Wahrheit und Gerechtigkeit – ?Dónde están?

Die “doctrina Aylwin”, die der neue Präsident bald nach Amtsantritt zur Grundlage der Menschenrechtsprozesse erklärte, stellte jedoch das Amnestiegesetz nicht in Frage. Sie schrieb Untersuchungen und Gerichtsverfahren bei darauffolgender Anwendung der Amnestie vor. Schon damals wurde deutlich, daß es keine Gerechtigkeit geben würde. “Wahrheit und Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen” heißt heute die Zauberformel, die einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ermöglichen soll.
In einer Rede an die Nation stellte der Präsident am 3. August einen Gesetzesvorschlag zur Beschleunigung der 183 noch schwebenden Menschenrechtsverfahren vor. “Selbstverständlich wird die von mir vorgeschlagene Lösung nicht alle zufriedenstellen”, bekannte Aylwin. Den Zielen, die das Militär mit seinem “boinazo” vom Mai (vgl. LN 229/3O) anstrebte, kam die ursprüngliche Version der “Ley Aylwin” jedoch fast vollständig entgegen. Auf die Ablehnung der Vorlage durch das Parlament reagierte der Präsident, indem er seinen Entwurf zurückzog, ohne die Stellungnahme im Senat abzuwarten. Die von den Militärs erhoffte erneute Bestätigiung des Amnestiegesetzes von 1978 bleibt so vorerst noch aus.

“Klima der Hexenjagd”

Die Wochen, die der Rede Aylwins vorangingen, waren angefüllt mit Unterredungen zwischen dem Staatsoberhaupt und – zumindest nach der offiziellen Lesart – den wichtigsten an der Menschenrechtsfrage interessierten Gruppen. Besonders den Generälen schenkte der Präsident seine Aufmerksamkeit, während sich die Kommunistische Partei vergeblich um einen Gesprächstermin bemühte. Die Gespräche wurden unter strikter Geheimhaltung geführt, so daß die Gerüchteküche brodelte. Im sicheren Gefühl, mit dem “boinazo” für nachhaltige Verunsicherung gesorgt zu haben, forderte das Militär den “punto final”, die Einstellung aller noch schwebenden Menschenrechtsverfahren. Die einflußreiche rechte Tageszeitung “El Mercurio” meldete, die Regierung denke ernsthaft über einen “punto final” nach. Die Öffentlickeit war auf das Schlimmste vorbereitet, so daß die Aussage Aylwins, diesen niemals zuzulassen, als Standfestigkeit gegenüber den Militärs verkauft werden konnte. Dabei kam das Gesetzesprojekt des Präsidenten einem Zurückweichen auf der ganzen Linie gleich.
Bereits bei der Begründung seiner Initiative machte sich Aylwin die Argumente der Miltärs zu eigen und rechtfertigte damit den “boinazo”. Die schleppende juristische Behandlung der Menschenrechtsverletzungen lasse die nationale Versöhnung nicht zu. Die Vorverurteilung von Militärangehörigen durch die Massenmedien und die öffentliche Meinung habe ein Klima der “Hexenjagd” erzeugt und innerhalb der Streitkräfte zu großer Verunsicherung geführt, die sich schließlich im “boinazo” entladen habe.
Das Interesse der Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen reduzierte Aylwin darauf, den Fundort der Leichen zu ermitteln, um diese dann bestatten zu können. Daß nicht nur die Angehörigen jedoch auch ein Interesse an der öffentlichen Aufklärung der Verbrechen und an einer Bestrafung der Schuldigen haben, verschwieg er. “Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen” bedeutet Leichensuche, um dann endlich die Akten schließen zu können. Der Zynismus dieser Argumentationsweise offenbarte sich vollends darin, daß Aylwin sämtliche Betroffenen dazu aufforderte, sich im Interesse der nationalen Versöhnung in die Lage der Gegenseite zu versetzen. Eine Mutter, die seit fast zwanzig Jahren verzweifelt nach dem Verbleib ihrer Tochter forscht, soll sich also in die Lage eines folternden Militärs versetzen?

Der “punto final” als Alternative zum “punto final”

Zu den wichtigsten Maßnahmen des Gesetzesprojektes gehört die Berufung von SonderrichterInnen, die sich der schwebenden Verfahren annehmen sollen, um sie zu beschleunigen. Um Militärangehörige zur Aussage über den Fundort von Leichen zu bewegen, versprach Aylwin sowohl die Geheimhaltung der Namen als auch der Tatumstände. Nach Ansicht des juristischen Beraters des Präsidenten, Guzmán Vidal, besteht ein moralischer Anreiz für Militärs, an der Aufklärung mitzuarbeiten. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Streitkräfte sei durch Verfehlungen Einzelner untergraben worden. Warum dieselben Militärangehörigen, die die Möglichkeit der anonymen Beichte gegenüber einem Geistlichen nicht wahrgenommen haben, heute ihr Schweigen brechen sollten, bleibt allerdings unklar. Die Geheimhaltung, die Gegenstand des Artikels 3 der “Ley Aylwin” ist, soll gewährleistet werden, indem der Zugang der AnwältInnen von Familienangehörigen zu Zeugenaussagen durch richterliche Entscheidung geregelt wird. Die öffentliche Bekanntgabe dieser Aussagen soll mit Gefängnisstrafe und Entzug der Anwaltslizenz geahndet werden. Dem Anspruch auf eine öffentliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur, der von den Opfern und ihren Angehörigen eingefordert wird, wird diese Beschränkung der Pressefreiheit und die drohende Maßregelung von AnwältInnen jedenfalls nicht gerecht.
Aus Protest gegen die Politik der Regierung riefen Menschenrechtsorganisationen und Angehörige von Verschwundenen zu Protestkundgebungen und Hungerstreiks auf. Unter Berufung auf Gesetze, mit denen unter der Militärdiktatur das Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit eingeschränkt wurde, löste die Polizei Kundgebungen vor dem Präsidentenpalast auf. Wasserwerfer stellten sich protestierenden RentnerInnen entgegen. Infolge des Knüppeleinsatzes wurden mehrere von ihnen verletzt und stundenlang auf Polizeiwachen festgehalten, ohne medizinisch versorgt zu werden. Die Hungerstreiks diffamierte Innenminister Enrique Krauss als “völlig unzulässigen Versuch, die Regierung unter Druck zu setzen”.

“Ley Aylwin” – ein schlampig ausgearbeitetes Projekt

In den Tagen nach der Rede Aylwins wurde vor allem eines klar: Die Gesetzesinitiative war so vage gehalten, daß alle Interessengruppen unterschiedliche Interpretationen anbieten konnten. Das Gesetz sollte eine Gültigkeit von zwei Jahren haben. Unklar blieb jedoch, ob sich diese Zeitspanne auf die Berufung von SonderrichterInnen bezog oder auf die Behandlung der Fälle. Gilt die Zusicherung der Geheimhaltung für alle Aussagen oder nur für verwertbare? Erstreckt sich der “Vertrauensschutz” nur auf ZeugInnen oder auch auf Beschuldigte? Nehmen sich die SonderrichterInnen nur der gegenwärtig 183 unter Zivilgerichtsbarkeit laufenden Fälle an, oder auch der bereits zu den Akten gelegten Altfälle sowie der Verfahren, die die Militärjustiz untersucht? Können Militärrichter Sonderrichter werden? Die Auseinandersetzung, ob die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit angetastet werden soll, hat insofern neue Brisanz erhalten, als Militärrichter Verfahren einstellten, während über das “Ley Aylwin” diskutiert wurde.
Die meisten der 21 Mitglieder des Obersten Gerichts, der “Corte Suprema”, wurde noch unter Pinochet ernannt und machen keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, Chile habe sich in den Jahren nach 1973 im Kriegszustand befunden. Dies dient heute als Begründung dafür, daß Menschenrechtsverfahren zivilen Gerichten entzogen und an Militärtribunale weitergeleitet werden.

Spannungen in der “Concertación”

Unterschiedliche Interpretationen sowie die Tatsache, daß Aylwin dem Parlament seine Gesetzesvorlage mit Dringlichkeit präsentierte, führten zum offenen Konflikt innerhalb der Regierungskoalition, der “Concertación”. Die Sozialistische Partei (PS) und die “Partei für die Demokratie” (PPD) drängten vergeblich darauf, den Beratungszeitraum auszudehnen. Es erregte innerparteiliche Streitigkeiten, daß die VertreterInnen von PS und PPD in der Verfassungskommission des Parlaments gemeinsam mit den ChristdemokratInnen eine leicht modifizierte Gesetzesvorlage verabschiedet hatten. Die vorgenommenen Veränderungen bezogen sich vor allem auf den Geheimhaltungsparagraphen. Diese Modifikationen gingen den Abgeordneten von PS und PPD jedoch nicht weit genug. Als die Vorlage schließlich im Parlament zur Abstimmung gestellt wurde, verweigerten die Abgeordneten von PS und PPD ihre Stimmen. Im ersten Wahlgang, der sich auf das Gesetz als Ganzes bezog, brachte die Christdemokratische Partei (DC) mit den Stimmen der rechten Opposition eine Mehrheit hinter sich. Bei der Abstimmung über die einzelnen Paragraphen der Vorlage wurde hingegen der Artikel 3 über die Geheimhaltung mit den Stimmen von PS und PPD einerseits sowie der Rechten andererseits gekippt.
Abgeordnete der rechten Parteien UDI (Unabhängige Demokratische Union) und RN (Nationale Erneuerung) erklärten ihr widersprüchliches Abstimmungsverhalten damit, daß sie der Beschleunigung der Menschenrechtsverfahren zwar insgesamt positiv gegenüberständen, ein Aufweichen der Geheimhaltungsvorschriften aber als unzumutbar empfänden. Die unzureichende Gewährleistung der Geheimhaltung von Zeugenaussagen behindere die Anwendung des Amnestiegesetzes von 1978, gestand die UDI unverblümt ein. Außerdem sei die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit nur unzureichend abgesichert. Um den Abschluß der Prozesse auch tatsächlich zu beschleunigen, setzte sich die Rechte außerdem dafür ein, Fristen für die einzelnen Bearbeitungsschritte der Nachforschungen zu setzen.
Das politische Kalkül der Rechten, das ihrem Abstimmungsverhalten zugrunde lag, bestand offenbar darin, den Zusammenhalt der “Concertación” zu gefährden. Gemeinsam mit der Rechten die Gesetzesinitiative Aylwins zu Fall gebracht zu haben, trug der PS und der PPD den Vorwurf ein, ihre christdemokratischen RegierungspartnerInnen verraten zu haben.
Im Klima gegenseitiger Schuldzuweisungen kündigte Präsident Aylwin an, dem Senat die ursprüngliche Fassung seiner Gesetzesinitiative vorzulegen. Weite Teile der Rechten, die im Senat die Mehrheit stellt, signalisierten daraufhin ihre Unterstützung. Eine drohende Neuauflage der Allianz von DC und Rechten, die sich bereits 1973 gegen Salvador Allendes Regierung gestellt hatte, brachte sowohl die DC als auch den “sozialistischen” Flügel der “Concertación” in Bedrängnis. Gerade in der sensiblen Frage der Menschenrechte wollten die ChristdemokratInnen unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, den offenen AnhängerInnen der Militärdiktatur nachgegeben zu haben. In dieser Angelegenheit waren PS und PPD jedoch keinesfalls bereit, von ihren Prinzipien abzurücken, zumal sie auch von der linken außerparlamentarischen Opposition unter starken moralischen Druck gesetzt wurden.
Bereits wenige Tage nach der Abstimmung im Parlament versuchten führende Mitglieder der Regierungskoalition, die Wogen zu glätten. Im Bewußtsein der wechselseitigen Abhängigkeit angesichts der im Dezember anstehenden Wahlen beschworen DC, PS und PPD den Zusammenhalt der “Concertación” und kündigten an, die Meinungsverschiedenheiten in koalitionsinternen Verhandlungen beizulegen. Obwohl die Sozialistische Partei auch offiziell von der Unantastbarkeit des Amnestiegesetzes von 1978 ausgeht, kam es zu keiner Einigung, denn die DC war nicht bereit, die im umstrittenen Artikel 3 enthaltenen Geheimhaltungsvorschriften entscheidend zu lockern. Nach einer Reihe von Gesprächen zwischen den Spitzen der Regierungsparteien und dem Präsidenten zog Patricio Aylwin seine Gesetzesinitiative auf unbestimmte Zeit zurück. Innerhalb seiner Amtszeit wird es keinen neuerlichen Versuch geben, den Streit um die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen beizulegen. Menschenrechtsgruppen zweifeln aber an der Bereitschaft und Sensibilität seines designierten Nachfolgers Eduardo Frei, sich des Themas anzunehmen. Trotzdem betrachten die hungerstreikenden Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen das Scheitern des “Ley Aylwin” als Erfolg. Für die Präsidentin des Zusammenschlusses der Angehörigen (AFDD), Sola Sierra, haben “die Prinzipien, die Ethik über den Pragmatismus gesiegt”. Gleichzeitig kündigte sie das Ende des Hungerstreikes an.

“Warum soll es ausgerechnet in Chile Gerechtigkeit geben?”

Nach dem Scheitern des “Ley Aylwin” hat sich zumindest in juristischer Hinsicht die Situation nicht verändert. Auf der politischen Ebene ist hingegen vieles deutlich geworden: Die Bereitschaft der Regierung, dem Militär die Stirn zu bieten, ist immer noch nicht vorhanden. Die Gesetzesinitiative des Präsidenten hat das Amnestiegesetz legitimiert und den “boinazo” vom vergangenen Mai gerechtfertigt. Entgegen früheren Zusagen hat die Regierung darauf verzichtet, alle ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Militär ziviler Kontrolle zu unterstellen. Seit Jahren fordert beispielsweise die Menschenrechtsorganisation CODEPU (Komitee für die Verteidigung der Rechte des Volkes) vergeblich von der Regierung, das umstrittene Amnestiegesetz vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte überprüfen zu lassen. Zumindest die politische Elite des Landes hat sich schon lange damit abgefunden, daß es in Bezug auf die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen keine Gerechtigkeit geben wird. Der Generalsekretär der DC, Genaro Arriagada, gibt offen zu: “In keinem Land der Erde gibt es Gerechtigkeit. Warum soll das ausgerechnet in Chile anders sein?”
Im Interesse der Verbesserung der sogenannten militärisch-zivilen Beziehungen ist die Regierung Aylwin dazu bereit, jede öffentliche Diskussion über die Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Sie betreibt die Individualisierung der Schuldfrage und vermeidet es so, das Militär als Institution für die systematischen Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur verantwortlich zu machen.
Die Macht der Militärs ist im Zuge der Auseinandersetzungen um die “Ley Aylwin” gestärkt worden, denn die Regierung hat unmißverständlich klargemacht, unter allen Umständen einen Konsens mit den Generälen erreichen zu wollen.
Die für das Militär juristisch zufriedenstellende Lösung der Menschenrechtsfrage läßt hingegen weiterhin auf sich warten. Auf die Frage, wie die Regierung auf zukünftige Provokationen des Militärs reagieren werde, antwortet DC-Generalsekretär Arriagada: “Wenn das passiert, dann werden wir weitersehen.” Darüber, ob und wann das Militär die Regierung mit erneuten Machtdemonstrationen wie dem “boinazo” zum Handeln zwingen wird, kann vorerst nur spekuliert werden.

“In einem Land, dessen Wahlen vom Ausland überwacht werden, gibt es keine Demokratie”

LN: Die ARENA-Regierung macht seit vier Jahren eine Politik, die sich gegen die Armen im Land richtet. Wieso gibt es nicht mehr Proteste gegen diese neoliberale Politik?
Dada Hirezi: Weil die Auswirkungen der Regierungspolitik durch andere Faktoren abgefedert werden. Vor allem durch das ganze Geld, das aus dem Ausland kommt. Nach offiziellen Zahlen überweisen die SalvadorianerInnen, die im Ausland leben, jedes Jahr über 900 Millionen Dollar an ihre Familien. Dazu kommt das Geld der Nichtregierungsorganisationen, internationale Hilfsgelder für den Wiederaufbau und die Dollars, die hier “gewaschen” werden. Außerdem erwarten die Menschen eh nichts mehr von der Regierung, die Ermüdung von dem langen Krieg ist ein weiterer Faktor.

Aber während des Krieges war die soziale Bewegung doch auch sehr stark. Die Menschen gingen auf die Straße, obwohl es gefährlich war…
Sie war gar nicht so stark an sich, der Krieg hat ihr Stärke gegeben. Heute fehlt ihr die Orientierung, sie weiß nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist. Und in der FMLN gibt es Leute, die neoliberaler als die Privatunternehmer auftreten. Joaquín [Villalobos, Chef der FMLN-Organisation ERP; die Red.] hat bei einer Rede fast wörtlich gesagt, “Neoliberalismus und Sozialismus sind fast das gleiche”. Da weiß auch die soziale Bewegung nicht mehr, wohin.

Auch die FMLN scheint wie gelähmt. Weshalb?
Die FMLN hat ihr großes historisches Projekt verloren: den Triumph der Revolution. Es ist sehr schwierig für sie, ihren Platz in der neuen Gesellschaft zu finden. Dazu kommt, daß es fünf Organisationen mit unterschiedlichen ideologischen Positionen sind. Die FMLN muß sich von einer militärisch-politischen Organisation in eine politische Partei verwandeln und sich ein neues historisches Projekt suchen. Beide Prozesse gleichzeitig zu durchlaufen, ist enorm schwierig – noch dazu in so kurzer Zeit.

Würde dieser Prozeß der FMLN leichter fallen, wenn die Wahlen nicht schon im März 1994 wären?
Das weiß ich nicht. Die ganzen Zeiträume des Friedensprozesses sind zu abrupt. Ein Beispiel dafür sind die Waffen [die von Mai bis Juli in Managua und an anderen Orten entdeckt wurden; die Red.]. Der Zeitplan war einfach zu kurz gehalten. Niemand kann von einer Guerilla, die aus Mißtrauen gegenüber bestimmten Leuten zu den Waffen gegriffen hatte, erwarten, daß sie so einfach alle Waffen abgibt, wenn die gleichen Leute wie damals noch an der Macht sind. Wobei die Frage der Waffen auch ein gutes Bild der FMLN zeigt: sie hat den Krieg beendet, weil sie zu der Überzeugung kam, daß der Krieg beendet werden muß, und nicht etwa, weil sie keine Waffen mehr gehabt hat.

Glauben Sie nicht, daß die FMLN in der Frage der Waffen zu defensiv reagiert hat?
Zweifelsohne. Die FMLN ist in die Defensive geraten, weil alle über sie hergefallen sind. Wie zum Beispiel der UN-Generalsekretär, der eine Ungeheuerlichkeit (barbaridad) gesagt hat: “Der Waffenfund ist die bisher schlimmste Verletzung des Friedensvertrages”. Auch das Verhalten von General Humberto Ortega ist für mich ziemlich unverständlich. Jetzt ist die FMLN in eine tragische Situation geraten, aber sie hat sich in dieser Frage auch nicht sehr klug verhalten.

Wie schätzen Sie die Chancen der Linken bei den Wahlen ein ?
Noch vor einem halben Jahr hätte ich gesagt, daß die Linke in diesem Moment eine große Chance hat. Heute bin ich mir da schon nicht mehr so sicher. Die Gefahr besteht, daß die Linke, wie schon öfter in der Geschichte El Salvadors und auch anderer Länder, diesen großen historischen Augenblick nicht nutzen kann. Die FMLN hat ihr Projekt verloren und glaubt, daß sie auch keine Ideologie mehr hat. Es gibt Leute in der FMLN, die meinen, die FMLN dürfe nicht mehr links sein, um die Unternehmerkreise, die heute auf Seiten von ARENA stehen, zu gewinnen. Das ist falsch. Um glaubwürdig zu sein, muß die Linke bei den Wahlen auch als Linke auftreten. Niemand, der sich selbst verstellt, kann Vertrauen erwecken. Außerdem kann sie mit linken Positionen besser mit der Rechten verhandeln.

Ist Rubén Zamora der richtige Kandidat für die Linke?
Ich denke, Rubén ist der richtige Kandidat. Ein Präsidentschaftskandidat muß Macht haben wollen, das ist auch völlig legitim. Und Rubén Zamora will an die Macht. Problematisch ist die Form, wie es zu seiner Kandidatur kam. Aber auch wenn es in den FMLN-Spitzen einige Leute gibt, die ihm nicht vertrauen, so hat er doch den Rückhalt der Basis der FMLN.

Und wie steht es um die Rechte, da gibt es doch auch wichtige Veränderungen. Bedeutet die Kandidatur des ARENA-Vorsitzenden Calderon Sol das Ende des Modernisierungsprozesses der salvadorianischen Rechten?
Das Projekt der Rechten ist noch nicht klar definiert. Aber daß mit der wirtschaftlichen Modernisierung auch die Demokratisierung einhergeht, war noch nie das Projekt der Rechten, weder von ARENA, noch von Cristiani. Viele Leute meinen, Cristiani sei ein Demokrat. Für mich ist Cristiani ein autoritärer Politiker mit gutem Benehmen (buenas modales) und einer großen Fähigkeit, im richtigen Augenblick zu verhandeln und Zugeständnisse zum geeigneten Zeitpunkt wieder zurückzunehmen.

Aber Calderon Sol ist doch noch weniger demokratisch…
Der Unterschied zu Cristiani ist, daß Calderon Sol kein gutes Benehmen hat. Aber es darf nicht vergessen werden, daß Cristiani die Kandidatur von Calderon Sol durchgesetzt hat. Er hat ihn vorgeschlagen, als ARENA Anfang Februar eine Statue von Roberto d’Aubuisson [dem Gründer von ARENA und langjährigen Organisator der Todesschwadronen in El Salvador; die Red.] einweihte. Cristiani sagte bei dieser Feier, Calderon Sol sei der einzige bei ARENA, der das Erbe von d’Aubuisson verwalten könne und deshalb neuer Präsident des Landes werden solle. Calderon Sol ist ein Kompromiß zwischen den verschiedenen Fraktionen, die es innnerhalb von ARENA gibt.

