Entwicklungsfähigkeit sein würde. So kam es im Laufe der Zeit zu immer ritualisierteren Beziehungen, statischen Bündnissen der verschiedenen Gruppierungen mit “ihrer” Exilgruppe, zu Solidaritätsfesten mit der immer gleichen Musik von “vorher”, den chilenischen Teigtaschen “empanadas” und politischen Diskursen, die durch leere Worthülsen bestimmt waren. Wir haben uns gegenseitig gebraucht, und -oftmals unbewußt- unter dem Deckmantel der Solidarität persönliche Sehnsüchte ausgelebt. In der Idealisierung unserer Zusammengehörigkeit wurden Differenzen überspielt. Zur wirklichen Begegnung kam es auf beiden Seiten oft nicht. Trotz alledem: Diese Zusammentreffen wurden auch gebraucht! Sie waren ein Trost gegen die Individualisierungstendenzen in der deutschen Gesellschaft, die kaum eine familiäre oder politische Kultur des Zusammenseins kennt. Es hat unvergeßliche und intensive gemeinsame Erfahrungen gegeben, Freuden und Ängste, Siege und Niederlagen, Kampf mit Behörden und interkulturellen Austausch, worin alle Beteiligten eng miteinander verbunden waren.
Erst mit der Erfahrung der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Weg des Umgangs miteinander zu finden, konnte die Grundlage der Toleranz gegenüber der anderen Kultur, politischen Haltung oder dem jeweiligen Ethnozentrismus entstehen, zum Beispiel bezüglich der Unterschiedlichkeit der Frauensolidarität dem Machismo gegenüber. In der gegenseitigen Annahme von unterschiedlichen Wertvorstellungen, der Suche nach einer gemeinsamen Ethik haben wir uns Maximen eigenen Verhaltens erarbeitet, die oftmals noch heute Orientierungshilfen darstellen, sowohl für uns hier in der interkulturellen Arbeit gegen Ausgrenzung und Rassimus als auch für manche ChilenInnen, die nach ihrer Rückkehr mit den hier erfahrenen Organisations- und Solidaritätspraktiken ihr neues Arbeits- und Lebensfeld gestalten. Diese Toleranz zuzulassen und anzuerkennen, sowie das, was einmal als total “chilenisch” oder “deutsch” empfunden und eingeordnet wurde, auf dem Hintergrund gemeinsamer Lebensgeschichte politisch neu zu bewerten, ist sicherlich eine der wichtigsten Lehren des chilenischen Exils beziehungsweise der Solidaritätsarbeit.

Sprachverlust bewirkt kulturelle Stagnation

Die große Mehrzahl der chilenischen Flüchtlinge hatte keine Deutschkenntnisse und höchstens relativ schlechte Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Diese “Sprachlosigkeit” hatte eine totale Orientierungslosigkeit in den neuen Verhältnissen zur Folge. Es ist nicht nur das Sozialverhalten in der fremden Gesellschaft, es sind auch die sprachlichen Grenzen, die eine nur funktionale, oberflächliche Beziehung zur Umwelt ermöglichen. So verarmt schließlich das Leben selber und ist nur noch ausgerichtet auf gewohnheitsmäßiges und materielles Bewältigen von Anforderungen.
Die Deutschkurse, die nun in kürzester Zeit von den verschiedenen Sozialdiensten angeboten wurden, sollten nicht nur der Sprachvermittlung dienen, sondern auch auf die jeweilige soziale Situation der Lernenden eingehen. So gab es Gesprächskreise zu Fragen des deutschen Sozialhilferechts, zu spezifischen Frauenthemen, zu Themen der 68er Studentenbewegung etc. Die Resonanz dieser Kursangebote war jedoch relativ schwach, weil die Mehrheit der ChilenInnen mehr über ihre baldige Rückkehr und über Chile nachdenken wollte, als sich mit den Problemen des Hierseins auseinanderzusetzen.
Argumente wie: Deutsch brauche man sowieso nicht mehr nach der Rückkehr nach Chile, oder daß die Kinder in der Familie nur Spanisch lernen sollten, um die chilenische Identität nicht zu verlieren, haben sich zehn bis fünfzehn Jahre lang gehalten. Erst angesichts der baldigen Rückkehr wurde der hieraus resultierende Verlust sozialer Kompetenz deutlich. Die Sehnsucht nach einer Welt, die einerseits vergangen und mit vielen leidvollen Nachrichten verbunden ist, und deren Entwicklung einem andererseits in den vielen Jahren der Abwesenheit fremd geworden ist, hat die vitale, alltägliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Gesellschaft verstellt. Viele ExilchilenInnen waren so, ohne sich dessen bewußt zu sein, zu AnalphabetInnen beider Kulturen geworden.

