„Ein anderer Blick auf die Diktatur“

Sehen und hören Aufführung von Soporte Vital im Berliner Mehringhof (Foto: Susanne Brust)

Wann und wie entstand die Idee für Soporte Vital?
Roberto Pacheco: Die Idee kam mir während der Pandemie. In Chile gab es lange Zeiten mit kompletter oder teilweiser Quarantäne, wir konnten oft nur für ein paar Stunden auf die Straße gehen. Das führte zu viel Stress, die Gemüter und die geistige Gesundheit wurden in Mitleidenschaft gezogen. Psychische Störungen und Krankheiten wie Depression, Anorexie oder Suizidgedanken waren die Folge. In Gesprächen mit Freund*innen stellte ich mir oft die Frage: „Wie haben wir uns in unserer Kindheit mitten in der Diktatur gefühlt, wie haben wir das geschafft?“ Wenn wir es überhaupt geschafft haben… Die Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf, gleichzeitig näherte sich in Chile das Gedenken zum 50. Jahrestag des Putsches. Das war der Moment in dem ich dachte: „Ich werde ein Werk zu der Frage machen, wie es war, die Kindheit in der Diktatur zu erleben“. Das war Mitte 2022.

Nun habt ihr diese Performance auch nach Deutschland gebracht. Wieso?
Roberto Pacheco: Als ich ein Jugendlicher war und die Berliner Mauer fiel, sprachen meine Geschwister – linke Aktivist*innen – viel über dieses Ereignis. Ich habe das Phänomen nie ganz klar verstanden, fühlte aber, dass es etwas sehr Bedeutendes für die Welt war und irgendwie auch für die chilenische Linke, in der ich aufgewachsen bin. In der Performance geht es auch um ein Mädchen, das mit ihrer Familie ins Exil nach Deutschland geht und darum, wie sich ihr Leben für immer verändert. Aufgrund dieser Verbindungen dachte ich, dass Deutschland ein guter Ort sein könnte, um dieses Werk zu zeigen.

Ist es anders, die Performance hier aufzu­führen?
Vanessa Leiva: Ja. Der Unterschied liegt in der Art und Weise, wie das Publikum sich zum Bühnenbild verhält. In Chile wollen die Zuschauer immer alles sehen und die kleinen Spielzeuge anfassen, alles ist sehr nah – schließlich geht es um eine gemeinsame, geteilte Geschichte. Deutsche Zuschauer*innen kennen unsere Geschichte nicht so gut, also beobachten sie das Objekt eher und halten aus Respekt etwas Abstand, oder vielleicht auch, weil sie sich emotional nicht zu sehr darin verwickeln wollen.

Welche Gefühle soll die Performance hervor­rufen?
Roberto Pacheco: Für mich persönlich ist sie mit meiner Biografie verbunden. Ich war ein Frühchen und musste lange im Inkubator bleiben. Das war eine sehr schwierige Zeit für meine Eltern und auch für meine Schwester und meinen Bruder, die damals erst 8 und 4 Jahre alt waren. Ich wollte ein interaktives Objekt entwickeln, das verschiedene Erfahrungen der Kindheit in dieser Epoche darstellt. Für die Performance habe ich Interviews mit drei Frauen geführt, die diese Zeit unter unterschiedlich starker politischer Repression erlebt haben. In den Interviews taucht das Spielen als ein Ort des Widerstands auf. So kam mir die Idee, dass die Performance auch eine Art Spiel sein könnte, das es Kindern und Erwachsenen erlaubt, sich diesen Geschichten zu nähern und sie als wiedergefundene Erinnerung zu verstehen. Es ging mir darum, eine Möglichkeit zu erschaffen, um an diese Zeit zu erinnern und eine Reflexion über Menschenrechte anzuregen. In Chile ist es schwierig über das Thema zu sprechen: Es ist ein Tabu, außerdem gibt es ein hohes Maß an Geschichtsleugnung und das Land ist weiterhin polarisiert, wenn es um den Prozess der Unidad Popular, den Putsch und die Diktatur geht, die daraufhin über uns einbrach.

Vanessa Leiva: Ich bin Teil der Interviews, die diesem Projekt eine Form gegeben haben. Meine Geschichte lässt einen anderen Blick auf die Diktatur in Chile zu. Ich bin Enkelin eines Unteroffiziers der Armee, dessen harte und autoritäre Vorstellungen auch das familiäre Zusammenleben prägten. Als Interpretin bringe ich das Radio zum Laufen, ich trage das Sounddesign – nämlich die Geschichten – und halte die Bindung zum Bühnenbild. Ich kümmere mich um diesen Inkubator und die Wesen, die darin sind; die Babys und die drei Geschichten, die erzählt werden.

Straffrei bis ins Grab

Tschüss, Sebastian! Protestierende erinnern in Santiago an die Menschenrechtsverletzungen unter Piñera (Foto: Diego Reyes Vielma / @diegoreyesvielma)

Im Oktober 2019 kam es in Chile zu einer sozialen Revolte. Die Erhöhung des Fahrpreises für den öffentlichen Nahverkehr um 30 Pesos war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hintergrund waren tägliche und anhaltende Demüti­gungen, die die Arbeiter*innenklasse des Landes jahrelang hatte tolerieren müssen. Demütigungen, die in allen Lebensbereichen stattfanden, so ein nach Einkommensniveau gegliedertes Gesundheitssystem, Renten unterhalb der Armutsgrenze, eine hohe Verschuldung der Bevölkerung nur zur Finanzierung alltäglicher Ausgaben, nicht für Luxusgüter.

Besonders junge Menschen hatten wochenlang gegen die Erhöhung der Fahrpreise protestiert, indem sie ohne Fahrschein im ÖPNV fuhren. Darauf reagierte die Regierung mit einer Militarisierung der Haltestellen und der Kriminalisierung der Bewegung. Am 18. Oktober weitete sich der Protest dann von der U-Bahn auf die gesamte Hauptstadt Santiago aus, die Polizei war überfordert. Am Nachmittag desselben Tages wurden überall in Santiago Barrikaden errichtet, die Empörung breitete sich schnell in die anderen Regionen Chiles aus.

Eine wirkungsvolle strafrechtliche Verfolgung fand nicht statt

Allein zwischen dem 18. Oktober und dem 30. November 2019 mussten nach Angaben des Gesundheitsministeriums mehr als 12.500 Menschen nach Zusammenstößen bei den Protesten in öffentlichen Krankenhäusern notfallversorgt werden. Mindestens 347 Menschen erlitten nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte Augenver­letzungen durch von der Polizei abgefeuerte, sogenannte nicht-tödliche Kugeln.

Eine wirkungsvolle strafrechtliche Verfolgung der für diese Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen gab es nicht. Die chilenische Staatsanwaltschaft gab an, dass zwischen dem 18. Oktober 2019 und dem 31. März 2020 8.508 Verfahren wegen institutioneller Gewalt im Zusammenhang mit Demonstrationen eingeleitet worden waren. 10.568 Opfer konnten identifiziert werden, wie die Staatsanwaltschaft Amnesty International in einem offiziellen Schreiben vom 9. August 2023 mitteilte.

Anzeigen durch das Nationale Institut für Menschenrechte wurde dabei noch am häufigsten nachgegangen. Bis Oktober 2022 hatte das Institut 3.151 Anzeigen wegen Folter, exzessiver Gewalt, unrechtmäßiger Nötigung und Tötung durch staatliches Handeln gestellt, von denen sich 2.987 gegen Mitglieder der Carabineros de Chile (chilenische Militärpolizei) richteten. Allerdings wurde nur gegen weniger als 200 Beamtinnen ein Verfahren eingeleitet. Diese Verfahren führten bis Oktober 2022 nur zu 14 Verurteilungen, wie die Zeitung La Tercera in einem Artikel vom 15. Oktober desselben Jahres berichtete. Auch wenn die Zahl seitdem gestiegen ist, wurden viele der Strafen dank eines im April 2023 verabschiedeten Gesetzes mit dem umgangssprachlichen Namen Ley gatillo fácil („Feuer frei-Gesetz“) reduziert.

Angesichts dieser Zahlen kann man bei den Menschenrechtsverletzungen der Jahre 2019 bis 2020 nicht von Einzelfällen sprechen. Die sozialen Bewegungen, Solidaritätsorganisationen, kritische Presse und engagierte Jurist*innen verstehen diese Übergriffe als systemisch – als Teil einer kohärenten Politik von Repression und Gewalt.

Und gerade die für diese Gewalt Verantwortlichen, die Polizist*innen, werden nicht zur Verantwortung gezogen. So teilte die chilenische Polizei dem Ministerium für Justiz und Menschenrechte im Jahr 2020 mit, dass sie 1.270 interne Ermittlungsverfahren eingeleitet habe, also in weniger als der Hälfte der gemeldeten Fälle. 1.033 davon wurden geschlossen und zu den Akten gelegt, da ein Fehlverhalten angeblich nicht nachgewiesen werden konnte.

Die ranghöchsten Vertreter der Polizei, der derzeitige Generaldirektor Ricardo Yáñez und auch der ehemalige General Mario Rozas (der in den Monaten Oktober und November 2019 das Kommando innehatte), haben sich während der Niederschlagung der Proteste stets davor gedrückt, sich zu ihrer Verantwortung zu äußern. Sie haben sich mehrfach geweigert, vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen, um sich zu den Verbrechen, die ihnen aufgrund ihrer Befehlsverantwortung vorgeworfen werden, einzulassen. Gleichzeitig erhielten die für die Ermittlungen zuständige Staatsanwältin und ihre Familie ständig Drohungen und die Polizei versuchte, sie von den Fällen abzuziehen, indem sie ihr „Feindschaft, Hass und Ressentiments“ gegenüber der Institution vorwarfen. Trotzdem haben sowohl die Regierung von Sebastián Piñera als auch der jetzige Präsident Gabriel Boric, der sich auf die Frente Amplio, eine Koalition aus progressiven Mitte-links- Parteien stützt, Yáñez in seiner jetzigen Position belassen, obwohl sich die Frente Amplio angeblich die aus der Revolte hervorgegangenen Forderungen zu Eigen gemacht hat.

Die Regierungspartei setzt auf Sicherheitsgesetze

An symbolträchtigen Tagen wie dem día del joven combatiente (Tag des jungen Kämpfers), der an die Ermordung linker politischer Aktivist*innen durch die Polizei während der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) als Vergeltung für den Angriff eines Teils der Carabineros auf Pinochet erinnert, zeigte die Partei von Boric, dass sie an der Seite der Polizei steht. Angesichts der Welle von „Law and Order“-Politik, die das Land derzeit erlebt, rühmte sich die Regierungspartei nur einen Tag nach dem Jahrestag der Revolte 2023 in den sozialen Netzwerken damit, die Regierung zu sein, die seit 1990 die meisten Sicherheitsgesetze beschlossen hat: 34 an der Zahl. Dabei ist das schon erwähnte „Feuer frei“-Gesetz das wichtigste. Ein weiteres Gesetzesvorhaben, das unter der Piñera-Regierung nicht mehr verabschiedet werden konnte, sah eine Ermächtigung zum Einsatz des Militärs für die Verteidigung „kritischer Infrastruktur“ vor.

Verschärfend kommt hinzu, dass die Schwere der politischen Verfolgung während der Proteste weiter geleugnet wird – auch von der Frente Amplio. Obwohl diese im Wahlkampf versprochen hatte, die politischen Gefangenen der Revolte zu begnadigen, wurden nur zwölf Verurteilte begnadigt, und das erst fast ein Jahr nach dem Amtsantritt von Präsident Boric. Eine große Zahl von Gefangenen wurde ohne Verurteilung in unverhältnismäßig langer Untersuchungshaft gehalten.

Es bestand die Absicht, Sebastián Piñera sowohl politisch als auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Am 19. November 2019 wurde ein Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen der Polizei und der Streitkräfte angestrengt. Dieses wurde allerdings nicht einmal inhaltlich diskutiert, da es aus verfahrenstechnischen Gründen zurückgewiesen worden war.

Soziale Revolte, auch gegen Piñera Besonders junge Leute gingen 2019 wochenlang auf die Straßen (Foto: Germán Rojo Arce)

Mindestens drei strafrechtliche Klagen gab es im Zusammenhang mit der Revolte von 2019 gegen Piñera, zusätzlich zu anderen wegen Korruption bei der Genehmigung von Bergbaubetrieben und wegen des Gesundheitsmanagements während der Pandemie. All diese Klagen wurden von Einzelpersonen eingebracht und wurden nun, nach dem Tod des ehemaligen Präsidenten, eingestellt.. Das deutet darauf hin, dass der wichtigste Akteur, der Piñeras Straflosigkeit garantierte, der Staat war, da dessen öffentliche Strafverfolgungsbehörde (die Staatsanwaltschaft) davon absah, gegen ihn vorzugehen. Das lag zum Teil daran, dass ihr damaliger nationaler Leiter vom ehemaligen Präsidenten selbst ernannt worden war. Dessen derzeitiger Nachfolger wurde wiederum von Gabriel Boric ernannt, wohl wissend, dass die Straflosigkeit andauern würde. Aber selbst, wenn es unter der neuen Regierung eine Bereitschaft gegeben haben sollte, ihn zu verfolgen: Dass Piñera auch nach seinem Tod verteidigt wird, leugnet schließlich weiter, dass der Staat Gewalt ausübt.

Der Absturz des Hubschraubers, den der Expräsident steuerte, um sich eine 50-minütige Fahrt zu seinem Sommerhaus in einer der exklusivsten Gegenden des Landes zu ersparen, wurde von der Presse als eine der größten Tragödien dargestellt, die je ein chilenischer Präsident erlitten habe. Boric selbst hielt zusammen mit mehreren seiner Minister am Sarg Piñeras Totenwache. Er wies in seiner Rede während der Beerdigung darauf hin, dass während seiner Zeit „als Opposition während (Piñeras) Regierungszeit Beschwerden und Schuldzuweisungen über das hinausgingen, was fair und vernünftig war“. Piñera sei „ein Demokrat der ersten Stunde“ gewesen. Derlei Aussagen machen die jahrelangen Bemühungen, ein Bewusstsein für Staatsverbrechen zu schärfen, zunichte.

