TRUMP MAUERT

Derzeit sieht es nicht so aus, als würde eine Mauer an der nordamerikanisch-mexikanischen Grenze als leeres Wahlversprechen Trumps enden. Bereits am 26. September begannen die Arbeiten für den Bau von acht Prototypen an der Grenze zu Mexiko bei San Diego in Kalifornien. Vier davon werden aus Beton, die anderen aus „verschiedenen Materialien“ bestehen, alle werden zwischen fünf und neun Metern hoch gebaut. Nach 30 Tagen sollen die Teilstücke fertig gestellt sein, danach werden sie evaluiert und der Gewinner ermittelt. Um den milliardenschweren Auftrag konkurrieren vier amerikanische Firmen. Ein deutsches Unternehmen frohlockte bereits kurz nach der Wahl Trumps. „Mittelfristig bin ich positiv gestimmt“, sagte der Chef des DAX-notierten Baustoffherstellers HeidelbergCement, Bernd Scheifele. Durch den Bau einer Mauer „wären wir in Texas und Arizona nicht schlecht bedient.“ Dort hat das Unternehmen jeweils eigene Zementwerke.

Eine Woche nach Konstruktionsbeginn der Prototypen votierte das nationale Sicherheitskomitee im Repräsentantenhaus für eine Gesetzes­initiative, die zehn Milliarden Dollar für den Bau der Grenzmauer bereitstellen würde. Weitere fünf Milliarden Dollar gebe es für die Verbesserung der Grenzübergänge, einschließlich der Finanzierung für zusätzliche 5.000 Grenzpolizist*innen. Allerdings muss der Entwurf erst noch durch das Repräsentantenhaus und anschließend durch den Senat gebilligt werden, was wegen fehlender klarer Mehrheiten fraglich scheint.

Der republikanische Vorsitzende des Sicherheitskomitees, Michael McCaul, sieht in seinem Präsidenten „endlich einen Partner im Weißen Haus, der dieses Thema ernst nimmt.“ Einige Demokrat*innen kommentieren den Gesetzesentwurf mit „Zeit- und Geldverschwendung“ und dem Hinweis auf „verheerende Folgen“ für Naturschutzgebiete an der Ländergrenze. Bereits im Juli dieses Jahres hat das Repräsentantenhaus einen Budgetentwurf für Verteidigungsausgaben verabschiedet, der 1,6 Milliarden Dollar für den Mauerbau beinhaltete. Der scheint inzwischen allerdings vom Tisch zu sein, weil im Streit um den Haushalt für 2018 die Republikaner*innen Zugeständnisse an die Demokrat*innen machen mussten. Der US-Präsident drohte nämlich zuvor mit einem Regierungs­stillstand, wenn der Haushalt nicht auch das Geld für die Mauer bereitstellen würde.

„Meine Position war und bleibt eindeutig, Mexiko bezahlt diese Mauer nicht.“

Das Ministerium für Heimatschutz schätzt die Kosten für eine Mauer auf 21 Milliarden Dollar. Trump behauptete im Wahlkampf, Mexiko würde für die Mauer zahlen. In einem kürzlich von der Washington Post veröffentlichten Telefonat vom Januar, antwortete ihm sein mexikanischer Amtskollege Peña Nieto: „Meine Position war und bleibt eindeutig, Mexiko bezahlt diese Mauer nicht.“ Woraufhin Trump ihn dazu aufforderte, dies nicht öffentlich zu sagen, er befände sich sonst in keiner guten Verhandlungsposition. Nieto gab ihm die Schützenhilfe und äußerte sich fortan nicht weiter dazu. Die Rechnung scheint aufzugehen, bezahlen sollen laut den Gesetzesvorlagen nun doch die US-amerikanischen Steuerzahler*innen.

Der Staat Kalifornien ist generell ein starker Widersacher gegen Trumps Politik und legte im September Klage gegen den Mauerbau ein. Nach Ansicht des Generalstaatsanwalts verstieße er gegen die Verfassung und Umweltgesetze. Viele Politiker*innen aus Kalifornien betonen, dass es bereits starke Grenzanlagen gebe und eine Mauer nur wenig mehr erreichen würde als mexikanische Verbündete zu verärgern. Kein anderer Abschnitt der 3.144 Kilometer langen Ländergrenze ist so gut überwacht und durch so viele physische Barrieren, Lichtanlagen und Videoüberwachung gesichert wie der zwischen der Stadt San Diego auf amerikanischer und Tijuana auf mexikanischer Seite. In der Region überqueren noch fast 32.000 Menschen pro Jahr die Grenze inoffiziell, wenig im Vergleich der bis zu 630.000 Migrant*innen der 1980er Jahre. Viele der Migrant*innen versuchen auf anderen und gefährlicheren Routen in Arizona im Osten und dem Rio Grande Valley im Westen in die USA zu gelangen.