Hat die Demokratie eine Chance in El Salvador, wenn Calderon Sol die Wahlen gewinnt?
Das hängt davon ab, wie die Zivilgesellschaft auf die Regierung von Calderon Sol reagiert. Er glaubt nicht an die Demokratie. Aber er hat auch einen Vorteil: selbst die Rechte vertraut ihm nicht, sie hätte lieber einen anderen Präsidenten. Aber vieles ist einfach noch zu unklar. Dieses Land befindet sich in einem enormen Veränderungsprozeß. Die meisten Menschen meinten, daß es jetzt bereits Demokratie gebe und es vor allem darum ginge, die Einhaltung des Zeitplans des Friedensvertrages zu überwachen. Und es wurde vergessen, die Zivilgesellschaft zu stärken und ihre Organisationen untereinander zu vernetzen, um einen Gegenpol zur herrschenden Politik zu bilden.

Der Begriff Zivilgesellschaft ist ziemlich in Mode in El Salvador. Alle reden von der Zivilgesellschaft, dabei ist es ziemlich konfus, was damit gemeint wird…
Richtig. Es wird übersehen, daß die Menschen sich auch in der Zivilgesellschaft nach ihren eigenen Interessen gruppieren. Also die ArbeiterInnen gegen die Interessen der Unternehmen und umgekehrt und so weiter. Ein Problem ist, daß die Institutionen der Zivilgesellschaft noch sehr schwach sind, zuviel hängt noch von der Intervention internationaler Organisationen ab, deren Rolle aber immer schwächer wird, ohne daß es bereits salvadorianische Institutionen gäbe, die ihre Aufgaben übernehmen können. Es gibt mittlerweile einen Staatsanwalt für die Überwachung der Menschenrechte, aber nach wie vor ist ONUSAL [die UNO-Organisation, die den Friedensprozeß überwachen soll; die Red.] in diesem Bereich viel wichtiger. ONUSAL soll auch die Wahlen überwachen. Wir haben noch keine Institutionen, die wie in anderen Ländern dafür sorgen, daß die demokratischen Spielregeln eingehalten werden. In einem Land, dessen Wahlen vom Ausland überwacht werden, gibt es keine Demokratie. Es gibt in El Salvador einen Demokratisierungsprozeß, aber noch keine Demokratie. Die Zukunft der Demokratie in El Salvador ist ungewiß. Eine Rechtsregierung nach den Wahlen im nächsten Jahr würde fast sicher eine Rückkehr zum Autoritarismus bedeuten.

Das Schlechte vom Guten

Jedes Gute hat ja leider immer auch sein Schlechtes. Die “geschützte Demokratie ” in Chile, die 1990 die Diktatur ablöste, bedeutet für die NROs, die in diesem Land tätig sind, eine deutliche Einschränkung ihrer (finanziellen) Möglichkeiten.
Während der Diktatur waren es die NROs, und in besonderem Maße die Kirchen gewesen, die fast sämtliche fortschrittlichen sozialen und politischen Bewegungen ermöglichten und finanziell über Wasser hielten. Ohne sie hätten weder Sozialarbeit noch Menschenrechtsgruppen noch Umweltprojekte oder Selbsthilfegruppen oder andere Initiativen existieren können.
1990 übernahm das breite Bündnis der concertación die Führung des Landes. Damit begann eine grundsätzlich neue Phase im Bereich der Projekte.

Das Ende der Vicaría de la Solidaridad

Bezeichnendes Beispiel für die einschneidende Veränderung ist die Auflösung der Vicaría de la Solidaridad zum Ende des Jahres 1992. Über Jahre hatte die Vicaría für die Menschenrechte in Chile gekämpft, Archive angelegt, Rechtsbeistand gegeben, Verfolgten geholfen, war Anlauf- und Sammelpunkt für alle Menschenrechtsfragen und Refugium für Verfolgte gewesen, hatte selbst Verfolgung, Schikanen, Durchsuchungen und weitere Repressalien durchgestanden. Nun ist sie aufgelöst worden. Ein Grund hierfür ist die Wende zum (noch mehr) Konservativen in der katholischen Kirche Chiles, der die Vicaría unterstellt war. Der andere Grund aber, und in der offiziellen Begründung für die Auflösung wurde das so erklärt, war die Auffassung, daß sie ja nun ihre Aufgabe erfüllt habe und in der Demokratie nicht mehr erforderlich sei. Die Archive allerdings werden an anderer Stelle weitergeführt.

Staatliche Institutionen in Konkurrenz zu den NROs

Hier sind wir bei einem der wichtigsten Gründe für die Schwierigkeiten der NROs, weiterzuexistieren. Sowohl im Ausland, wo Chile ohnehin keine “Konjunktur” mehr hat, “aus der Mode” ist und deshalb die Gelder wesentlich weniger fließen als zuvor, als auch in Chile selbst ist man der – an sich ja richtigen – Meinung, der Staat habe nun selbst für sein Volk zu sorgen. Daß er dies nicht tut, und eine konservative Aylwin-Regierung noch weniger, ist eine Binsenweisheit.
Dazu kommt aber noch, daß eine ganz erhebliche Anzahl ehemaliger NRO-MitarbeiterInnen, ehemaliger Exilierter und ehemaliger Oppositioneller nun Posten in der Regierung, den Ministerien, den neuen Gemeindeverwaltungen und anderen Ämtern einnehmen (viele von ihnen übrigens auf Honorarbasis und ohne Arbeitsvertrag, weil auf den Planstellen noch die Pinochet-Leute sitzen. die zwar nichts mehr tun, aber gerne weiter die Gehälter einstreichen). Logisch, daß die “Sachzwänge” eines offiziellen Postens, die Aussicht auf Karriere und die “Kompromißbereitschaft” in der Koalitionsregierung die neuen Leute nicht gerade flexibel und erneuerungswillig machen, auch wenn dieselben Leute früher in den Projekten ausgezeichnete Arbeit geleistet haben.
Und natürlich sind diese Leute der Ansicht, die bisher illegalen oder halb legalen Organisationen sollen sich auch im System integrieren und die Gelder aus dem Ausland sollen so nun ihrer Arbeit in den staatlichen oder staatsnahen Institutionen zugutekommen. Was zu einer unguten Konkurrenzsituationen zwischen NROs und Behörden führt und in aller Regel dazu, daß dabei allerlei Geldquellen durch die Querelen verlorengehen.
In einzelnen Fällen soll es sogar so weit gekommen sein, daß Behörden Projekte behindern, ihnen positive Gutachten, Bauerlaubnis oder andere Unterstützung versagen in der Hoffnung, dann selbst die Projekte an sich ziehen und übernehmen zu können, das Geld aus dem Ausland zu bekommen. Was aber meist ein Irrtum ist.

Der Schwung ist raus

Viele bisherige GeldgeberInnen und SpenderInnen sind nicht der Ansicht, es sei ihre Aufgabe, diese Regierung zu finanzieren. Im übrigen bietet der Boom in der chilenischen Wirtschaft Anlaß zu der (irrigen) Ansicht, daß nun Projekthilfe für Chile nicht mehr so dringend erforderlich sei.
Daß all dies auf die Stimmung, Arbeitslust und Motivation der Projekte einwirkt, ist klar. Dazu kommt, nach dem Ende der Diktatur, nachdem große Hoffnungen zunächst in Resignation umgeschlagen waren, eine durchaus im Trend dieser Welt liegende, sich auch in Chile immer mehr ausbreitendende Auffassung, daß jede/r es allein schaffen kann, wenn er oder sie nur tüchtig genug ist. Der Boom hat Arbeitsplätze geschaffen; viele, die lange arbeitslos waren, bekamen nun einen Job, und das sind schlechte Zeiten für solidarische gemeinsame Arbeit, Nachbarschaftsprojekte und Initiativen, die weiter blicken als bis zur nächsten Lohnzahlung. Trotzdem machen aber viele – wenn auch weniger als früher – weiter.

Zum Beispiel: El Canelo de Nos

So gut wie alle NROs funktionieren ja nach ähnlichen Prinzipien und Mustern, unterscheiden sich vor allem durch ihre Arbeitsschwerpunkte. Doch viele Arbeitsbereiche sind ihnen gemeinsam: die Frauenarbeit, die Selbsthilfegruppen, die Bildungsarbeit. Das pädagogische Konzept ist Selbsttätigkeit der TeilnehmerInnen, der praktische Zweck die Schaffung den Lebensbedingungen angepaßter einfacher Technologien. Ebenso gemeinsam haben NROs ihre Geldquellen im Ausland, und je weniger diese sprudeln, umso schärfer wird der Kampf um sie.
Eine der in Chile bekanntesten nichtkirchlichen NROs ist El Canelo de Nos, benannt nach dem Canelo-Baum, der in der Mapuche-Kultur eine wichtige Funktion hat. Angesiedelt ist die Organisation in Nos, einem Ort im Süden Santiagos, wo El Canelo über ein großes Gelände und einen hellen modernen Gebäudekomplex verfügt. Neben den oben genannten Arbeitsschwerpunkten leistet El Canelo vor allem Fort- und Weiterbildungsarbeit für LandarbeiterInnen und BäuerInnen zur Selbstversorgung, Herstellung einfacher Arbeitsgeräte, juristischen Fragen, alternativen Technologien.
Die Zeitschrift “El Canelo” erscheint monatlich. Ihr Untertitel lautet “por una sociedad ecológica”, was ihr Programm klar macht. Jährlich organisiert El Canelo eine Ausstellung alternativer Technologien und Energiequellen, dieses Jahr im März wurde sie von Präsident Aylwin persönlich eröffnet.
El Canelo hat es besser als viele andere NROs geschafft, sich die (ausländischen) Geldquellen auch für die nächsten Jahre zu sichern und seine Arbeit zu konsolidieren. Aber die Zahl der MitarbeiterInnen ist sei dem Beginn der Demokratie von achzig auf vierzig gesunken. “Von den anderen arbeiten jetzt viele in Ministerien und Gemeindeverwaltungen”, teilt mir der Leiter des Canelo, German Appel, mit. El Canelo hält enge Verbindung zu vielen offiziellen Stellen. Zum Beispiel werden auch Sendungen für das chilenische Fernsehen produziert.
Es ist für uns an der Zeit zu begreifen, daß die NROs in Chile nicht mehr subversive Oppositionsgruppen organisieren, sondern “alle gemeinsam”, wie der Slogan der Concertación lautete, am wirtschaftlichen Aufbau des Landes arbeiten.

Kasten:

Der Höhenflug der Nicht-Regierungsorganisationen

Die NROs blühen. 1990 arbeiteten etwa 500 NROs in den Entwicklungsländern in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Umwelt, Menschenrechte, und ihre Budgets wachsen jedes Jahr. 1970 hat die nördliche Erdhälfte eine Milliarde Dollar für ihre Entwicklung ausgegeben, zwanzig Jahre später ist der Betrag auf 7,2 Milliarden angestiegen.
Mit welchen Ergebnissen? Hat sich der Lebensstandard der Armen verbessert? Der Entwicklungsbericht der UNO für 1993 hütet sich wohlweislich davor, diese Frage klar zu beantworten. “Es scheint, daß sogar die Bevölkerungen, für die erfolgreiche Programme durchgeführt wurden, arm geblieben sind”, wie der Bericht vorsichtig formuliert. Ob es sich darum handelt, Armen Kredite einzuräumen – ein Risiko, das die traditionellen Banken nicht eingehen – ,die Ärmsten unter den Armen, die von den Regierungen unbeachtet bleiben, zu unterstützen, den Randexistenzen zu Selbständigkeit zu verhelfen: in allen Fällen ist die Bilanz der NROs widersprüchlich. Oft waren die Erfolge nur von kurzer Dauer oder oberflächlich. So schreiben die Experten der UNO zum Thema der Aktivitäten zur Aufhebung der Diskriminierung der Frauen: “In einigen Fällen haben die Versuche, die Geschlechterdiskriminierung innerhalb der Projekte zum Thema zu machen, den Frauen wenige Vorteile gebracht. In anderen Fällen wurden die Erfolge der Projekte durch stärkere soziale Kräfte zunichtegemacht.”
Es bleibt ein Bereich, in dem die NROs unersetzlich sind; die Katastrophenhilfe. Hungersnot, Krieg, Erdbeben: wenn es darum geht, schnell einzugreifen, haben die NROs die Fähigkeit, “schnell und wirksam” zu handeln.

Jean-Pierre Tuquoi, Le Monde 28.5.93

Wo sie sind, bleibt ungeklärt

Das Konzept dieser transición hatte die chilenische katholische Kirche noch zu den schlimmsten Zeiten der Repression entworfen. Sie war die einzige Institution, die sich frei äußern konnte, und sie nutzte dieses Privileg, indem sie auf die Menschenrechtsverletzungen hinwies und zugleich einen einvernehmlichen Weg zurück zum Rechtsstaat vorschlug. Als Tausende von DemonstrantInnen während der monatlichen Protesttage ab 1982 “Brot, Arbeit und Gerechtigkeit” forderten, verbreitete die in ihrer Mehrheit christdemokratisch orientierte Kirche “Dialog” und “Versöhnung”. Die Diktatur hatte sich auf einen “repressiven Konsens” in der Bevölkerung stützen können, der aus einem Sich-Fügen in die herrschenden Verhältnisse und der Teilhabe am Konsumangebot der neoliberalen Wirtschaftspolitik bestand. Dieser repressive Konsens wurde durch das Kräftespiel innerhalb der Streitkräfte und Verhandlungen mit zivilen politischen Gruppierungen in einen politischen Konsens der Mehrheit der Bevölkerung transformiert. Auch der ausländische Druck und zwischen Regierung und Kirche ausgehandelte Ereignisse wie der Papstbesuch 1987 spielten dabei eine wichtige Rolle.
Unter Beibehaltung der Wirtschaftspolitik der Militärs sollte deren Macht eingeschränkt und zugleich institutionell abgesichert werden. Die Militärs sollten neun Senatoren des zu wählenden Kongresses benennen können und Pinochet bis 1997 Oberbefehlshaber der Streitkräfte, deren Haushaltsmittel nicht gekürzt werden durften, bleiben. Den Obersten Gerichtshof brachte der General durch Personalentscheidungen auf seinen Kurs.

Viele Opfer, aber keine Täter

So sorgsam die transición angebahnt war, blieb doch eine alte Wunde. Mord und Folter waren nicht konsensfähig. Deshalb machten sich die Protagonisten des Dialogs daran, die Fakten umzudeuten. Die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur wurden zu Verbrechen ohne Urheber, sie erschienen als Ereignisse ohne kausalen Zusammenhang, als das, was Pinochets Geheimdienst DINA mit dem Wort “das Verschwinden” politischer Gefangener hatte suggerieren wollen. Diese Neutralisierung auch noch des härtesten Bruches der geltenden Gesetze und Moralvorstellungen gelang nicht zuletzt deshalb, weil die Mehrheit der ChilenInnen die Fakten nie hatte wahrhaben wollen und viele der Opfer einfach alles vergessen wollten, was sie durchlitten hatten. Eine pauschale Selbstamnestie der Militärs für alle Menschenrechtsverletzungen vor 1978 fügte dem Konstrukt der Taten ohne Täter den juristischen Unterbau hinzu. Damit waren die Menschenrechte verhandlungsfähig und wurden zum ideologischen Schmiermittel der transición.

Eine Menschenrechtskommission ohne Vollmachten…

Kurz nach seiner Amtsübernahme im März 1990 kündigte Aylwin die Bildung einer “Nationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung” an, die die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur aufarbeiten sollte. Das Wort “Gerechtigkeit” war entgegen dem ursprünglichen Vorschlag nicht in den Titel der Kommission aufgenommen worden. Die Kommission hatte keine juristischen Vollmachten. Im März 1991 stellte Aylwin den Bericht der Kommission (nach dem Vorsitzenden auch als Rettig-Bericht bekannt) der Öffentlichkeit vor. Insgesamt 2.115 Menschen seien während der Dikatur “Opfer von Menschenrechtsverletzungen” geworden, so Aylwin bei seiner Fernsehansprache. Gemeint sind die als “Menschenrechtsverletzungen mit tödlichem Ausgang” beschönigten Morde, soweit die Kommission sie aus der Vielzahl der ihr vorgetragenen Fälle ausgewählt und als bewiesen angesehen hatte. Die mehr als 100.000 Fälle von Folter hatte die Kommission gar nicht erst untersucht. Mit Tränen in den Augen schloß Aylwin damals seine Fernsehansprache: “Laßt uns mit Verständnis und Großherzigkeit das Notwendige tun, damit die Wunden der Vergangenheit geheilt werden und für Chile eine Zukunft in Gerechtigkeit, Fortschritt und Frieden aufgebaut werde.” Mit Sätzen wie diesem kam Aylwin gut an, außer bei den unverbesserlichen PinochetistInnen und bei denjenigen Opfern der Diktatur, die erst einmal die Namen der Täter wissen wollten, bevor sie ihnen überhaupt würden verzeihen können.

… erstellt einen Bericht, ohne die Verantwortlichen zu nennen

Der Bericht war zumindest die erste offizielle Anerkennung seitens einer chilenischen Institution, daß die Pinochetdiktatur gemordet und gefoltert hatte. Aber so gut die Kommission gearbeitet hatte, so kompromißlerisch war das Ergebnis formuliert. Die RedakteurInnen des Berichtes fochten um Worte. Wie etwa sollte der Putsch vom 11. September 1973 genannt werden? Vorgeschlagen wurden “pronunciamento” (das beschönigende Wort der Militärs, dt.”Auflehnung”), “Staatsstreich” und “Regierungssturz”, und schließlich einigte man sich auf das scheinbar unverfängliche “11.September”. Der Bericht enthält keine Namen der Schuldigen, obwohl die Kommission viele davon kannte, er klärt das Schicksal der mehr als tausend in ihm dokumentierten Fälle “verschwundener” politischer Gefangener nicht auf und er nennt die Opfer des Staatsterrors im selben Atemzug mit den paar Dutzend Opfern unter den Sicherheitskräften. Der Regierungskoalition aus ChristdemokratInnen und SozialistInnen kam diese Art der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen gelegen. Der als “nationaler Konsens” bezeichnete wachsweiche Kompromiß der Regierung war einmal mehr legitimiert. Einer Seite war Genugtuung widerfahren, indem die Fakten benannt worden waren, zugleich aber war der Konflikt mit den Streitkräften vermieden worden. Der Bericht enthüllte die Wahrheit, damit sie vergessen werde.

Erst Gerichtsprozesse nennen endlich Namen

Das Kalkül ging allerdings nur teilweise auf. Es gab längst inoffizielle Informationen über die Menschenrechtsverletzungen und ihre Urheber. Die Presse lieferte die vom Kommissionsbericht vorenthaltene Wahrheit scheibchenweise nach. Die Sozialistin Luz Arce, die unter der Folter zerbrochen war und lange als Agentin von DINA und CNI gearbeitet hatte, hatte viele Stunden lang vor der Kommission ausgesagt. Ihre Aussage erschien in der Presse. Obwohl die veröffentlichte Version des Kommissionsberichts keine Namen von Schuldigen nannte, gingen die Kommissionsakten unzensiert an die jeweils zuständigen Gerichte und trugen dazu bei, daß 30 Menschenrechtsprozesse, die die Diktatur nicht endgültig eingestellt hatte, wiedereröffnet wurden. Hinzu kommen 170 weitere Prozesse, die ebenfalls nicht endgültig eingestellt worden waren und in denen neu verhandelt werden kann, wenn neue Beweismittel auftauchen.
Die chilenische Justiz ist dem Pinochetregime bis auf die Knochen hörig gewesen und hat sich seitdem nicht geändert. Aber sie konnte die in den Akten protokollierten Ungeheuerlichkeiten nicht gänzlich ignorieren. Das große Offenlegen war verhindert worden. Aber die Menschenrechtsprozesse, die nach der Diktatur neu verhandelt wurden (siehe die Aufzählung in LN 226), fügten der halben Wahrheit des Kommissionsberichts immer neue Beweisstücke hinzu. Für die Angehörigen der “Verschwundenen” waren diese Prozesse ein Wechselbad von Hoffnung und Enttäuschung. Zum ersten Mal wurden in verbindlichen Zusammenhängen Namen genannt. Täter wurden greifbar. Der berüchtigste Folterer der DINA, Osvaldo Romo, wurde 1992 in Brasilien, wo die DINA ihn versteckt hatte, verhaftet. Macia Alejandra Merino, die unter der Folter zerbrochen war und jahrelang mit DINA und der Nachfolgeorganisation CNI gearbeitet hatte, legte Anfang 1993 ihre Lebensbeichte ab.

Die Entlarvung der Folterer

Hatte der Rettig-Bericht einen für fast alle Parteien und die Militärs akzeptablen Kompromiß gefunden, so prallten jetzt die Kräfte des Pinochetismus und das uneingelöste Wahrheitsversprechen der Demokratie aufeinander. Schauplatz waren diesmal nicht Fernsehstudios und Pressekonferenzen, vielmehr standen sich nun als Zeugen geladene ehemalige politische Gefangene und ihre Folterer vor Gericht gegenüber. Die ehemaligen DINA-Agenten, mittlerweile in den Rang von Generalmajoren aufgerückt, machten sich mit Leibwachen und Militärrechtsanwälten in irgendeinem Büro des Gerichts breit, als seien sie in einer Kaserne. Es gab teilweise 15-stündige Verhandlungen. Zeugen und Beschuldigte, das Gerichtspersonal und die stets präsente Schar von JournalistInnen richteten sich in den Korridoren häuslich ein.
Während der Pinochetdiktatur war die Justiz heruntergewirtschaftet worden und stellte nun die schäbige Bühne für Prozesse von historischer Dimension dar. Es fehlte an allem: Zum Kopieren mußten Originalakten zu irgendeinem nahegelegenen Copy Shop gebracht werden. Wichtige Protokolle wurden von studentischen Hilfskräften aufgenommen. Die Dürftigkeit der Utensilien schmälerte jedoch nicht die Bedeutung des Verhandelten. Worüber hier verhandelt wurde, war real, nicht symbolisch, nicht medial geglättet und durch nichts zu beschönigen. Den Überlebenden ging es um die Genugtuung, die Täter vor Gericht zu sehen, ob als Zeugen oder als Angeklagte, wog weniger stark. Den Angehörigen der “Verschwundenen” ging es um die Wahrheit. Eine gerechte Strafe für hundertfache Folter und hundertfachen Mord gibt es im Rechtsstaat ohnehin nicht. Aber solange Gericht gehalten wurde und schlechtbezahlte GerichtsreporterInnen Tag und Nacht in den Fluren hockten und nach jedem Detail schnappten, solange wurde das Leiden der Opfer nicht verschwiegen. Den Folterern zerbrach ihre Lebenslüge, derzufolge nach einer Zeit des Ausnahmezustandes Normalität eingekehrt sei. Ihre Bilder waren in der Zeitung zu sehen, und sie wurden vor der Öffentlichkeit als Folterer entlarvt, eine Situation, die sie bis dahin sorgsam vermieden hatten.