Es war also nicht nur sein unerwarteter Tod, der Piñera davor bewahrte, vor Gericht gestellt zu werden. Die Straflosigkeit, die er mit ins Grab genommen hat, ist die Konsequenz des Handelns von Institutionen, die eine von der Exekutive unabhängige Strafverfolgung verhindern. Hinzu kommt eine Opposition, die eine sicherheits- und polizeifreundliche Agenda unterstützt, um daraus kurzfristig politisch Vorteil zu ziehen.

Ja, in Peru gab es Menschenrechtsverletzungen

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Nur el pueblo rettet el pueblo Protest von Peruaner*innen in Berlin (Foto: Fujimori Nunca Más – Berlin)

Während des sozialen Aufstands in Peru hat das Regime von Dina Boluarte zusammen mit einem großen Teil der peruanischen Presse eine Desinformationskampagne gestartet. In dieser wurde unter anderem versucht, das Narrativ zu etablieren, dass die Demonstrierenden selbst die Todesfälle verursacht hätten, Waffen von Evo Morales aus Bolivien geliefert wurden und dass der Terrorismus des Leuchtenden Pfades zurückgekehrt sei. Diese Behauptungen sind jedoch international widerlegt worden und wir hoffen, dass die internationale Justiz tätig wird, um der peruanischen Bevölkerung zu ihrem Recht zu verhelfen. Mehrere Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen in der westlichen Welt haben sich zu Wort gemeldet und das Regime von Dina Boluarte scheint angesichts seiner Lügen mehr und mehr in die Isolation zu geraten.

Der kürzlich veröffentlichte Bericht „Tödliche Verschlechterung. Übergriff durch Sicherheitskräfte und Demokratiekrise in Peru“ von Human Rights Watch stellt fest, dass die vom peruanischen Militär und der Polizei während der Proteste zwischen Dezember 2022 und Februar 2023 getöteten Menschen als außergerichtliche oder willkürliche Hinrichtungen angesehen werden können. Der Bericht dokumentiert des Weiteren eine übermäßige Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte, Verstöße gegen das Protokoll, Misshandlungen von Gefangenen und Mängel bei strafrechtlichen Ermittlungen sowie eine tief verwurzelte politische und soziale Krise, die Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Peru untergräbt. Obwohl einige der Demonstrierenden für Gewalttaten verantwortlich waren, reagierten die Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger Gewalt, unter anderem mit Sturmgewehren und Handfeuerwaffen. 49 Demonstrierende und Unbeteiligte, darunter acht Jugendliche unter 18 Jahren, wurden während der Proteste getötet.

“Diese Demokratie ist keine Demokratie mehr”

Der Bericht stützt sich auf mehr als 140 Interviews mit Zeug*innen, verletzten Demonstrant*innen und Umstehenden, Angehörigen von Getöteten, Polizistinnen, Staatsanwältinnen, Journalist*innen sowie auf Informationen des Verteidigungs- und Innenministers, damaliger Vertreter der peruanischen Polizei, der Staatsanwältin und der Bürgerbeauftragten. Die Organisation sichtete mehr als 37 Stunden Videomaterial und 663 Fotos der Demonstrationen und prüfte Autopsie- und Ballistikberichte, medizinische Unterlagen, Strafregisterauszüge und andere Dokumente. Die so gesammelten Beweise belegen, dass mindestens 39 Menschen durch Schussverletzungen starben. Mehr als 1.300 Menschen wurden verletzt, darunter Hunderte Polizist*innen.

Peru hat in den letzten Jahren eine Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Institutionen erlebt. Dies ist zum Teil auf die weit verbreitete Korruption zurückzuführen sowie auf ein Parlament, das hauptsächlich von persönlichen Interessen geleitet wird und beständig darauf aus ist, die seine Macht limitierenden Kontrollmechanismen zu beseitigen. Vor mehr als einem Jahr untergrub die damalige Opposition – die jetzt die Regierung stellt und das Parlament kontrolliert – zusammen mit der sich um die Unternehmensgruppe El Comercio konzentrierende Presse und den ultrakonservativsten Sektoren der Gesellschaft die ohnehin schon prekäre peruanische Demokratie, indem sie ein Narrativ des Wahlbetrugs erfanden. Anschließend blockierte sie die Reformprojekte der Regierung und startete eine Verfolgungskampagne gegen Vertreter*innen der Exekutive – zu der Castillo durch fragwürdige Ernennungen von Ministern mit verschiedenen Korruptionsvorwürfen und Ermittlungen beitrug. Der damalige Präsident vertiefte schließlich am 7. Dezember 2022 die politische Krise, indem er versuchte, das Parlament aufzulösen und in die Justiz einzugreifen. Der Kongress setzte Castillo ab und die Vizepräsidentin Dina Boluarte übernahm die Präsidentschaft, wie es die peruanische Verfassung vorsieht. Jedoch ohne jegliche Legitimation durch die Bevölkerung, da sie alle Versprechen des Wandels, die sie während des Wahlkampfs an der Seite von Castillo gegeben hatte, verriet. Die Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens zur Neubesetzung des Präsident*innenpostens steht indes noch immer in Frage. Wie es im bekannten Protestsong so schön heißt: „Diese Demokratie ist keine Demokratie mehr.“ (Während der Proteste entwickelte sich das Lied „Dina asesina”, in dem es heißt „Esta democracia, ya no es democracia“, Anm. d. Red.).

Tausende Menschen – vor allem Landarbeiter*innen und Indigene aus dem Süden des Landes – gingen auf die Straße, um Castillo zu unterstützen und gegen seine Absetzung zu protestieren. Sie forderten Wahlen und eine verfassungsgebende Versammlung. In den folgenden Tagen und Wochen verstärkten sich die Proteste und die Demonstrierenden blockierten Straßen und Flughäfen im ganzen Land. Als Reaktion darauf verhängte die Regierung Boluartes den Ausnahmezustand und setzte sowohl Streitkräfte als auch Nationalpolizei ein, um die Proteste niederzuschlagen. Die Sicherheitskräfte gingen brutal mit scharfer Munition und Tränengas gegen die Demonstrierenden vor, unter denen sich viele Frauen und Kinder befanden.

Der Bericht von Human Rights Watch betont, dass Peru die Menschenrechts- und Demokratiekrise umgehend und wirksam angehen muss. Dazu gehört die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Sicherheitskräfte sowie Maßnahmen, die sicherstellen, dass die Beamt*innen internationale Menschenrechtsstandards einhalten und für die begangenen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Aussagen decken sich mit dem im Februar 2023 von Amnesty International veröffentlichten Bericht, der auf folgende in Peru festgestellte Menschenrechtsverletzungen hinweist: Übermäßige Gewaltanwendung, willkürliche Festnahmen, Folter und Misshandlung sowie Kriminalisierung sozialer Proteste.

Dieses Vorgehen seitens der peruanischen Sicherheitskräfte verstößt gegen die grundlegenden Menschenrechte und kann schwerwiegende Folgen für die Sicherheit und das Wohlergehen der Bevölkerung haben. Darüber hinaus betont Amnesty International, dass diese Handlungen nicht neu sind und dass die Menschenrechtsverletzungen in Peru schon seit mehreren Jahren Anlass zur Sorge geben. Die Organisation fordert die peruanische Regierung auf, sofortige und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die staatliche Repression zu beenden und die Achtung der Menschenrechte zu gewährleisten. Außerdem fordert sie die peruanischen Behörden auf, mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, um die strukturellen Probleme der peruanischen Bevölkerung anzugehen.

Auch die Rede des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik sowie Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Josep Borrell am 18. April vor dem Europäischen Parlament zur Lage in Peru widerlegt die Darstellung von Präsidentin Boluarte und ihren Verbündeten. In seiner Rede äußerte er seine Besorgnis über die Menschenrechtsverletzungen im Land, einschließlich der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste und der Korruptionsvorwürfe im Justizsystem. Ein kürzlich vom US-Außenministerium veröffentlichter Bericht verurteilt ebenfalls die exzessive Gewaltanwendung bei den Demonstrationen in Peru und das Fehlen wirksamer Maßnahmen, um die an diesen Aktionen beteiligten Beamt*innen zur Rechenschaft zu ziehen. In dem Bericht wird die Befürchtung geäußert, dass diese Straffreiheit zu weiterer Gewalt und Unterdrückung führen könnte. Der Bericht weist auch auf mehrere dokumentierte Fälle von polizeilichen Übergriffen hin, welche von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert wurden, die ebenfalls die peruanische Regierung dringend zur Aufarbeitung der Fälle auffordern.

Die extreme Rechte hatte erwartet, dass sie die Verstöße unter den Teppich kehren könnte

Auch der am 3. Mai veröffentlichte Bericht des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt, was bereits in allen zuvor genannten Berichten erwähnt wurde und wiederholt werden muss: Während der peruanischen Proteste wurden von der peruanischen Regierung „schwere Menschenrechtsverletzungen“ begangen.

Der Gerichtshof empfiehlt, dass zur Überwindung der Krise in Peru ein „breiter, echter und umfassender Dialog“ geführt werden muss, in dem alle Bereiche der Gesellschaft vertreten sind. Er ist außerdem der Ansicht, dass die in seinem Bericht genannten Menschenrechtsverletzungen untersucht und strafrechtlich verfolgt werden sollten.

Insgesamt zeigen diese Berichte die weitgehende internationale Isolierung des autoritären Regimes von Dina Boluarte und ihrer Kompliz*innen, da die unter ihrem Mandat begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen in der westlichen Welt verurteilt werden. Die extreme Rechte in Peru hatte erwartet, dass diese schweigen würden und sie all die Tötungen und Misshandlungen unter den Teppich kehren könnten. Hier müssen wir allerdings auf die Bedeutung des Einsatzes der Kollektive der peruanischen Diaspora in der ganzen Welt hinweisen und aller Verbündeten, die Peru solidarisch ihre Hand gereicht haben. Hier in Deutschland geschah dies speziell durch das Netzwerk PEX Alemania und in Berlin war es explizit unsere Aufgabe als Kollektiv Fujimori Nunca Más – Berlín, durch die Summe all unserer kleinen Anstrengungen einen Druck im Ausland aufzubauen, damit die Stimmen unserer Landsleute gehört werden können. Aber es sei gesagt, dass wir nicht in Solidarität mit dem peruanischen Volk (pueblo) handeln. Wir SIND das peruanische Volk.

In diesem Sinne werden wir nicht aufhören, Druck auszuüben und uns zu organisieren, bis angesichts dieser schweren Menschenrechtsverletzungen GERECHTIGKEIT erreicht wird. Und wir werden auch weiterhin auf das größere, kollektive Projekt der tiefgreifenden Veränderung unserer Gesellschaft durch einen plurinationalen und paritätischen Verfassungsprozess drängen. Gleichzeitig unterstützen wir auch die Kämpfe unserer lateinamerikanischen Brüder und Schwestern, der Migrant*innen und Arbeiter*innen hier in Berlin, Deutschland und Europa; wir kämpfen für die Umwelt und ökologische Gerechtigkeit; wir setzen uns für die feministischen Kämpfe und die LGBTQIA+-Bewegung ein und wir verstärken unser Engagement für einen breiten Prozess der Dekolonisierung in der ganzen Welt, in dem Peru und Abya Yala (Lateinamerika) eine entscheidende Rolle spielen auf dem Weg zu mehr Souveränität unserer Völker und Territorien auf der Suche nach dem Buen Vivir (guten Leben, Anm. d. Red.).

„EINE DER SCHWERSTEN MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN“

Mexiko befindet sich in einer schweren Menschenrechtskrise, was sich in besonderem Maße an den erschreckenden Zahlen an gewaltsam Verschwundenen zeigt. Wie stellt sich die Situation aktuell dar?
Offizielle Angaben gehen derzeit von mehr als 105.000 Verschwundenen in Mexiko aus. Und das, ohne die Fälle zu berücksichtigen, die nicht zur Anzeige gebracht wurden. Diese Krise ist auch eine forensische Krise. Nach inoffiziellen Angaben gibt es 52.000 nicht identifizierte Leichen. Viele von ihnen wurden von Familienangehörigen von Verschwundenen gefunden.

Wer sind die Opfer der Verbrechen?
Es sind vor allem junge Menschen, die gewaltsam verschwinden. Obwohl die meisten von ihnen Männer sind, werden auch immer mehr Frauen Opfer. Diese Verbrechen werden meist im Kontext anderer Straftaten, wie Menschenhandel oder Sexualverbrechen, begangen. Diese geschlechtsspezifischen Charakteristika erfüllen uns mit zusätzlicher Sorge.

Welche Folgen haben diese Verbrechen für die Angehörigen?
Das Verschwindenlassen ist eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen, da eine Vielzahl von Rechten betroffen ist. Nicht nur die Rechte der verschwundenen Person, die Unversehrtheit des Lebens und der Freiheit, sondern auch die Rechte der Angehörigen werden verletzt, auch weil der Verbleib der verschwundenen Person nicht bekannt ist.
Es sind meist Frauen, die ihre Angehörigen suchen. Sie sind Mütter oder Schwestern, die auf die Suche gehen, oft unter sehr schwierigen und unsicheren Bedingungen. Als Frauen sind sie mit besonderen Problemen konfrontiert, in Bezug auf die staatlichen Institutionen, aber auch in Bezug auf die eigenen Communities. In den letzten Jahren wurden 13 Suchende ermordet. Das zeigt auch, dass der Staat nicht in der Lage ist, diejenigen zu schützen, die die Aufgabe der Suche ausführen.