Auch insgesamt registrieren die USA weniger Migrant*innen ohne gültige Einreisepapiere als früher. Laut dem US-Heimatschutzministerium wurden 126.472 Menschen im ersten Halbjahr 2017 angehalten – fast halb so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Außerdem habe es 32 Prozent mehr Rückführungen gegeben. Ein Hinweis darauf, dass die fremdenfeindliche Rhetorik des amerikanischen Präsidenten und eine dadurch angeheizte Stimmung im Land wahrscheinlich viele Lateinamerikaner*innen abschreckt. Gleichzeitig fehlen der amerikanischen Wirtschaft Arbeitskräfte aus dem Süden, denn darauf ist sie in einigen Branchen angewiesen. Laut dem Forschungsinstitut PEW sind in der Landwirtschaft rund 26 Prozent und im Baugewerbe 15 Prozent Beschäftigte ohne gültige Papiere.

Ob die Mauer tatsächlich gebaut wird, ist weiterhin fraglich. Dafür müsste Trump auch im eigenen republikanischen Lager mehr Unterstützung bekommen. Denn selbst wenn die Einwanderung aus dem Süden dadurch abnehmen sollte, sind weder wirtschaftliche noch politische Vorteile zu erwarten. Sicher dagegen sind hohe Kosten für den Bau und die Instandhaltung für künftige Regierungen. Gewinnen könnten dabei vor allem die mexikanischen Kartelle, denn je aufwendiger der Weg in den Norden wird, desto teurer werden die Schleuser*innen, welche einen großen Teil ihres Gewinns an die organisierte Kriminalität abgeben müssen. Auch den Drogenschmuggel wird eine Mauer wohl kaum unterbinden. Dennoch ist mit dem Bau der Prototypen ein Anfang gemacht, der kein Ende des Streits um Sinn und Finanzierung der Mauer absehen lässt.…

„LASSEN WIR MEINEN VATER NICHT ALLEIN, ER KÄMPFTE FÜR VIELE“

Vater, wo bist du, wo bist du?

Ich suche dich überall, an jedem Ort, in jedem Objekt, das du mit deinen Händen gegriffen hast; ich suche dich in meinen Träumen, aber ich sehe dich nicht.

Ich sehe weder dein Gesicht, noch deinen großen, bereits verbrauchten und ein halbes Jahrhundert alten Körper.

Ein halbes Jahrhundert lang hast du für viele gekämpft, gabst, was du hattest, gabst uns, deinen Söhnen und meiner wundervollen Mutter, mit Hingabe das Menschlichste in dir.

Wer soll mich nun aufklären, wer schenkt mir nun haufenweise Bücher, wer umarmt mich jetzt, wie du es getan hast, wer applaudiert mir nun für meine Erfolge, wer wird mir je diese warmherzige Liebe zukommen lassen?

Sie haben mir deine Liebe genommen, sie haben mir die Hälfte meines Herzens genommen. Du hast mir mein Herz gestohlen und hierfür meine Zuneigung gewonnen. Ich habe dir das Beste in mir gegeben: meine Liebe. Ich kann dich in jedem Schritt, in jedem Vers, den ich lese, in jedem Gedicht, das du und ich geschrieben haben, spüren.

Ich blieb zurück mit deiner Musik, deinen Filmen, deinen Büchern, deinen Brillen, deinen Füllfedern ohne Tinte, mit deinen Umarmungen, deinen Küssen, deinem Lachen; ich kenne dich auf die tiefsinnigste Art und Weise.

Nun, nun liegst du in meinen Armen und ich umarme und streichle dich, so wie du es getan hast, als ich noch ein Baby war. Nun ist es an mir, nun gehe ich mit dir, wir trinken zusammen Bier und wir singen gemeinsam.

Ich werde mir nun häufiger das Morgendämmern anschauen, ich werde während ihrer Saison die Enten beobachten, ich werde an die Orte gehen, an denen du verkehrtest, ich werde jede einzelne Person umarmen, die mich an dich erinnert, denn es wäre dann so, als ob ich deine Liebe in anderen umarmen würde, es wäre wie dich zu umarmen und dich wieder zu spüren.