Die Rückkehr beginnt im Exil

Diese Erkenntnis war es, die das chilenische Exil bereits 1983, zehn Jahre nach seinem Beginn, zu einer breiten, in vielen Städten der Bundesrepublik organisierten RückkehrerInnenarbeit motivierte, die auf der rechtlichen, beruflichen, ökonomischen, sozialen, politischen und psychologischen Ebene gleichzeitig laufen sollte. “Wir verstehen diese Rückkehr der ChilenInnen im Kontext des Kampfes für die Menschenrechte und die Wiederherstellung der Demokratie in unserem Land. Wir sehen sie jedoch auch als persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen oder der jeweiligen Familie”.
Zahlreiche Veranstaltungen wurden seit 1983 zur Vorbereitung der Rückkehr durchgeführt, so Veranstaltungen über spezielle rechtliche Probleme; Informationsveranstaltungen zur aktuellen Situation in Chile und Erfahrungen von Rückkehrern in ihrem Integrationsprozeß; Informationsveranstaltungen über Eingliederungsprobleme in das Erziehungssystem und die Anerkennung von akademischen Titeln und Ausbildungs und Studiengängen.
Kontakte mit Instituten in Chile und anderen Ländern wurden aufgenommen, um die Finanzierung der Rückkehr und der ersten Zeit im Heimatland zu gewährleisten. Aber der wohl wichtigste Inhalt der RückkehrerInnenarbeit war die Begegnung mit anderen Exilierten, die kritische Auseinandersetzung mit sich selber, den eigenen Veränderungsprozessen und der Wiederbegegnung mit Chile über die Erfahrungsberichte der Besuchsreisenden in die Heimat.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Diese letzte Phase, die schon vom Abschiednehmen und der kritischen Auseinandersetzung mit der neuen neoliberalen Wirtschaftspolitik der AylwinRegierung gekennzeichnet war, hat darüber hinaus ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen ChilenInnen und Deutschen geworfen. Weder das HelferInnensyndrom noch die eigene Profilierung mit Hilfe der chilenischen RevolutionärInnen standen mehr zwischen uns, so daß unsere Begegnung auch unter der Perspektive der Beziehungen der Deutschen zu den Fremden thematisiert werden konnte. Schwierigkeiten in der Verständigung, in der Zusammenarbeit, in den Beziehungen, die immer auch Ausdruck von gesellschaftlicher Akzeptanz, Einfühlung und politischer Kultur sind, wurden nunmehr unter dem Blickwinkel des deutschen Dominanzverhaltens und Ethnozentrismus gesehen.
Als VertreterInnen der deutschen Chile-Solidarität mußten wir uns mit dem eigenem Größenwahn und einem idealisierten Selbstbild konfrontieren, das auf der Überhöhung der chilenischen RevolutionärInnen beziehungsweise edlen MärtyrerInnen im Widerstand beruhte. Mit der Idealisierung eines Chilebildes löschten wir jedoch gleichzeitig jene Widersprüchlichkeit des Entwicklungsprozesses aus, mit der wir schon in unserer eigenen Gesellschaft nicht zurecht gekommen waren. Nicht die Probleme mit einem reformistischen Entwicklungsweg, nicht die Ambivalenz der Moderne, die alles Fremde degradiert und tendenziell ausmerzt, waren Inhalte unserer Zusammenarbeit, sondern der strahlende Morgen der Revolution. Es war das Fehlen einer politischen Alternative in Deutschland beziehungsweise die bescheidene Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten politischer Arbeit in Deutschland, die aus dem chilenischen Exil unsere Projektionsfläche machte. Hier haben wir uns getroffen, ChilenInnen und Deutsche, um die Geschichte für einige Jahre anzuhalten.
Die Bilder, die wir uns voneinander machten, waren jedoch nur von kurzer Dauer. Die Solidarität mit Portugal, Argentinien, Uruguay sowie seit Mitte der siebziger Jahre mit Nicaragua und später El Salvador hielt immer neu in Atem, ließ unseren Blick in die Ferne schweifen und die Probleme des chilenischen Exils zum Alltag werden, bis “plötzlich” Themen wie Rassismus und vielfältige Diskriminierungen in diesen Alltag Einzug hielten.
Wir hatten uns in unserer Solidarität menschlich gleichberechtigt gefühlt, aber dies war offensichtlich einseitig gewesen. Nicht nur Behörden hatten gegängelt, sondern chilenische Identität war mit “wohlgemeintem” Integrationsdruck ausgelöscht worden. Je angepaßter die ChilenInnen lebten, desto “erfolgreicher” waren sie. Wer von uns hätte dies vor Hoyerswerda und Rostock so selbstkritisch gesehen? Wer hätte gespürt, daß wir noch immer eine Gesellschaft von ClaqueurInnen sind?
“Es bleibt ein Stachel für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, daß diese politischen Flüchtlinge, die nach der Verfassung bei uns Asyl genießen, sich nicht heimisch fühlen, sich nicht angenommen fühlen konnten in einer Gesellschaft, die gleichzeitig eine Entsorgung der deutschen Geschichte von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit versucht, alten Antisemitismus hochkommen ließ, Fremdenfeindlichkeit mit Parolen wie ‘Asylantenschwemme’ schürte und unter diesem publizistischen und politischen Druck zuließ, daß die Asylgesetze bei uns dramatisch verschärft wurden”.
Anstatt aus unserer Geschichte und aus dem vielfältigen Mißbrauch der Asylgesetzgebung während der Chile-Solidarität zu lernen, vermeiden wir die Auseinandersetzung damit, indem wir sie zu einem “Sicherheitsproblem unserer Gesellschaft” (so Innenminister Seiters in der Asyldebatte im Deutschen Bundestag am 25. Mai 1993) umdefinieren. Das Grundrecht auf Asyl, das von den Gründern der Bundesrepublik angesichts der Erfahrung mit dem Antisemitismus in unser Grundgesetz aufgenommen wurde, ist in den Asyldiskussionen der letzten Jahre zu einer Inszenierung deutscher Dominanzkultur verkommen. Die Festung Europa, das heißt das Schengener Abkommen und die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes, richten Mauern auf, anstatt den Blick frei zu machen auf Prozesse, wie sie angesichts der chilenischen Erfahrung deutlich wurden.