Warum verschwinden Menschen in Mexiko gewaltsam? Und welche strukturellen Bedingungen begünstigen diese Verbrechen?
Die Situation ist seit 2006 und dem sogenannten Krieg gegen die Drogen eskaliert. Die damalige Regierung von Präsident Felipe Calderón militarisierte das Land, was zu keinem Rückgang der Gewalt geführt hat. Im Gegenteil, es gab einen enormen Anstieg von Morden und Menschenrechtsverletzungen, darunter das Verschwindenlassen. Die beteiligten Akteure und die Motive, die hinter dem Verschwindenlassen stehen, sind vielfältig und komplex. Die organisierte Kriminalität spielt eine wichtige Rolle, aber auch die Sicherheitskräfte, die auf verschiedenen Ebenen an vielen dieser Verbrechen beteiligt sind. Manchmal arbeiten sie mit dem organisierten Verbrechen direkt zusammen, manchmal lassen sie es in bestimmten Regionen operieren, ohne einzugreifen. Das UN-Komitee gegen Gewaltsames Verschwindenlassen hat in seinem Bericht anlässlich seines Besuchs im April 2022 deutlich gemacht, dass es zu einem großen Teil genau diese Sicherheitspolitik ist, die das Verschwindenlassen begünstigt und ermöglicht.

Mit der jüngsten Reform der Nationalgarde wurde die öffentliche Sicherheit noch weiter militarisiert. Die Militarisierung der Sicherheitspolitik ist ein Teil des Problems. Ein weiteres Problem ist die Straflosigkeit. Sie ist einer der wesentlichen Faktoren, die Verschwindenlassen begünstigen. Und das dritte Element ist das Fehlen einer ganzheitlichen Politik, die die verschiedenen Stellen koordiniert, im Bereich der Sicherheit und im Bereich der Bekämpfung des Verschwindenlassens.

Welche Maßnahmen hat die Regierung von AMLO ergriffen, um das Problem zu bekämpfen?
Die Regierung hat die Krise anerkannt. Das war sehr wichtig und wir hatten Hoffnung, dass die Anerkennung auch zu angemessenen Schritten führen würde. In den ersten Jahren dieser Regierung wurden einige Maßnahmen erlassen, die den Eindruck erweckten, dass es in diesem Zusammenhang Verbesserungen geben könnte. Es wurden einzelne Maßnahmen ergriffen, wie die Stärkung der Nationalen Kommission zur Suche nach Verschwundenen, der Sondermechanismus zur forensischen Identifizierung (Mecanismo Extraordinaria de la Identificación Forense) oder die Schaffung des Nationalen Zentrums zur menschlichen Identifizierung (Centro Nacional de Identificación Humana). Diese und weitere Initiativen sind aber eher isolierte Maßnahmen und werden einem ganzheitlichen Ansatz der Politik nicht gerecht. Zudem wurden Maßnahmen erlassen, die in die entgegengesetzte Richtung gehen. Aus unserer Sicht ist die erwähnte Militarisierung eine der besorgniserregendsten Entwicklungen. Die Streitkräfte sind darauf trainiert, den Feind zu bekämpfen. Ein Großteil der Truppe ist weit davon entfernt, die Menschenrechte zu verteidigen, und sie ist auch sehr resistent gegen Transparenz und Rechenschaftspflicht, und Straflosigkeit ist ein großes Problem.

Im August wurde ein Bericht der Wahrheitskommission zum Fall Ayotzinapa veröffentlicht. Darin wurde die Komplizenschaft zwischen Militärkräften und organisiertem Verbrechen klar benannt. Von 83 ausgestellten Haftbefehlen in dem Fall betreffen nun 20 Militärs. Wie bewerten Sie den Bericht?
Der jüngste Bericht beinhaltet wichtige Elemente. Er zeigt deutlich, wie die Untersuchungen behindert wurden, um sie schnell abzuschließen und die „historische Wahrheit“ zu konstruieren. Es gab eine staatliche Politik, die darauf ausgerichtet war. Und er benennt deutlich, dass aufgrund der Verwicklung verschiedener staatlicher Institutionen von einem Staatsverbrechen gesprochen werden muss. In diesem Sinne ist der Bericht sehr relevant.
Es muss aber gesagt werden, dass dieser Bericht kein Bericht der Wahrheitskommission zum Fall Ayotzinapa ist, sondern nur der ihres Vorsitzenden Alejandro Encinas Rodríguez. Weder andere Mitglieder der Kommission noch Fachleute der GIEI (Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Expert*innen zum Fall Ayotzinapa, Anm. d. Red.) waren an der Erstellung und Bewertung beteiligt. Deshalb sind wir besorgt, dass die Veröffentlichung des Berichts vor allem politischen Gründen geschuldet ist. Familienangehörige haben den Bericht zwar ebenfalls begrüßt, fordern aber eine tiefere Analyse des genauen Tathergangs. Bisher haben sie noch immer noch keine Antwort darauf, wo ihre Söhne verblieben sind.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

WARTEN AUF DIE FREIHEIT

Foto: Vanessa Rubilar

Verónica Verdugo ist erschöpft. Eigentlich ist sie eine energische Frau, aber ihr Körper drückt Trauer und Enttäuschung aus. Seit mehr als zwei Jahren kämpft sie für die Freilassung jener, die während der Massenproteste, die im Oktober 2019 anfingen, gefangen genommen worden sind, unter anderem auch ihr Sohn. Der Aufstand sollte der Anfang einer neuen Geschichtsschreibung in Chile sein. Teil dieser neuen Ära ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, über die am 4. September abgestimmt wird. Außerdem setzte sich bei den Wahlen im Dezember eine linksreformistische Regierung durch, die von den ehemaligen Sprecher*innen der Studierenden Giorgio Jackson, Camila Vallejo und dem heutigen Präsidenten Gabriel Boric geführt wird. Alle versprachen, dass mit ihnen der Neoliberalismus in Chile begraben werde und die Menschenrechtsverletzungen der vorherigen Regierung ein Ende finden würden. Aber vier Monate nach Amtsantritt ist die Stimmung getrübt. Es fehlen konkrete Reformen, mehr als 200 Menschen sind im Zuge der Massenproteste noch immer inhaftiert, und auch die Gewalt konnte im Land noch nicht gestoppt werden.

Es sind vor allem Frauen, die sich im Zentralgebäude der chilenischen Industriegewerkschaft in Santiago an einem Abend Ende Mai treffen. Sie planen die nächsten Schritte, um die Gefangenen freizubekommen. Aber ihre Stimmung ist getrübt, denn noch immer klagen sie über viele Dutzende, die bis heute im Gefängnis sitzen, ein Großteil in Präventivhaft. Meistens wird ihnen Brandstiftung oder Plünderung vorgeworfen, oft ohne schwerwiegende Beweise. Familienangehörige beschuldigen die Staatsanwaltschaft, die Präventivhaft als Mittel der politischen Repression einzusetzen. Da solche Prozesse sich in Chile über Jahre hinziehen, sprach Verónica Verdugo sich im vergangenen Jahr zusammen mit Parlamentarier*innen der heutigen Regierung für ein Amnestiegesetz aus.

Damals hoffte Verdugo, dass das Gesetz bis Ende 2021 verabschiedet werden würde. Doch auf dem Weg veränderten Parlamentarier*innen der Mitte-Parteien die Vorlage so stark, dass kaum eine Person aus dem Gefängnis entlassen worden wäre. Auch ihr 21-jähriger Sohn Nicolas Rios nicht. Er saß über ein halbes Jahr in U-Haft, danach mehr als ein Jahr in Hausarrest und wurde im Februar schließlich entlassen. Das Verfahren gegen ihn – er soll angeblich Molotowcocktails geworfen haben – dauert noch immer an. Die Beweislage gegen ihn ist dünn. Es gibt einzig Aussagen von Polizist*innen.

Seit Nicolas Rios ins Gefängnis kam, drehte sich das Leben seiner Mutter nur noch um seine Freilassung. Einst glaubte sie, die Tortur habe mit der neuen Regierung ein Ende. Doch dem ist nicht so. „Die Regierung hat uns verraten“, meint sie. „Als wir im Sommer einen Hungerstreik durchführten, hat uns Giorgio Jackson besucht und versprochen, die neue Regierung würde nicht mehr als Klägerin auftreten. Aber das stimmt nicht.“

Enttäuscht von der Regierung Der Rechtsanwalt Oscar Castro vor dem obersten Gerichtshof in Santiago de Chile (Foto: Vanessa Rubilar)

Auch der Rechtsanwalt Oscar Castro ist von der neuen Regierung enttäuscht. Er hat mehrere Gefangene der Massenproteste verteidigt und ist gleichzeitig Mitkläger wegen Menschenrechtsverletzungen gegen den ehemaligen rechten Präsidenten Sebastián Piñera. Castro ist davon überzeugt, dass in Chile politische Haft angewandt werde und es der neuen Regierung am Willen fehle, diese anhaltende Ungerechtigkeit zu stoppen.

Er erzählt, dass er mehrere Personen verteidigt habe, die eine U-Bahnstation angezündet haben sollen. „Videoaufnahmen zeigten eindeutig, wie meine Klienten gegen die Drehkreuze der Station treten, aber diese nicht in Brand stecken. Auf den gleichen Aufnahmen ist eine dritte Person zu sehen, die, ohne vermummt zu sein, Feuer zündet.“ Die Staatsanwaltschaft habe sich aber nie um diese dritte Person gekümmert. In Castros Fall, der noch unter Piñera verhandelt wurde, traten sowohl die staatliche U-Bahn als auch das Innenministerium als Klägerin auf. Nach mehr als 18 Monaten in U-Haft sprach das Gericht die Angeklagten frei. „Niemand wird diesen Aufenthalt im Gefängnis entschädigen“, sagt Castro. „Die Personen haben unheimlich viele Probleme, ihr Leben wieder aufzubauen.“

Neben Anklagen gegen Protestierende seien Verfahren gegen brutale Polizist*innen und Militärs kaum vorangebracht worden, kritisiert der Anwalt zudem. Auch mit der neuen Regierung habe es keine Veränderung gegeben. „Die neue Regierung hätte vom ersten Tag an die Staatsanwaltschaft anweisen können, ihre Praxis zu ändern oder gar die Führungspersonen aus Zeiten der Regierung Piñera auszuwechseln“, kritisiert er. Stattdessen agiere das Innenministerium weiterhin als Klägerin gegen Gefangene der Proteste und obwohl während der Wahlkampagne von politischen Gefangenen gesprochen wurde, hält nun ein Großteil der Koalition die Gefangenen für normale Straftäter*innen.

Die Stimmung ist getrübt Seit den Massenprotesten sind noch immer mehr als 200 Menschen inhaftiert (Foto: Vanessa Rubilar)

Nach knapp drei Monaten Amtszeit hält Castro viele Amtshandlungen für längst überfällig. Neben dem Auswechseln wichtiger Führungspersonen hätte ein Dekret aus Zeiten der Diktatur aufgehoben werden können, das Demonstrationen nur mit Bewilligung der militarisierten Polizei, Carabineros de Chile, zulässt. Castro sagt, dass einer Institution, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist, noch immer diese Aufgabe überlassen werde, sei beschämend. Auch fehlen bis heute konkrete Zusagen für eine Wiedergutmachung nach unrechtmäßigen Haftstrafen, ebenso wie Gefolterte und die mehr als 400 Personen, die durch Polizei und Militärschüsse blind wurden, auf eine Entschädigung warten.

Der Kritik ist sich die neue Regierung durchaus bewusst. Sie kündigte am 25. Mai eine „Agenda für Menschenrechte“ an. Gemeinsam mit der Staatssekretärin für Menschenrechte, Haydee Oberreuter, erklärte der Präsident, es gehe ihm um „Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen“ während der Massenproteste. Mit Oberreuter hat die Regierung eine langjährige Aktivistin ins Amt geholt. Sie wurde während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet festgenommen und gefoltert, wobei sie ihr ungeborenes Kind verlor. Seitdem kämpft die Aktivistin für eine rechtliche Verfolgung der Verantwortlichen.

Noch fällt diese Agenda der Regierung denkbar unkonkret aus. Zwar zeigt sie sich gewillt, die rechtliche Verfolgung voranzutreiben und will auch zwei Kommissionen gründen: Eine zur Wiedergutmachung und eine zweite, um Maßnahmen zur Verhinderung erneuter Menschenrechtsverletzungen vorzubereiten. Für Castro ist das aber zu wenig. „Noch hat die Regierung nichts gemacht“, meint er. „Sie liebt das Symbolische, und darin ist sie gut. Boric und seine Leute glauben, dass Sprache eine neue Realität schaffen würden. Doch so ist es eben nicht.“

Denn längst gibt es neue Gewalttaten. „Wir erleben derzeit eine Kollaboration zwischen kriminellen Banden und der Polizei“, sagt Castro und spricht damit die Vorfälle vom 1. Mai an. Als es bei der Demonstration zum Arbeiter*innen-Kampftag zu Ausschreitungen kam, griffen bewaffnete Straßenhändler*innen die Demonstrierenden und die anwesende Presse mit Schlagstöcken, Messern und Schusswaffen an. Eine Fotografin wurde dabei erschossen. Verheerend sei gewesen, dass die Polizei nicht eingegriffen und sich zudem mit den kriminellen Banden verständigt habe, meint Castro. „Hierbei handelt es sich um Menschenrechtsverletzungen, bei denen externe Gruppen beauftragt werden, Gewalt durchzuführen“, ist sich der Anwalt sicher. Die Regierung verurteilte daraufhin zwar die Gewalt und bedauerte den Tod der Journalistin. Doch sie kritisierte mit keinem Wort das Handeln der Polizei. Eine angeordnete interne Untersuchung blieb folgenlos. Auch organisierte Schüler*innen beklagen, dass es bei ihren Demonstrationen zu ähnlichen Vorfällen gekommen sei.