Du warst die Person, die mich am meisten motiviert hat. Vielleicht sind wir sehr unter­schiedlich, aber du bist das beste Vorbild, das ich in meinem Leben habe, weil du immer getan hast, was du wolltest, erreicht hast, was viele gerne erreicht hätten, die Nacht durchgehalten hast, geweint, gesungen, getanzt und gelacht hast, in den schwierigsten Momenten deines Lebens. Nun hast du Frieden und das ist, was ich für dich will. Und zweifle nicht daran, ich werde meinen Kindern von dir erzählen, ich werde ihnen sagen, wie mutig und was für ein Supertyp du warst, ich werde dir mit meiner Liebe zu ihnen nacheifern, und für mich wird es die Weise sein, dich weiter lebendig zu halten, dich bei mir und allen zu behalten.

Als du schon tot warst, habe ich dir ins Ohr geflüstert, dass wir dich niemals vergessen werden, und so wird es sein, Vater: Ich werde deinen Arm bei jeder Verbesserung heben, werde grüßen so wie du es getan hast, weil ich du bin. Jedes Mal, wenn Gerechtigkeit geschieht, wird sie auch in deinem Namen geschehen.

Das ist nur ein kleiner Teil dessen, was ich dir sagen will, und wenn du zurückkehrst, wirst du hier dein Haus haben, deinen Stuhl, deinen Kaffee und all unsere Liebe, all derer, die dich lieben.
Lassen wir meinen Vater nicht allein, es bedarf der Hilfe aller. Das ist alles, worum ich bitte.

HAIKUS AUF ZAPOTEKISCH

Sie sind in Buena Vista Loxicha aufgewachsen, einem Dorf von nicht einmal tausend Einwohnern im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Wie war die Welt Ihrer Kindheit?
Es war eine vollkommen zapotekische Welt. Meine Eltern konnten zwar vielleicht ein bisschen Spanisch verstehen, weil wir aber immer im Dorf blieben, dachte ich, dass alle Menschen Zapotekisch sprechen – bis zu meinem ersten Schultag. Diese Anekdote erzähle ich gerade zum ersten Mal: Ich erschrak fürchterlich, dass alle Lehrer nur Spanisch sprachen. Mein erster Impuls war, aus der Reihe auszubrechen, in der sie uns aufstellten. An der Tür hielten sie mich zurück. Das ist die Realität vieler indigener Kinder. Man spricht so lange Spanisch mit dir, bis du es irgendwann verstehst.

Wie sind Sie Schriftsteller geworden?
Ich sollte das Buch Aquí están los que se van (wörtlich: „Hier sind die, die weggehen“) von Gabriel Quiroz übersetzen. Man hatte ihn nach San Quintín, Baja California, ganz im Norden von Mexiko, geschickt; er machte Fotos von Migranten aus Oaxaca, die dort in der landwirtschaftlichen Produktion arbeiten, und schrieb Gedichte dazu. Als ich die Gedichte ins Zapotekische übersetzte, entdeckte ich diese Sprache, die ich nie zuvor geschrieben hatte, und es brachte mich dazu, meine eigene Fiktion zu erschaffen. Mein erstes Buch Y supe qué responder (etwa: „Und ich hatte eine Antwort“) handelt von einem Kind, das von einem Lehrer auf Spanisch mit Fragen traktiert wird, es fühlt sich verloren. Aber danach befragt es den Lehrer auf Zapotekisch und der Lehrer fühlt die gleiche Hilflosigkeit.