Gegen die Hauptverantwortlichen wird zuletzt verhandelt

In der chilenischen Öffentlichkeit wirkten die Menschenrechtsprozesse dem schalen Gefühl entgegen, der Rettig-Bericht sei das letzte Wort zum pinochetistischen Staatsterror gewesen. Die meisten Prozesse fanden allerdings nur im engen Kreis des interessierten Publikums Widerhall. Der Prozeß um den in der Colonia Dignidad “verschwundenen” Alfonso Chanfreau aber eskalierte bis zu einem Spruch des Obersten Gerichtshofs und der darauf folgenden Absetzung eines obersten Richters und fand Eingang in die besten Sendezeiten des Fernsehens.
Es liegt in der Logik gerichtlicher Prozeduren, daß die großen Brocken zuletzt abgehandelt werden. Gegen die Chefs der DINA wird erst jetzt verhandelt. Aufhänger ist der Prozeß wegen der Ermordung des früheren chilenischen Außenministers Orlando Letelier im Washingtoner Exil 1976. Auch diesem Prozeß kommt ein politisches Gewicht zu, das über den verhandelten Tatbestand hinausgeht. Die Vorermittlungen waren so komplex, daß von DINA-Chef Manuel Contreras abwärts ein repräsentativer, bisher von Vorladungen verschonter Täterkreis auf der Anklagebank oder im Zeugenstand steht.
Das Säbelrasseln in Santiago am 28. Mai 1993 (siehe den Artikel von Jaime Gré in diesem Heft) war die symbolische Erinnerung daran, was die Militärs in Chile ausrichten können. Der oberste Herreskommandierende nach Pinochet, Santiago Sinclair, verlas das Programm zum wohlinszenierten Truppenaufmarsch in Kampfanzügen mitten in Santiago. Die Machtdemonstration richtete sich gegen die weitere Untersuchung von Scheckbetrügereien durch Pinochets Sohn, gegen das Recht der Zivilregierung, Offiziere in den Ruhestand zu versetzen, gegen die mögliche Freilassung der sechs Pinochetattentäter von 1988 und gegen die aktuellen Menschenrechtsprozesse, in denen sich Militärs verantworten müssen.

Die Angehörigen der Verschwundenen kämpfen weiter für die Wahrheit

Die “verschwundenen” politischen Gefangenen Chiles wurden, wie man heute weiß, ermordet. Wie, wann und durch wen sie ermordet wurden, ist nur in wenigen Fällen geklärt. Solange das so ist, ist die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in Chile nicht abgeschlossen. Im Alltagsbewußtsein wird dieser Prozeß gerne als abgeschlossen betrachtet. Das Schicksal der “Verschwundenen” bricht mit diesem Verständnis. Deshalb verstummt das “Wo sind sie” der Angehörigen nicht und löst immer neue Prozesse und Proteste aus. Selbst wenn die Angehörigen vergessen wollten, könnten sie es nicht, denn Vergessen setzt Trauer voraus, und um zu trauern bedarf es der Gewißheit des Todes. Die Opfer des staatlichen Terrors in Lateinamerika widersprechen aufgrund der Unaufgeklärtheit ihres Schicksals allen Appellen zur Versöhnung. Sie weisen kompromißlos auf die Halbwahrheiten staatlicher Kommissionsberichte hin und erweisen eingestellte Prozesse als faule Kompromisse mit den Tätern, die oftmals heute noch in einflußreichen Positionen sitzen.

Putsch und Gegenputsch

Der erste Putsch

Am 25. Mai um sieben Uhr morgens gab Präsident Jorge Serrano über Rundfunk und Fernsehen bekannt, daß er Teile Verfassung außer Kraft gesetzt habe. Er habe den Kongreß, den Obersten Gerichtshof, das Verfassungsgericht und die Generalstaatsanwaltschaft aufgelöst und den Menschenrechtsprokurator Ramiro de León seines Amtes enthoben. Er hob auch Versammlungsfreiheit, Streikrecht und Meinungsfreiheit auf und schaltete die Medien gleich. Serrano begründete seinen Putsch von oben mit dem Kampf gegen die Korruption, den Drogenhandel und der schlechten Amtsführung des Kongresses sowie des Obersten Gerichthofes.
Die Reaktionen auf Serranos Putsch waren einhellig ablehnend. Das Verfassungsgericht erklärte am 26. Mai die Maßnahmen Serranos für gesetzlich ungültig. Auch die Oberste Wahlbehörde lehnte es ab, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, wie Serrano am Tag zuvor angekündigt hatte. Arbeitsminister Mario Solorzano und andere Kabinettsmitglieder traten aus Protest gegen Serranos Vorgehen zurück, genauso wie einige BotschafterInnen Guatemalas im Ausland.
Außer in Peru wurde der Putsch auch im Ausland heftig verurteilt. Am 27. Mai kündigte der Sprecher des US-State-Departments Richard Boucher an, die wirtschaftliche Unterstützung einzufrieren. Außerdem könnten die Handelspräferenzen für ein Land, in dem die Arbeitsrechte nicht respektiert würden, nicht aufrechterhalten werden. Am 26. Mai knüpfte die deutsche Bundesregierung die weitere Zusammenarbeit mit Guatemala, “einschließlich der Entwicklungshilfe”, an die Rückkehr zur demokratischen Ordnung und die strikte Einhaltung der Menschenrechte. Am 29. Mai kündigte auch die EG- Kommission die Suspendierung ihrer Hilfe an.

Die Volksbewegungen zeigen Mut

Trotz der massiven Militär-und Polizeipräsenz auf den Straßen setzten sich die Volksorganisationen über das Demonstrationsverbot hinweg. Dabei spielte Rigoberta Menchú eine wichtige Rolle, als sie am 26. Mai gemeinsam mit der Katholischen Kirche, dem Rektor der Universität San Carlos und der Trägerin des alternativen Nobelpreises, Helen Mack für den nächsten Tag zu einer Messe in der Kathedrale der Hauptstadt aufrief, mit der das Versammlungsverbot durchbrochen wurde. Nach der Messe überreichten 62 Organisationen im Nationalpalast ein Dokument, in dem sie die “sofortige Rückkehr zur institutionellen Ordnung” forderten. Auch der abgesetzte Menschenrechtsprokurator Ramiro de León Carpio hatte das Papier unterschrieben. Er verwandelte sich schnell in ein Symbol des Widerstands. Nachdem er sich schon am 26. Mai von seinen Funktionen selbst entbunden hatte, schloß er am 31. Mai seine Behörde und rief zum zivilen Ungehorsam auf. In einem offenen Brief an die guatemaltekische Bevölkerung erklärte de León seine “totale und absolute Ablehnung” der von Präsident Serrano getroffenen Entscheidungen.

Das Militär eiert hin und her

Verteidigungsminister Garcia Samayoa hatte zunächst den Diktator Serrano vorsichtig unterstützt. Wenn Serrano diesen Schritt nicht unternommen hätte, “wäre das Land in eine anarchische Krise mit schwerwiegenden Konsequenzen geraten”, rechtfertigte er am 27. Mai den Putsch. Doch drei Tage später -nach einer Zusammenkunft mit einer im Land weilenden OAS-Delegation -versicherte Garcia Samayoa, die guatemaltekische Armee wünsche die “schnellstmögliche” Rückkehr zur verfassungmäßigen Ordnung. “Die Ereignisse basieren nicht auf einer militärischen sondern einer politischen Entscheidung. Wir wurden erst kurz vor der Außerkraftsetzung der Verfassung informiert.” An dem Treffen mit dem Generalsekretär der OAS, Joao Baena Soares, nahmen auch Generalstabschef Roberto Perussina, der Chef des Sicherheitsstabes des Präsidenten, Francisco Ortega Menaldo, der Geheimdienstchef der Armee, Otto Pérez Molina, und der stellvertretende Generalstabschef Mario Enriquez teil.

Der zweite Putsch

Am 1. Juni um 11.00 Uhr überreichten die Kommandanten der 22 Militärzonen Serrano ein Dokument, in dem sie ihm die Präsidentschaft entzogen. Zugleich überflogen Hubschrauber den Nationalpalast. Auf einer Pressekonferenz erklärte Verteidigungsminister Jose Garcia Samayoa, daß damit dem Urteil des Verfassungsgerichtes vom 26. Mai Gültigkeit verschafft werden solle. In dem Urteil war das Dekret von Serrrano für null und nichtig erklärt worden. Die Armee werde auf der Basis dieses Urteils der Verfassung zur Wirksamkeit verhelfen.
Garcia Samayoa verkündete: “Der Präsident der Republik hat sich für die Aufgabe seines Amtes entschieden.” Serrano jedoch weigerte sich mehrere Stunden lang, seinen Rücktritt zu unterzeichnen. In den erneut gleichgeschalteten Radios und Fernsehsendern wurden die Mitglieder des Verfassungsgerichtes aufgefordert, in den Nationalpalast zu kommen. Dort wurde dann ein fünfstündiges Treffen abgehalten, an dem Menschenrechtsprokurator Ramiro de León, Unternehmer, Parteien und Militärs teilnahmen. Der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu, die eine Beteiligung der Volksorganisationen an diesen Verhandlungen forderte, wurde der Zutritt zu dem Treffen verweigert.
Rigoberta Menchu Tum vertrat die Forderungen der neugebildeten “Multisectorial Social”, eines Zusammenschlusses von Organisationen der Volksbewegung und der Universität San Carlos. In mehreren Demonstrationen lehnte die “Multisectorial Social” die Übernahme der Präsidentschaft durch den bisherigen Vizepräsidenten Gustavo Espina ab, forderte Prozesse gegen Serrano und Espina und verlangte, den Kongreß von “korrupten Dieben” zu säubern.

Auf dem Weg vom Menschenrechtsprokurator zum Präsidenten

Ramiro de León hatte am 1. Juni den Putsch der Armee gegen Serrano ge rechtfertigt: Der Putsch sei “vollständig im Rahmen der Verfassung”. Die Militärs hätten in Übereinstimmung mit dem Urteil des Verfassungsgerichts interveniert, um zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren, “ohne die Macht auch nur eine Minute auszuüben”. Am folgenden Tag kündigte er die Wiedereröffnung seiner Menschenrechtsbehörde an, mußte dann allerdings feststellen, daß mittlerweile die Militärspitze den ehemaligen Vizepräsidenten Gustavo Espina unterstützte. Dieser könne nicht ernannt werden, da er wegen Verfassungsbruchs angeklagt sei, so de León Carpio. Er verlangte von Verteidigungsminister José Garcia Samayoa, daß er der Nation eine Erklärung über das Chaos gebe, in dem das Land versunken sei. Doch Verteidigungsminister Garcia vergrößerte das Chaos noch, indem er zunächst nicht nur Serranos Rücktritt, sondern auch den des Vizepräsidenten Espina verkündet hatte. Als sich die Armee dann aber nicht in der Lage sah, eine von Espina unterschriebene Rücktrittsurkunde vorzulegen, erklärte der Verteidigungsminister plötzlich Espina zum verfassungsmäßigen Präsidenten Guatemalas. (Nach anderen Versionen hatte sich Espina vorher selbst zum Präsidenten ausgerufen.) In der Nacht zum 3. Juni versammelten sich Tausende vor dem Parlamentsgebäude und äußerten ihren Unmut mit Sprechchören wie “Wir wollen nicht das Militär. Wir wollen nicht Espina”. Schließlich urteilte das Verfassungsgericht am 4. Juni, daß Espina dieses Amt wegen seiner Beteiligung
am Staatsstreich von Serrano nicht ausüben könne, woraufhin die Armee nun dem Verfassungsgericht umfassende Unterstützung zusicherte.

Zweigeteilte Zivilgesellschaft

Nachdem das Verfassungsgericht dem Kongreß am 4. Juni eine vierundzwanzigstündige Frist gesetzt hatte, um einen neuen Präsidenten zu wählen, trafen VertreterInnen der Privatwirtschaft, der Parteien, Gewerkschaften, Kooperativen und der Universität San Carlos unter Ausschluß der “Multisectorial Social” eine Übereinkunft über die Rückkehr zur verfassungmäßigen Ordnung. Sie einigten sich auf sechs Punkte, darunter den Rücktritt des amtierenden oder auch nicht amtierenden Präsidenten Gustavo Espina und die Wahl eines neuen Präsidenten durch den Kongreß. Die sogenannte “Instanz des Nationalen Konsens” überreichte das Dokument der Militärführung, die ihre volle Unterstützung zusicherte. Francisco Cali von der “Multisectorial Sociai” erklärte, daß weder Menchu Tum noch der Rektor der Universität das Dokument unterzeichnet hätten. Vielmehr hätten die Volksorganisationen noch vier weitergehende Forderungen: Prozesse gegen die Putschisten; Prozesse wegen Korruption; Ausschluß der Armee vom sozialen und politischen Leben; entscheidende Rolle der zivilen Gesellschaft bei den Entscheidungen über die Zukunft Guatemalas.
Die am 5. Juni für zehn Uhr morgens angesetzte Kongreßsitzung zur Wahl des neuen Präsidenten konnte wegen der intensiven Verhandlungen hinter den Kulissen erst um 18 Uhr beginnen. Neben Ramiro de León trat der am gleichen Tag von seinem Posten als Präsident der Obersten Wahlbehörde zurückgetretene Arturo Herbruger an. Herbruger zog seine Kandidatur allerdings zurück, als er im ersten Wahlgang mit 51 gegen 64 Stimmen unterlag. Da beide keine Zweidrittelmehrheit erreichten, mußte de León in einer weiteren Abstimmung um ein Uhr nachts noch bestätigt werden. In seinen ersten Erklärungen sagte de León, Guatemala müsse in sicheren Schritten einer besseren Zukunft entgegengehen, aber “ohne Revanche-oder Rachegefühle”. Er versprach, den hartkritisierten “Fonds für Vertrauliche Ausgaben” der Regierung abzuschaffen. aus dem sich die Präsidenten traditionell zur Bereicherung und Bestechung bedient haben und insbesondere die Meinungs-und Pressefreiheit zu respektieren. Neben dem Kampf gegen die Straffreiheit verpflichtete er sich auch zur strikten Einhaltung der Menschenrechte. Er kündigte die Einrichtung eines “permanenten Dialogmechanismus” mit den verschiedenen Ethnien an. Vorrangige Aufmerksamkeit werde er den Problemen im Gesundheits-und Bildungssektor widmen und sofort eine Alphabetisierungskampagne beginnen.

Glückwünsche aus dem Ausland

Der frisch gewählte Präsident konnte sich vor Glückwünschen aus dem Ausland kaum retten. Schon zwei Tage nach seiner Wahl traf der stellvertretende US- Außenminister Clifton Wharton zu einem dreistündigen Gespräch mit de León
ein. Wie alle anderen Regierungen, die ihre Wirtschaftshilfe nach dem Staatsstreich vom 25. Mai eingefroren hatten, kündigte er die sofortige Wiederaufnahme an. Das Auswärtige Amt in Bonn kommentierte: “Ramiro de León Carpio genießt aufgrund seiner Arbeit als Menschenrechtsprokurator großes Vertrauen in der guatemaltekischen Bevölkerung”.
León Carpio ernannte als erstes den in die Staatsstreiche verwickelten General Jorge Roberto Perussina zum neuen Verteidigungsminister, der zur harten Linie im Militär gezählt wird. Die beiden anderen Putschgeneräle Ex-Verteidigungsminister Garcia Samayoa und der Ex-Chef des Sicherheitsstabs des Präsidenten Ortega Menaldo wurden in den Ruhestand beziehungsweise in die Provinz versetzt.
Aus den ersten Erklärungen de Leóns 1äßt sich erkennen, daß er nicht vorhat, sich mit der Armee anzulegen. Solange es bewaffnete Auseinandersetzungen gebe, würde der Militärhaushalt nicht gekürzt, erklärte er. Auf internationaler Ebene löste er zunächst Befremden aus, als er sich zum Verhandlungsprozeß mit der Guerilla äußerte. Die Friedensgespräche seien keine Priorität seiner Regierung, weil der Wechsel an der Regierungspitze den Krieg “überflüssig” machen würde. Wichtiger sei es, den demokratischen Prozeß zu konsolidieren. Die URNG- Guerilla hatte am 10. Juni ein direktes Treffen mit dem neuen Präsidenten in Anwesenheit des Vermittlers vorgeschlagen. Das Zögern von de León Carpio ist wahrscheinlich damit zu erklären, daß er als ehemaliger Menschenrechtsprokurator nicht umhin könnte, das ausstehende Menschenrechtsabkommen zu unterzeichnen -was aber vom Militär kaum akzeptiert würde.
Die “Multisectorial Social” und Rigoberta Menchu begrüßten die Wahl de Leóns. Die Aktionen gegen die Militarisierung würden aber nicht aufhören, erklärte Rigoberta Menchú nach einem Gespräch mit de León am 9. Juni.
Der gestürzte Präsident Serrano befindet sich mittlerweile ohne seine Bankkonten mit 17 Millionen US-Dollar und mindestens 100 Immobilien im Exil in Panama. Das guatemaltekische Außenministerium beantragte am 8. Juni seine Auslieferung wegen Verfassungsbruch, Veruntreuung und Unterschlagung.

Berichtigung: Zwölf Monate sind ein Jahr, zwanzig Jahre gibt es die LN, das sind 240 Monate, und wenn die Inflation in Ecuador wirklich so hoch wäre, wie wir im letzten Heft auf Seite 9 behauptet haben, dann wären heute sicher nicht mehr 1800 Sucres einen Dollar wert, sondern die EcuadonanerInnen müßten in Millionen rechnen. Tatsächlich nämlich beträgt die Inflation nicht 50 Prozent monatlich, sondern im Jahr.

Clintons Lateinamerikapolitik

Der Amtsantritt der Clinton-Administration und der Schichtwechsel nach Jahren unter Reagan und Bush scheint einen grundlegenden Wandel der US-amerikanischen Außenpolitik zu versprechen. Neue Persönlichkeiten sind nunmehr verantwortlich für die Diplomatie Washingtons – Persönlichkeiten, die in den letzten zwölf Jahren immer wieder grundsätzliche politische und ideologische Bedenken gegen die Außenpolitik ihrer Amtsvorgänger geäußert haben(…).
Allerdings verstellt ein Vergleich von Amtsträgern den Blick auf die grundlegende Kontinuität der Außenpolitik im Übergang von Bush zu Clinton. Die globalen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren dramatisch gewandelt, und sowohl Bush als auch Reagan hatten sich gezwungen gesehen, ihre Politik seit den späten 80er Jahren langsam zu verändern. Im Falle Lateinamerikas nahm bereits Bush bedeutende politische Kurskorrekturen vor, und allem Anschein nach wird Clinton nicht viel mehr tun, als ein wenig an diesen grundsätzlichen Veränderungen herumzubasteln.

Der Fall Haiti: Realpolitik statt Menschenrechte

Clintons erster Sprung in die Lateinamerikapolitik – der Fall Haiti – enthüllt, wie stark er sich an die Politik seines Vorgängers anlehnt. Während des Wahlkampfes betonte Clinton seine Differenzen mit Bush, als er eine weniger restriktive Einwanderungspolitik gegenüber den verfolgten Flüchtlingen aus Haiti forderte. Aber noch vor seinem Amtsantritt brach er dieses Wahlversprechen und erklärte, daß es bei der alten Immigrationspolitik bleiben würde. Das Team von Clinton befürchtete eine Welle von Flüchtlingen, die Gegenreaktionen auslösen und damit die innenpolitischen Vorhaben der Regierung gefährden würde.
Auch die generelle Politik gegenüber den haitianischen Militärs hat sich nicht wesentlich geändert. Clinton mag zwar etwas stärker als Bush auf der Wiedereinsetzung von Jean-Bertrand Aristide als Präsidenten Haitis bestehen. Aber wie unter Bush werden die Bedingungen, unter denen Aristide zurückkehren kann, dessen Handlungsspielraum einengen, um die sozialen und politischen Reformen durchzuführen, für die er anfangs gewählt wurde. Im Interesse von “Aussöhnung” werden, wenn überhaupt, nur wenige AnhängerInnen und Mitglieder der Militärregierung für ihre barbarischen Aktivitäten gegenüber dem haitianischen Volk zur Rechenschaft gezogen werden. Die Ähnlichkeiten der Haiti-Politik beider Administrationen wurden dadurch unterstrichen, daß Clinton für eine Übergangszeit an Bernard Aronson festhielt, der von Bush als Staatssekretär für Interamerikanische Angelegenheiten eingesetzt worden war.