Gerne hätten wir die Meinung der Subsekretärin für Menschenrechte zu diesem Thema eingeholt. Ein bereits zugesagtes Interview wurde allerdings drei Stunden vor dem Treffen abgesagt. Man habe vergessen, beim Außenministerium um Erlaubnis zu bitten, lautete die Begründung. Diese Praxis ist bei Interviews mit der ausländischen Presse durchaus üblich. Die Pressesprecherin lehnte es daraufhin ab, einen neuen Interviewtermin zu finden. Bei Fragen rund um Menschenrechtsverletzungen schweigt sich die aktuelle Regierung derzeit aus. Es bleiben nur offizielle, beschwichtigende Statements.

Im Haus der Gewerkschaft treffen sich Familienangehörige der Gefangenen mit dem kommunistischen Abgeordneten Borris Barrera, der Verständnis für das Verhalten der Regierung zeigt. „Sie ist sich bewusst, dass sie nicht nur für diese Initiative, sondern für alle Reformprojekte keine Mehrheiten in den beiden Parlamentskammern hat.“ Die ursprüngliche Regierungskoalition Apruebo Dignidad besitzt in der unteren Kammer lediglich ein Drittel der Sitze und in der Oberen gerade einmal sechs von 50 Sitzen. Genau deshalb musste sie schon zu Beginn der Regierung Parteien der ehemaligen Mitte-Links Koalition Concertación in ihr eigenes Bündnis aufnehmen. Doch noch immer fehlt eine Mehrheit in den Kammern, so dass die christdemokratische Partei das Zünglein auf der Waage ist. Deren Vertreter*innen sind zum Teil mächtige Unternehmer*innen und schwanken politisch zwischen linken und rechten Positionen. Barrera sagt, man plane eine tiefgreifende Rentenreform, ein neues universelles Gesundheitssystem und eine Steuerreform. Für diese Reformen müsse man den Oppositionsparteien positive Signale senden, um sie davon zu überzeugen, zumindest für einen Teil der Projekte zu stimmen. Bei der Freilassung der Gefangenen klappe das aber nicht. Zu sehr sind sie mittlerweile durch die Medien als Verbrecher*innen gebrandmarkt.

Barrera gibt sich solidarisch mit den Familienangehörigen. „Ich gehöre jenem Sektor innerhalb der Regierungskoalition an, der überzeugt von der Freilassung ist und weiterhin Druck ausüben wird.“ Schließlich seien diese Menschen in einem Kontext gefangenen genommen worden, der die heutigen Reformen überhaupt erst ermöglicht habe. Der politische Kampf sei richtig gewesen, meint er. Unabhängig von den damit im Zusammenhang gebrachten Straftaten.

Teil des gesellschaftlichen Wandels in Chile soll eine neue Verfassung sein, die mittlerweile ausgearbeitet ist. Im Gegensatz zu den Parlamentskammern hatte die Regierungskoalition im Verfassungskonvent eine deutliche Mehrheit. In ihr sind viele der Reformen verankert, welche die Regierung durchsetzen will. Doch auch hier ist Barrera skeptisch. „Und wer setzt die Verfassungsartikel um?“, fragt er rhetorisch. „Das sind die Parlamentskammern, und hier fehlt uns erneut die Mehrheit.“

Mittlerweile ist aber selbst der Beschluss der Verfassung gefährdet. Umfragen sprechen von einer knappen Mehrheit für jene, die bei der endgültigen Abstimmung am 4. September die neue Verfassung ablehnen. Verónica Verdugo betrübt diese Aussicht: „Man muss jetzt dafür kämpfen, dass zumindest sie angenommen wird.“ Der Abgeordnete Barrea glaubt, die Entscheidung über die neue Verfassung sei für die Regierung ohnehin eine Frage über Leben und Tod. Ohne sie sei gar kein Wandel möglich, die Regierung würde scheitern, und für die nächste Amtsperiode würde das nichts Gutes bedeuten. Angesichts dieses Szenarios ist die Freilassung der Gefangenen nicht mehr das größte Problem in Chile.

„DIESES KOMPLOTT MUSS AUFGEKLÄRT WERDEN“

„Der Fluss hat es mir gesagt“ Treppenbild zur Erinnerung an Berta Cáceres in Cantarranas Fotos: (COPINH)

David Castillo ist als bisher einziger Auftraggeber des Mordes an Berta Cáceres angeklagt. Wird er verurteilt werden? Welche Szenarien sind wahrscheinlich?
Die Verteidigung von David Castillo hat Verzögerungen erwirkt, um den Prozess zu umgehen und ihm und den anderen, die erst noch angeklagt werden müssten, Straffreiheit zu verschaffen. Dennoch denke ich, dass es überzeugende und unwiderlegbare Beweise gibt, die zu seiner Verurteilung führen werden. Das ist für uns das wahrscheinlichste Szenario. Uns geht es nicht um eine Verurteilung um der Verurteilung willen, stattdessen möchten wir in dem Gerichtsverfahren deutlich machen, wie systematisch die Angriffe auf Verteidigerinnen der indigenen Territorien sind. Es geht um den Kontext, in dem der Mord an Berta Cáceres stattgefunden hat. Ohne den Kontext ist es unmöglich, die Ereignisse der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 zu verstehen. Und es geht darum, dass Berta Cáceres eine weibliche Führungspersönlichkeit war, der indigenen Gemeinschaft und der sozialen Bewegungen in Honduras.

Das zweite mögliche Szenario wäre katastrophal: Es könnte einen außergerichtlichen Deal mit den Beschützern von David Castillo geben, also mit Mitgliedern der Familie Atala Zablah (Der größte Teil von DESA gehört dieser in Honduras wirtschaftlich und politisch sehr einflussreichen Familie Anm. d. Red.). Das wäre nicht verwunderlich, denn in Honduras werden viele Abkommen zur Straffreiheit durch Bestechung geschlossen. Um das zu verhindern, ist die internationale und nationale Prozessbeobachtung sehr wichtig, ebenso wie Maßnahmen, die den Prozess der Rechtsfindung schützen. Allerdings sind wir eben in Honduras, einem Land der Straflosigkeit, einem Land, in dem Dinge passieren, von denen wir manchmal denken, dass sie nicht passieren können.

Falls Castillo verurteilt wird: Gibt es dann die Chance, auch gegen weitere Auftraggeber*innen vorzugehen?
Diese Möglichkeit besteht aufgrund der internen Hierarchien des Unternehmens und der Unterordnung Castillos unter die Mehrheitsaktionäre. Allerdings hatte der Staat nie den politischen Willen, diese Ebene anzugehen. Mitglieder der Familie Atala Zablah wurden ja nicht einmal vernommen. Solange der Staat keinen politischen Willen zeigt, werden keine Beweise gesammelt, keine weiteren Untersuchungen durchgeführt. Für den Staat ist Castillo derjenige, der geopfert wird. Er wird als der Autor des Verbrechens präsentiert, als die Person, die allein über den Mord entschieden hat. Das macht uns Sorgen. Wir haben in den vergangenen Jahren Informationen über die Finanzen des Unternehmens, die wir eingefordert hatten und wofür wir im vorherigen Prozess ausgeschlossen wurden, analysiert. Wir sehen klare Auffälligkeiten, Anzeichen von Korruption, sogar von Geldwäsche. Dazu müsste viel mehr ermittelt werden. Dann könnten auch die vielen Fragen zur Realisierung des Wasserkraftwerks Agua Zarca aufgeklärt werden.

Die betrügerischen Machenschaften in Bezug auf Agua Zarca sind Teil eines weiteren Verfahrens, das als „Betrug am Gualcarque-Fluss“ bekannt ist. Gibt es einen Zusammenhang mit dem jetzigen Prozess gegen David Castillo?
Wir haben immer betont, dass die Ermordung von Berta Cáceres mit der illegalen und illegitimen Konzession für das Wasserkraftwerk Agua Zarca zusammenhing. Und genau das bringt der Fall „Betrug am Gualcarque“ ans Tageslicht: Unregelmäßigkeiten innerhalb des Konzessionsverfahrens und die Verletzung von Grundrechten bei der Umsetzung des Projekts. Eine Staatsanwaltschaft, die wirklich an einer umfassenden Gerechtigkeit interessiert wäre, hätte die Möglichkeit, neben dem Mord weitere Verbrechen aufzudecken. Es sind dieselben Eigentümer, es sind dieselben Leute, die über ihr „politisches Kapital“ sprachen und davon, dass sie Deals mit staatlichen Institutionen gemacht haben, um zu bekommen, was sie wollten.

Wird es gelingen, neben dem wirtschaftlichen auch das politisch-militärische Geflecht hinter dem Mord aufzudecken?
Viele Informationen aus Telefongesprächen fehlen in den derzeitigen Verfahren, weil sie gar nicht ausgewertet wurden. Es besteht sogar der Verdacht, dass weitere Militärs am Mord an meiner Mutter beteiligt waren. Die Ermittlungsakte des Majors Mariano Díaz Chávez wird geheim gehalten. Der Staat hat eine große Bringschuld, dieses Komplott aufzuklären, auch was die eigene Verantwortung betrifft. Zweifelsohne wurden die Auftraggeber des Mordes geschützt. Wir von COPINH meinen, dass es mindestens eine schweigende Zustimmung von Präsident Hernández gegeben haben muss.
Angesichts des Ausmaßes der Beteiligung des militärischen Nachrichtendienstes und Generalstabs an diesem Verbrechen muss er davon gewusst haben.

Was bedeutet Bertas Vermächtnis heute, wo noch viel offensichtlicher ist, dass Honduras sich in einen autoritären, diktatorischen Narco-Staat verwandelt hat und kurz davor ist, ein failed state zu werden? Welche Möglichkeiten haben die indigenen, kleinbäuerlichen und sozialen Bewegungen in dieser Situation?
Unser Land ist in einer sehr schwierigen Lage, die von großen Frustrationen und von einer sehr tiefen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise geprägt ist. Wir von COPINH bemühen uns weiter, die Kämpfe der Gemeinden zu stärken. Das ist unsere Hauptaufgabe und Verpflichtung, gerade angesichts eines Verbrechens, das uns auf organisatorischer Ebene sehr getroffen hat. Die Kämpfe zur Verteidigung der Territorien gehen auch während der Pandemie weiter. Es gab sogar lokale Aktionen, um den Bau weiterer Projekte zu verhindern oder vor der drohenden Remilitarisierung in den Gemeinden zu warnen. Gleichzeitig müssen wir etwas gegen die akute Nahrungsmittelkrise und die soziale Krise tun. Zudem versuchen wir, landesweite Bündnisse zu schmieden, was eines der Hauptanliegen meiner Mutter war. Nur dadurch können wir heute überhaupt von einer honduranischen sozialen Bewegung sprechen. Wir leisten unseren Beitrag, sagen unsere Meinung, schauen, wo es hingehen könnte, versuchen, politisches Vertrauen wiederherzustellen, das soziale Gefüge wieder aufzubauen und auch die Probleme der Gewalt anzusprechen, die so viele Organisationsräume zerstört hat.

Ich glaube, dass meine Mutter immer ein Bezugspunkt dafür sein wird, wie man verschiedene Kämpfe zusammenbringt, sowohl in territorialen als auch in großen sozialen und politischen Fragen. Sie wusste, wie wir gleichzeitig lokal Widerstand leisten, das soziale Gefüge der Menschen wieder aufbauen und landesweite und sogar internationale Aktionen planen. Wir gehen das sehr langsam an, um das Land wieder auf Kurs zu bringen. Viele Menschen denken gerade darüber nach, wie wir den fortdauernden Putsch und den diktatorischen Staat praktisch überwinden können. Vor allem auch angesichts dessen, wie die Wahlen dieses Jahr ablaufen werden und was dann übrigbleibt. Denn es ist klar, dass bei diesen Wahlen nichts wesentlich anderes herauskommen wird als bisher. Obwohl das Szenario sehr entmutigend ist, müssen wir unser Engagement mittel- und langfristig aufrechterhalten. Nur so können wir der Vision einer Neugründung von Honduras wieder näherkommen, für die Berta Cáceres stand.

Du hast deine Mutter verloren, kämpfst für umfassende Gerechtigkeit und gleichzeitig bist du ihre Nachfolgerin als Generalkoordinatorin von COPINH mit allen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die das mit sich bringt. Bleibt da noch Raum für Persönliches oder Zeit, mal durchzuatmen?
Wir versuchen immer, für unser emotionales und mentales Wohlergehen zu sorgen, denn manchmal wird die Erschöpfung einfach zu groß. Also versuchen wir, Momente des Ausgleichs zu finden. Ohne die könnten wir gar nicht mehr richtig denken. Wir machen kleine Wanderungen auf dem Land, in den Gemeinden, suchen uns ein Pferd zum Reiten. Aber es ist schon schwierig. Es ist ein sehr hektisches Leben. Ich bewundere meine Mutter jeden Tag mehr. Wie hat sie das nur gemacht, sich immer um alles zu kümmern, alles im Blick zu haben und obendrein vier Kinder zu haben? Meine jetzige Aufgabe ist das Schwerste, was ich je in meinem Leben angepackt habe. Von wegen Abschlussarbeit an der Uni… Was für eine Uni überhaupt? Aber wir gehen unseren Weg. Das Gute ist, dass mich viele Leute unterstützen. Das hilft sehr. COPINH wäre schon mehrmals am Ende gewesen, wenn ich alles allein stemmen müsste.