Bevorzugen Sie beim Schreiben eine der beiden Sprachen, Spanisch oder Zapotekisch?
Ich würde hier gerne etwas deutlich machen: Meine Gedichte schreibe ich auf Zapotekisch, weil es eine metaphorische Sprache ist. Statt „Wie geht’s?“ sagt man zum Beispiel „Wie geht es Ihrem Herzen?“ Du kannst auch nicht sagen „Ich ärgere mich“, sondern nur „Mein Herz ärgert sich“. Das „Herz“ kommt in vielen Redewendungen vor. Der difrasismo des Zapotekischen fällt einem auf, wenn man schreibt: Zwei Wörter zusammen ergeben einen neuen Ausdruck. Stein-Nacht bedeutet dann „Unheil“, Wasser-Feuer bedeutet „Krieg“, Stein-Licht heißt „Ernte“. Dieses mesoamerikanische Denken ist beeindruckend. Und jetzt denk an all das, was die Spanier und die mexikanische Gesellschaft getan haben, um eine „nationale Einheit“ herzustellen. Nach der Revolution hieß es: Mexiko ist ein Land mit einer Sprache.
Es war ausgerechnet ein Mann aus Oaxaca, José Vasconcelos, einer der großen mexikanischen Denker, der mit seiner Kastellanisierungspolitik nur Spanisch an den Schulen erlaubte. In dieser Kultur wuchs mein Vater auf. Er erzählt, dass man verprügelt wurde, wenn man nur ein einziges Wort auf Zapotekisch sagte. Es wurden Lehrer aus dem Norden eingestellt, denen man sogar ein höheres Gehalt bezahlte, damit die Verwendung des Zapotekischen verhindert wurde. Diese nationale Bildungspolitik bestand bis in die siebziger Jahre, als man die indigene Bildungspolitik einführte, die aber erst in den neunziger Jahren umgesetzt wurde.

Welchen Stellenwert hat die zapotekische Sprache heute in der Schule und der Familie?
Es ist so: Siebzig Jahre lang wurde in den Dörfern die Meinung vertreten, Zapotekisch sei zu nichts nütze, Spanisch sei viel besser. Die Großeltern denken immer noch, ihre Sprache habe keinen Wert. Sie sprechen zwar Zapotekisch, wollen es aber nicht weitergeben. Aber sie wollen die Feste! Wenn die älteren Leute in meinem Dorf ihre zapotekischen Feste feiern, sprechen sie Spanisch. Ich sage das sehr ungern, aber die Indigenen selbst hegen eine gewisse Geringschätzung gegenüber ihrer Sprache. Ihre Identität wurde beschädigt. Sie wollen ihre indigene Herkunft nicht annehmen und glauben, allein indem sie Spanisch sprechen, lösen sie ihre Probleme. Aber es liegt nicht an der Sprache, es sind die Lebensbedingungen, die in Mexiko verbreitete Ausgrenzung und Armut. Nur weil du Spanisch sprichst, hast du noch lange nicht das Geld, um ein Universitätsstudium zu bezahlen.
Seit vier Jahren werde ich vom Kulturzentrum San Agustín in Oaxaca unterstützt, um Schreibworkshops auf Zapotekisch zu geben. Dieses Jahr bin ich zwischen drei Ortschaften unterwegs wie ein Wanderlehrer. Die Kinder sind elf, zwölf Jahre alt, und jeden Monat unterrichte ich für zwei Tage eine Gruppe von zwanzig Kindern in jedem Dorf. Dabei greife ich auf die japanische Tradition zurück: Zuerst schreiben wir Haikus, drei Zeilen. Dann Tankas, fünf Zeilen. Erst beim Schreiben wird man bestimmter Dinge gewahr, dass zum Beispiel die Orchidee auf Zapotekisch für das Wort Schönheit steht. Genauso ging es mir ja selbst: Ich wusste nichts über die zapotekische Welt, bis ich dieses Buch übersetzt habe. Da entdeckte ich so viel Wunderbares! Denn beim Schreiben wird man zur Genauigkeit gezwungen. Wenn man nicht weiß, wie man etwas schreibt, muss man zuhören. Zapotekisch ist noch dazu eine Tonsprache. Den Kindern möchte ich dazu Anleitungen geben. Und sie schreiben großartige Sachen.

Wo liegen die Dörfer, in denen Sie unterrichten?
Sie liegen etwa fünf Stunden von der Stadt Oaxaca entfernt. Eine Schule befindet sich in einer sehr großen Ortschaft, es gibt circa 1.200 Schüler. Eine halbe Stunde weiter befindet sich das Dorf San Luis Amatlán in einem trockenen Tal, wo traditionell Meskal hergestellt wird. Dann fahre ich eine Stunde mit dem Bus, um zu meinen Kindern in den Bergen zu kommen. Die Landschaft ist ganz anders und die Kinder sind stiller als die anderen. Danach fahre ich eine Stunde in Richtung Küste bis zu meinem Haus, wo ich immer eine Pause einlege. Ich weiß, dass es ein gutes Projekt ist, aber außer mir will das kaum jemand machen. Die anderen sehen sich als Dichter, als Wissenschaftler, sie wollen ihre persönlichen Projekte machen, in der Stadt das Leben eines Schriftstellers führen und nicht in die Dörfer fahren, dort essen oder übernachten.

