„Einen Tag lang kein Wasser zu haben ist schrecklich. Man kann nichts tun, es ist eine Qual. Ich muss dann Wasser kaufen und das bringt mein ganzes Haushaltseinkommen durcheinander“, sagt Carmen Trejo. Die Rentnerin lebt im Süden von Mexiko-Stadt in einem Viertel, in dem es seit Jahren immer wieder an Wasser mangelt. Etwa 70 Prozent des Wassers für die mexikanische Hauptstadt kommen aus dem Boden, aus einem unterirdischen Grundwasserleiter. Das restliche Wasser wird aus dem komplexen Lerma-Cutzamala-System aus Stauseen und Wasseraufbereitungsanlagen, das gut 100 Kilometer entfernt liegt, in die Stadt gepumpt. Doch derzeit sind die Stauseen fast ausgetrocknet, erklärt Luis Zambrano, Biologe an der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) gegenüber LN: „Wir haben drei Jahre schwere Dürre hinter uns. Das vergangene Jahr war aufgrund des El-Niño-Phänomens besonders intensiv. Wir haben versucht, den Wassermangel zu kompensieren, indem wir noch mehr Wasser aus dem Grundwasserleiter gefördert haben. Das führt aber kurz- oder mittelfristig zu noch größeren Problemen, weil wir so auch den Grundwasserleiter erschöpfen.“ Der Klimawandel beschleunige die Wasserkrise, denn dadurch regne es weniger, aber heftiger, erklärt Zambrano: „Die großen Wassermengen in sehr kurzer Zeit führen einerseits zu Überschwemmungen. Andererseits können wir das Wasser nicht effektiv sammeln, weil wir es so schnell wie möglich ableiten müssen, um Menschenleben und Infrastruktur zu schützen.”
Luis Zambrano sieht schlechtes Wassermanagement als einen Hauptgrund für die Wasserknappheit: „Das Problem ist, dass die Wasserpolitik nachfrage- und nicht angebotsorientiert ist: Wenn ein Unternehmen oder ein Gebäude viele Kubikmeter Wasser benötigt, wird das bewilligt, weil es die wirtschaftliche Entwicklung ankurbelt, auch wenn es dieses Wasser gar nicht gibt oder die Wasserbilanz darauf hindeutet, dass wir den Grundwasserleiter oder das Cutzamala-System übermäßig ausnutzen. Das schafft kurz-, mittel- und langfristig viele Probleme.”
Die Wasserkrise als Klassen- und Geschlechterfrage
Mexiko-Stadt ist mit ihren 22 Millionen Einwohner*innen die sechstgrößte Stadt der Welt. Die Wasserkrise trifft aber nicht alle von ihnen in gleichem Maße. „Der Wassermangel ist ein sehr komplexes Problem, das mit Fragen der Bildung, Kultur, Geschlechter und Ungleichheit zusammenhängt”, erklärt die Psychologin und Sozialanthropologin Paulina Uribe gegenüber LN. Sie ist Teil der Koordination für Geschlechtergerechtigkeit an der UNAM und forscht unter anderem zu Umweltbildung. Der Zugang zu Wasser ist unter anderem eine Frage der sozialen Klasse: Während die Menschen in einkommensschwachen Vierteln den Wassermangel schon jetzt zu spüren bekommen, kommt in den reicheren Vierteln nach wie vor Wasser aus dem Hahn. Denn die Viertel, in denen Menschen mit hoher Kaufkraft wohnen, haben mehr Macht, die Wasserversorgungsunternehmen zu zwingen, ihnen auch bei geringem Wasserdruck weiterhin Wasser zu liefern, sagt Zambrano. Eines der Viertel, die solche Privilegien nicht haben, ist Santa Úrsula Coapa im Stadtteil Coyoacán im Süden der Stadt. Carmen Trejo hat sich daher mit anderen Nachbar*innen zusammengeschlossen und die Nachbarschaftsinitiative Acción Comunitaria gegründet, um gemeinsam für das Recht auf Wasser zu kämpfen. Mit dabei ist auch die Hausfrau und Aktivistin Marta Elizalde: „Ich habe mich dieser Gruppe angeschlossen, weil es in unseren Häusern täglich zu wenig Wasser gibt. Wir haben nicht genug Wasser, um Geschirr zu spülen, manchmal haben wir nicht einmal genug für das Bad, die Kleidung. Ich lebe mit älteren Menschen zusammen, die gewaschen werden müssen. Es ist besorgniserregend, weil wir uns ohne Wasser nicht sauber halten können”, erzählt sie.
Auch Natalia Lara gehört zu den Aktivist*innen von Acción Comunitaria. Sie hat Politikwissenschaften und Wassermanagement studiert, arbeitet als Universitätsdozentin und kennt die alltäglichen Probleme, die durch den Wassermangel entstehen: „Man hört oft von Leuten, die nicht schlafen, weil sie nachts die Wasserfässer füllen, um tagsüber Wasser zu haben. Viel Zeit geht auch dabei drauf, auf die Tankwagen mit Wasser zu warten oder diese zu suchen. Da wird viel unbezahlte Zeit investiert, vor allem von Frauen, und das wirkt sich in gewisser Weise auch auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen aus”, berichtet sie.
In der patriarchalen Rollenverteilung wird Frauen und Mädchen die unbezahlte Arbeit im Haushalt und damit auch die Aufgabe, Wasser zu beschaffen, zugeschrieben. Mexiko ist damit allerdings keine Ausnahme: Laut UN Women sind in etwa 80 Prozent der Haushalte weltweit, in denen das Wasser knapp ist, Frauen und Mädchen für das Wasserholen zuständig. Eine Menstruationstasse auswaschen, aber auch duschen, waschen, putzen, spülen, Pflanzen gießen oder Gemüse waschen: Das geht ohne Wasser nicht.