40 STUNDEN ENTFÜHRT

Wieder frei Die entführten Frayba-Mitarbeiter Victorico Gálvez Pérez (links) und Lázaro Sánchez Gutiérrez (rechts) (Foto: Frayba)

Am 12. April gegen sieben Uhr morgens verlassen Lázaro Sánchez Gutiérrez und Victorico Gálvez Pérez das Frayba-Büro in San Cristóbal de Las Casas, um in einem weißen Pickup in Richtung Palenque aufzubrechen. Anlass der Reise ist ein Treffen mit Mitgliedern der indigenen Menschenrechtsorganisation PADUC und Familienangehörigen von Inhaftierten. Um ungefähr 21 Uhr abends erhält Frayba die Information, dass Sánchez Gutiérrez seine Familie von einer unbekannten Nummer aus angerufen hat. In dem Anruf teilte er mit, dass es ihm und Gálvez Pérez gute gehe, sie sich in San Felipe im Landkreis Ocosingo befänden und dass eine*r ihrer Verwandten am darauffolgenden Tag um acht Uhr morgens einen Koffer mit einer vorgegebenen Summe Geld in einem bestimmten Fahrzeug abliefern solle.

Dank einer breiten Solidaritätsbewegung aus Menschenrechtsorganisationen, politischen Gruppen, indigenen Gemeinden und Kirchen, gelingt es, die beiden Menschenrechtsverteidiger am Morgen des 14. April zu befreien. Nach über 40 Stunden der Freiheitsberaubung kehren die Entführten unversehrt zurück. Frayba hat inzwischen Sicherheitsmaßnahmen zum Selbstschutz eingeleitet. Dazu gehört auch, dass sich die kürzlich Entführten und andere Mitglieder der Organisation nicht persönlich gegenüber der Presse äußern.

Außer Frage steht, dass die jüngste Entführung zweier Menschenrechtsverteidiger mit ihrer Arbeit zusammenhängt. In der Region Ocosingo, in der die Entführung stattfand, macht Frayba die von Paramilitärs ausgeübte Gewalt sichtbar. Laut dem Rechercheportal Pie de Página dokumentierte Frayba seit August 2020 mindestens fünf Angriffe der regionalen Organisation ORCAO, einer bewaffneten Gruppe von Kaffeebauern, auf die zapatistische Gemeinde Moisés Gandhi im autonomen Landkreis Lucio Cabañas. Und das kleine Dorf San Felipe, in dem die Frayba-Mitarbeiter entführt wurden, wird mehrheitlich von ORCAO-Mitgliedern bewohnt.

„Die vom Bundesstaat Chiapas veröffentliche Angabe, bei der Freiheitsberaubung von Lázaro und Vico habe es sich um einen Verkehrsunfall in Ocosingo gehandelt, weisen wir vehement zurück“, schreibt Frayba in einer Pressemitteilung. Die offizielle Version verharmlost nicht nur Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in der Region, sondern trägt auch zur Kriminalisierung der Menschenrechtsarbeit durch den mexikanischen Staat bei.

Frayba dokumentierte am Ort der Entführung Angriffe bewaffneter Gruppen

In Chiapas, wo überwiegend indigene Bevölkerungsgruppen leben, werden Menschenrechte vor allem durch Landraub und Zwangsvertreibung verletzt. Zudem zerstören Extraktivismusprojekte und Raub von Wasserressourcen die Umwelt. Die neoliberale Politik des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador nimmt für den sogenannten wirtschaftlichen Aufschwung im sehr armen Chiapas die Zerstörung des Lebensraumes indigener Gemeinden in Kauf.

Der Einzug der 2019 gegründeten Nationalgarde in Chiapas (siehe LN 560) verschärfte Probleme der strukturellen und sexualisierten Gewalt sowie der Straflosigkeit. Die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen wie dem Verschwinden der 43 Studierenden in Ayotzinapa vor sechseinhalb Jahren (siehe LN 538) blieb hingegen ein weitgehend leeres Versprechen der Regierung. Die an den staatlichen Sicherheitsdiskurs anknüpfende Militarisierung in Chiapas richtet sich stattdessen gegen indigene Gemeinden, Landbevölkerung und zentralamerikanische Migrant*innen, die versuchen, das Land über die Grenze zu Guatemala zu erreichen.

Auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) prangert die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko und die Untätigkeit der staatlichen Institutionen an. Ende April verabschiedete sie die Resolution 35/2021, die Familien in zwölf indigenen Tsotsil-Gemeinden in Chiapas Schutzmaßnahmen gewährt. Die Kommission befand, dass die Familien angesichts der Angriffe bewaffneter Gruppen von Vertreibung bedroht sind. Mit ihrer Erklärung richtet sich die CIDH an die mexikanische Regierung und fordert Maßnahmen, um die Tsotsil-Familien zu schützen.

45 Menschenrechtsverteidiger*innen wurden laut dem Netzwerk TDT in Mexiko allein zwischen 2019 und 2020 umgebracht, fünf davon in Chiapas. Die Straflosigkeit der Verbrechen verstärkt die Gefahr. Während Interventionen des Militärs Menschenrechtsarbeit erschweren, verzögern die Behörden die Aufklärung von Verbrechen. Im Falle der entführten Frayba-Mitarbeiter etwa hatten die „(…) zuständigen Landes- und Bundesbehörden von Anfang an exakte Informationen über die Fakten des Geschehens”, kommunizierten diese aber nicht, wie es in der Mitteilung von Frayba heißt.

Außer leeren Versprechen kann die Regierung bis jetzt wenig vorweisen

In diesem alarmierenden Kontext kommt die Untätigkeit des mexikanischen Staates einem Boykott der Menschenrechtsarbeit gleich. Dabei hat die Coronavirus-Pandemie den Sicherheitsdiskurs der Regierung noch verschärft. Im Namen der nationalen Sicherheit wurde eine höhere Militärpräsenz in Chiapas legitimiert, die die Dynamiken von Landraub, Gewalt und Angriffe auf indigene Gemeinden verstärkt. Menschenrechtler*innen und Organisationen wie Frayba werden in Chiapas also mehr denn je gebraucht, wenn es darum geht, an der Seite der indigenen Gemeinschaften und der ärmeren Landbevölkerung zu kämpfen, Ungerechtigkeiten anzuzeigen und Opfern von Menschenrechtsverletzungen beizustehen.

WENN DER STAAT MORDET

Falsch abgebogen Viele Soldat*innen folgen dem Rechtskurs des Präsidenten (Foto: Celine Massa, flickr.com CC BY-NC 2.0)

Ángela Gaitán Pérez war erst zwölf Jahre alt, als sie Ende Juli durch den FARC-Dissidenten-Anführer alias Gildardo Cucho zwangsrekrutiert wurde und zwei Monate später in einem Luftangriff auf ein FARC-Lager starb. Sie war die Jüngste der geschätzten acht bis achtzehn Minderjährigen zwischen 12 und 17 Jahren, die in der Nähe der Ortschaft Aguas Claras II, einem Vorort von San Vicente del Caguán im Verwaltungsbezirk Caquetá, unter dem Bombenhagel der kolumbianischen Armee starben.

„Minister, Sie haben verschwiegen, dass Kinder bombardiert wurden.“

In der Operation vom 30. August 2019, die laut einem Kommuniqué der kolumbianischen Armee „legitim, legal und im Einklang mit dem Völkerrecht stand“, wurde ‚Gildardo Cucho‘ ermordet. Einen Tag zuvor war ‚Cucho‘ neben dem FARC-Anführer Iván Márquez in einem Video zu sehen gewesen, in welchem die Wiederbewaffnung der FARC verkündet wurde. Die Regierung feierte zunächst den erfolgreichen Militärschlag gegen die wiederbewaffneten FARC-Kämpfer*innen und gab der Öffentlichkeit lediglich preis, dass bei dem Luftangriff „14 Straftäter starben“. So behauptete es der damalige Verteidigungsminister Guillermo Botero.

Erst am 5. November, als der Senator Roy Barreras der Partei Cambio Radical (CR) dem Senat die gerichtsmedizinische Untersuchung des Militäreinsatzes offenlegte, wurde das Ausmaß des in Kauf genommenen Schadens offensichtlich.

„Minister, Sie haben Kolumbien verschwiegen, dass an dem Tag sieben und vielleicht vier weitere Kinder bombardiert wurden. Denn die Beweise der Gerichtsmedizin zeigen, dass vier weitere Körper so zerschmettert waren, dass man nur feststellen konnte, dass sie jünger als 20 Jahre alt waren“, so der Senator der Partei Partido Social de Unidad Nacional (Partido de la U) am 6. November in der Senatssitzung über den Misstrauensantrag gegen Guillermo Botero. Noch bevor über den Antrag abgestimmt werden konnte, kündigte der Verteidigungsminister seinen Rücktritt an. Er wurde von Außenminister Carlos Holmes Trujillo ersetzt – ebenfalls ein Hardliner.

Zwei Monate nach der Bombardierung in Caquetá besuchte der unabhängige Nachrichtensender Noticias Uno den Ort des Geschehens und fand dort unter anderem eine Bombe, die nicht explodiert war. Neben dem 15 Meter breiten Einschlag wurden weitere Körperteile gefunden. Gegenüber Noticias Uno berichtete die Gemeinde, dass zehn weitere Kinder verschwunden seien. Augenzeug*innen berichteten zudem, dass einige Kinder, die den Angriff überlebten, von der Armee verfolgt und anschließend getötet wurden.

„Wovon sprichst du Alter?“

„Wovon sprichst du Alter?“, antwortete der Präsident Iván Duque auf die Bitte eines Journalisten sich zu den Bombardierungen zu positionieren. Zwar behauptete Duque, die Frage des Journalisten von der Zeitung El Heraldo nicht gehört zu haben, doch die Ignoranz des Präsidenten hat die Proteste im Land erneut befeuert. Dass sich in dem Lager Kinder aufhielten, hätte die Armee wissen müssen. Es wurde schlicht ignoriert. Herner Carreño, der Vertreter der Nachbargemeinde Puerto Rico, hatte Monate vor der Bombardierung öffentlich gewarnt, dass in der Gegend einige Kinder zwangsrekrutiert wurden. Kurz darauf erhielt Carreño die ersten Morddrohungen.

Entscheidend für die Aufklärung dieser und anderer Militäroperationen im Jahr 2019 ist die Frage, was der damalige Verteidigungsminister darüber erfahren hat – und wann. „Denn dies geht über die politische Verantwortung hinaus, die nach einem Rücktritt gelöst ist, hier geht es um strafrechtliche Haftung“, sagt José Emiliano Vivanco, Leiter der Lateinamerikaabteilung von Human Rights Watch im Interview mit der Radiosender RCN. „Ich glaube, dass die militärische Führung Rechenschaft ablegen muss, insbesondere der Heeresführer Nicacio Martínez Espinel“, so Vivanco.

„Es geht um strafrechtliche Haftung“

Entscheidend für die Rückkehr des Verteidigungsministeriums der Regierung Duque zu einer kriegerischen Politik war die kontroverse Beförderung von neun hochrangigen Generälen. Gegen diese wird zurzeit wegen der Ermordung von Zivilist*innen ermittelt, darunter gegen den jetzigen Befehlshaber der Armee Nicacio Martínez, unter dessen Befehl zwischen den Jahren 2000 und 2010 75 unschuldige Zivilist*innen ermordet worden waren.Vor diesem Hintergrund wirken die jüngsten Morde der kolumbianischen Armee unter Nicacio Martínez kaum überraschend. In einem in der New York Times

veröffentlichten Enthüllungsartikel sprach der Journalist Nicholas Casey mit hochrangigen Militärs, die von einem Treffen Anfang 2019 berichteten, bei dem sie dazu aufgefordert wurden, die Anzahl von Morden und Verhaftungen zu erhöhen – koste es, was es wolle. Das Dokument, das die Offiziere nach dem Treffen unterzeichnen mussten, legt allen Offizieren nahe „Operationen auch mit einer Glaubwürdigkeit und Genauigkeit von 60 bis 70 Prozent durchzuführen“ und im Zweifel zu schießen. Das führt unweigerlich zu Menschenrechtsverletzungen, wie die Bombardierung in Caquetá zeigt. Zwar kündigte General Martínez an, den Befehl über die Verdoppelung der Angriffe zurückzuziehen, doch laut einem Bericht vom September 2019 über die Erfolge der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, stiegen die militärischen Auseinandersetzungen mit illegalen Gruppen um 82 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Nach der Veröffentlichung des Artikels in der New York Times wurde zudem bekannt, dass Militärangehörige unter Druck gesetzt wurden, um die Personen zu identifizieren, welche die Informationen an den Journalisten weitergegeben hatten. Die Mobiltelefone von Verdächtigen wurden abgehört, sie und ihre Familienangehörigen mit dem Tod bedroht. Innerhalb der staatlichen Kräfte soll eine Gruppe mit dem Titel „Operation Silencio“ gegründet worden sein, um die Kolleg*innen einzuschüchtern und zu verhindern, dass sie weitere Anzeigen melden. Nicholas Casey musste nach einer Welle von Morddrohungen Kolumbien verlassen.

Dass sich die Geschichte der Morde an Zivilist*innen wiederholen würde, hatte bereits der Regierungsplan von Präsident Iván Duque angekündigt. Darin wurde die sogenannte „Politik der demokratischen Sicherheit“ wieder zum Vorzeigeprojekt der Regierung gemacht. So wird die kriegerische Politik bezeichnet, die der Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) etablierte und die darauf abzielte eine Atmosphäre öffentlicher Sicherheit zu schaffen um ausländische Investitionen anzulocken.