Entwürfe der Republikaner – Umsetzung durch Demokraten

Bush nahm zwei grundsätzliche Kurskorrekturen der Lateinamerikapolitik vor, die als Grundlage für Clintons Politik dienen. Erstens ging die Bush-Administration dazu über, Verhandlungslösungen für Bürgerkriege und Guerilla-Konflikte, besonders in Mittelamerika, zu suchen. Bush und Außenminister James Baker erkannten schon früh die Notwendigkeit für eine Politik, die über die Forderung des rechten Flügels der Republikaner hinausging, am totalen Krieg gegen linke Bewegungen und Guerillas festzuhalten. Diese Haltung wurde deutlich durch die Besetzung des zentralen Postens für die Lateinamerika-Politik mit Bernard Aronson, einem Demokraten, der der Verhandlungspolitik gegenüber Nicaragua und El Salvador vorstand.
Die zweite grundsätzliche Veränderung trat ein, als die Bush-Administration einen neuen ökonomischen Ansatz verfolgte, um die lateinamerikanischen menschlichen und materiellen Ressourcen auszubeuten. Bush propagierte leidenschaftlich das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) und verkündete die export-orientierte “Enterprise for the Americas” (Ein vager Plan zur Schaffung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone; Anm.d.Red.), und verschob somit den Schwerpunkt der Politik von verdeckter Kriegsführung hin zu Wirtschaft und Handel.
Grundlegende Veränderungen der Lateinamerikapolitik waren schon zuvor von Republikanern vorgenommen und dann von Präsidenten der Demokraten fortgeführt worden. Franklin Roosevelts Politik der “Guten Nachbarschaft”, die die “Kanonenboot”-Diplomatie des frühen 20.Jahrhunderts beendete, wurde schon von Henry Stimson, dem Außenminister unter Präsident Herbert Hoover, eingeleitet, der eine fortgesetzte Interventionspolitik in Mittelamerika als eher schädlich erachtete.
Später, in den 60er Jahren, wurde viel Wirbel um John F. Kennedys “Alliance for Progress” gemacht und um das große Gewicht, das Kennedy auf lateinamerikanische Entwicklung legte. Aber es wurde zumeist übersehen, daß diese Politik bereits in der zweiten Amtszeit von Dwight D. Eisenhower angelegt worden war. 1958 wurde Eisenhowers Bruder Milton auf eine Informationsreise durch Lateinamerika geschickt, der nach seiner Rückkehr empfahl, der Region mehr Aufmerksamkeit und Wirtschaftshilfe zukommen zu lassen, um der politischen Unruhe entgegenzuwirken, der er dort begegnet war. Die ‘Inter-American Development Bank’ wurde aufgebaut, und Präsident Eisenhower selbst unternahm 1960 eine Lateinamerikareise. Diese Visite führte zur ‘Deklaration von Bogotá’, die grundlegenden sozialen Wandel forderte, nun auch mit dem direkteren Ziel, ein Ausbreiten der 1959 siegreichen kubanischen Revolution zu verhindern.
Die Veränderungen der Lateinamerikapolitik in der Bush-Clinton-Periode gehen aus neuen internationalen Gegebenheiten hervor. Das Ende des Kalten Krieges fiel zusammen mit der Erkenntnis, daß die revolutionären Bewegungen in Mittelamerika militärisch nicht zu besiegen sein würden. Insbesondere das negative öffentliche Echo in den USA auf die fortgesetzte Interventionspolitik ließen Verhandlungslösungen in Mittelamerika als politische Option in den Vordergrund treten. Auf wirtschaftlicher Ebene erklärt die zunehmende Konkurrenz mit Japan und der EG sowie die allgemeine Schwäche der US-Wirtschaft das verstärkte Engagement der Bush-Administration in dieser Region. Die Präsidenten zahlreicher lateinamerikanischer Länder begannen, den ökonomischen Rezepten von Reagan und Bush zu folgen, die Freihandel und die Privatisierung des öffentlichen Sektors der Wirtschaft verlangten. Um in wirtschaftlich schwieriger Situation einen neuerlichen Fluß von privaten und öffentlichen Geldern aus den USA zu erlangen, verordneten lateinamerikanische Regierungen einschneidende Sparprogramme. Die Schulen, medizinischen Einrichtungen und die soziale Infrastruktur Lateinamerikas wurde geplündert, während Hunger und Unterernährung zunahmen.

Wirtschaftspolitik im Vordergrund

Die Clinton-Regierung hat keine grundsätzliche Kritik an diesem Zeitraum der wirtschaftlichen Verwüstung Lateinamerikas geübt. Wenn überhaupt, so hat sie im Gegenteil ihre Bereitschaft erklärt, die Wirtschaftspolitik der Bush-Administration mit nur unwesentlichen Veränderungen fortzuführen. Von der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich in dieser Region ist überhaupt nicht die Rede. Clinton, der sich gerne mit Kennedy vergleichen läßt, hat nichts Vergleichbares zu dessen reformistischer “Alliance for Progress” zu bieten.
Tatsache ist, daß Clintons Erklärung, er werde sich “wie ein Laser” auf die US-Wirtschaft konzentrieren, ihr Gegenstück findet in dem Versuch, Wirtschaft und Handel zum zentralen Bestandteil seiner Lateinamerikapolitik zu machen. Während der Übergangszeit vor dem Amtsantritt sprach sich herum, daß das Clinton-Team Wirtschaftsexperten suche, um die wichtigsten Posten im Bereich der Lateinamerikapolitik zu übernehmen, was ein Grund für die Wahl Richard Feinbergs als Lateinamerika-Verantwortlichen im Nationalen Sicherheitsrat ist. Obwohl Feinbergs frühere politische und wirtschaftliche Ansichten eher linksliberal waren, lehnen sich seine jüngeren Schriften eher ans Establishment an und spiegeln häufig die Bedenken von Institutionen wie dem IWF oder der Weltbank wider. Selbst das “Wall Street Journal” nahm ihn in Gnaden auf und salbte ihn als “Gemäßigten”.
Die allgemeine Auffassung in Washington ist, daß der Nationale Sicherheitsrat unter Anthony Lake eine Schlüsselstellung in der Formulierung außenpolitischer Ziele einnimmmt, während das Außenministerium unter Warren Christopher für die Umsetzung zuständig ist. Clintons Haltung, direkt in alle politischen Entscheidungsprozesse eingreifen zu wollen, wird durch diese Arbeitsteilung unterstützt, da der Nationale Sicherheitsrat im Weißen Haus ansässig ist. Lake kommt wie Feinberg vom progressiveren Flügel der Demokraten. Aber auch Lake hat in den letzten Jahren eine zunehmend gemäßigtere Haltung angenommen, und es wird nicht erwartet, daß er oder Feinberg kühne neue Positionen im Nationalen Sicherheitsrat vertreten. (…)
Die Bedeutung Lateinamerikas für Clintons gesamte Wirtschaftsstrategie wird unterstrichen durch die Anzahl von Personen, die Schlüsselpositionen in der Regierung besetzen und ghleichzeitig Mitglieder der Denkfabrik “Inter-American Dialogue” sind, die in den frühen 80er Jahren gegründet wurde. Diese Organisation entwarf zunächst eine alternative Lateinamerikapolitik, die sich deutlich von der Reagans unterschied. In den letzten Jahren allerdings entwickelte sich der “Dialogue”, mit Mitgliedern aus den USA, Kanada und zahlreichen lateinamerikanischen Ländern, immer mehr zu einem hochrangigen Forum, in dem sich politische, akademische, ökonomische und sogar militärische Eliten regelmäßig zum Gedankenaustausch zusammenfinden. Neben Christopher und Feinberg sind auch Clintons Innenminister Babbitt, Wohnungsminister Cisneros und Verkehrsminister Peña Mitglieder dieses Forums, welches nationale und internationale Persönlichkeiten zusammenbringt, um Strategien zur Stabilisierung der kapitalistischen Welt zu entwerfen.

Clintons Strategie-Papier: Wenig Neues aus der Denkfabrik

Der jüngste Bericht, der vom “Dialogue” herausgegeben wurde, “Convergence and Community: The Americas in 1993” spiegelt die Themen wider, die viele Mitglieder der Regierung am meisten beschäftigen. Er ist ähnlich bedeutsam, wenn auch weniger spektakulär als die Strategiepapiere voriger Administrationen, in denen Carter zur Formulierung einer Menschenrechtspolitik und der Neuverhandlung der Panama-Verträge aufgefordert wurde (Linowitz-Bericht 1976) oder sich Reagan gegenüber für eine aggressive Politik gegenüber revolutionären Bewegungen in Mittelamerika ausgesprochen wurde (Santa Fe-Bericht 1980). “Convergence an Community” ist ein Dokument der liberalen politischen Mitte und spiegelt als solches die zunehmend geringere Bedeutung des Gegensatzes konservativ versus progressiv in weiten Teilen der Außenpolitik wider. Seine zentralen Vorschläge unterscheiden sich nur wenig von der Poliik der Bush-Administration. Der erste Abschnitt des Berichtes ist eine volltönende Zustimmung zur NAFTA und fordert ähnliche Handelsabkommen mit anderen lateinamerikanischen Staaten, in erster Linie mit Chile.
Der zweite Abschnitt befürwortet eine “kollektive Verteidigung der Demokratie”, weicht aber nur wenig von der Politik von Baker und Bush ab. Es gibt keine Diskussion über Basisdemokratie oder die Schaffung neuer demokratischer Institutionen, durch die die verarmten und entrechteten Massen der Region in den politischen Entscheidungsprozeß einbezogen werden könnten. Wenn Militärregime die Macht ergreifen, schlägt der Bericht Verhandlungen ála Haiti vor, um die Machthaber zur Abgabe der Regierungsgewalt an Zivilisten zu bewegen. Der bericht proklamiert keinen grundsätzlichen Wandel in den traditionellen militärischen oder politischen Institutionen, die überhaupt erst zu Machtergreifungen des Militärs führen.
Der Schlußteil von “Convergence and Democracy” fordert tatsächlich eine Auseinandersetzung mit “den Problemen von Armut und Ungleichheit” in der Hemisphäre. Aber es gibt nichts Neues oder Innovatives in diesem Abschnitt. (…) Tatsächlich lesen sich die ersten Thesen dieses Teils wie ein Auszug aus neoliberalen Wirtschaftsprogrammen, insbesondere durch die Behauptung, daß fiskalische Zurückhaltung und “nicht ausufernde” Staatsausgaben Grundlage für die Bekämpfung von Armut seien.

Ökologie und Auslandshilfe: Kosmetik oder Kurswechsel?

Obwohl Clintons Lateinamerikapolitik im wesentlichen der von Bush ähneln wird, werden andererseits Veränderungen in der Herangehensweise und in der Wahl der Schwerpunkte zu beobachten sein. (…) Dies wird zum Beispiel belegt durch die Zusatzprotokolle zu ökologischen und arbeitsrechtlichen Fragen, die die Clinton-Administration zur NAFTA entwerfen will. Gewerkschaften und Umweltschutzverbände sind einfach wesentlich stärker in der Demokratischen Partei vertreten als bei den Republikanern, und Clinton kann diese Interessengruppen nicht ignorieren.
Man kann außerdem unter Clinton und Gore erwarten, daß die “Agency for International Development” (AID) ihren Schwerpunkt stärker auf “angepaßte Technologie” und “nachhaltige Landwirtschaft” legen wird. Die Berufung von Umweltschützer Timothy Wirth, einem ehemaligen Senator aus Colorado, als Leiter der neuen Abteilung für “Global Issues” im Außenministerium bedeutet, daß ökologische Fragen mehr Berücksichtigung in Entwicklungshilfeprogrammen finden werden.
Eine interessante Frage ist, ob die Regierung so weit gehen wird, den Empfehlungen des Weißbuches “Reinventing Foreign Aid” (in etwa: “Auslandshilfe neu überdacht”) zu folgen. Dieses Papier, ausgearbeitet und unterstützt von einem breiten Spektrum von Einzelpersonen des Kongresses, Washingtoner Denkfabriken und Nichtregierungsorganisationen, fordert die Abschaffung der AID und deren Ersetzung durch eine “Sustainable Development Cooperation Agency”. Dies würde das Ende vieler Hilfsprogramme alten Stils bedeuten, unter anderem für direkte Unterstützung an Regierungen zum Ausbau des Sicherheitsapparates. Stattdessen würden mehr Gelder an Basisgruppen und ökologische Landwirtschaftsprojekte fließen. Der Bericht fordert Vizepräsident Gore auf, einer Koordinationsgruppe für Entwicklungshilfe vorzustehen, die Hilfsprogramme und die damit verbundenen Organsiationen beaufsichtigen würde, die staatliche Gelder beziehen.
Ein zentrales Thema, welches Spannungen und Debatten auslösen und schon sehr bald auf der Tagesordnung stehen wird, ist, wie stark sich die Administration im ökologischen Bereich engagieren sollte. In der Lateinamerikapolitik der Regierung ist ein innerer Widerspruch angelegt zwischen umweltpolitischen Fragen und der Ausdehnung von US-Märkten und Investitionen. Selbst wenn ein relativ striktes NAFTA-Protokoll zum Umweltschutz ausgearbeitet werden sollte, bleibt zweifelhaft, wie energisch es umgesetzt wird.
In den vergangenen Jahren hat die mexikanische Regierung als Reaktion auf US-amerikanische Bedenken eine Reihe von Schutzerlässen im Bereich von Menschenrechten und Ökologie verfügt, obwohl diese häufiger gebrochen als eingehalten wurden. Aber solche Gesetze geben Basisorganisationen in Mexiko und den USA mehr Spielraum, um auf Veränderungen zu drängen. Dieselbe Dynamik des Drucks von unten wird auch während Clintons Amtszeit notwendig sein, um Versuche von multinationalen Konzernen zu vereiteln, bei ihrer Expansion nach Süden im Rahmen der Freihandelsabkommen umweltrechtliche Bestimmungen zu ignorieren.

Die Rechten verlieren an Boden

Ein weiterer Unterschied zwischen den Präsidentschaften von Bush und Clinton ist der nunmehr verringerte Einfluß der extremen Rechten. Im Falle Nicaraguas hatten es Jesse Helms und der rechte Flügel der Republikaner während des letzten Amtsjahres von Bush geschafft, die US-Hilfe zu blockieren, da sich die Regierung von Violeta Chamorro weigerte, Sandinisten aus Schlüsselpositionen des Militärs zu entfernen. Die neue politische Konstellation und der Niedergang der extremen Rechten wurde direkt nach Clintons Wahlerfolg verdeutlicht, als Bush die Mittel für Nicaragua lieber freigab, als vom Kongreß angedrohte Etatkürzungen in einigen seiner Lieblingsprojekte in Kauf zu nehmen. Die extreme Rechte in Lateinamerika fühlt sich nach der Niederlage von Bush ebenfalls verwaist. Besonders rechte Politiker in Mittelamerika kritisierten die neue Regierung sofort heftig. So erklärte ein nicaraguanischer Politiker, daß die Welt auf eine Katastrophe zusteuere, “mit diesen Schwulen, Kommunisten und Liberalen, die unter Clinton an der Macht sind.” Die Entscheidung von Präsidentin Chamorro im Januar, deutlich mit den rechteren Parteien zu brechen und einige Sandinisten ins Kabinett zu berufen, wurde dadurch erleichtert, daß die äußerste Rechte keinen Schutzherren mehr in Washington hat.
Die Drogenpolitik der USA gegenüber Lateinamerika wird sich unter Clinton ebenfalls verändern. Die Aufmerksamkeit wird nun stärker den innenpolitischen Ursachen von Drogenmißbrauch gewidmet werden, während die internationalen Drogenkartelle aus dem Rampenlicht rücken. Im Wahlkampf war der Drogenkrieg praktisch nicht existent. Bush hatte kein Inteesse daran, über seine Drogenpolitik zu debattieren, die von der Öffentlichkeit als Mißerfolg bewertet wurde, während Clinton dieses Thema als eine Ablenkung von seinem Hauptanliegen empfand, den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der USA. Im ersten Monat seiner Amtszeit kürzte Clinton bereits die Mittel für die internationale Drogenbekämpfung. Im Unterschied zu Bush hat Clinton außerdem nicht zu erkennen gegeben, daß er die Marines gegen Drogenhändler in Lateinamerika einsetzen will.

Kein Spielraum für eine neue Kubapolitik

Den meisten politischen Sprengstoff für Clintons Administration birgt die Kubapolitik. Der “Inter-American Dialogue” betrat in seiner Schrift “Convergence and Community” Neuland mit der Forderung, die Blockade gegen Kuba zu lockern. Der Bericht plädiert für bessere Post- und Telefonverbindungen und dafür, Tourismus von US-Bürgern nach Kuba zuzulassen. Weitere Schritte zur Verbesserung der Beziehungen, so der Bericht, könnten unternommen werden, wenn Kuba ebenfalls mit ähnlichn Maßnahmen antwortet.
Allerdings schränkte Clinton selbst seinen politischen Spielraum gegenüber Kuba ein, als er im Wahlkampf in Florida um die Unterstützung der kubanischen Exilgemeinde warb. Er forderte eine härtere Gangart gegenüber Castro und erhielt finanzielle Hilfe für seine Wahlkampagne in Millionenhöhe von Jorge Más Canosa, dem Vorsitzenden der rechtsgerichteten Cuban American National Foundation (CANF). Die Spenden an Clinton mögen allerdings nur geringere Bedeutung haben, da Clinton in Florida die realtive Mehrheit verfehlte und Más Canosa zudem auch die Republikaner unterstützte.
Kuba ist ein sensibles Thema, sowohl in der Demokratischen Partei wie auch in den USA allgemein. Von daher ist es unwahrscheinlich, daß Clinton dieses Thema anschneiden wird. Der vergebliche Versuch, Mario Baeza (der als Vertereter einer Politik der Öffnung gegenüber Kuba gilt, die Red.) als Staatssekretär für Interamerikanische Angelegenheiten zu nominieren, verdeutlicht, daß Clinton kaum etwas unternehmen wird, um die jahrzehntelange Isolationspolitik gegenüber Kuba zu verändern.
Clinton hat einfach kein neues politisches Programm für Lateinamerika oder die Karibik. Die riesigen Probleme des Hungers und der Unterernährung in Lateinamerika werden wohl ignoriert werden, während die USA weiterhin den Freihandel und eine Wirtschaftspolitik kultivieren werden, von der in erster Linie die multinationalen Konzerne und die ökonomischen Eliten der Hemisphäre profitieren. Die Clinton-Administration mag sich weigern, sich der strukturellen Probleme der Hemisphaäre anzunehmen, aber die Probleme werden nicht von selbst verschwinden.
Die Rechte in den USA und Lateinamerika hat einiges von ihrer Schlagkraft verloren, und diese Entwicklung öffnet politischen und sozialen Raum für Basisbewegungen, deren Einfluß noch wachsen wird. Diese Bewegungen haben das Potential, um das neue Gerüst lateinamerikanischer Beziehungen zu erschüttern, das Bush aufgerichtet hat und Clinton offensichtlich beibehalten will.

Staatsfeind No 2

Mitte Februar herrschte in offiziellen Kreisen überschwenglicher Optimismus. Nach zweieinhalb Jahren der Eingeständnisse (seit Fujimoris Regierungsantritt, G.L.), stand Peru kurz davor, auf dem Treffen des Internationalen Währungsfonds den Status eines kreditwürdigen Landes wiederzuerlangen. Aber plötzlich kündigte die USA am Vorabend des für den 24. Februar angesetzten Treffens Einwände bezüglich der Einhaltung der Menschenrechte und gegenüber der gesamten Gültigkeit der repräsentativen Demokratie in Peru an. Der Fall Peru wurde von der Tagesordnung des IWF gestrichen. Ein tosende radikale, antiimperialistische Rhetorik, wie sie schon seit zwanzig Jahren nicht mehr zu hören war, betäubte daraufhin das Land.
Der Regierung zufolge bewies diese Maßnahme der USA, daß die neue US-Politik gegenüber Lateinamerika von “Amateuren” gestaltet würde, von Angehörigen anachronistischer akademischer Zirkel, von übriggebliebenen “Fundamentalisten” und “Dinosauriern” der Carter Ära. Nach ihrer Meinung war die nordamerikanische Haltung entscheidend von den Menschenrechtsorganisationen sowie einigen Schriftstellern und Journalisten beeinflußt worden, insbesondere von Mario Vargas Llosa und Gustavo Gorriti. Diese wurden als pro-senderistisch und als Verräter des Vaterlandes denunziert, die mit “Halbwahrheiten” ihrem Land schadeten. Die besagten Halbwahrheiten bestanden darin, die Verletzung der Menschenrechte in Peru als “systematisch” zu bezeichnen, nicht nur Sendero Luminoso als Hauptschuldigen verantwortlich zu machen und zudem nicht anzuerkennen, daß sich die Situation gebessert habe.
Nach der regierungsamtlichen Position ging es vor allem um eine Imagefrage. Die peruanischen Botschaften haben es nicht geschafft, die “Wahrheit” über Peru zu verbreiten. In den darauffolgenden Tagen, während verschiedene Minister Verhandlungen in Washington aufnahmen, entfesselte sich in Peru ein wahres Progrom gegen die Menschenrechtsorganisationen. Dieses wurde sogar noch stärker, als sich die Regierung verpflichtet sah, die nordamerikanischen Konditionen anzunehmen: Beaufsichtigung durch Spezialeinheiten der UNO und der OAS; ein monatliches Treffen mit der vielgescholtenen Nationalen Menschenrechtskoordination (CONADEH); Untersuchung der zwölf gravierendsten bisher unaufgeklärten Fälle von staatlichen Menschenrechtsverletzungen und Garantien für das Rote Kreuz, das wegen angeblicher Kontakte zu Sendero unter Beschuß geraten war.
Auf der Grundlage dieser Vereinbarungen gaben die USA Peru grünes Licht für die Mitarbeit in den multilateralen Organisationen. Diesen Wandel präsentierte die peruanische Regierung sogleich als Triumph der “guten Peruaner” und als Rückzug der USA. Die Ernennung von Botschafter Alexander Watson zum Subsekretär für Angelegenheiten Lateinamerikas im US-Außenministerium wurde als Höhepunkt dieses Sieges und als Triumph des Pragmatismus interpretiert.
Pragmatismus zeigte die peruanische Regierung tatsächlich, nachdem sie schließlich die Bedeutung des Themas begriffen hatte. Schon vor der IWF-Tagung hatte es Anzeichen für eine Änderung ihrer Haltung gegeben, sowohl bezüglich der miserablen Situation in den Gefängnissen als auch der Bestrafung von Militärs, die wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt worden waren. Im Februar wurde zum ersten Mal ein Offizier verurteilt, und in den letzten Wochen folgten weitere. Außerdem wurde ein Gesetz verabschiedet, demzufolge die verurteilten Militärs und Polizisten ihre Strafe in normalen staatlichen Gefängnissen absitzen müssen. Aber das Progrom gegen Menschenrechtsorganisationen geht weiter.