Das erfordert schon ein großes Engagement. Was treibt Sie an, den Beruf des Schriftstellers mit dem des Lehrers zu kombinieren?
Anders als viele andere kehre ich gerne in mein kleines Heimatdorf zurück. Meine Brüder zum Beispiel würden es nicht länger als einen Tag aushalten, aber ich kann Monate dort verbringen. Schon als ich als staatlicher Lehrer arbeitete, wählte ich das abgelegenste Dorf aus, um ein Jahr dort zu unterrichten. Danach wollte ich unabhängig vom Staat arbeiten, aber das ist sehr schwierig in Mexiko. Ich mache diese Projekte nicht, weil ich dafür bezahlt werde, sondern weil ich es wichtig finde, die zapotekische Sprache zu erhalten.

Wenn nun Schriftsteller*innen wie Sie auf Zapotekisch schreiben, ist die Frage auch, wer diese Werke lesen kann. Gibt es denn genug Leser*innen für das Zapotekische?
Es sind wenige. Aber es ist Teil derselben Politik: In der Schule hat man es dir nicht beigebracht und auch wenn nun Texte auf Zapotekisch vorhanden sind, lesen die Leute lieber auf Spanisch, weil es ermüdend ist, wenn man die Strukturen und Wörter nicht versteht. Trotzdem machen wir weiter Bücher. Im Augenblick bewerben wir die Anthologie der fünf Premio-Casa-Preisträger. Das sind Gedichte auf Zapotekisch, es wurden 10.000 Exemplare gedruckt, die wir an den Schulen verteilen, damit die Kinder lesen und erkennen, wie wichtig Zapotekisch als Schriftsprache ist. Es ist ein langsamer Prozess, diese neue Lesergeneration auszubilden. Manchmal bringe ich meinen Schülern Texte auf Quechua oder Mapudungun mit. Dann sage ich ihnen, schaut mal, Kinder, hier sprechen wir Zapotekisch, wenn wir aber auf dieser Landkarte Richtung Süden gehen, sprechen die Menschen Mapudungun, wollt ihr hören, wie das klingt? Und die Kinder sind neugierig.

In welcher Lage befinden sich indigene Schriftsteller*innen in Mexiko? Es gibt ja zum Beispiel die Gesellschaft der Indigenen Schriftsteller…
Sie wollen sich nicht gegenseitig unterstützen. Die Gesellschaft der indigenen Schriftsteller ist wie ein Patriarchat. Als ich zu schreiben anfing, war es mein Wunsch, dass sie mich dort lesen und mir eine Einschätzung geben. Sie wollten nicht. Das ist eine sehr mexikanische Einstellung: Wenn ich ein erfolgreicher indigener Schriftsteller bin, möchte ich unbedingt verhindern, dass viele junge Menschen schreiben, denn sie könnten mir ja meinen Platz streitig machen. Manche indigenen Schriftsteller weigern sich, aufs Land zu fahren, wo sehr viele Indigene Mexikos leben. Wenn ein Kolloquium in Oaxaca veranstaltet wird, wollen viele Kollegen nicht kommen, weil wenn schon, dann wollen sie in die Hauptstadt oder ins Ausland eingeladen werden.

Um noch auf Ihre Werke zurückzukommen, Sie schreiben Prosa genauso wie Lyrik. Welche Themen, welche Motive sind Ihnen beim Schreiben wichtig?
Ich habe mit Erzählungen angefangen und die Suche nach etwas noch Tieferem führte mich zur Poesie. Ein Gedicht spricht über das Unsagbare, von der äußersten Erfahrung. Mein Erzählband Hormigas Rojas („Rote Ameisen“) wurde viel gelesen und, was mich besonders freut, in einem Seminar am Colegio de México, dem Elitekolleg der Reichen, besprochen. Dennoch: Sie haben nur den zapotekischen Teil analysiert! Dabei kommen nur in drei Erzählungen zapotekische Ausdrücke vor. Die anderen vierzehn Erzählungen bedienen sich einer Sprache fernab vom Gesprochenen. Diesen Teil des Buches, wenn ich mich dem Realismus verweigere, rätselhafte, unbestimmbare Orte beschreibe, das hat bisher noch niemand kommentiert.
Eine wichtige Rolle spielt die spezifische Art der Landschaft in meiner Fiktion. Der beste Schriftsteller in dieser Hinsicht ist für mich der US-Amerikaner Cormac McCarthy. Meine Literatur ist aber auch sehr durchdrungen vom Japanischen, von Schriftstellern wie Osamu Dazai oder Jun’ichiro Tanizaki. Ich habe mein Buch Hormigas Rojas genannt, weil es die Natur in den Blick nimmt. Gleichzeitig sind die Figuren von ewigen Konflikten gekennzeichnet, von Verlust, Suche, Gewalt. Ich glaube, als Schriftsteller kombiniert man immer seine Lektüre mit der Alltagserfahrung. Insofern glaube ich, dass die Literatur ein sehr machtvolles Werkzeug sein kann, um die geringgeschätzte indigene Vorstellungswelt sichtbar zu machen. Mein Beitrag zur mexikanischen Literatur soll aber sein, zu zeigen, dass ich fiktive Welten auch auf Spanisch schaffen kann.