Die Ermordungen von Zivilist*innen durch die Armee häufen sich

Als falsos positivos (falsche Positive) wurden damals die Morde an Zivilist*innen bekannt, welche die staatlichen Streitkräfte ausführten um militärische Erfolge im Kampf gegen die Guerrillerxs präsentieren zu können. Mehr als 5.000 Bauern und Bäuerinnen, obdachlose und behinderte Menschen wurden im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums entführt, umgebracht und nach der Ermordung in Stiefel und Tarnkleidung gekleidet. Aufgrund eines perfiden Bonussystems wurden jene Soldat*innen mit Beförderungen, Urlaub oder Geld belohnt, die am meisten tote Guerrillerxs vorweisen konnten.

So geschehen am 22. April 2019, als der ehemalige FARC-Kämpfer Dimar Torres durch einen Soldaten in der Ortschaft Carrizal im Verwaltungsbezirk Nord-Santander an der Grenze zu Venezuela ermordet wurde. Dimar Torres war 39 Jahre alt und lebte seit drei Jahren als líder comunal (Führungspersönlichkeit der Gemeinde) und Bauer in Carrizal. Am Tag seines Todes fuhr er Motorrad, wobei er von einem Soldaten angehalten wurde. Ein Junge lief vorbei und begrüßte Dimar, der blass und verängstigt wirkte. Der Junge war die letzte Person der Gemeinde, die Dimar Torres lebend sah. Vier Mal wurde auf ihn geschossen. Als Soldat*innen sein Grab gruben, wurden sie von Ortansässigen überrascht und weggetrieben, da sie bereits das Schlimmste befürchteten als sie die Schüsse gehört hatten. Sie fanden den toten Dimar auf dem Bauch liegend, mit den Hosen auf Kniehöhe und dem Motorrad auf dem Leib. Zwischen Tränen und Schreien errichteten die Einwohner*innen ein Zelt und standen zehn Stunden Wache bis die Polizei eintraf.

Gegenüber den Medien behauptete der mittlerweile zurückgetretene Verteidigungsminister Botero, dass Dimar versucht hatte, dem Soldaten die Waffe zu entreißen und diese dabei abgefeuert wurde. Die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft weisen jedoch darauf hin, dass der Mord an Dimar vom Oberstleutnant Jorge Armado Pérez Amézquita in Auftrag gegeben und in einer WhatsApp-Gruppe geplant worden war. „Der Typ muss nicht verhaftet werden, er muss ermordet werden“, schrieb der Oberst in der Gruppe, so geht es aus einer Kopie des Chatverlaufs hervor, der der Staatsanwaltschaft und der Zeitschrift Semana vorliegt. Demnach wollten sich die Soldat*innen wegen des Todes eines Kameraden durch eine Landmine rächen. Dimar Torres sollte der nationalen Befreiungsarmee (ELN), die in der Gegend aktiv ist, als im Kampf gefallener Guerillero präsentiert werden. Später bekannte sich der Soldat, der die Schüsse abfeuert hatte, zu dem Mord und wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Doch die FARC-Partei fordert, dass auch gegen den Befehlshaber ermittelt wird.

Denn die Ermordungen von Zivilist*innen durch die Armee häufen sich. Am Morgen des 18. Oktober 2019 hörten einige Einwohner*innen der Ortschaft Media Naranja im Gemeindebezirk Corinto des südlichen Verwaltungsbezirks Cauca einen Hubschrauber und Schüsse. Die indigene Schutzorganisation Guardia Indígena fand den leblosen Körper von Flower Trompeta in der Nähe der Finca seiner Großmutter mit einem Schuss im Hinterkopf und Anzeichen von Folter. Die Verletzungen wiesen nicht auf Kampfhandlungen, sondern auf eine gezielte Ermordung hin. Laut der Guardia Indígena sprach ein Militärangehöriger, der neben dem Toten stand, mit zwei weiteren in zivil gekleideten Personen. Letztere beschwerten sich: „Wo ist das Paket? Sie hätten den Körper schnell verschwinden lassen müssen. Jetzt wird uns die Gemeinde Probleme bereiten.“

VERGEBEN UND VERGESSEN

Kurz zuvor, am 16. Mai, war Eddy Montes, einer der Protestierenden, in dem berüchtigten Gefängnis El Modelo von einem Wärter erschossen worden (s. LN 540). Als Antwort auf dieses Verbrechen und um die Freilassung der politischen Gefangenen zu fordern, riefen die Zivile Allianz für Gerechtigkeit und Demokratie (ACJD) sowie die Bürgerallianz Blau-Weiß (UNAB) am 23. Mai zum Generalstreik auf. Die Mehrheit der Bevölkerung nahm an dem Streik teil, der von der Unternehmer*innenschaft unterstützt wurde. Das Amnestiegesetz, das nur wenige Tage später verabschiedet wurde und den Tätern Straffreiheit garantiert, scheint die Forderungen der Streikenden geradezu zu verhöhnen. Außerdem kommt es zu einem Zeitpunkt, an dem die Opposition ohnehin geschwächt ist.

Wer ist hier der Terrorist? Protest an einer Hauswand // Foto: John Skiing

Schon vor dem Mord an Eddy Montes hatte die ACJD den Dialog mit der Regierung wieder ausgesetzt. Seit Februar läuft er in einer Art Stop-and-go-Modus. Der Vorwurf: Die Regierung halte die unterzeichneten Vereinbarungen nicht ein. An der ACJD schieden sich allerdings schon frühzeitig die Geister: Kritiker*innen misstrauten der Zusammensetzung der Verhandlungsgruppe, in der das Großkapital mit dem mächtigen Unternehmerverband COSEP, der von der US-amerikanischen Agentur für Internationale Entwicklung (USAID) unterstützte Thinktank FUNIDES (Fundación Nicaragüense para el Desarrollo Económico y Social) sowie die Amerikanische Handelskammer überproportional vertreten sind und von daher den Ton angeben. Entsprechend äußert sich Julio Lopez Campos, einst hochrangiges FSLN-Mitglied und Freund Daniel Ortegas, heute als sein schärfster Kritiker im Exil lebend, gegenüber der Online-Zeitung Confidencial: „Ortega kooptiert Schritt für Schritt die Agenten des Großkapitals und macht damit jeglichen Versuch des Widerstands vonseiten der Unternehmerschaft zunichte, indem er diejenigen Unternehmerstimmen (der kleinen und mittleren Unternehmen) unterhöhlt, die auf eine konsequentere Haltung drängen.“ Er hält deren Vertreter*innen in der ACJD fehlende Geschlossenheit vor, was Ortega ausnutze, um sie im Spinnennetz des Dialogs und der Sitzungen gefangen zu halten. Außerdem verfüge die ACJD über keinerlei Repräsentativität und Führungsrolle in der Bürger*innenbewegung.

Für Ortega ist ein Pakt mit der Wirtschaft politisch überlebensnotwendig


„Wieder einmal dürfte klar sein, dass die Großunternehmer nur daran interessiert sind, die Verschärfung der Wirtschaftskrise einzudämmen, und dass sie nie am Fall der Diktatur interessiert waren“, sagte er gegenüber Confidencial. „Es geht ihnen um ihre Gewinne, nicht um die Demokratie. Sie wollen eine Einigung, auch wenn es eine schlechte Einigung wäre, aber keine Gerechtigkeit.“
Für Ortega ist es politisch überlebensnotwendig, einen Pakt mit den Wirtschaftskapitänen zustande zu bringen. Also mit denjenigen, die die tatsächliche Macht im Land besitzen, um eine sich weiter verschärfende wirtschaftliche Abwärtsentwicklung zu verhindern. Die zunehmende Verschlechterung der Lebensverhältnisse könnte für neuen sozialen Sprengstoff sorgen, der auch bisher noch loyale Kreise erfassen könnte. Von daher muss Ortega es schaffen, die Bewegung der Student*innen, der Frauen, der Bauern und Bäuerinnen, der Mütter der Ermordeten, der Gefangenen, kurz die sozialen Bewegungen unter Kontrolle derjenigen Sektoren zu bringen, die bereit sind, in naher Zukunft einen Pakt mit dem Regime zu schließen. Die ACJD steht bei ihren Kritiker*innen im Verdacht, diese Rolle übernehmen zu wollen.

Die Großunternehmer waren nie am Fall der Diktatur interessiert


Das Regime hat die Zeit des langen Verhandlungsprozesses mit der ACJD indessen genutzt: Für die massive Aufrüstung von Polizei und Spezialeinheiten mit neuen Waffen, Geldmitteln, Ausrüstung und einer beträchtlichen Personalaufstockung. Zuletzt hat die Anerkennung der „Vereinigung der Verteidiger des Vaterlands” (CODEPAT) als Nichtregierungsorganisation, der ehemalige Militärs sowie Angehörige der einstigen Staatssicherheit angehören, bei Analyst*innen große Besorgnis ausgelöst. Schließlich waren ehemalige Militärs und bewaffnete Zivilist*innen unter der Führung der Polizei für die brutale Unterdrückung der Bürger*innendemonstrationen verantwortlich, die durch ihre Mitgliedschaft in einer jetzt legalen Sammlungsbewegung die Chance sehen, sich strafrechtlicher Verfolgung zu entziehen.
Vor diesem Hintergrund offenbart das Amnestiegesetz seinen wahren Charakter. Artikel 1 definiert den Personenkreis, der von diesem Gesetz profitiert, nämlich Täter und Opfer gleichermaßen. Die Verbrechen der Polizei, der Paramilitärs sowie des Staatsapparats werden gleichgesetzt mit den willkürlichen Anschuldigungen gegen Personen, die im Zusammenhang mit der Protestbewegung in Prozessen zu drakonische Strafen verurteilt worden waren, um deren Gefährlichkeit und kriminelle Energie zu „beweisen“. Desweiteren sieht das Gesetz vor, alle anhängigen Verfahren, alle Ermittlungsverfahren, alle Gerichtsurteile niederzuschlagen. Mit Artikel 3 verschafft sich das Regime ein Instrument, gegen „Wiederholungstäter*innen“ vorzugehen: Menschen, die durch das gegenwärtige Gesetz begünstigt werden, wird mit erneuter Inhaftierung gedroht, sollten sie durch „Straftaten“ rückfällig werden. Darunter fallen sowohl politische Akte als auch strafrechtliche Vergehen. Alle Oppositionsgruppen sowie die ACJD haben das Gesetz als „Gesetz der Straflosigkeit für die Täter“ zurückgewiesen.
Ihrer Meinung nach handelt es sich um ein Gesetz, das der Diktatur die Voraussetzungen für ihren Fortbestand sichern soll. Soziale Bewegungen und aufbegehrende Bürger*innen, also die Bewegung der autoconvocados, sollen demnach mundtot gemacht werden – während die einzigen, die sich künftig auf der Straße frei bewegen, Polizeitruppen sind. Gleichzeitig spiegelt das Gesetz den absurden Glauben eines Regimes wider, das meint, man könne die Geschichte wieder auf Null stellen und noch einmal von vorne beginnen.

Amnestien für schwere Menschen- rechtsverletzungen führen zu weiteren Menschenrechtsverletzungen


In einer Presseerklärung kommentierte die ACJD, dass das Gesetz „im Widerspruch zur Amerikanischen Menschenrechtskonvention“ stehe, „da es die Untersuchung und Bestrafung von Personen verhindert, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind“. Weiterhin hieß es: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit können weder Gegenstand einer Amnestie sein noch verjähren.“
Auch die Hochkommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, äußerte ihre Besorgnis über die Verabschiedung des Amnestiegesetzes: „Amnestien für schwere Menschenrechtsverletzungen sind völkerrechtlich verboten, sie erzeugen Straffreiheit, was zu weiteren Menschenrechtsverletzungen führen kann.“
Im Anschluss an die Verabschiedung des Gesetzes wurden weitere 50 politische Gefangene aus der Haft entlassen. Darunter waren fast alle prominenten Gefangenen wie die Campesino-Führer Medardo Mairena und Pedro Mena oder die Journalist*innen Lucia Pineda und Miguel Mora des Internetportals 100%Noticias sowie andere namhafte Persönlichkeiten. Mit ihrer Freilassung hören die Schikanen allerdings nicht auf: Es häufen sich die Berichte von Ex-Gefangenen, wie sie und ihre Familienangehörigen nach ihrer Entlassung von fanatischen Ortegaanhänger*inen an ihren Wohnorten bedroht und auch tätlich angegriffen werden.

“Mörder gesucht” Gesprayter Protest

Nach Angaben der Opposition waren nach dem Stichtag 18. Juni noch 85 Gefangene im Gefängnis verblieben. Inzwischen hat sich die Zahl der politischen Gefangenen wieder erhöht, da die Verfolgung Oppositioneller weiter geht und fast täglich Menschen willkürlich verhaftet werden.
Kritiker*innen sind sich über den Charakter des Amnestiegesetzes einig: Mit ihm habe sich die Diktatur ein neues, in Gesetzesform gegossenes Repressionsinstrument gegen alle Akteur*innen der Bewegung der autoconvocados (sozialen Bewegungen) und dissidenten Teile der politischen Opposition geschaffen, die für die Wiederherstellung ihrer elementarsten Bürger*innenrechte wie freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit, des Demonstrationsrechts, die Rückkehr der Exilierten und Menschenrechtsorganisationen, kurz für einen demokratischen Wandel in ihrem Land nicht aufhören zu kämpfen.

 

VOM KONTINENT ABYA YALA

Auf eine erfrischende Weise reflektiert Silvia Rivera Cusicanqui aktuelle Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung. Ihre Erkenntnisse bieten gleichzeitig Lösungsvorschläge an und machen das Buch zu einem notwendigen Debattenbeitrag.
Es gibt keinen Diskurs über Dekolonisierung ohne die zugehörigen Praktiken „unserer Gesten, unserer Taten und der Sprache“. Diese Botschaft steht im Zentrum der Texte, die das Buch zum Teil erstmalig auf deutsch zugänglich macht. Obwohl postkoloniale Studien auf den Lehrplänen vieler Universitäten im globalen Norden stehen, wird eine Trennung zwischen dem akademischen Diskurs und dem „Dialog der aufständischen Kräfte der Gesellschaft etabliert“, beschreibt die bolivianische Soziologin und Aktivistin Silvia Rivera Cusicanqui. Sie holt damit die politische Dringlichkeit des Handelns aus der (akademischen) Versenkung und stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, die sie „eine Wissenschaft des Lebens“ nennt.