MenschenrechtlerInnen mit weltweitem Prestige

Die Menschenrechtsorganisationen sind aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden. Vielerorts konnten sie mit der Unterstützung der Kirche rechnen. Ihre Legitimität gewinnen sie durch die Qualität ihrer Berichte, die sorgfältig von internationalen Institutionen überprüft werden. Eine merkwürdige Situation. Diejenigen, die es nicht wagen würden, die Professionalität des IWF oder der IDB (International Development Bank) zu hinterfragen, glauben, die UNO oder die Regierungen Europas oder der USA ließen sich von oberflächlichen oder böswillig verfälschten Berichten “betrügen”.
In den letzten 13 Jahren ist in Peru eine ganze Generation von weltweit anerkannten MenschenrechtsexpertInnen herangewachsen. Die CONADEH hat mehrere internationale Preise gewonnen. Der Peruaner Enrique Bernales ist einer der fünf Sonderbeauftragten für Menschenrechtsangelegenheiten der UNO. Peruaner bilden außerdem die größte Gruppe in der Friedens- und Wahrheitskommission der UNO in El Salvador, wo Javier Pérez de Cuéllar für die Friedensverhandlungen verantwortlich war. Pilar Coll – bis Januar Präsidentin von CONADEH – wurde im Februar vom spanischen König ausgezeichnet, zweifellos eine Antwort auf die Angriffe, denen sie vorher immer wieder ausgesetzt war.
Aber die Regierung nutzt diesen Erfahrungsschatz nicht als Grundlage für eine antisubversive Strategie, die auf Respektierung gegenüber der Menschenrechte beruhen könnte. Schon seit Präsident Belaúnde sich damit brüstete, die Berichte von Amnesty International ungelesen in den Müll zu werfen, hat sich die Regierung darauf verlegt, die Menschenrechtsorganisation, wo immer es geht, schlecht zu machen.
Dabei ist es nur zu begrüßen, wenn die Regierung selbst Institutionen besitzt, um die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen. Aber der Staat darf hier kein Monopol haben. Außerdem haben die staatlichen Institutionen bis heute nie funktioniert. Das liegt zum einen daran, daß sie nicht Produkt eines nationalen Konsenses sind. Zum anderen haben sie nie besonderen Eifer bei der Kontrolle der Menschenrechtssituation gezeigt und auch keine staatliche Unterstützung für ihre Arbeit erhalten. Der gegenwärtig existierende “Nationale Rat für den Frieden” beschränkt sich darauf, einige Fernsehspots zu produzieren und besitzt keine Führung, die in Peru oder auf internationaler Ebene auch nur die mindeste Legitimation besitzt.

Die Menschenrechtsorganisationen und Sendero Luminoso

Der wohl irritierenste Aspekt der Arbeit innerhalb der Menschenrechtsgruppen ist, daß sie den Staat von Grund auf kritisieren, die terroristischen Gruppen aber nicht mit dem gleichen Nachdruck. Deswegen klagt man sie, sei es aus Ignoranz oder aus mangelndem Vertrauen, einer pro-senderistischen Haltung an. Die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen beruht auf dem internationalen Recht, insbesondere den internationalen Menschenrechtsstandards und dem Flüchtlingsrecht. Nach Internationalem Recht sind einzelne Gruppen oder Personen nicht Gegenstand von zwischenstaatlichen internationalen Verpflichtungen.
Letztlich kontrolliert man den Staat, damit er sein Wort halte und seine Aufmerksamkeit auf die Verbrechen der Rebellen lenke. Das bekräftigt auch die “Kommission Wahrheit und Versöhnung in Chile”: “Es lenkt die Aufmerksamkeit von der besonders wichtigen Tatsache ab, daß der Staat, der sich das Gewaltmonopol vorbehält und gleichzeitig für den Schutz der Rechte seiner Bürger verantwortlich ist, gerade diese Gewalt zur Verletzung der Menschenrechte einsetzt.”
Mit anderen Worten kann der Staat sich nicht mit terroristischen Gruppierungen auf die gleiche Stufe stellen, um gegeneinander aufzurechnen, wer die Menschenrechte weniger verletzt.
Tatsächlich haben die Menschenrechtsorganisationen, die aus dieser Tradition heraus entstanden sind, Sendero Luminoso während der ersten Jahre nicht verurteilt. Ab 1985 allerdings begann sich die Situation zu ändern. Die Menschenrechtsgruppen grenzten sich von Sendero ab. Sie haben es sogar geschafft, einen wichtigen Beitrag zur Theorie und Praxis der internationalen Menschenrechte zu leisten, indem sie Einfluß darauf nahmen, wie die internationalen Organisationen ihre Konzeptionen neu gestalteten. So bezieht beispielsweise Amnesty International seit 1991 aufständische Gruppen als Objekt der Überwachung in ihre Arbeit ein. Die Aktivitäten Sendero Luminosos waren für Amnesty International ein wichtiges Beispiel für die Notwendigkeit, ihren Ansatz zu erweitern. Auch die Vereinten Nationen bezogen in den letzten Jahren subversive Gruppen in ihre Kritik an der Verletzung von Menschenrechten ein, nicht zuletzt auf Druck der peruanischen Delegation unter Leitung von Enrique Bernales hin.

Was sind “systematische” Menschenrechtsverletzungen?

Die Regierung und ihre Helfershelfer haben in letzter Instanz zwar zugegeben, daß der Staat die Menschenrechte verletze, aber gleichzeitig bekräftigt, es handele sich um Einzelfälle. Tatsächlich gab es in Peru glücklicherweise weder ausufernde Aktivität von paramilitärischen Gruppen, noch staatliche Einrichtungen wie die berühmt-berüchtigte “Escuela de Mecánica de la Armada” in Argentinien, wo man tagtäglich Folter praktizierte.
In Peru entwickelte der Staat eine Strategie, die man “autoritär, aber nicht massenmörderisch” (“autoritaria no-genocida”) nennen könnte. Unter den Ordnungskräften gibt es zweifellos einige Mitglieder, die für Massaker oder für das Verschwinden von Menschen verantwortlich sind. Diese hatten zum Teil hohe Posten in den Gebieten des Ausnahmezustand, und konnten auf das stillschweigende Einverständnis der Armeeführung rechnen, die aus einer übersteigerten Haltung und der Überzeugung, “daß der Krieg eben so ist”, zu extremen Maßnahmen griff. In einigen Fällen von Menschrechtsverletzungen ist es nicht nur so, daß die Angeklagten straffrei ausgingen, sondern sogar noch befördert wurden, ohne daß die zivilen Autoritäten irgendetwas unternahmen.
Diese Kombination des Aufstiegs der Militärs zu einer der mächtigsten gesellschaftlichen Insitutionen und ziviler Selbstaufgabe haben Peru seit Jahren an weltweit erste Stelle rücken lassen, was Verhaftete und Verschwundene sowie den alltäglichen Mißbrauch wie Folter, Prügel oder auch Vergewaltigung von inhaftierten Frauen angeht.
Francisco Eguiguren hat diese Situation als einen “systematischen Verzicht auf Strafe” definiert. Im Februar 1993 wurde ein Offizier der Menschenrechtsverletzungen angeklagt – ohne Zweifel aufgrund von internationalem Druck und nicht aus demokratischer Einstellung heraus. Die immer gleichen staatlichen Handlungsmuster auf diesem Gebiet über Jahre hinweg zeigen Kontinuität. Nach dem Wörterbuch definiert das ein systematisches Handeln.

Die Gefahren des Newspeak

Die aktuelle Debatte über die Menschenrechte haben ein Klima enthüllt, das einige als “faschistisch” bezeichnen. Dieser Begriff ist maßlos, aber was wirklich ans Licht kam, ist die “sanchopansahafte” Natur (ohne jede idealistische Regung) unseres Liberalismus, umso mehr als es sich geschichtlich gesehen um eine rückläufige Entwicklung in Lateinamerika handelt. Die Regierenden sind jederzeit bereit, auf die Knie zu fallen, um den totalen Markt aufzubauen. In diesem Punkt herrscht völlige Inflexibilität. Man darf sich nicht einen Milimeter zurückziehen. Es ist eine Frage der Prinzipien. Aber wo es um Leichteres geht, als Peru in ein neues Hong Kong zu verwandeln, ist ein solcher Eifer ist nicht zu spüren: Wenigstens die Menschenrechte zu respektieren, die Bauern nicht massenweise zu verhaften und keine zu Boden geschlagenen Frauen zu vergewaltigen. Hier werden auf einmal internationales Verständnis und Flexibilität erwartet, mit einem Wort: Pragmatismus.
Offensichtlich soll die Bedeutung des Themas heruntergegespielt und die Verteidiger der Menschenrechte abgewertet werden. Wenn in diesem Artikel von einem Progrom gegen sie gesprochen wurde, geschah dies, um den alten Mechanismus aufzuzeigen, der benutzt wird, um sie zu kritisieren: Die Schaffung eines Sündenbocks, dem falsche und unveränderliche Charakteristika zugesprochen werden. Das Böse soll so ausgetrieben werden; es steht außerhalb von uns, die wir es nicht nötig haben uns zu ändern, sondern versuchen, seine Infiltration zu verhindern. Der Artikel von Daniel D’Ornellas in der peruanischen Tageszeitung Expreso (11.3.1993) ist dafür paradigmatisch. Der Kolumnist schreibt:
“Es war naiv zu denken, nur weil der Kommunismus zerstört worden ist… habe diese Ideologie keine Anhänger mehr und höre auf, jede Gelegenheit zur Infiltration zu nutzen. Nur daß sie heute in anderem Gewand daherkommt und eine andere Sprache spricht: Die der Menschenrechte. Aber ihre destruktive Botschaft ist immer noch die gleiche.”
Bezeichnenderweise nennt sich der Artikel “Eine neue Sprache sprechen”. Das sollte der orwellsche Newspeak sein, in welchem Lüge Wahrheit bedeutete. Der Zirkelschluß ist perfekt: Die Verteidiger der Menschenrechte sind alte verstockte Kommunisten; die Kommunisten zerstören; deswegen ist das Anliegen dieser Organisationen, auch wenn sie für den Schutz des Lebens und für die Menschenrechte eintreten von Natur aus destruktiv.
Bislang gibt es noch keine Umfragen, aber es ist vorhersehbar, daß die Mehrheit, die Fujimori unterstützt, Argumentationen wie die D`Ornellas akzeptieren oder sich indifferent gegenüber dem Thema verhalten wird. Ich beziehe mich allein auf die Angst. Angst, die internationale Hilfe zu verlieren, in welche so viele Hoffnungen gesteckt werden, und in deren Namen so viele Opfer gebracht wurden. Aber vor allem ist es Angst, Entrüstung und Zorn gegenüber Sendero Luminoso.
Wenn irgendetwas in der letzten Zeit klar geworden ist, dann ist es die Tatsache, daß Sendero Luminoso jenseits der menschlichen Opfer und der Sachschäden eine viel wichtigere “Errungenschaft” für sich verbuchen kann: In den 13 Jahren der Gewalt sind die Bedingungen dafür geschaffen worden, daß der autoritäre Liberalismus mit der mehrheitlichen Unterstützung der Bevölkerung rechnen kann. Der “Strom von Blut” Senderos hat den Weg zu einem autoritären common sense gepflastert, in dem die Verteidigung der Menschenrechte als Komplizenschaft mit dem Terrorismus betrachtet wird.
Angesichts der Schwäche der demokratischen Opposition und der weiten Verbreitung von Unverständnis und Indifferenz hängt die Respektierung der Menschenrechte in Peru an einem seidenen Faden. Wenn die Vereinigten Staaten oder Europa ihre Politik ändern würden oder wenn Alberto Fujimori sich entscheiden würde, seinen Pragmatismus aufzugeben und uns in ein ähnliches Abenteuer wie Alan Garcías “Antiimperialismus” zu schleifen, würde sich die Situation noch einmal dramatisch verschlechtern.

entnommen aus: argumentos No.5, März 1993, Lima

“Die Leute können vergeben, aber niemals vergessen”

LN: Welche Bedeutung hat der Bericht der Wahrheitskommission für das Land und für die Arbeit der CDHES?
Celia Medrano: Für uns bedeutet der Kommissionsbericht die Bestätigung von fünfzehn Jahren Arbeit. Seit unserer Gründung 1978 haben wir auf nationaler und internationaler Ebene die Menschenrechtsverletzungen in El Salvador angeklagt, weshalb wir immer wieder selbst Opfer der staatlichen Repression wurden. Zu Beginn wurde unseren Berichten – vor allem im Ausland – nicht viel Glauben geschenkt. Wenn wir berichteten, daß zwei bis drei Monate alte Babies massakriert und Frauen von einer ganzen Gruppe von Soldaten vergewaltigt wurden, bevor die Soldaten sie auf bestialische Weise ermordeten, dann trafen wir auf Ungläubigkeit. Viele dachten, so etwas könne gar nicht stimmen. Nach und nach wurden unsere Berichte auch von anderen Organisationen bestätigt, und der Öffentlichkeit wurde bewußt, wie schlimm es um die Menschenrechte in El Salvador wirklich steht. Nachdem zunehmend Ausländer zu Opfern der Repressionen wurden, stellten auch Regierungen anderer Länder Untersuchungen an. Dabei erfuhren sie, daß die Regierung El Salvadors die Aufklärung der Fälle behinderte und log, um die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen nicht übernehmen zu müssen.
Als die Repression während der Regierungszeit von Napoleon Duarte quantitativ zurückging, wurde uns zuerst wieder nicht geglaubt, wenn wir die Brutalität des Krieges anklagten. Mit Duarte kam das Projekt der Aufstandsbekämpfung, und vor allem im Ausland hieß es, daß mit dem christdemokratischen Präsidenten alles besser werden würde. Und auch nach Duarte hat sich die Situation nicht verändert. Die Menschenrechtsverletzungen gingen immer weiter, auch wenn die Propaganda das Gegenteil behauptete. In diesem Sinne wurden wir durch den Friedensprozeß und den Bericht der Wahrheitskommission tatsächlich in unserer Arbeit bestätigt.

Euch wurde immer wieder vorgeworfen, einseitig zu sein und euch nicht um die FMLN zu kümmern. Was meinst du dazu?
Jetzt liegt das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen für alle schriftlich vor, bestätigt von einer unabhängigen Kommission, die im Rahmen des Friedensprozesses von den Vereinten Nationen ausgewählt wurde. Uns wurde früher oft vorgeworfen, wir seien einseitig und würden die Menschenrechtsverletzungen der FMLN nicht im gleichen Ausmaß wie die der Regierung anklagen. Der Kommissionsbericht macht aber deutlich, daß die FMLN nur für einen kleinen Teil der Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Die Wahrheitskommission erhielt 22.000 Aussagen und schreibt dem Militär und den Todesschwadronen davon in 87 Prozent der Menschenrechtsverletzungen die Verantwortung zu, der FMLN jedoch nur in fünf Prozent der Fälle. Für uns bedeutet dies, daß der Vorwurf der Einseitigkeit jetzt auch offiziell widerlegt ist. Die Wahrheitskommission ist weitgehend zu den gleichen Ergebnissen gekommen wie wir in den letzten Jahren. Das ist für uns natürlich eine Erleichterung. Das Militär hat gleich nach der Veröffentlichung des Kommissionsberichts ein Dokument mit dem Titel “Der Kommunismus ist nicht tot” vorgelegt, in dem sie den Vereinten Nationen vorwerfen, der Kommissionsbericht sei eine Verschwörung gegen die salvadorianischen Streitkräfte. Die Beschuldigungen sind dieselben, wie wir sie fünfzehn Jahre lang immer wieder hören mußten.

Wo siehst du die Schwächen des Berichts der Wahrheitskommission?
Der Bericht hat einige Lücken. Er geht kaum auf die Rolle der USA ein, die den Genozid in El Salvador finanziert haben. Er untersucht auch nicht die Rolle der Christdemokraten, als diese die Regierung stellten. Im Fall der FMLN wurden nur einige der Morde an Bürgermeistern untersucht, und die Schuldzuweisung geht lediglich an die Führungsspitze des ERP [eine der fünf Mitgliedsorganisationen der FMLN], ohne auf die Verantwortung der anderen FMLN-Organisationen einzugehen. Bei den Todesschwadronen wissen wir, daß die Kommission eine Liste der Namen von Unternehmern hat, die die Todesschwadronen finanziert haben, aber diese Namen werden nicht genannt. Der Bericht hat also ganz klare Mängel; er verschweigt einige sehr wichtige Aspekte. Aber wir wollen ihn nicht diskreditieren, er enthält keine Lügen. Alle Fälle im Bericht sind klar belegt, und es werden keine unüberlegten Einschätzungen oder Verurteilungen vorgenommen.

Glaubst du, daß der Kommissionsbericht den Friedens- und Demokratisierungsprozeß unterstützen kann?
Auf jeden Fall. Trotz seiner Lücken ist der Kommissionsbericht ein wichtiges Dokument zur Beurteilung dessen, was in den letzten Jahren in El Salvador geschehen ist. Es ist von enormer Bedeutung, daß der Bericht nicht nur Ereignisse untersucht, sondern auch die Namen der Verantwortlichen nennt. Es war ein offenes Geheimnis, daß d’ Aubuisson die Ermordung von Erzbischof Romero befahl und General Ponce und andere für die Ermordung der Jesuiten verantwortlich sind. Aber heute sind diese Fakten in einem anerkannten Bericht der Vereinten Nationen nachzulesen, das hat eine ganz andere Qualität.
Der Bericht hat auch bewiesen, daß die Menschenrechtsverletzungen in El Salvador System hatten. Auch wenn nur 30 Fälle detailliert im Bericht aufgelistet sind, werden die unzähligen anderen Fälle doch nicht vergessen. In einem Anhang von 300 Seiten sind die Namen von ungefähr 22.000 Menschen aufgeführt, die in El Salvador ermordet wurden oder die spurlos verschwunden sind.

Im Bericht wurde auch die Reform des Justizsystems und die Absetzung aller Mitglieder des Obersten Gerichtshofes gefordert. Welche Reaktionen gab es darauf?
Der ARENA-Vorsitzende Calderon Sol hat eine Reform genauso abgelehnt wie Verteidigungsminister Ponce. Am schlimmsten war aber die Reaktion des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, der ja selbst im Kommissionsbericht genannt wird. Er sagte, daß er gar nicht daran denke, zurückzutreten und daß nur Gott ihn da wegbringe. Aber auch Cristiani will eine Reform des Justizsystems vermeiden. Das jetzige Justizsystem ist ja die legale Grundlage für das System der Straffreiheit der Militärs und anderer Verantwortlicher von Menschenrechtsverletzungen.

Nach der Veröffentlichung des Berichts hat das Parlament eine Amnestie beschlossen…
Diese Amnestie ist nicht rechtens. Das Amnestiegesetz ist die klarste Antwort der Rechten auf den Kommissionsbericht. Es darf doch für einen Gerichtshof keine Amnestie geben. Am gleichen Tag als das Amnestiegesetz in Kraft trat, wurden Oberst Benavides und Leutnant Mendoza [die wegen der Ermordung der Jesuiten zu dreißig Jahren Haft verurteilt wurden; die Red.] freigelassen. Bezeichnend ist, daß die beiden Guerilleros, die wegen des Mordes an zwei US-Militärberatern im Gefängnis sind, noch immer nicht freigelassen wurden. Die Amnestie soll jegliche gerichtliche Untersuchung der im Kommissionsbericht genannten Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen verhindern. Wir haben beim Obersten Gerichtshof bereits Einspruch gegen das Gesetz erhoben. Aber bei diesem Gerichtshof glauben wir natürlich nicht daran, daß sie unserer Klage stattgeben.

Nach der Veröffentlichung des Berichts ist der Diskurs der Streitkräfte wieder härter geworden, so wie in früheren Zeiten. Es scheint, daß sich beim Militär nicht viel verändert hat. Wie kann heute verhindert werden, daß sich die Geschehnisse aus der Zeit des Krieges demnächst wiederholen?
Vor allem müssen natürlich die Empfehlungen der Vereinten Nationen erfüllt werden. Zusätzlich sind Aktionen der sozialen Bewegungen nötig, um Druck auszuüben, damit die Friedensvereinbarungen alle erfüllt werden. Entscheidend sind hier einerseits die Reformen im Militär, andererseits das, was im ökonomischen Bereich passiert. Es gibt zur Zeit harte Auseinandersetzungen zwischen den ArbeiterInnen und den UnternehmerInnen im “Wirtschaftlich-Sozialen-Forum” [im Rahmen des Friedensvertrages gebildetes Forum, in dem Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Regierung sitzen. Eigentlich sollen hier Kompromisse zwischen Kapital und Arbeit gefunden werden, die Unternehmerverbände haben das Forum jedoch lange Zeit boykotiert; bislang wurden kaum konkrete Ergebnisse erzielt; die Red.]. Die UnternehmerInnen weigern sich, die arbeitsrechtlichen Übereinkommen der “Internationalen Arbeitsorganisation” (ILO) anzuerkennen, die die Rechte der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder und die Rechte der ArbeiterInnen festlegen. Die Anerkennung dieser Rechte hätte natürlich negative Folgen für die UnternehmerInnen, weshalb sie zur Zeit die Arbeit des Forums wieder blockieren.

Eines der Ziele des Kommissionsberichtes ist es, in El Salvador Gerechtigkeit herzustellen. Auf der Grundlage der Gerechtigkeit sollen die Menschen lernen, einander zu verzeihen. Glaubst du, daß dies nach allem, was passiert ist, möglich sein wird?
Die Menschen können vergeben, aber sie werden niemals vergessen, was passiert ist, was das Leben so vieler Familien geprägt hat. Wie soll ein Mensch die Schreie seiner Kinder vergessen, die er aus einem Versteck heraus hörte, während die Soldaten sie gerade umbrachten. Wie sollen wir eine Mutter bitten zu vergessen, die nach einer Bombardierung in ihre Hütte zurückkehrte und dort die zerfetzte Leiche ihres Kindes fand. Wie sollen wir von der Tochter eines Bürgermeisters, der von der Guerilla ermordet wurde, verlangen, das zu vergessen. Wie sollen wir von all diesen Menschen erwarten, daß sie vergessen, was geschehen ist. Das Verzeihen ist möglich und auch notwendig, aber es ist unmöglich zu vergessen. Aber wie sollen die Menschen heute noch vergeben, nachdem der Staat mit dem Amnestiegesetz bereits alle Verbrechen vergeben hat. General Ponce zum Beispiel sieht sich nicht dazu verpflichtet, um Verzeihung zu bitten, obwohl doch klar bewiesen wurde, das er für die Ermordung der Jesuiten verantwortlich ist. Was wirklich notwendig ist, daß der Staat, die Regierung jetzt die Bevölkerung um Vergebung bittet.