Die gemeinsame Organisierung der Nachbar*innen in Santa Úrsula Coapa begann vor gut zehn Jahren, als es drei Monate lang gar kein Wasser mehr gab und die Menschen auf Wasserlieferungen durch Tankwagen angewiesen waren. „Das war schon sehr beunruhigend, da haben sich einige von uns Frauen organisiert“, erinnert sich die Geografielehrerin und Aktivistin Norma Piñon im Gespräch mit LN. Als die Wasserlieferungen ausblieben, blockierten die Nachbar*innen Straßen, bis die Behörden ihnen zuhörten. Und tatsächlich zeigte der Protest Wirkung: Die Stadt schickte neue Tankwagen mit Wasser, bildete Arbeitskreise und ermöglichte Gespräche mit dem Regierungschef von Mexiko-Stadt und der Wasserbehörde Sacmex.
Seitdem trifft sich Acción Comunitaria jeden Freitagnachmittag um fünf Uhr nachmittags auf der kleinen Plaza de la Solidaridad. Der Platz ist hübsch: Blütenblätter liegen auf dem Boden, am Rand stehen lila gestrichene, verschnörkelte Metallbänke. Und der Platz ist laut: Alle paar Minuten schlängeln sich Motorräder durch, Hundegebell vermischt sich mit Reggaeton aus einem Lautsprecher. Unter einem großen Baum steht ein Tisch mit weißen Klappstühlen. Dort sitzen Carmen Trejo, Marta Elizalde, Natalia Lara, Norma Piñon, Paz Gutiérrez und Adolfo Lara. Auf dem Tisch liegen Stoffreste und alte Zeitungen, denn die Gruppe bietet regelmäßig Recycling-Workshops für Kinder an. Vier Kinder kommen diesmal zum Basteln, sie bemalen Pappschachteln mit bunten Farben. Das hat auf den ersten Blick nichts mit dem Wassermangel zu tun – auf den zweiten aber schon, denn es stärke den Zusammenhalt in der Nachbarschaft, erklärt Natalia Lara.
Organisierung zeigt Wirkung
Auf den Druck der Gruppe hin haben die Behörden neue Brunnen in Coyoacán gebaut. Mit der Zeit hat Acción Comunitaria immer mehr Informationen über die Wasserinfrastruktur in ihrem Viertel gesammelt und eine Karte der Brunnen erstellt. Inzwischen haben die Aktivist*innen außerdem ein Regelwerk erarbeitet – für Zeiten, in denen es lange kein Wasser gibt. Natalia Lara erläutert: „Wir gehen dann durch die Straßen, um zu sehen, wie es um die Brunnen bestellt ist. In letzter Zeit gibt es zum Beispiel mehr Bauvorhaben und Neubauten. Wir schauen das Verteilungssystem genau an, denn wir stellen fest, dass die Immobiliengesellschaften uns in den Arbeitervierteln das gesamte Wasser wegnehmen. Also machen wir uns die Arbeit, nachzuforschen. Wenn wir dabei feststellen, dass wir mit unseren Vermutungen Recht haben und klar wissen, was unsere Forderungen sind, dann organisieren wir uns, rufen zu Demonstrationen auf oder treten mit der Regierung in Kontakt.”
Dass sich mehr Frauen als Männer gegen den Wassermangel organisieren, ist laut Paulina Uribe nicht nur in Santa Úrsula Coapa so: „In fast allen Umweltbewegungen sind es die Frauen, die sich am meisten beteiligen und für diese Rechte kämpfen.” Den meisten Frauen sei bewusst, dass es eine ungerechte Belastung ist und wenn sie könnten, engagierten sie sich in sozialen und kollektiven Kämpfen, um die Rollenverteilung zu verändern und die Aufgaben gerechter zu verteilen. Das allein reiche aber nicht, findet Paulina Uribe. Damit sich etwas ändert, müssten auch Männer und Entscheidungsträger verstehen, wie wichtig es ist, die Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit in allen Bereichen miteinzubeziehen. Um die Rollenverteilung zu ändern und damit die Arbeitsbelastung zwischen Männern und Frauen fairer zu verteilen, ist in den Augen von Paulina Uribe Bildung das wichtigste Instrument: „Wir müssen neue Narrative schaffen, durch Bildungsprogramme, aber auch massive Kommunikationskampagnen, in denen wir alle diese Geschlechterrollen in Frage stellen.”
Konkrete politische Maßnahmen, um das Problem der Geschlechterungleichheit beim Thema Wasser anzugehen, fehlten aber bislang, sagt Uribe. Zwar gebe es sehr breit angelegte Programme, die darauf abzielen, die Wasserinfrastruktur zu verbessern und zu sanieren. Die Regierung der Stadt investiere aber vor allem in technische Verbesserungen – die sozialen Ungleichheiten würden dabei bislang nicht adressiert.
Auf der Plaza de la Solidaridad dämmert es inzwischen, die Aktivist*innen klappen die Stühle zusammen, räumen die Bastelsachen auf und tragen den Tisch weg. Für heute. Nächsten Freitag werden sie wieder hier sein und für ihr Wasser kämpfen. Davon, dass sich das Dranbleiben lohnt, ist Carmen Trejo überzeugt: „Es ist schwierig, aber wir gehen Schritt für Schritt. Ich glaube an die Magie des Sandkorns: Dass wir mit jedem kleinen Stückchen, das wir tun, vorankommen.”