Worte im Kolonialismus benennen nicht, sondern sie verschleiern

Rivera Cusicanqui gehört damit zu den wenigen Sozialwissenschaftler*innen, deren intellektuelle Arbeiten nicht nur durch eigene Erfahrungen in widerständigen und subalternen Gruppen inspiriert wurden, sondern darüber hinaus ihr Wirken in deren Dienst stellen. Sie beteiligt sich an der Denunziation und Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen sowie an der Verteidigung indigener Rechte seit den 1980er Jahren. Damals gründete sie eine Forscher*innengruppe mit dem Namen Taller de Historia Oral zur mündlich überlieferten Geschichte Boliviens, die seitdem die hegemoniale Geschichts­schreibung mit „dissidenten Erinnerungen“ he­rausfordert und erweitert.
Das Buch versammelt vier akademische Aufsätze in unprätentiöser Sprache, die ver­deckte (neo)koloniale Hand­lungen sichtbar machen und ebenfalls Vorschläge zu deren Überwindung liefern. Rivera Cusicanqui analysiert dafür die Zeichnungen eines indigenen Chronisten des frühen 17. Jahrhunderts und reflektiert euphemistische Praktiken des Neokolonialismus der Gegenwart.
Waman Puma de Ayala schrieb zwischen 1612 und 1615 einen über tausendseitigen Brief an den spanischen König, der hunderte Zeichnungen enthielt. Ein paar davon sind im Buch abgedruckt und werden von Rivera Cusicanqui mithilfe ihrer Soziologie des Bildes analysiert, denn Worte im Kolonialismus „benennen nicht, sondern sie verschleiern“. So zeigt sie in den Bildern einerseits die extremen als auch subtilen Mechanismen der Unterdrückung und Ausbeutung auf. Waman Puma benutzt dafür die Metapher der „umgekehrten Welt“ (Mundo al Revés), in welcher die soziale Ordnung der Inka durch die spanischen Invasoren umgedreht wird: Aus einer indigenen Gesellschaft, „verstanden als gerechte Ordnung und >gute Regierung<“ wird im Kolonialismus Erniedrigung und Unordnung. Andererseits verraten die Zeichnungen viel über die prähispanische Ordnung der indigenen Gesellschaft und vermitteln zudem Eindrücke von der gegenseitigen Fremdwahrnehmung zwischen den Inkas und den Konquistadoren – „das Nicht-Menschsein des Anderen.“
In der hier abgedruckten Zeichnung fragt der Inka-Herrscher Wayna Qhapaq den Spanier Cando: „Dieses Gold isst du?“ Candia antwortet: „Dieses Gold essen wir.“. In Verbindung mit dem Angriff auf den letzten Inka-Herrscher Atahualpa schlussfolgert Rivera Cusicanqui: „Die Fremdheit, das Erstaunen und der Gedanke an eine kosmische Katastrophe scheinen der Grund für die Hilfslosigkeit der Tausenden Soldaten des Inka zu sein; sie konnten das Heer von gerade einmal 160 Mann, aber ausgerüstet mit unbekannten Waffen und Tieren, nicht besiegen.“
Einen weiteren Schwerpunkt setzt sie durch den Begriff des „internen Kolonialismus“, mit welchem sie die Internalisierung der Werte der Unterdrücker*innen beschreibt. Sie plädiert für die Entwicklung eigener Ideen und Reflexionen, die sich nicht von den (akademischen) Machtzentren der nördlichen Hemisphäre abhängig machen. Sie zeigt beispielhaft wie Ideen aus Abya Yala – wie der amerikanische Doppelkontinent aus einer eigenen Kosmologie heraus bezeichnet wird – von Wissenschaftler*innen in den nördlichen Universitäten aufgegriffen und in einen unpolitischen Diskurs über Verschiedenheit übersetzt werden. Stattdessen verweist sie auf Ideen der Aymara in Bolivien, die sich zum Beispiel in dem Begriff Ch‘ixi finden. Etwas kann gleichzeitig sein und nicht sein. Das Mestizische oder ch‘ixi vereint „die indigene Welt mit ihrem Gegenteil, ohne sich jemals damit zu vermischen.“ Sie wendet den Begriff als Gegenrede und Alternative zum Begriff Hybridität von García Canclini an (siehe LN 514) und betont: „Der indigene Vorschlag für die Modernität basiert auf einem Verständnis der Staatsbürgerschaft, das nicht Homogenität, sondern Differenz sucht.“
Rivera Cusicanquis scharfe Analysen und ihre konsequente Haltung lassen sich auch an ihrer persönlichen Erfahrung nachvollziehen. So beschreibt sie als prägend für ihre Biografie die Beziehung zu ihrer Kinderfrau Rosa ihres mittelständischen Elternhauses in der Hauptstadt La Paz der 1950er Jahre. Sie hielt die Hausangestellte ihrer Eltern bis zu deren Tod für ihre tatsächliche Mutter. Die Eltern reagierten mit Geringschätzung gegenüber Rosa, welche eine indigene Aymara war. Das sollte die emotionale Bindung zu ihrer Tochter durchbrechen und die „rassistisch-klassizistische Gesellschaftsordnung“ wiederherstellen, die aus ihrer Tochter eine Señora machen sollte. Doch das führte Rivera Cusicanqui dazu sich sowohl von den Erwartungen ihrer Eltern als auch von der Verachtung gegenüber der indigenen Bevölkerung zu distanzieren. „Mir ist das mit dem >Blut< egal. Ich hasse dieses Reden über >Blut<. Denn ich denke, dass meine Identität durch das Leben in der Gegenwart bestimmt ist.“

 

„DIE REPRESSIVEN MASSNAHMEN WERDEN IMMER EXTREMER“

Ihre Organisation gründete sich 2014 im Zuge der damaligen Protestwelle gegen den Präsidenten Nicolás Maduro. Was hat Sie dazu bewogen, aktiv zu werden?
Vor drei Jahren erlebte Venezuela eine sehr ähnliche Situation wie heute. Im Zuge der damaligen Proteste wurden viele Menschen willkürlich festgenommen. Niemand dokumentierte oder verfolgte diese Fälle. Die meisten Venezolaner können sich die Unterstützung eines Anwalts nicht leisten. So erhielt die Mehrheit der Festgenommenen keinerlei juristische Unterstützung. Ich wollte etwas gegen diese Situation tun und gründete gemeinsam mit vier weiteren Anwälten CODHEZ. Wir wollten den Festgenommenen kostenfreie juristische Unterstützung bieten. Unsere Arbeit konzentriert sich auf Zulia, den bevölkerungsreichsten Bundesstaat Venezuelas, und dessen Hauptstadt Maracaibo.

Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Wir haben in den letzten drei Jahren über 100 Personen vertreten, die bei politischen Protesten willkürlich festgenommen wurden. Zudem betreuen wir Fälle extralegaler Hinrichtungen, in die Vertreter des Staates direkt oder indirekt verwickelt sind. Dazu gehören hauptsächlich Fälle, die mit den sog. Operationen zur Befreiung des Volkes (OLP) zusammenhängen.

Worum handelt es sich bei diesen OLP?
Nicolas Maduro rief die OLP als Sicherheitsoperationen ins Leben, um „organisierte Banden und ihre Hintermänner innerhalb der Zivilbevölkerung zu eliminieren“. Aber entgegen der offiziellen Verlautbarungen bestehen diese OLPs hauptsächlich darin, dass Vertreter der Polizei oder der Streitkräfte in marginalisierte Stadtviertel fahren und dort Menschen töten, die angeblich irgendeine Art von Straftat begangen haben. Sie dringen einfach in ihre Häuser ein und töten sie, ohne jegliche Art von Gerichtsverfahren. Von diesen extralegalen Hinrichtungen sind besonders indigene Gruppen betroffen. In der Region La Guajira betreuen wir aktuell 23 Fälle, bei denen Angehörige der indigenen Gruppe Wayú augenscheinlich von Soldaten hingerichtet wurden.

Zielen diese Operationen hauptsächlich auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen?
Nein. Hier in Maracaibo gibt es ein berühmtes Gebäudeensemble, die Torres del Saladillo. Der Komplex besteht aus vier Hochhäusern im Zentrum der Stadt, über 2.000 Menschen wohnen dort. Seit 2014 wurden die Torres del Saladillo immer wieder von der Polizei angegriffen, weil das Gebiet ein traditionelles Zentrum der Protestbewegung ist. Die staatliche Repression ist völlig unverhältnismäßig. Seit April haben wir eine Vielzahl absurder Vorfälle dokumentiert. Fast jede Nacht verschießt die Polizei dort Tränengasbomben. Mehrere Wohnungen brannten durch den massiven Beschuss komplett aus. Ende Mai wurde ein 24-Jähriger bei gewalttätigen Auseinandersetzungen durch ein Bleigeschoss getötet. Das Dezernat für fundamentale Rechte der Staatsanwaltschaft ermittelt in dem Fall – das heißt, dass selbst die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die Bleikugel von einem Vertreter des Staates abgeschossen wurde. Die Menschen leben dort in konstanter Angst.

In welchem Zusammenhang stehen diese repressiven Maßnahmen mit den willkürlichen Festnahmen?
Um beim Beispiel der Torres del Saladillo zu bleiben: Viele der Hinweise auf beispielsweise oppositionelle Aktivisten gehen von den sogenannten patriotas cooperantes aus. Bei diesen kooperierenden Patrioten handelt es sich um ein Spitzelsystem mit anonymen Informanten, das Nicolás Maduro aufgebaut hat, um „destabilisierende Aktionen“ zu verhindern. Mit diesen „destabilisierenden Aktionen“ meint die Regierung im Grunde alles, was irgendwie mit der Opposition zusammenhängt. Deswegen werden die Personen, die bei den Protesten festgenommen werden, in offiziellen Verlautbarungen auch immer als „Störer“, als „Terroristen“ bezeichnet, die die „gesellschaftliche Ordnung und den Frieden destabilisieren“ möchten. In den Torres del Saladillo kam es wiederholt vor, dass Personen, die als Aktivisten der Opposition bekannt waren, unter völlig absurden Anschuldigungen festgenommen wurden, weil sie von diesen kooperierenden Patrioten verraten wurden.

Was sind das für Anschuldigungen?
Wir als Organisation betreuen einen Fall aus dem letzten Jahr, bei dem elf Personen in einem der Torres del Saladillo im Zusammenhang mit einer Einbruchserie in einem Kaufhaus festgenommen wurden. Neun von diesen elf Personen waren als hochrangige Delegierte oppositioneller Gruppen bekannt – keiner dieser Personen konnte irgendeine Verbindung zu den Einbrüchen nachgewiesen werden.

Was passiert, wenn diese Personen anschließend vor Gericht gestellt werden?
Wir haben in den vergangenen Tagen beobachtet, dass die Staatsanwaltschaft nicht mehr alle Entscheidungen der Regierung mitträgt. Mittlerweile ermitteln die Staatsanwälte auf nationaler Ebene in mehreren Fällen, die politisch sehr riskant sind. Leider mussten wir jedoch auch beobachten, dass die Richter den Forderungen der Staatsanwaltschaft oft nicht entsprechen. Wir haben beispielsweise vor kurzem einen Fall begleitet, bei dem die Staatsanwaltschaft die Freisprechung der Angeklagten forderte. Dennoch verhängte der Richter eine Freiheitsstrafe. Es ist eigentlich juristisch gar nicht möglich, dass die Richter ein höheres Strafmaß verhängen, als die Staatsanwaltschaft fordert. Wir sprechen also davon, dass selbst die Richter sich nicht an die Verfassung halten.

Seit einigen Wochen werden Personen, die bei den Protesten festgenommen werden, vor Militärgerichte gestellt. Wie erklären Sie sich dieses Vorgehen?
Ich denke, dass das eine direkt mit dem anderen zusammenhängt. Die Staatsanwaltschaft macht ihre Arbeit und ermittelt auch in politisch brisanten Fällen – und das gefällt den Behörden und der Regierung nicht. Deswegen entziehen sie die Fälle der Gerichtsbarkeit der normalen Staatsanwaltschaft und klagen die Protestierenden vor Militärgerichten an. Um das zu ermöglichen, müssen sie jedoch auch die Anklagepunkte ändern.

Was bedeutet das?
Normalerweise werden Personen, die im Rahmen von Protesten festgenommen werden, wegen Tatbeständen wie „krimineller Vereinigung“, „öffentlicher Einschüchterung“, „Aufruf zum Hass“ oder wegen Sachbeschädigung angeklagt. Diese Delikte fallen jedoch nicht unter die Militärgerichtsbarkeit. Deswegen werden die Protestierenden jetzt der „Rebellion“ bezichtigt oder ihnen werden „Angriffe auf das Militär“ unterstellt. Diese Tatbestände können Zivilpersonen eigentlich juristisch gar nicht erfüllen, ganz abgesehen davon, dass sie mit den realen Vergehen bei den Protesten nichts zu tun haben.