Dann müßte aber die FMLN genauso um Vergebung bitten!
Die FMLN hat das bereits getan. Die gesamte (ehemalige) Generalkommandantur hat sich dazu verpflichtet, zehn Jahre lang keine öffentlichen Ämter auszuüben. Der Kommissionsbericht hat das nur von Joaquin Villalobos verlangt, aber auch Shafik Handal, Leonel Gonzalez, Roberto Roca und Ferman Cienfuegos haben sich dazu verpflichtet. Sie wollen die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen kollektiv übernehmen. Und Jorge Melendez hat bei einer öffentlichen Veranstaltung der FMLN, die Anwesenden im Namen der Frente um Verzeihung gebeten und erklärt, daß er sogar bereit wäre, mit Ponce in einer Gefängniszelle zu sitzen.
Ich glaube wirklich, daß die FMLN in Bezug auf den Kommissionsbericht eine klare Haltung eingenommen hat und daß sie im Gegensatz zum Militär wirklich an das Wohlergehen des Landes denkt und weniger an irgendwelche Vorteile für sich als politische Kraft.

Wie wird sich die Lage der Menschenrechte weiterentwickeln?
Die Repression hat in den letzten Monaten wieder zugenommen. Wahrscheinlich wird die ganze Zeit des Wahlkampfes in einem Klima der Gewalt stattfinden. Und das, obwohl die Vereinten Nationen (ONUSAL) im ganzen Land präsent sind. Wir haben vor allem Angst, daß sich die Situation weiter verschlechtert, wenn die BeobachterInnen der ONUSAL das Land verlassen haben werden. Es wäre natürlich auch ganz wichtig, daß die Straffreiheit der Militärs endlich ein Ende hat und ein effizientes Justizsystem entsteht. Wenn du dein Haus sauber machen willst, muß der Müll raus und darf nicht unter dem Teppich verschwinden. Sonst kommt er wieder zum Vorschein, wenn du den Teppich hebst.

Editorial Ausgabe 228 – Juni 1993

Der deutsche Kanzler weilt dieser Tage in der Türkei, plauscht mit Präsidenten, Ministern und Industriellen. Für VertreterInnen türkischer und kurdischer Menschenrechtsgruppen hat er keine Zeit. Die systematische Verletzung von Menschenrechten durch das türkische Militär wird – wenn überhaupt – hinter vorgehaltener Hand angesprochen. Wozu auch? Machtpolitik macht eben grobe Unterschiede: Menschenrechtsverletzungen im sozialistischen Kuba wiegen ungleich schwerer als die beim NATO-Partner Türkei.
Dieses aktuelle Beispiel der Menschenrechtspolitik erhellt die Doppelzüngigkeit, mit der die Delegationen der westlichen Industrieländer Anfang Juni auf der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien auftreten werden. Die Delegierten werden dabei individuelle Grundrechte in den Vordergrund stellen, und das sind bürgerliche Freiheiten, ohne die eine moderne kapitalistische Gesellschaft nicht mehr reibungslos funktioniert. Wenn es im Interesse dieser Gesellschaft liegt, dieselben Freiheiten abzubauen, zählt die Unteilbarkeit der Menschenrechte wenig. Dies wird deutlich anhand der momentanen Flüchtlingspolitik, die in der de facto-Abschaffung des Asylrechts ihren vorläufigen traurigen Höhepunkt erreicht hat. Mit dem individualistischen Menschenbild des Kapitalismus ist die Absage an Kollektivität verbunden.
Auf internationaler Ebene werden durch ungleiche Handelsbeziehungen und aufgezwungene Wirtschaftsmodelle kollektive Menschenrechte verletzt: das Recht auf wirtschaftliche Entwicklung und auf eine saubere Umwelt. Die Regierungen des Südens klagen die Verwirklichung dieser Menschenrechte ein und weisen die Position ihrer VerhandlungsgegnerInnen aus dem Norden zurück. Sie wittern zu Recht die Gefahr, daß Menschenrechte für die militärische Interventionspolitik im Rahmen der neuen Weltordnung instrumentalisiert werden könnten. Das Beharren auf den unterschiedlichen Positionen – individuelle Menschenrechte contra kollektive – hat die letzte Vorbereitungskonferenz für Wien vor wenigen Wochen scheitern lassen.
Unübersehbar sind die Parallelen zur Umwelt- und Entwicklungskonferenz in Rio vor einem Jahr. Auch damals hätte der Umbau internationaler Beziehungen auf der Tagesordnung stehen müssen, um den Ländern des Südens eine Perspektive wirtschaftlicher Entwicklung zu öffnen, ohne den globalen Öko-Kollaps zu provozieren. Doch damals wie heute benutzt der Norden diese Konferenzen, um die eigene Vormacht auszubauen.
Wie in Rio werden aber auch die Regierungen des Südens in Wien nur scheinbar im Recht sein. Was da unter dem Deckmantel nationaler Souveränität und kultureller Besonderheiten nur allzu häufig verborgen wird, ist die brutale Mißachtung individueller Rechte Oppositioneller und kollektiver Rechte ganzer Völker.
Auch in Wien wird es eine Gegenkonferenz von Nichtregierungsorganisationen mit unterschiedlichsten politischen Zielen geben. Nur aus diesem Kreis ist eine legitime Kritik sowohl an dem hegemonialen universalistischen Menschenrechtsbegriff des Nordens als auch an der Regierungspolitik in den Ländern des Südens zu erwarten. Und diese Kritik ist wohl nötig. Denn die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte würde zwar einen Fortschritt darstellen – ohne die Umsetzung kollektiver Menschenrechte entbehrten sie jedoch der Substanz.

Widerstandsdörfer – zurück in die Zivilgesellschaft ?

Die von den CPR und der Comisión Multipartita organisierte Delegation sollte mit Hilfe einer großen internationalen Beteiligung die Forderungen der CPR, ins- besondere die Anerkennung als Zivilbevölkerung, unterstützen. Desweiteren sollten die Lebensumstände der Menschen in den CPR vermittelt und die Möglichkeit eröffnet werden, daß sich Familienangehörige, die sich manchmal seit zehn und mehr Jahren nicht mehr gesehen hatten, treffen konnten. Außerdem wurden Hilfsgüter, Medizin, Werkzeuge und anderes in die Dörfer transportiert. Am Tag der Abreise wurde unter der Schirmherrschaft von Julio Cabrera, Bischof der Provinz Quiche, und Alvaro Ramazzini, Bischof der Provinz San Marcos, die an der Reise teilnahmen, eine Messe abgehalten, die ganz dem Sinne des Widerstands der Menschen der CPR entsprach. Danach teilten sich die TeilnehmerInnen aus vierzehn Nationen, unter denen sich zwei Kamerateam, Vertreter- Innen von Kirchen-und Menschenrechtsorganisationen und Menschen aus der Solidaritätsbewegung befanden, in zwei Gruppen, die kurz darauf in RichtungIxcán bzw. Sierra aufbrachen.

‘Ein neuer Weg der Hoffnung’ in den Ixcán

Die Delegation zu den Widerstandsdörfern im Ixcán folgte bis Cantabal der Route, die im Januar die heimgekehrten Flüchtlinge aus Mexiko genommen hatten. In Coban, Chisec und Cantabal gab es Zwischenaufenthalte, um die Bevölkerung über die Reise und Hintergründe zu informieren. Einige Campesinas und Campesinos, GemeindevertreterInnen und Ordensleute dieser Orte schlossen sich dem Zug an. Während der elfstündigen Holperfahrt auf offenen LKW’S von Coban nach Cantabal verteilten Leute der Bauerngewerkschaft (CUC) Flugblätter an die Bevölkerung der anliegenden Orte, die gegen die Zwangsrekrutierung in die paramilitärischen Zivilpatrouillien (PAC) geschrieben waren. Kurz hinter Cantabal schlossen sich etwa 30 Rückkehrer aus dem Poligono 14 an.
Die folgenden drei Tage in Mayalan und Pueblo Nuevo 11, wo auch Delegierte der vom Militär attackierten Dörfer, Los Angeles und Cuarto Pueblo eintrafen, vermittelten auf vielen verschiedenen Ebenen einen Eindruck der organisatorischen Stärke der CPR. Die Dörfer haben ein Basisgesundheitssystem, das sich auf PromotorenInnen stützt. In den Schulen wird bis zur fünften Klasse unterrichtet.Kulturelle Traditionen werden u.a. in der Schule und in Kindertanzgruppen erhalten. Seit zwei Jahren bauen die Frauen ihre eigene Organisation auf, in der sie sich austauschen und ihre spezifischen Probleme behandeln. Das günstige Klima und der gute Boden im Ixcán lassen den Anbau von Mais, Bohnen, Bananen, Reis, Zuckerrohr, Ananas und auch Zitrusfrüchten zu. Dies ermöglicht zusammen mit den sehr begrenzten Handelsbeziehungen nach Mexiko das Uberleben in Unabhängigkeit von Militär und staatlichen Institutionen. Die Männer und Frauen berichteten die Männer und Frauen von einem zeitaufwendigen Wachsystem, an dem sich die ganze Gemeinde beteiligt, um sich vor Luft-und Patrouillenangriffen zu schützen. Eine leise Vorstellung der militärischen Bedrohung bekamen die BesucherInnen in den Nächten, als unbeleuchtete Hubschrau-ber die Region überflogen. Sofortiges Auslöschen aller Feuer und Taschenlampen war die Reaktion, als die Meldung von einem Wachposten übermittelt wurde. Für die Dorfer Los Angeles und Cuarto Pueblo wenige Kilometer nördich wurde es in diesen Tagen ungleich ernster. Ein Delegierter aus Cuarto Pueblo schilderte die Flucht seines Dorfes, als man erfuhr, daß sich zwei Armeeeinheiten näherten. Diese Aggression des Militärs bedeutet einen Bruch der Zusage, die Begegnung nicht zu stören. (siehe LN 226)
Außer dem sofortigen und umfassenden Ende der Repression haben die CPR eine Reihe sehr konkreter Forderungen aufgestellt, die ihnen die Rückkehr in die Gesellschaft ebnen sollen. So werden Sicherheitsgarantien für alle NutzerInnen des neueingeschlagenen Weges, der kontinuierliche Handelsbeziehungen und Besuchsmöglichkeiten bezweckt, gefordert. Zentrales Anliegen gegenüber den Besuchern war die Bitte um Gewährleistung einer permanenten nationalen und internationalen Präsenz in den CPR. Den mitgereisten GemeindevertreterInnen aus Coban und Cantabal wurde der Wunsch vorgetragen, künftig die Schwerkranken in den lokalen Krankenhäusern aufzunehmen, die gegenwärtig nach Mexiko geschleppt werden müssen sowie für eine baldige Ausstellung von Ausweispapieren zu sorgen. Eine Zielvorstellung der CPR sind Rahmenabkommen mit der Regierung, wie sie die Flüchtlinge in Mexiko erreichen konnten, zu denen enge Beziehungen bestehen.

Resistir para vivir

Widerstand, um zu leben, ist eine der Parolen der etwa 17000 CPR-Bewohner der Sierra. Die große Mehrheit stammt aus den Gemeinden des Ixil-Dreiecks, ein Teil aus dem südlichen Quiche und Ixcán. Die Region ist fruchtbar und ermöglicht, ähnlich wie im Ixcán eine weitgehende Subsistenz. Auch die Organisationsstrukturen ähneln denen der CPR des Ixcán. ‘Comites de áreas’ koordinieren das Versorgungs- und Dienstleistungssystem der drei Regionen, Santa Clara, Cabá und Xeputul, in die das Gebiet aufgeteilt ist. Durch die Öffnung der CPR im Anschluß an die erste Generalversammlung im März 1990 und dem Empfang erster internationaler Hilfsgelder, gelang es Kleinprojekte, wie eine Schweinezucht in Angriff zu nehmen, um durch die Verkaufserlöse eine sektorielle Entwicklung in Gang zu setzen und fehlende Güter der Grundversorgung, zB. Medikamente er-stehen zu können. Die interne Entwicklung der CPR stagniert jedoch. Ein Grund hierfür ist das Fehlen weiterer finanzieller Unterstützung und die mangelhafte Wasserversorgung der Region Santa Clara, die die Anschaffung von Wasserspeichern notwendig macht. Der Hauptgrund für die beschränkten Entwicklungsmöglichkeiten liegt jedoch auch hier in der anhaltenden Repression durch das Militär. Die in den letzten zwei Jahren aufgebauten Handelsbeziehungen zu den umliegenden Nachbargemeinden unterliegen der ständigen Bedrohung durch die PAC und das Militär, welches sechs Kasernen im Halbkreis um das Gebiet der CPR angelegt hat. Die letzte wurde neu angelegt, als die internationale Delegation das Gebiet verlassen hatte. Allein in den ersten zwei Monaten dieses Jahres sind fünf Fälle bekannt geworden, wo CPR-BewohnerInnen auf ihren Wegen bedroht wurden. Die letzte große Armeeattacke fand im Juni 1992 in Santa Clara statt. Seitdem änderte das Militär seine Strategie und attackiert wahllos einzelne BewohnerInnen der CPR, raubt Verkaufsprodukte und zerstört Anbauflächen. Außerdem setzt die Armee die BewohnerInnen der Nachbardörfer unter Druck, den Kontakt mit den CPR zu unterlassen. Dies geschieht mit Erfolg, wovon sich die TeilnehmerInnen der Delegation hautnah überzeugen konnten. So führte die Ausübung massiven Drucks auf Einwohner in Chajul und Nebaj durch die PAC dazu, daß 40 Lasttiere, die den Transport erleichtern sollten, der Karavane nicht zur Verfügung gestellt wurden. In Jua fanden sich Plakate, auf denen die CPR als Guerilla angezeigt wurden, in Chel war die Delegation aggressiven Beschimpfungen durch Angehörige der PAC ausgesetzt, die sogar Drohschüsse abgaben.

Keine Entspannung in Sicht

Am 25. Februar trafen die beiden Besuchergruppen wieder in der Hauptstadt ein. Wie zu Beginn der Reise, gab es eine Messe in der Kathedrale, in unmittelbarer Nähe des Nationalpalastes. Aus diesem ließ der Verteidigungsminister, Garcia Samayoa, am 26. Februar vermelden, “…daß die Ausländer, die mit der Comisión Multipartita zusammenarbeiten und die Widerstandsdörfer besucht haben, die Bevölkerung manipulieren …” desweiteren drohte er, “diejenigen, die Sturm und Domen säen, werden Sturm und Domen ernte^.“ Wie ernst, vor allem guatemaltekische Oppositionelle solche Drohungen, zu nehmen haben, zeigen die Vorfälle in der Vergangenheit und das Attentat, das am 25. Februar auf den Gewerkschafter Gómez López verübt wurde. Gómez Lopez, der an der Delegation in den Ixán teilgenommen und mit einer Videokamera dokumentiert hatte, wurde auf seiner Heimfahrt nach Quetzaltenango, in einem öffentlichen Bus, durch Schüsse lebensgefährlich verletzt und seiner Kameraausrüstung, sowie des Filmmaterials beraubt. Nach weiteren Morddrohungen gegen seine Person ist er am 5. April außer Landes gebracht worden.
Die Entdeckung mehrerer Spitzel bei den Delegationen, die Einrichtung eines weiteren Militärpostens in Chel und die erneuten Todesdrohungen gegen VertreterInnen der CPR und deren Familien, JournalistInnen und anderen Oppositionellen, sind Belege der menschenverachtenden, rassistischen Politik der guatemaltekischen Regierung und des Militärs. Die Ende letzten Jahres begonnene neue Offensive gegen Guerilla und Zivilbevölkerung, während in Genf über Menschenrechte verhandelt wurde und eine neue Verhandlungsrunde mit der URNG anstand, zeigt erneut die Unberechenbarkeit und Unglaubwürdigkeit guatemaltekischer Regierungsvertreter.

Kasten:

“Organisieren, um in Freiheit zu leben“

Die Aufstandsbekämpfungspolitik der guatemaltekischen Militärdiktaturen zwang in den Jahren von 1978-1983 mehrere hunderttausend Menschen zur Flucht. Besonders betroffen waren die ländlichen Gebiete des guatemaltekischen Hochlandes. Die meisten Menschen flohen in die Randbezirke derHauptstadt oder nach Mexiko, um dem Terror des Militärs zu entgehen. Einige zehntausend Familien zogen sich in die unwegsamen Regionen der Provinz Quiché zurück. “Wir suchten Zuflucht in den Bergen, obwohl wir keine Erfahrung darin hatten, in der Wildnis zu leben. Das ganze folgende Jahr 1983 verfolgten sie uns. In jenem Jahr litten wir entsetzlich. Wir waren ohne Essen, ohne Kleidung, ohne Unterkunft, dem Regen, der Sonne und der Nachtkälte ausgesetzt. Aus purer Not aßen wir die Früchte, die wir die Tiere essen sahen, und dadurch konnten wir überleben. … Das ganze Jahr hindurch trafen wir Menschen in den Bergen, die ebenfalls ihre Wohnstätten verlassen hatten. … Am Ende des Jahres diskutierten wir, was wir machen sollten. Viele Familien I waren über die Grenze nach Mexiko gegangen, aber wir wollten das nicht tun – unseren Grund und Boden verlassen, unser Land, das uns so viel Mühe gekostet hatte. Wir beschlossen, lieber in den Bergen zu leben – wie hart das auch immer sein würde, statt uns der Kontrolle der Armee oder der mexikanischen Behörden zu unterwerfen. Nachdem wir als große Gruppen von der Armee angegriffen worden waren, beschlossen wir, uns in den Bergen in viele kleine Gruppen aufzuteilen, Gruppen von 25 bis 30 Familien, so daß wir uns schnell bewegen und schneller entkommen konnten, wenn die Armee in die Nahe kam.“ Aus diesen ‘mobilen Gemeinschaften’, die zunächst keine festen Strukturen hatten, entwickelten sich, mit zunehmender Organisierung des alltäglichen Lebens, feste Ansiedlungen. Dafür war es wichtig, die Sicherheit der kleinen Dörfer zu gewährleisten. Es wurden Wachen eingeteilt, und zwischen den Siedlungen entstand ein Kommunikationssystem, das Informationen über anrückende Militäreinheiten sofort an alle gefährdeten Orte weitergibt. Es existiert ein Alarm- und Rückzugssystem, sowie Notpläne, nach denen die Bevölkerung sich im Falle einer Flucht zerstreut und dann wiederfindet. An prädestinierten Stellen sind Fallen installiert. Seit 1984 wurde damit begonnen, die Bereiche der Produktion, Gesundheit und Bildung zu organisieren. Die Erfahrungen, die viele der Flüchtlinge während der Kooperativenbewegung gemacht haben, waren hierbei von großer Bedeutung. Erste offensive Schritte in die Öffentlichkeit unternahmen die Gemeinden, die sich als ‘Comunidades de Población en Resistencia’ (CPR) konstituiert haben, im September 1990 bei einem ersten Zusammentreffen mit PressevertreterInnen guatemaltekischer Medien. Zusammengefaßt waren die Forderungen derCPR:
1. Anerkennung durch die Regierung als ‘Zivile Landbevölkerung im Widerstand’.
2. Das Recht in die ursprünglichen Gemeinden in Freiheit zurückzukehren, Rückerhalt des Landes und Zusammenführung der Familien.
3. Demilitarisierung der Gebiete.
4. Zusicherung der Menschenrechte und Bewegungsfreiheit.
5. Freien Zugang für Nichtregierungs- und Kirchenorganisationen in die Fluchtgebiete.
Im Oktober 1990 hatten Kirchen,- Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen die ‚Comisión Multipartita’ gegründet, die seitdem die Belange der CPR vertritt und mit deren Unterstützung zum ersten Mal ein Besuch bei den CPR im Ixilgebiet unter Partizipation von DiplomatenInnen und RegierungsfunktionärenInnen im Februar 1991 realisiert wurde. Im August 1992 folgte eine weitere Delegation mit nationaler und internationaler Begleitung. Im September gab es ein Gespräch mit dem Verteidigungsminister Samayoa, das jedoch keine Lösung in Aussicht stellte, da für Samayoa die CPR nach wie vor der politische Arm der URNG sind. Vom 22.September bis zum 26. Oktober 1992 reiste eine Vertretung der CPR nach Europa, um mit europäischen Hilfswerken und Regierungsstellen zusammenzutreffen, denen die Forderungen und Perspektiven der CPR erläutert wurden. Bei diesen Treffen wurden Möglichkeiten der Unterstützung diskutiert, und ein Resultat war die Planung des ersten Besuches einer großen internationalen Delegation zu den Widerstandsdörfern auf dem Landweg.