Der obige Artikel erscheint in seiner vollständigen, 26 seitigen Fassung, mit ausführlichem statistischen Material und über die Arbeitsmigration in Chile in einem Reader: Ethnische Minderheiten in Deutschland – ein Handbuch. (Hg.) Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung, Oktober 1993, DM 42,-

Gelingt der Demokratisierungsprozeß?

Lange Zeit sah es so aus, als würde die internationale Solidarität mit Haitis demokratisch gewähltem Präsidenten Aristide sich durch vollmundige Bekundungen und halbherzige Taten auszeichnen. Das Wirtschaftsembargo gegen die Insel, welches die “Organisation Amerikanischer Staaten” (OAS) mit internationaler Billigung nach dem Putsch von General Cédras vom September 1991 verhängte, funktionierte äußerst lückenhaft. Betroffen war in erster Linie die arme Bevölkerung, während der Schmuggel von Luxusgütern und Waffen ziemlich ungehindert vonstatten ging. Das Einfrieren internationaler Kreditprogramme trieb die Inflation in die Höhe und den Staatshaushalt der armen Karibikinsel endgültig in den Ruin.
Wirtschaftliche Not und die Repression durch die Militärdiktatur trieben immer mehr Menschen dazu, Haiti in überfüllten Booten Richtung Nordamerika zu verlassen. US-Präsident Bush reagierte mit einer Seeblockade gegen die “boatpeople”, die sein Nachfolger Bill Clinton entgegen eigenen Wahlversprechen fortsetzte (siehe LN 225).
Der innenpolitische Druck, der in den Vereinigten Staaten angesichts der haitianischen Flüchtlinge entstand, war letztendlich wohl das entscheidende Motiv für die US-Regierung, auf eine Verschärfung der internationalen Sanktionen gegen das Militärregime zu drängen. Nachdem einige Vermittlungsinitiativen von UNO und OAS an der kategorischen Verweigerung der Militärs gescheitert waren (siehe LN 227), zwang erst die Verhängung eines 01-und Waffenembargos durch die UNO am 23. Juni Juntachef Cédras an den Verhandlungstisch.
Hinzu kam, daß die Situation auf Haiti sich im Juni aufgrund des Rücktritts von Premierminister Bazin weiter destabilisiert hatte. Der Zivilist, den die Militärs nach dem Putsch ernannt hatten, legte sein Amt anläßlich eines Streits mit der Junta um eine Kabinettsumbildung nieder. Tiefere Ursache für Bazins Schritt war sicher, daß es ihm nicht gelungen war, die wirtschaftliche Situation in den Griff zu bekommen und Haitis außenpolitische Isolierung zu durchbrechen. Gleichzeitig verstärkten sich auf Haiti die Aktivitäten der Opposition: Um der Forderung nach Aristides Rückkehr Nachdruck zu verleihen, riefen die Gewerkschaften am 24. Juni zu m Generalstreik auf, der in Port-au-Prince weitgehend ‘ befolgt wurde.

Beseitigung der Diktatur durch Verhandlungen?