Können Sie dies an einem Beispiel erläutern?
Ein gutes Beispiel ist der Fall von Villa del Rosario, wo Protestierende am 5. Mai eine Chávez-Statue umstürzten. Außerdem plünderten sie mehrere Gebäude und brannten diese teilweise nieder, darunter unter anderem das Rathaus der Stadt. Es steht außer Frage, dass diese Akte bestraft gehören, denn sie haben mit friedlichem Protest – also unserem verfassungsgegebenem Recht – nichts zu tun. Aber wir reden hierbei von Sachbeschädigung, von Brandstiftung, von Plünderung. Das sind alles Tatbestände aus dem Zivilrecht. Dennoch wurden 16 Personen, die an diesem Tag festgenommen wurden, vor Militärgerichte gestellt. Gegen sie wird jetzt unter anderem wegen „Rebellion“ und „Landesverrat“ ermittelt. Sieben der 16 Angeklagten wurden im Militärgefängnis Santa Ana im Nachbarstaat Táchira inhaftiert, obwohl das Verfahren noch nicht einmal abgeschlossen ist.

Ihre Organisation betreut diese und ähnliche Fälle seit 2014. Wie bewerten Sie die politische Entwicklung der letzten Monate vor diesem Hintergrund?
Wir beobachten einen stetigen Anstieg der Gewalt, die repressiven Maßnahmen werden immer extremer. Staatliche Kräfte nutzen jetzt nicht mehr nur Tränengasbomben, sondern auch illegale Waffen mit scharfer Munition. Damit schießen sie teilweise direkt auf die Protestierenden. Am 8. April dokumentierte eine lokale Zeitung, wie die Regionalpolizei von Maracaibo bei einer Demonstration auf die Menschen schoss. Selbst der Sicherheitschef der Polizei sah sich genötigt, auf diese Fotos zu reagieren und verurteilte den Einsatz der Waffen. Dennoch wurden die betroffenen Polizisten bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Und das sind nicht nur Einzelfälle – ständig erreichen uns neue Berichte von Augenzeugen. Das heißt, Teile der staatlichen Kräfte nutzen Waffen mit der eindeutigen Absicht zu töten. So lassen sich auch die unzähligen Todesfälle bei Demonstrationen erklären. Diese Entwicklung hängt aus meiner Sicht auch mit dem von Nicolás Maduro verabschiedeten „Plan Zamora“ zusammen.

Worum handelt es sich bei dem „Plan Zamora“?
Der „Plan Zamora“ ist eine Art Sicherheitsmaßnahme, der jedoch nach wie vor die legale Basis fehlt. Nicolás Maduro ruft mit dieser Operation die Zivilbevölkerung dazu auf, gegen jene Bevölkerungsgruppen vorzugehen, die aus Sicht der Regierung „Chaos verursachen und den Frieden gefährden“. Seit der „Plan Zamora“ verabschiedet wurde, beobachten wir im ganzen Land ein verstärktes Auftreten bewaffneter, gewaltbereiter Zivilisten, deren Aktionen von den Behörden gutgeheißen werden. Dazu zählen neben paramilitärischen Verbänden auch kriminelle Gruppen, die beispielsweise Geschäfte plündern oder Straßensperren errichten und dort Wegzoll verlangen. Ich wurde selbst wiederholt von diesen Banden abkassiert, teilweise in weniger als einhundert Meter Entfernung zur nächsten Polizeipatrouille. Es ist also absolut unwahrscheinlich, dass die Sicherheitskräfte nichts von diesen Aktionen wissen. Das Absurde ist, dass sie gegen die kriminellen Banden im Grunde nichts unternehmen, aber selbst friedliche Protestierende mit absurden Anklagen vor Gericht stellen.

Was müsste also aus Ihrer Sicht geschehen, um die Situation in Venezuela zu verbessern?
Das ist einfach: Alle Beteiligten müssten sich an das halten, was unsere Verfassung vorgibt. Die Regierung müsste endlich die Wahlen durchführen, die bereits 2016 hätten stattfinden müssen. Wenn die Bevölkerung ein Referendum zur Absetzung des Präsidenten durchführen will, muss dieses Referendum ermöglicht werden. Gleichzeitig müssen die Protestierenden ihre Aktionen jedoch auch auf die rechtlich legalen Möglichkeiten, das heißt, den friedlichen Protest ohne Einsatz jeglicher Art von Waffen, beschränken. Die Repression muss beendet werden, die unzähligen politischen Gefangenen müssen frei gelassen werden. Ich finde es außerdem essentiell, dass die Regierung endlich internationale humanitäre Hilfe akzeptiert – zwar kann diese den ökonomischen Notstand im Land nicht beenden, aber zumindest in Ansätzen dabei helfen, die schwere Hungerkrise, die wir gerade erleben, aufzulösen.

ROTE ERDE

Mitte Dezember fuhr der 13-jährige Isaías mit seinem Fahrrad die Straße von Collipulli in der südchilenischen Region La Araucanía entlang. Mit ihm unterwegs war sein Bruder, der 17-jährige Brandon. Collipulli ist Mapudungún, die Sprache der Mapuche, und bedeutet so viel wie rote Erde – wenig später wurde der Name bittere Realität. Ein Stück weiter die Straße runter trafen sie auf eine Gruppe Polizist*innen, die gerade dabei war, die Insassen eines Fahrzeugs zu kontrollieren. Einer der Polizisten hielt Isaías fest, der erschreckt zu schreien begann. Sein Bruder Brandon kam dazu, aber der Polizist hielt auch ihn fest, warf ihn zu Boden und schoss ihm aus einem halben Meter Entfernung mit einer Schrotflinte Kaliber 12 in den Rücken. Normalerweise ist ein Schuss aus dieser Entfernung tödlich, wochenlang musste Brandon im Krankenhaus behandelt werden.

Der Polizist Cristian Rivera, der auf Brandon geschossen hat, ist nach wie vor im Dienst. Von seinen Kolleg*innen wird er gedeckt, bei der Polizei spricht man von einem Unfall. Brandons Mutter, Ada Huentecol, glaubt das nicht. „Ich habe eine Erklärung verlangt und sie sagten mir, es sei ein Unfall gewesen. Aber wieso haben sie denn auf ihn geschossen, wenn er schon am Boden lag? Meine Söhne sind keine Verbrecher. Ich bin wirklich wütend!“ Das Institut für Menschenrechte in Chile (INDH) erstattete im Januar Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

Die Liste der gewaltsamen „Zwischenfälle“ in jüngster Zeit ist lang. Die Territorien der indigenen Mapuche, die ihre Autonomie südlich des Bío-Bío-Flusses über die gesamte Kolonialzeit bewahren konnten, wurden erst in der sogenannten „Pacificación de La Araucanía“ 1861 von Chile besetzt. Damals verteilte der Staat das Land an weiße Siedler*innen. Viele Mapuche verlangen, dass der chilenische Staat ihrem Volk gegenüber seine historische Schuld begleicht. Von den verschiedenen Regierungen Chiles fühlten sie sich immer wieder hintergangen. Bei den vielen lokalen Konflikten geht es meist um die Rückgabe oder Schutz von indigenem Territorium, das sich heute in Privatbesitz befindet und für die Energie-, Forst- und Agrarwirtschaft genutzt wird oder genutzt werden soll. Neben Demonstrationen und Protesten versuchen die Mapuche ihren Forderungen auch mit Landbesetzungen und Brandanschlägen auf Fahrzeuge und Maschinen der Unternehmen Nachdruck zu verleihen. Die Regierungen reagierten darauf mit Repression, sodass sich der Konflikt zusehends verschärfte.

Das Institut für Menschenrechte erstattete Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

In jüngster Zeit häufen sich wieder die Zwischenfälle: In Ercilla stürmten Ende Januar über hundert Polizist*innen mit gepanzerten Fahrzeugen, die Tränengas versprühten, eine Mapuche-Gemeinde während einer kulturellen Feier. Für die Aktion gab es keinen richterlichen Beschluss. Die Polizist*innen schossen auf die Anwesenden und nahmen elf Personen fest, darunter fünf Minderjährige und zwei Neugeborene, wie ein anwesender Reporter von werken.cl berichtete.

In Freire, südlich der Stadt Temuco, nahmen Sicherheitskräfte Mitte Januar bei einer weiteren Personenkontrolle drei Mapuche-Frauen wegen Störung der öffentlichen Ordnung fest, eine von ihnen war minderjährig. Die Anwältin der Frauen, Manuela Royo, erklärte gegenüber Radio Villa Francia, Polizist*innen hätten die drei geschlagen, beleidigt und ihre Waffen auf sie gerichtet, auch nach der Festnahme, im Inneren des Polizeiautos: „Die Situation dort war extrem gewalttätig, die Polizisten wollten insbesondere der Jüngsten Angst einjagen. Auch die Informationen über ihren Aufenthaltsort wurden über mehrere Stunden zurückgehalten. Die Frauen wurden mittags festgenommen und tauchten erst wieder gegen 18 Uhr auf der Polizeistelle in Temuco auf. Die Polizei hat sie geschlagen und einer der Frauen den Arm umgedreht, das verstehen wir ganz klar als Folter.“

In Tirúa, etwa 150 Kilometer westlich von Collipulli in der Region Bío Bío schossen Polizisten Ende Dezember auf ein Fahrzeug mit einer Gruppe unbewaffneter Mapuche. Zwei der Insassen wurden von den Kugeln getroffen und schwer verletzt. Nach Angaben von Radio Villa Francia behauptet die Polizei, das Auto hätte trotz Aufforderung der Beamt*innen nicht gehalten, woraufhin diese das Feuer eröffnet hätten. Isaac Neculqueo, Präsident der indigenen Gemeinschaft, versicherte jedoch das Gegenteil: „So eine Polizeikontrolle hat niemals stattgefunden, die Polizisten haben aus dem fahrenden Auto geschossen und sind dann abgehauen.”

Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Durch die hohe Polizeipräsenz und die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer. Laut einem Polizeibericht des vergangenen Jahres sind allein in der Region La Araucanía knapp 1400 Polizist*innen stationiert und 50 gepanzerte sowie über 90 halbgepanzerte Fahrzeuge im Einsatz. Neben den ständigen Personenkontrollen werden auch geheimdienstliche Aktionen durchgeführt und raumbezogene Datenverarbeitungssysteme wie Radaranlagen, Drohnen, Flugzeuge und Helikopter eingesetzt. Mit dem Schutz der Bevölkerung hat das erhöhte Polizeiaufgebot jedoch nichts zu tun. Es dient in erster Linie dem Schutz von Unternehmen. Im Süden Chile existieren 77 große Forstindustrieanlagen in drei Regionen: 47 in Los Ríos, sieben in La Araucanía und 23 in Bío Bío. 15 stehen unter dauerhaftem Polizeischutz. Neun davon gehören zu Forestal Mininco. Das Unternehmen ist Teil der Matte-Gruppe. Matte ist eine der einflussreichsten Familien Chiles. Der Konzern steht unter  dem Verdacht der Korruption und Preisabsprache und gilt als wichtiger Akteur, der maßgeblich den Konflikt mit den Mapuche polarisiert.

Durch die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer.

Auch juristisch geht der chilenische Staat gegen die Indigenen des Landes vor. Ein emblematischer Fall ist der der Machi (Heilerin und religiös-spirituelle Autorität) Francisca Linconao, die sich neun Monate in Untersuchungshaft befand. Ihr wird vorgeworfen, an einem Brandanschlag auf das Anwesen der Familie Luchsinger im Januar 2013 beteiligt gewesen zu sein, bei dem die Großgrundbesitzer*innen Werner Luchsinger-Mackay und seine Frau Vivianne Mackay ums Leben kamen. Das Ehepaar befand sich seit Jahren in direkter Konfrontation mit den indigenen Gemeinden der Zone, Francisca Linconao war daran jedoch nicht beteiligt. Sie streitet ab, etwas mit den Geschehnissen zu tun zu haben und die Beweislage gibt ihr recht. Die Beweise, die die Staatsanwaltschaft vorbrachte, waren nicht nur nicht ausreichend, sondern stützten sich auch auf falsche und unter Folter erbrachte Zeugenaussagen. Im Umfeld der Machi glaubt man, dass man sie mit dem Fall in Verbindung bringen will, um Rache dafür zu nehmen, dass sie sich seit Jahren unermüdlich für die Rückgabe ehemalig indigenen Territoriums an die Mapuche-Gemeinden einsetzt. Und sie ist kein Einzelfall: 2014 wurde bereits der Machi Celestino Córdova im Fall Luchsinger-Mackay nach einseitigen Ermittlungen und einer zweifelhaften Beweislage wegen Brandstiftung mit Todesfolge zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Dass auch die Machi Francisca Linconao trotz mangelnder Beweise einem so langen Freiheitsentzug ausgesetzt wurde, liegt am chilenischen Anti-Terror-Gesetz aus Diktaturzeiten. Es räumt der Staatsanwaltschaft umfangreiche Möglichkeiten bezüglich Ermittlung und Anklage ein, wenn es sich um des Terrorismus Verdächtige handelt. „In der Region Araucanía herrscht ein anderes Recht. Eines, das auf Mapuche und ihre Anführer*innen angewendet wird und demzufolge die Staatsanwaltschaft keine Beweise für begangene Verbrechen vorlegen muss, um Angeklagte einsperren zu lassen. Es reicht, sie anzuklagen. Der Angeklagte und seine Verteidigung müssen dann die Unschuld des Angeklagten beweisen. “Verkehrte Welt“, schrieb der unabhängige Abgeordnete und Mitglied der Menschenrechtskommission Gabriel Boric in einem offenen Brief.

Bereits vor drei Jahren verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof (CIDH) den chilenischen Staat für begangene Menschenrechtsverletzungen am Volk der Mapuche. Die chilenischen Gerichte hätten das Legalitätsprinzip und das Recht auf Unschuldsvermutung in mindestens acht Fällen verletzt, so der Gerichtshof in San José, Costa Rica. Dennoch erlebt die Machi Francisca Linconao heute wieder genau das. Zwar konnte sie mit einem 14-tägigen Hungerstreik kürzlich bewirken, dass die vorbeugende Haft in einen Hausarrest umgewandelt wurde, aber der eigentliche Prozess steht noch aus. Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes scheint keinerlei Effekt gehabt zu haben.

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