Legalisierungsspuk um die Abtreibung

In Mexiko treiben jährlich ca. 2 Mio. Frauen ab, 140.000 von ihnen sterben an den Folgen des illegalen Eingriffs (vgl. auch LN 193). Weder die drohenden Gefängnisstrafen noch die Exkommunikation konnten diese Abtreibungen verhindern. Im Gegenteil: die Zahl der illegalen Abtreibungen steigt weiterhin und damit auch die der Todesfälle und der schwerwiegenden Folgen aufgrund der schlechten medizinischen Bedingungen, unter denen diese Abbrüche stattfinden. Gewalt gegen Frauen und die wirtschaftliche Misere sind einige wichtige Gründe, die Frauen zu dieser Entscheidung zwingen.
Angesichts dieser erschreckenden Realität entschloß sich der Kongreß von Chiapas, den Artikel 136 des Strafgesetzbuches entsprechend zu verändern und das Verbot der Abtreibung aufzuheben. Abtreibung war nun innerhalb der ersten 90 Tage der Schwangerschaft erlaubt. Zusätzlich zu den in Mexiko bereits anerkannten Begründungen für einen Abbruch (Risiko für die Mutter (medizinische Indikation) und Schwangerschaft aufgrund einer Vergewaltigung) bestand nun auch die Möglichkeit, eine Schwangerschaft aus sozialen Gründen (große wirtschaftliche Probleme, vor allem wenn die Mutter alleinstehend ist) oder bei genetischer Fehlentwicklung des Fötus (eugenische Indikation) abzubrechen.
Die Lebensumstände in Chiapas sind ziemlich schwierig: Der ärmste Staat der mexikanischen Republik ist mit hoher Kindersterblichkeit und einer extremen Armut der Bevölkerung konfrontiert. Seit mehr als 20 Jahren kämpfen Feministinnen für die freiwillige Mutterschaft. In dieser Zeit sind zahlreiche Petitionen an den Kongreß von verschiedenen Frauengruppen, hauptsächlich Indianerinnen, übergeben worden, die die Legalisierung des Abbruchs forderten. Diese Frauen kennen die alltägliche Realität am besten und wissen, was das Verbot der Abtreibung bedeutet und haben die Folgen oft am eigenen Leib verspürt.
Trotz des jahrelangen Kampfes kam die Entscheidung des Kongresses doch für alle Beteiligten realtiv überraschend. Entsprechend ungläubig klangen auch die ersten Reaktionen: Wie kommt diese lokale, relativ unbedeutende Regierung dazu, ihre große Verbündete, die Kirche, derart herauszufordern? Wie kann sie dieses Tabuthema aufbrechen und Maßnahmen treffen, die Konsequenzen für ganz Lateinamerika mit sich bringen werden?…

Die Fronten in der Debatte sind klar…

Die einen sehen Abtreibung als Problem der Gesundheit und Selbstbestimmung von Frauen, die anderen sehen in ihr eine Sache der Moral. Unter denen, die die erste Meinung unterstützen, sind GesundheitsarbeiterInnen, Feministinnen, KämpferInnen für Menschenrechte. Sie betrachten die Legalisierung der Abtreibung als unverzichtbar, um die Risiken zu vermeiden, die die Frauen (und das sind meist die ärmsten) durch einen illegalen Abort erleiden.
Von dieser Ansicht, die bisher von der Presse wenig beachtet worden war, weit weg stehen die Kirche, die rechtsgerichteten konservativen Parteien und die Gruppen “Für das Leben”, die das neue Gesetz als kriminell bezeichnen und in ihm einen Angriff gegen die Moral sehen. Von ihnen ging die fälschliche Nachricht aus, daß mit dieser gesetzlichen Regelung die Abtreibung eine “Auflage der Regierung” sei. Eine absurde Verdrehung der Tatsachen, die zur Einschüchterung der Bevölkerung dienen sollte, denn dieses Gesetz beinhaltet in keinster Weise eine Verpflichtung zur Abtreibung, sondern bietet lediglich jeder Frau die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob sie die Schwangerschaft annehmen will oder nicht.

…die Argumente nicht neu.

Die Argumente der Abtreibungsgegner sind nicht neu. Die nationale Aktions Partei (PAN), die immer wieder ihre christliche Gesinnung betont, wettert gegen den Beschluß des Kongresses: “Nur Ungläubige bringen es fertig, eine Schwangerschaft abzubrechen.” “Man kann nicht legalisieren, was nicht legalisierbar ist.” “Abtreibung ist Mord” und ergänzend dazu: “Der Embryo ist ein lebendes Wesen mit allen Rechten.” Dieser Logik zufolge wäre letztendlich jede sexuelle Vereinigung bei der kein Kind entsteht, ein krimineller Akt, denn “dadurch würde die Geburt eines Christen oder eines zu christianisierenden Menschen verhindert”, hält die mittlerweile sympathisierende Presse dagegen.
Der Sprecher des Erzbischofs, Generaro Alamilla, bringt auch nichts Neues in die Diskussion: “Das Gebot, du sollst nicht töten ist absolut.” Seiner Meinung nach treiben nur die Kriminellen ab. (Aber das sind 2 Millionen Frauen im Jahr allein in Mexiko.) Der Chef der PAN-Partei im Distrito Federal José Angel Condello, unterstreicht diese Meinung noch mit einer besonders qualifizierten politischen Aussage: “denn das (die Abtreibung) ist eine moralische Frage und in dieser wird die Demokratie nicht akzeptiert.”
Die Rechte und der Klerus, der sie beeinflußt und anleitet, halten in dieser Debatte an den jahrhundertealten Argumenten fest und sind in keinster Weise offen für die Realität um sie herum. Körperliche Selbstbestimmung von Frauen, die Misere unter der nicht gewünschte Kinder aufwachsen, wirtschaftliche Not der Mütter, der fehlende Zugang für die Kinder zu Bildung und Gesundheit u.v.a.m. können genausowenig in ihre festgefahrenen Denkstrukturen eindringen wie die unbestreibare altbekannte Tatsache: keine Frau treibt aus Spaß ab.
Also alles beim alten!
Schwierig ist in dieser Debatte die Bevölkerung einzuschätzen. Zum einen sind die Bewohner von Chiapas als traditionell und christlich bekannt, so daß anzunehmen ist, daß sie Abtreibung ablehnen, zum anderen sprechen die steigenden Zahlen der illegalen Abbrüche für sich. Im Laufe der Debatte hat die Bevölkerung jedoch sehr wohl Stellung bezogen: Obwohl die Macht der katholischen Kirche sehr groß ist, haben an dem Protestmarsch gegen die Legalisierung der Abtreibung in der Hauptstadt des Staates, Tuxtla Gutiérrez, kaum 3.000 Personen teilgenommen, eine unbedeutende Zahl wenn man sich vor Augen hält, daß zu diesem Marsch von allen Gemeinden aufgerufen worden ist und der Bischof von Chiapas, Samuel Ruiz, selbst den Marsch anführte. In seiner Kundgebung verurteilte er öffentlich die Feministinnen von San Cristóbal, die die Gesetzesände¬rung gefordert hatten. Aber auch die Drohung der Ex-Kommunizierung konnte viele Frauen und Männer nicht einschüchtern, für die Legalisierung der Abtreibung einzustehen. Angesichts der immensen Folgen des Abtreibungsverbots und der permanenten Demütigungen von Frauen, die, wohlwissend um die Risiken, sich trotzdem für einen Abbruch entscheiden, kümmert die Jammerei des Erzbischofs wenig, der die Legalisierung der Abtreibung als “Machtmißbrauch” an¬prangert und ohne die politische Autonomie des Staates Chiapas anzuerkennen, vom Präsidenten der Republik fordert, die “Schlechten” aus “seinem” Kongreß auszusortieren.

Aufgeschoben ist gleich aufgehoben!

Trotz der offensichtlich weitgehenden Sympathisierung der chiapenischen Bevölkerung mit der Legalisierung der Abtreibung hat die Debatte um die Veränderung des Abtreibungsparagraphen solche Dimensionen angenommen, daß die Parlamentarier letztlich entschieden, die Rechtskräftigkeit auszusetzen bis sich die Nationale Kommission für Menschenrechte (CNDH) eine definitive Meinung zu der Frage gebildet hat: Gelten die Menschenrechte für den Embryo oder nicht?
Diese Aktion der Regierenden in Chiapas ist nach der forschen Entscheidung im Dezember ein kläglicher Rückschritt. Die Diskussion um diesen Punkt ist müßig und aufgesetzt, denn letztendlich kann es nicht um die Frage gehen, “wann beginnt Leben” oder “ab wann gelten die Menschenrechte für den Embryo”, “wann ist der Embryo eine eigenständige Rechtsperson?”, solange das Leben und die Menschenrechte der Frau negiert werden, und sie stattdessen polizeilicher Ver¬folgung, Schande, schlechter medizinischer Behandlung, Diskriminierung und Tod ausgesetzt ist.
Im Moment hat die Nationale Kommission der Menschenrechte das Wort. Doch egal wie sie entscheiden wird, es wird weiterhin so sein, daß jeglichem Gesetz zum Trotz die Frauen, die sich entschieden haben abzutreiben, weiterhin abtrei¬ben werden, genauso wie sie es heute machen. Die Bestrafung der Abtreibung beizubehalten heißt im Endeffekt: tausende von Frauen zusätzlich mit lebenslan¬gen gesundheitlichen Folgen oder dem Tod zu bestrafen. Und darin liegt die Menschenverachtung, denn hier werden die viel proklamierten ständig rezitier¬ten Menschenrechte nicht angewandt.
Quellen: El dia latinoamericano, 21.1.91 und 3.2.91
doble jornada, 3.2.91
Mujer Fempress, Febr./März 91

“Es wird weder eine Amnestie noch Begnadigungen geben”

Frage: Was empfindet jemand wie Sie, der in Chile so viele Jahre für die Ein­haltung der Menschenrechte und die Verteidigung der Regime-Opfer ge­kämpft hat, nach der Bekanntgabe des Berichtes der Rettig-Kommission?

R.G.: In den 17 Jahren der Diktatur wurden wir als Lügner und Vaterlandsver­räter hingestellt, als Diener des Terrorismus, nur weil wir offen gesagt haben, daß in Chile gefoltert wird, daß in Chile die Gefangenen verschwinden, daß in Chile Oppositionelle ermordet werden. 18 Jahre später, nach einem Jahr Demo­kratie, vertritt die chilenische Regierung die Auffassung, daß alles, was wir, ein winziges Grüppchen, seit dem 11. September 1973 immer wieder gesagt haben, die Wahrheit ist. In diesem Sinne bedeutet die Veröffentlichung des Rettig-Be­richts einen Höhepunkt einer juristischen, politischen und nicht zuletzt auch sehr persönlichen Entwicklung. Als Mitarbeiter des Friedenskommitees und später des Solidaritätsvikariates sind wir, genauso wie die Leute von der Menschen­rechtskommission, immer für eine Option des Lebens eingetreten, für eine klare Ausrichtung unserer beruflichen Arbeit. Dieser Weg war voller Erfolgserlebnisse und voller Unannehmlichkeiten, immer wurden wir als Lügner hingestellt, die die Wahrheit verdrehten. Heute wird dagegen endlich anerkannt, daß wir immer die Wahrheit gesagt haben.
Ich möchte noch hinzufügen, daß alle Menschenrechtsorganisationen in Chile ihre Archive der “Kommission Wahrheit und Versöhnung” zur Verfügung ge­stellt haben, die ohne das Solidaritätsvikariat, ohne die Menschenrechtskommis­sion niemals diese phantastische Arbeit hätte leisten können.

Frage: Welche Konsequenzen, welche Auswirkungen wird der sog. Rettig-Be­richt in Chile haben?

R.G.: An erster Stelle möchte ich eines sagen: Dieser Bericht wird keinerlei juristi­sche Konsequenzen haben. Dieser Frage wird in dem Bericht auch gar nicht nachgegangen, die Leute, die gegen die Menschenrechte verstoßen haben, kön­nen unbehelligt weiterleben. Das könnten sie allerdings auch dann, wenn sie in dem Bericht namentlich genannt worden wären, denn dabei handelt es sich ja gar nicht um ein Urteil, sondern eben nur um den Bericht einer Kommission. Poli­tisch wird besonderes Gewicht auf eine Aussage gelegt, die aus Argentinien kommt und heute zu einem Schrei in ganz Lateinamerika geworden ist, das ‘Nunca más’ – Nie wieder! Die chilenische Gesellschaft darf nicht noch einmal dasselbe Schicksal erleben, unter dem sie bisher gelitten hat.
Es gibt in unserem Land Leute, die der Diktatur nachtrauern. Und diese Leute haben große Macht. Unser Bestreben ist es, sie auf die Seite der Demokratie her­überzuziehen. Im ersten Jahr haben wir das nicht geschafft. Die gesellschaftlichen Gruppen, die während der Diktatur hinter Pinochet standen, stehen auch in der Demokratie hinter ihm; und der Pinochetismus ist nicht auf der Seite der Demo­kratie!

Frage: Wird in Chile die Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen genauso im Sande verlaufen wie in Argentinien und Uruguay?

R.G.: Im Fall Argentiniens hat es zwar eine Begnadigung gegeben, aber erst nachdem die Schuldigen mehrere Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Das sollte nicht vergessen werden.
In Chile wird es aber keine Straffreiheit geben! Die gibt es hier schon in Form der Amnestie von 1978, die sich auf alle zwischen 1973 und ’78 begangenen Men­schenrechtsverletzungen bezieht. Diese Amnestie kann nicht aufgehoben wer­den, dazu fehlt es uns an juristischer Macht. Denn die demokratischen und für die Achtung der Menschenrechte eintretenden Parlamentarier stellen eine Min­derheit im Senat, weil Pinochet immerhin neun nicht vom Volk gewählte Senato­ren ernannt hat, bevor er gegangen ist. Damit die Menschenrechtsverletzungen vor 1978 nicht in Vergessenheit geraten, müßte der Oberste Gerichtshof seine Meinung ändern und das Amnestiegesetz nicht anwenden. Doch das wird das Oberste Gericht sicherlich nicht tun, auch wenn ich das, ehrlich gesagt, für eine Fehlentscheidung halte.
Bei den neueren Menschenrechtsverletzungen wird es weder Begnadigungen noch eine Amnestie geben, in diesem Sinne hat sich Präsident Aylwin eindeutig geäußert. Ich möchte dazu Folgendes sagen: Die Probleme, auf die wir bei der Wahrheitsfindung in diesen Fällen stoßen, entstehen nicht durch die Amnestie, sondern durch die kriminellen Methoden, die die Geheimdienstagenten des Regi­mes angewendet haben, um die Identifizierung der Verantwortlichen unmöglich zu machen. Ohne die Täter ausfindig zu machen, kann nicht Recht gesprochen werden. Erst in dem Augenblick, wo die Verantwortlichen bekannt werden, tritt die Justiz in Aktion. So beispielsweise im Fall des Mordes an dem Journalisten José Carrasco, der von Leuten in Militäruniformen und mit typischem Militärjar­gon während der nächtlichen Ausgangssperre entführt und ermordet wurde: Bisher wußte niemand, wer den Mord begangen hatte, doch heute ist ein Täter ermittelt. Dazu muß allerdings gesagt werden, daß er nicht wegen des Mordes auffällig wurde, sondern durch seine Beteiligung an Scheck- und anderen Betrü­gereien. Als sein Foto in mehreren Zeitungen erschien, wurde er identifiziert. Heute sitzt er in Untersuchungshaft und steht unter Anklage wegen Mordes an José Carrasco. Werden wir noch weitere solche Fälle aufdecken können? Das ist zumindest unser Ziel.

Frage: Es gab von verschiedenen Seiten Kritik daran, daß in dem Rettig-Be­richt keinerlei Namen von Folterern und anderen Tätern genannt werden. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?

R.G.: Als Menschenrechtsanwälte haben wir ein ungeheures Problem zu bewälti­gen: Wir müssen die Menschenrechte immer respektieren, immer. Wir müssen auch über die Menschenrechte der mutmaßlichen Folterer und Gewalttäter wa­chen. Der Rettig-Bericht ist kein Urteil, er ist einfach ein Untersuchungsbericht. Die Sábato-Kommission in Argentinien hat ebenfalls keine Namen von Folterern bekanntgegeben. Denn wie soll sich ein eventueller Beschuldigter verteidigen, wenn der Bericht schon veröffentlicht worden ist? Er erscheint in einer Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren, er ist für alle Ewigkeit da. Und wie soll sich je­mand verteidigen, der vielleicht gar keine Schuld hat? Daher war es nicht mög­lich, die Namen bekanntzugeben, ohne damit eine offenkundige Verletzung der Menschenrechte zu begehen.
Und das Ganze hat noch eine andere Konsequenz, die meiner Meinung nach aller­dings nicht beabsichtigt war: Wären die Namen erschienen, würden die Leute vermutlich denken, was für ein schlechter Mensch ist dieser oder jener Poli­zist oder Militär. Da aber kein Name veröffentlicht wurde, gibt es für die Leute nur einen Namen, nämlich den des Mannes, der für alles verantwortlich ist. Ich glaube nicht, daß die Namen aus diesem Greunde nicht bekanntgegeben wurden, das hat aber eine unbeabsichtigte, jedoch sehr begrüßenswerte Konse­quenz. Die Öffentlichkeit weiß, wer der Schuldige ist.

Frage: Für viele ist das politische System in Chile nichts anderes als eine be­wachte Demokratie, in der es zwar eine gewählte Regierung gibt, die Armee aber als graue Eminenz im Hintergrund wirkt. Wie gestaltet sich in Ihrer Hei­mat das Verhältnis zwischen Regierung und Militär, und welche Chancen hat die Demokratie in Chile?

R.G.: Ich würde den Begriff “bewachte Demokratie” lieber durch einen anderen ersetzen: Die chilenische Regierung ist durch und durch demokratisch, das steht außer Zweifel. Aylwin ist ein Demokrat, seine Minister sind allesamt Demokra­ten, alle Regierungsbeamte. Das Problem ist, daß wir uns in einem gesetzlichen Rahmen und in einer Staatsstruktur bewegen, die in sich undemokratisch sind, wo es sehr mächtige Institutionen gibt, die nicht den Willen des Volkes repräsen­tieren, darunter keine geringere als der Senat. Es war ein überaus konfliktreiches Jahr mit vielen Reibungspunkten zwischen einem Teil der Armee und der Regie­rung als legitimem Ausdruck des Volkswillens.
Die Bilanz ist letztlich positiv, das heißt, das zivile Zusammenleben hat sich ge­gen den Militarismus durchgesetzt. All die Versuche des Militarismus, die Demo­kratisierung zu bremsen und in die Enge zu treiben und durch ständige Angriffe auf die Demokratie Freiräume für sich zu schaffen, ist im ganzen Land auf vehemente Ablehnung gestoßen. Diese Strategie hat nur in den Kreisen Rückhalt gefunden, die sich mit dem Militärregime identifiziert haben. Das sind allerdings nicht wenige, Aylwin hat gerade mit 55% der Stimmen gewonnen, das war alles andere als ein überwältigender Wahlsieg. Ich glaube aber, Präsident Aylwin und die demokratischen Kräfte wären heute in der Lage, mit einem viel größeren Vorsprung zu gewinnen.
Ich möchte meine Eindrücke von der Jugend anführen, die die Freiheit, die sie heute hat, gar nicht kannte und noch nicht einmal davon geträumt hat. Das sehe ich an der Reaktion meiner Kinder und ihrer Freunde: Heutzutage wird im Fern­sehen über alles diskutiert, es gibt kein Thema, über das nicht diskutiert wird. Das kannten sie vorher gar nicht, und sie sind regelrecht gefesselt. Alle beteiligen sich, alle äußern ihre Meinung, vorher waren sie bloße Zuschauer der Meinung Anderer. Heute haben alle das Recht auf eine eigene Meinung, und sie beziehen Stellung. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Zum anderen hat der Staat seine aggressive Rolle aufgegeben. Wenn man früher, um bei diesem wichtigen Medium zu bleiben, den Fernseher anschaltete, drang der Diktator in die eigenen vier Wänder der Leute ein, beschimpfte uns als Vater­landsverräter, abgehalfterte Politiker, Machthungrige, und das mir einem aggres­siven, arroganten Ton. Präsident Aylwin tritt heutzutage gar nicht im Fernsehen auf, allenfalls als eine Nachricht unter vielen, wenn es etwas Nennenswertes gibt. Ganze vier Male hat er im Fernsehen gesprochen, vorher war das ständig der Fall. Und das Schöne daran ist, daß diese vier Male zum einen die Weihnachtsan­sprache war, eine chilenische Tradition, und zum anderen die Bekanntgabe der Ernennung der Rettig-Kommission, die Entgegennahme des Rettig-Berichts und die Bekanntgabe der Ergebnisse dieses Berichts. Also einzig und allein in Men­schenrechtsfragen, und das ist sehr gut so.

Kurioses: “Bwehn – pro – veh – choh” !

Argentinien

Konversation: Sprechen Sie mit Geschäftsleuten über die Rolle der Inflation in der Wirtschaft wie auch über die neuesten Regierungsdekrete und wie diese die Preise beeinflussen. – Frauen sollten persönliche Fragen er­warten, wie “Haben Sie Kinder?” und “Wenn nicht, warum?”. – Beglückwünschen Sie ihre Gastgeber we­gen ihres Heimes und ihrer Kinder. – Diskutieren Sie nie­mals ber Politik oder die Regierung, wenn Sie jemanden das erste Mal treffen. (Vermeiden Sie es insbe­sondere die Perón-Jahre zu erwähnen). Die Menschen neigen dazu sehr aggressiv zu werden, wenn ber Politik geredet wird… – Denken Sie daran, daß Argentinier Stolz auf ihr europäisches Erbe sind. Im Allgemeinen gibt es die Tendenz auf In­dianer herabzusehen. Fragen Sie nie jemanden, ob er oder sie indianischer Ab­stammung ist.

Essen im Restaurant: Rufen Sie nicht nach dem Kellner, indem Sie ein “Kuß”-Ge­räusch imitieren, wie Sie es bei einigen Personen höen werden: Das gehört sich nicht. Sagen Sie “mozo” (moh-zoh), um den Kellner zu rufen.

Chile

Konversation: Vermeiden Sie alle politischen Themen, insbesondere solche, die die Menschenrechte betreffen.

Costa Rica

Konversation: Haben Sie keine Hemmungen über Politik zu reden. Costa Rica ist sehr stabil, mit einer langen de­mokratischen Tradition.

Kleidung: Tragen Sie Shorts nur am Strand oder beim Sport.

Bei privaten Besuchen: Denken Sie daran, daß wenige Familien eine Haushalts­hilfe haben. Wenn Sie bei einer Familie ohne Dienstmädchen wohnen, bieten Sie ihre Hilfe beim Tischabräumen und Abwaschen an und machen Sie Ihr Bett.

Geschenke: Wenn Sie zu einem Essen eingeladen sind, bringen Sie Blumen oder einen guten Wein mit. Bringen Sie niemals Kalla-Lilien, da diese bei Beerdigun­gen verwendet werden.

Geschäftspraktiken: Um einen guten Eindruck zu machen, sollten Sie ein Kom­pliment über die Schöheit des Lan­des machen. Sprechen Sie politische Themen Zentral­amerikas nicht bei Ihrem ersten Treffen an, da man dann meist bei diesem Thema verbleibt und es für Sie schwer sein wird, auf das Geschäftliche zurück­zukommen. – Hinweis: Ausländische Investoren dürfen bis zu 100% eines Unter­nehmens oder Grundstckes erwerben.