Ende Juni begannen in New York unter internationaler Vermittlung indirekte Verhandlungen zwischen Aristide und seinen BeraterInnen mit einer Delegation des Militärregimes. Resultat der indirekten Diplomatie von UNO und oAS -die gegnerischen Parteien waren nicht bereit direkt miteinander zu sprechen -war ein Zehn-Punkte Plan, der am 17. Juli unterzeichnet wurde. Das Abkommen sieht die Rückkehr Haitis zur Demokratie binnen sechs Monaten unter Aufsicht von UNO und OAS vor. Kernpunkte sind die Ernennung eines Premiers durch Aristide und dessen Bestätigung durch Senat und Parlament, die Aufhebung des Embargos, die Neustrukturierung von Polizei und Armee und die Rückkehr Aristides zum 30. Oktober. Spätestens dann muß Juntaführer Raoul Cedras einem von Aristide ernannten Armeechef weichen. Gleich-zeitig beinhaltet der Zehn-Punkte-Plan eine Amnestie für alle am Putsch beteiligten Militärs.
Um mit der Verbesserung der katastrophalen wirtschaftlichen Verhältnisse zu beginnen, ist Haiti ein internationales Hilfspaket in Aussicht gestellt worden. So bieten die USA der Insel für den Rest dieses Jahres ungefähr 100 Millionen Dollar an. Laut Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen
NDP) benötigt Haiti in den nächsten 18 Monaten Hilfeleistungen von
mindestens 535 Millionen Dollar. Um den Demokratisierungsprozeß abzusichern, hat Aristide die UNO um die Entsendung eines Kontingents von 500 bis 600Polizeibeamtensowie 550 militärischen Fachleuten gebeten, die bei der Neustrukturierung von Armee und Polizei behilflich sein und auf die Einhaltung der Menschenrechte achten sollen.
– Am 10. August wurde als erster Schritt zur Umsetzung des Abkommens Firmin Jean-Louis von Aristides Nationaler Front für Wandel und Demokratie (FNCD) zum Senatspräsidenten gewählt. Kurze Zeit später bestätigten Senat und Parlament den von Aristide ernannten Robert Malval als Premier. Etliche Abgeordnete machten allerdings keinen Hehl daraus, dies nur in Hinblick auf ein Ende des Embargos zu tun. Dieses ließ dann erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten: Nachdem die Vereinten Nationen am 26. August die Blockade aufgehoben hatten, lief bereits zwei Tage später der erste Öltanker in Port-au-Prince ein.
Sollte es also tatsächlich gelingen, eine Diktatur mit friedlichen Mitteln zur Abdankung zu zwingen -was in der Geschichte des amerikanischen Kontinents ein Novum wäre? Skeptische BeobachterInnen räumen ein, noch sei Aristide nicht nach Haiti zurückgekehrt. Es gibt sogar Stimmen, die meinen, durch die Aufhebung des Embargos sei ein wichtiger Trumpf zu früh aus der Hand gegeben worden. Entsprechend fordern Malval und Aristide, die internationalen Sanktionen sofort wieder in Kraft zu setzen, wenn sich abzeichnet, daß die Militärs den Demokratisierungsprozeß doch torpedieren wollen.
Der Druckereibesitzer Robert Malval ist für Aristide und seine AnhängerInnen ein Kompromißkandidat. Er entstammt der haitianischen Oberschicht, gilt politisch als moderat und ist auch im bürgerlichen Lager anerkannt. Malvals Hauptaufgabe wird darin bestehen, einen friedlichen Übergang zu gewährleisten und die Rückkehr des Präsidenten durch Verhandlungen mit allen Seiten abzusichern. Formale Schikanen bei seiner Bestätigung durch das Parlament haben bereits gezeigt, daß die Abgeordnetenmehrheit vorhat, Malvals Politik so weit wie möglich zu behindern. Im Senat verfügt er nur über die hauchdünne Mehrheit von einer Stimme. Weitere Stolpersteine wird sicher auch die mit Aristide-GegnerInnen durchsetzte staatliche Bürokratie für ihn bereithalten.

Amnestie für Putschisten

Dadurch, daß Aristide eine Amnestie für die Putschisten abgerungen wurde, bleiben diese als Macht- und Unsicherheitsfaktor präsent. Daran wird auch die vorgesehene Umstrukturierung der Armee kaum etwas ändern können. Daß die Militärs auf Haiti nicht daran denken, sich aus der Politik zu verabschieden, demonstriert besonders deutlich Juntachef Raoul Ckdras, der in letzter Zeit häufig in den Medien auftritt und nach seinem Rücktritt die Gründung einer Partei mit dem Namen “Sammlungsbewegung für ein neues Haiti (RPNH) plant.
Die Amnestie für die Putschisten erscheint besonders fatal angesichts der Tatsache, daß seit der Verabschiedung des Zehn-Punkte-Plans die Zahl der Menschenrechtsverletzungen durch Militärs und Todesschwadronen gestiegen ist -und dies trotz der Präsenz von mehr als 200 internationalen BeobachterInnen. Opfer sind in erster Linie BewohnerInnen der Armutsviertel, in denen Aristide besonderen Rückhalt hat. So wurden am 17. August in Pétionville der Pater Yvon Massac und zwei weitere Personen verhaftet, als sie in einer öffentlich angekündigten Aktion Fotos von Aristide und Transparente gegen die Repression plakatierten. Die Festnahmen fanden unter den Augen der internationalen BeobachterInnen statt. Deren Anwesenheit war allerdings sicher auch zu verdanken, daß die Fest-genommenen 72 Stunden später wieder freikamen.
Zur Zeit ist die Unterstützung der Bevölkerung für Aristide sehr stark: Laut BeobachterInnen könnte er, wenn auf Haiti zum jetzigen Zeitpunkt gewählt würde, mit einer überwältigenden Stimmenmehrheit rechnen. Gleichzeitig knüpfen seine AnhängerInnen an Aristides Rückkehr Erwartungen, die dieser in den verbleibenden zwei Jahren Amtszeit auf keinen Fall erfüllen kann. Die Zeit wird nicht reichen, um die Politik zu demokratisieren und die katastrophale Wirtschaftssituation entscheidend zu verbessern -von sozialen Umstrukturierungen ganz zu schweigen. Das, was durch den Zehn-Punkte Plan eingeleitet wurde, sind lediglich Übergangsmaßnahmen. Viel wird davon abhängen, ob die versprochene Hilfe aus dem Ausland tatsächlich fließt oder ob der Präsident, dessen soziale Reformbestrebungen vielen ein Dom im Auge sind, nach Abschluß der formalen Demokratisierung international hängengelassen wird.

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