Guatemala

Kleidung: Jedes Dorf hat seine eigenen handgewebten Kleidungsstcke für Männer und Frauen. Sollten Sie sich entscheiden einheimische Kleidung zu tragen, verge­wissern Sie sich, daß sie die Ihrem Geschlecht entsprechende Tracht tragen. Sie machen sich sonst zum Narren.

Bei privaten Besuchen: Benutzen Sie den Warm­wasserheizer nicht ohne ihn sich von Ihrem Gastgeber erklären zu lassen. Sie könnten einen elektrischen Schlag bekommen. – Wenn Sie bergwandern wollen, wird Ihr Gastgeber wahr­scheinlich sehr dagegen sein, aus Angst vor Guerilla-überfällen. Sie sollten sich seine Bitte zu Herzen nehmen. – Tragen Sie keine Taschen­messer bei sich, es sind illegale Waffen. – Es ist ver­boten Militärkleidung o.ä. zu tragen oder ins Land zu bringen.

Mexiko

Konversation: Um einen guten Eindruck zu machen, sollten Sie etwas über mexi­kanische Kunst und Literatur wissen. – Männer sollten den Gesten von Wärme und Freundlichkeit mexikanischer Männer – wie z.B. das Be­rühren der Schulter, die Hand auf dem Arm oder das An­fassen des Jackenrevers – nicht ausweichen. -Kritisie­ren Sie nicht die mexikanische Regierung oder machen Sie keine Verbes­serungsvorschläge. Vermeiden Sie die illegalen Einwanderer oder den Krieg U.S.A.-Mexiko zu erwähnen. Bedenken Sie, daß die gegenwärtigen Staaten Te­xas, Californien, Nevada, Utah, Colorado, New Mexico und Arizona bis Ende 1840 Teil Mexikos waren.

Getränke: Bereiten Sie sich darauf vor einen Mezcal (mehs – cahl), einen Schnaps, der aus der Maguey-Pflanze hergestellt wird, nach dem Essen angeboten zu be­kommen. Er ähnelt Aquavit, Grappa oder Brandy. Lassen Sie sich nicht vom Wurm in der Flasche überraschen. Wenn die Flasche geleert wird, essen Mexika­ner den Wurm meist mit!

Geschäftspraktiken: Seien Sie bei geschäftlichen Verab­redungen pünkt­lich, er­warten Sie Ihre mexikanischen Ge­schäftspartner aber erst nach einer halben Stunde. Beschweren Sie sich niemals über dieses Zuspätkommen. Bringen Sie sich für die Wartezeit etwas zum Arbeiten oder ein Buch mit. – Reden Sie die Se­kretärin immer mit “señorita” an, unabhängig von Alter und Familienstand. – Be­nutzen Sie stets die Titel der Personen bei der An­rede: Das ist für die geschäft­lichen Umgangsformen sehr wichtig. Einige häufig gebrauchte Titel sind: Doctor (doc – tohr), Profesor (pro – feh -sohr), Quémico/Chemiker (kee – mee – coh), In­geniero/ Ingenieur (een – heeh – nyeh – roh), Arquitecto/Architekt (ahr – kee – tek – toh). – Sollten Sie versuchen eine persönliche Beziehung aufzubauen, bevor Sie zum Geschäftlichen kommen, wirken Sie dem Stereotyp eines zu direkt und ag­gressiv auftretenden Nordamerikaners entgegen. – Frauen in der Geschäftswelt wird nicht der gleiche Respekt entgegengebracht wie Männern. Eine Geschäfts­frau sollte sich besonders professionell geben. – Wenn Sie Ihre Präsentation vor­bereiten bedenken Sie, daß Mexikaner von einem wissen­schaftlichen Auftreten beeindruckt sind. Sie sollten also Computer-Ausdrucke, Tabellen und Grafiken dabei haben. – Haben Sie Geduld, für Mexikaner sind Menschen wichtiger als Zeitpläne. – Versuchen Sie stark und zu­versichtlich aufzutreten, um den Respekt der mexikanischen Arbeiter zu gewinnen; Mexikaner aller Schichten halten Grin­gos für naiv.

Uruguay

Private Besuche: Wenn Sie von einer Familie der Mittel­schicht eingeladen wor­den sind, bei ihnen zu wohnen, denken Sie daran, daß sie wahrscheinlich gerade schwierige wirtschaftliche Zeiten durchgemacht haben. Erwarten Sie keinen Lu­xus.

Geschenke: Fr junge Leute können Sie amerikanische Pop-Musik mitbringen. Sie freuen sich auch ber T-Shirts und Sweatshirts mit Aufdrucken von U.S.-Univer­sitäten.

Geschäftspraktiken: Erwarten Sie sehr gebildete Geschäftsleute. Uruguayer ver­stehen Geschäftsmethoden besser als andere in lateinamerikani­schen Ländern. Sie wissen genau, daß Nordamerikaner praktisch und direkt sind und im Ge­schäft rasch vorankommen wollen.

Feiertage und besondere Ereignisse: Seien Sie während des Kar­nevals vorsichtig und tragen Sie wasserdichte Kleidung. Junge Leute bewerfen alle mit Wasser.

Entnommen dem “Traveller’s Guide to Latin American Customs and Manners”; E.Devine/N.L.Braganti; New York 1988

RADIKAL und GEMÄSSIGT

RADIKALE Politiker handeln emotional.
GEMÄSSIGTE Politiker handeln verständig.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker handeln vernünftig.

RADIKALE Politiker wollen Reformen ohne Rücksicht auf die Wahrung des
Bestehenden.
GEMÄSSIGTE Politiker wollen Reformen zur Wahrung des Bestehenden.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker wollen das Bestehende gegen Reformen
verteidigen.

RADIKALE Politiker wollen mehr Demokratie.
GEMÄSSIGTE Politiker wollen die Demokratie verteidigen.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker wollen keine Demokratie im Dienste der
Radikalen.

RADIKALE Politiker sehen überall nur den Kampf der Interessen.
GEMÄSSIGTE Politiker nehmen Rücksicht auf bestehende Interessen.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker sehen vor allem das Interesse des Ganzen.

RADIKALE Politiker wollen die Gewinne der Wirtschaft beschneiden.
GEMÄSSIGTE Politiker begreifen die Bedeutung der Gewinne für die
Wirtschaft.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker kämpfen gegen jede Beschränkung der
Gewinne.

RADIKALE Politiker setzen sich ohne Rücksicht auf die nationale Sicherheit für
ständigen sozialen Fortschritt ein.
GEMÄSSIGTE Politiker sehen, daß sozialer Fortschritt nur im Rahmen
nationaler Sicherheit möglich ist.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker lassen sich in ihrem Einsatz für die
nationale Sicherheit nicht durch soziale Gefühlsduseleien beirren.

RADIKALE Politiker gehen unvorsichtig mit Geld um.
GEMÄSSIGTE Politiker sehen die Gefahren der Inflation.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker bekämpfen die Inflation als Hauptfeind.

RADIKALE Politiker reden immer von den Menschenrechten.
GEMÄSSIGTE Politiker sehen ein, daß zur Verteidigung der Menschenrechte
im äußersten Fall die Anwendung der Folter nicht von vornherein
ausgeschlossen werden kann.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker lassen sich durch angebliche Berichte über
Folter nicht in ihren politischen Beziehungen stören.

RADIKALE Politiker sind im besten Fall gefährliche Träumer.
GEMÄSSIGTE Politiker sind Pragmatiker.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker sind Realisten.

RADIKALE Politiker sind z. B. Wehner, Brandt, Palme, Mitterrand, Berlinguer,
Ghaddafi, Arafat, Neto, Ho Chi Minh, Mao Tse Tung, Fidel Castro, Allende,
Bischof Scharf und Johannes XXIII.
GEMÄSSIGTE Politiker sind z. B. Albrecht, Kohl, Genscher, Giscard
d’Estaing, Ford, Kissinger, Sadat, Karamanlis, Golda Meir, Indira Gandhi
und Paul VI.
SEHR GEMÄSSIGTE Politiker sind z. B. Strauß, Papadopoulos, Park,
Videla, Pinochet, McNamara und Friedman.

Anmerkung:
Was woanders stand, stand manchmal auch in den CHILE-NACHRICHTEN. Die vorstehende Zusammenstellung erschien Oktober 1976 in Heft 42. Damals gab es noch keine Presse, in der es üblich war, Politike¬rinnen als solche zu bezeichnen. Es gab nicht einmal die taz als solche.

Aristide – ein Priester als Retter der Demokratie

Wenn mensch bedenkt, daß seit Februar 1986 zwei Versuche, freie Wahlen zu organisieren gescheitert sind, grenzt das jetzige Geschehen an ein Wunder: das erste Mal hatten im November 1987 Militärs und Tontons-Macoutes im Dienste des alten Regimes die Wahlen in einem Blutbad enden lassen, das zweite Mal hatten die Militärs eine Scheinwahl organisiert, die von mehr als 80% der Wähler boykottiert wurde und aus der der dem alten Regime nahestehende Zentrumskandidat Leslie Manigat als Präsident hervorging, der wiederum vier Monate später vom Generalstab der Armee seines Posten enthoben wurde. Dennoch, trotz der zahlreichen, von der Armee und den alten Machthabern unternommenen Versuche, mit allen Mitteln die Demokratisierung Haitis zu verhindern, war die politische Dynamik so stark, der Wille zur Demokratie seitens der Bevölkerung so mächtig, daß der massive Wahlsieg von Père Aristide, dem renommiertesten und engagiertesten Vertreter der demokratischen Bewegung in Haiti nur als logische Folge erschien.
Seit der Zeremonie der Amtsübernahme hat Père Aristide Farbe bekannt: er hat der pompösen Symbolik der Duvalier-Diktatur ein Ende gemacht und diese Zeremonie umorganisiert, indem er in erster Linie das Volk an ihr beteiligt hat. Eine Bäuerin und nicht die provisorische Ex-Präsidentin Ertha Pascale-Trouillot hat ihm die Präsidentenschärpe überreicht; statt auf dem Präsidentensessel Platz zu nehmen, den die Duvaliers dreißig Jahre lang besetzt hielten, hatte er extra einen Sessel herstellen lassen von den Waisenkinden der Organisation, die er vor einigen Jahren gegründet hat, um sich der Straßenkinder von Port-au-Prince anzunehmen. Seine zweite Amtshandlung bestand darin, acht hochrangige Militärs der Armee zu verabschieden und den Chef des Generalstabes Abraham darauf zu verpflichten, die Armee in den Dienst der Demokratie zu stellen. Diese Amtshandlungen mögen eher symbolisch erscheinen, sind aber doch nur die logische Fortsetzung des politischen Engagements von Père Aristide.

Aristides Werdegang

Nach dem Theologie- und Psychologiestudium in Jerusalem, Ägypten und Kanada war er 1982 zum Priester geweiht worden und im selben Jahr zum Pfar¬rer einer der ärmsten Gemeinden von Port-au-Prince ernannt worden. In kürzester Zeit wird er zu einem scharfen Kritiker des Duvalier-Regimes und der Ausbeutung in Haiti, zum Gewissen und Wortführer der Slumbewohner, so daß man ihn bald einen Propheten nannte. Aufgrund seines politischen Engagements wurde Aristide von Rom aus dem Salesianerorden ausgeschlossen. Die katholische Kirche wollte ihn sogar nach Kanada ins Exil schicken, machte so gemeinsame Sache mit den Tontons-Macoutes, die ihm ihrerseits nach dem Leben trachteten. Auf Aristide sind in den vergangenen Jahren mehrere Attentate verübt worden, seine Kirche wurde niedergebrannt und seine Anhänger wurden von den Schergen des alten Regimes angegriffen und getötet. Die vielfachen Mordversuche haben ihn zu einem Märtyrer gemacht, der in den letzten Jahren von Leibwächtergruppen, die von Jugendlichen aus den Elendsvierteln gebildet worden waren, geschützt wurde. Dennoch reagierte Aristide auf die häufigen Appelle seiner Anhänger, sich in der Politik zu engagieren, erst einige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen am 16.Dezember, nämlich als die FNCD (Nationale Front für Veränderung und Demokratie, eine kleine Linkspartei), sich an ihn wandte, um den von den alten Duvalieristen in der Person des ehemaligen Innenministers von Duvalier und bekannten Folterers, Roger Lafontant, unternommenen Versuch, die Diktatur wiederherzustellen, zu verhindern.

Polarisierung durch Aristide

Von dem Moment an, als sich Aristide zur Wahl aufstellen ließ, spaltete sich der Wahlkampf in zwei Lager: auf der einen Seite die Basisorganisationen, Gewerkschaften und demokratischen Gruppierungen, auf der anderen Seite die neoliberale Koalition von Marc Bazin, dem nach Aristide aussichtsreichsten Kandidaten für diese Wahl und den Duvalieristen, die sowieso gegen Aristide als Präsidenten waren, hatte er doch mehrfach erklärt, sie für die dreißig Jahre Diktatur, in die sie das Land gestürzt hatten, zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen haben deutlich gemacht, daß diese sich in eine Volksabstimmung für Aristide verwandelt hatten. Père Aristide hatte 67% der Stimmen erhalten, wogegen Bazin lediglich 13% erzielen konnte. Die restlichen Stimmen verteilten sich auf die anderen Parteien wie die des Agronomen Louis Dejoie (PAIN – Partei der Landwirtschaft und Industrie), die PDCH (Christlich-Demokratische Partei Haitis) des Pastors Sylvio Claude und die MDN (Mobilisierung für die Nationale Entwicklung), die Partei von Hubert de Ronceray, einem ehemaligen Duvalier-Minister. Der Erfolg von Aristide gegenüber seinem neoliberalen Rivalen Marc Bazin ist auch der Erfolg eines Gesellschaftsprojektes, das auf eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung am politischen Geschehen zielt, wogegen das andere Projekt sich eher als autoritärer Technokratismus bezeichnen ließe. Das Credo von Marc Bazin, dem Kandidat der Amerikaner und der haitianischen Bourgeoisie, war durchweg den Entwicklungshandbüchern des IWF und denen der Weltbank entnommen, bei der er lange Zeit als Beamter geabeitet hat. Bazin hatte sich als der Kandidat präsentiert, der aufgrund seiner guten Kontakte zu den internationalen Organisationen in der Lage sei, das Land aus der Isolation zu führen. Die Glanzleistung von Aristide bestand gerade darin, zumindest auf der politischen Ebene eine Alternative zu der neoliberalen Welle aufzuzeigen und den Völkern der Region neue Hoffnung auf ihre Selbstbestimmung zu geben. In den letzten fünf Jahren war es klargeworden, daß nur eine Mobilisie¬rung des Volkes, ungeachtet der von der Armee und den ehemaligen Machtha¬bern der Duvalier-Diktatur verübten Massaker, den 1986 errungenen Sieg über die Diktatur und die Durchsetzung des Kandidaten Aristide bringen konnte.

Aufgaben und Probleme der neuen Regierung

Der Präsident Aristide sieht sich allerdings äußerst vielfältigen Problemen gegenüber. Eine der dringendsten Aufgaben seiner Regierung wird darin bestehen, die Tontons-Macoutes endgültig aufzulösen und die von dreißig Jahren Diktatur tief geprägte Verwaltung zu sanieren. Einen Monat vor seinem Amtsantritt hatte der von seinem persönlichen Feind Roger Lafontant zusammen mit einigen Armeeoffizieren und Präsidentschaftskandidaten der letzten Wahlen organisierte Staatsstreich gezeigt, wie groß die politischen Schwierigkeiten seiner Regierung sein werden. Die sich in diesem Putsch manifestierende Frechheit und der Mangel an Respekt für ein Volk, daß zu mehr als zwei Dritteln der Stimmen seinen Präsidenten gewählt hatte, hat gezeigt, daß sie nichts unversucht lassen werden, um eine erfolgreiche Regierungspolitik von Aristide zu verhindern. Die Bevölkerung mußte, nachdem sie massenhaft für Aristide gestimmt hatte, am 6.Januar auf der Straße die Ergebnisse der letzten Wahlen verteidigen. Der eklatante Wahlerfolg von Aristide täuscht allerdings über seinen geringen Handlungsspielraum hinweg. Aristide, der nur sechs Wochen vor den Wahlen seine Kandidatur erklärt hatte, konnte sich nicht gleichzeitig auch noch auf die legislativen und die Senatswahlen konzentrieren, die zum selben Zeitpunkt stattfanden. Auch die FNCD, d.h. die Partei, die ihn unterstützt, brachte nicht genügend Kandidaten für Parlament und Senat zusammen. So hat die FNCD weder im Parlament (27 Sitze von 81) noch im Senat (13 Sitze von 27) die absolute Mehrheit und ist auf Koalitionen mit den Mitte-Links-Parteien und einigen unabhängigen Abgeordneten und Senatoren angewiesen. Sollte es Aristide gelingen, den sozialdemokratischen Flügel des Dreiparteienbündnisses ANDP (Nationale Allianz für Demokratie) für sich zu gewinnen, so verfügt er über eine starke und ausrei¬chende Mehrheit. Allerdings ist der Handlungsspielraum des Präsidenten Aris¬tide auch wegen der Verfassung von 1987 begrenzt, die – um das zu stark auf den Präsidenten zugeschnittene System zu reformieren – der möglichen Errichtung einer Diktatur vorgebaut hat. So genießt die Armee als Institution eine gewisse Unabhängigkeit und kann nicht, wie es unter Duvalier der Fall war, dem Präsidenten direkt unterstellt werden. Der vom Präsidenten und seinem Kabinett vorgeschlagene Premierminister braucht die Zustimmung von Senat und Parlament, was diesen beiden Institutionen eine größere politische Bedeutung verleiht als in den vergangenen dreißig Jahren, als sie von den Duvaliers vollkommen kontrolliert waren. Natürlich kann man einwenden, daß sich Haiti seit 200 Jahren die schönsten Verfassungen gibt, ohne damit die Errichtung von Diktaturen verhindern zu können. Der einzige Unterschied ist, daß die letzte Verfassung von 90% der Bevölkerung gewählt worden ist und diese gezeigt hat, daß sie bereit ist, sie mit allen Mitteln zu verteidigen.

Nationale und internationale Perspektiven der neuen Politik

Wenn auch der Handlungsspielraum von Präsident Aristide begrenzt ist, so bedeutet dies nicht, daß er nicht doch die Macht hat, einen strukturellen Wandel in Haiti in die Wege zu leiten. Seine moralische Autorität und das große Vertrauen, das die Bevölkerung in ihn setzt, werden ihm erlauben, die dringendsten politischen Probleme zu lösen, die die Duvalier-Diktatur hinterlassen hat und eine Politik einzuleiten, die die Haitianer mobilisiert für essentielle Fragen: den Kampf gegen den Analphabetismus, die ökologische Katastrophe, von der das Land betroffen ist, die Respektierung der Menschenrechte, eine größere soziale Gerechtigkeit, die Stärkung der demokratischen Prozesse und so der zivilen Gesellschaft. Schwierig wird es dagegen für die Regierung auf dem Gebiet der ökonomischen Fragen. Das Erbe der Duvaliers und der vielen provisorischen Regierungen seit Februar 1986 hat das Land an den Rand des finanziellen Ruins gebracht. Die neoliberale Politik der Grenzöffnung und der Schließung der staatlichen Unternehmen hat die Arbeitslosigkeit noch weiter verschärft, in einem Land, wo 70% der Bevölkerung ohne Arbeit ist. Die bis auf die Spitze getriebene neoliberale Strategie der Generäle in den letzten Jahren hat dazu beigetragen, aus Haiti eine große Freihandelszone für Waren aus Florida zu machen. Die Konsequenzen daraus sind eine Ausweitung des Schmuggels, eine noch größere Verelendung der Bauern (70% der Bevölkerung), die dem Konkurrenzdruck der amerikanischen Nahrungsmittelimporte nicht mehr standhalten können und zusätzlich unter der Schließung der einheimischen Unternehmen zu leiden haben. Wenn man davon ausgeht, daß der Präsident Aristide seit Jahren diese in Haiti in Zsusammenarbeit mit der Weltbank und den internationalen Hilfsorganisationen eingeführte Politik bekämpft hat, kann man sich vorstellen, daß es schwer sein wird für ihn, die in seinem Programm vorgestellte autozentrierte Wirtschaftsstrategie einzuführen. Aristide ist sich allerdings dieser Schwierigkeiten bewußt. Indem er einen ausgebildeten Agronomen (und keinen Politiker) zum Premierminister ernannt hat – René Préval – und indem er statt professioneller Politiker eher Fachleute ins Kabinett berufen hat, zählt Aristide darauf, breitere Sektoren der haitianischen Gesellschaft um sein Programm zu sammeln und die politische Polarisierung zu beenden, die den Wahlkampf gekennzeichnet hat.
Auf der internationalen Ebene möchte er Haiti aus der Isolation herausholen und die internationalen Beziehungen weniger einseitig gestalten. Seine erste Auslandsreise führte ihn nach Frankreich, was nicht zuletzt seinem Wunsch entspricht, den zu großen Einfluß der USA auf die haitianischen Angelegenheiten auszugleichen. Seine Regierung wird auch von neuem den Anschluß an Lateinamerika suchen. Die Anwesenheit des venezolanischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez bei seiner Amtseinführung und die häufigen Kontakte die dieser mit Aristide vor und nach seiner Wahl gehabt hat, zeigt zwischen den Zeilen eine Achse Caracas-Port-au Prince. Die lateinamerikanischen Delegationen waren bei der Amtseinführung stark vertreten und der Sieg Aristides war von mehreren Staatschefs und Vertretern der Theologie der Befreiung begrüßt worden (es wurden auch mehrere Solidaritätsgruppen für Haiti gegründet). Ein besonderes Ereignis verdient noch Erwähnung: bei der Amtseinführung war auch eine große kubanische Delegation verteten, dreißig Jahre nachdem F.Duvalier die diplomatischen Beziehungen zu Kuba abgebrochen hatte. Père Aristide hat letzte Woche versichert, daß er die Beziehungen zu Kuba wieder aufnehmen wird. Dies ist vielleicht das deutlichste Zeichen der Reintegration der beiden Länder, die aus unterschiedlichen Gründen in der Region isoliert sind.

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