Sie möchten als Schriftsteller, nicht als indigener Schriftsteller gesehen werden.
Genau. Eine weitere Sache ist, dass die Bücher der wenigen indigenen Schriftsteller, die es in Mexiko gibt, nicht übers Internet zu erwerben sind. Sie erscheinen als Veröffentlichungen des mexikanischen Staats, die Auflage beträgt gerade einmal tausend Exemplare. Kaum einer wird von einem kommerziellen Verlag veröffentlicht. Den indigenen Schriftstellern muss vermittelt werden, dass sie auf diese Weise zwar Preise der Regierung bekommen, aber nicht mehr am Wettbewerb teilnehmen. Mir ist das selbst passiert. Was ich bei Verlagen veröffentlicht habe, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, ist nicht anders zu beschaffen, als dass ich es persönlich jemandem bringe. Hormigas Rojas dagegen kann man bei Amazon bestellen. Ein Schriftsteller muss darauf achten, dass die Leser sein Buch besorgen können.

Wie haben Sie es geschafft, mit nur wenigen Büchern so bekannt zu werden?
Almadía, mein Verlag in Oaxaca, ist ein wichtiger mexikanischer Verlag. Ich bin ihm sehr dankbar für den Vertrieb, den es dort gibt, sodass die Bücher nach Argentinien, Chile und über eine Filiale auch nach Spanien gelangen. 2014 wurde eine Liste von zwanzig jungen mexikanischen Schriftstellern herausgegeben. Mit nur einem Buch kam ich auf diese Liste, die sehr umstritten war. Natürlich wollten alle auf diese Liste, weil sie eine Garantie ist, gelesen zu werden. Und weil wir zur Buchmesse in London eingeladen waren, gab es eine Übersetzung ins Englische. Pushkin Editorials war sehr nett und schickte uns die übersetzte Anthologie, während der mexikanische Verlag Malpasa sich weigerte. Ich musste das Buch kaufen.

Arbeiten Sie zurzeit an einem neuen Projekt?
Mein Verlag bittet mich schon seit zwei Jahren, irgendetwas zu veröffentlichen, egal was. Aber wenn man schon in der Liste ist, wird deine nächste Veröffentlichung kleinlichst auseinandergenommen. Was, wenn das nächste Buch nicht so gut ist? Mit meinem Zögern treibe ich die Leute vom Verlag an den Rand der Verzweiflung, die rufen mich an, fragen mich aus. Aber ich glaube, in den nächsten Monaten oder bis Jahresende werde ich das Manuskript übergeben. Hoffentlich werde ich Leser haben, denn das ist der Wunsch aller Autoren.

INNEHALTEN UND LATEINAMERIKA LESEN

Der „Akt des Lesens“, so heißt es im Editorial der zehnten Ausgabe des Berliner Literaturmagazins alba, sei ein „Akt des Innehaltens“. In diesem Sinne ist die neue alba nicht nur ein Plädoyer für das Anhalten, um zu lesen (und anders herum), sondern auch Aufruf dazu, dem lateinamerikanischen Kontinent fernab vom Tagesgeschehen gründliche literarische Aufmerksamkeit zu schenken.

Der regionale Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe liegt passend zum dualen Jahr auf Mexiko, allerdings finden sich ebenso Texte aus Peru, Bolivien, Venezuela, Brasilien und Nicaragua. Das Magazin ist dreisprachig, wobei alle Texte übersetzt wurden, so dass jeder einzelne auch in einer meist exklusiv für alba angefertigten deutschen Fassung zu lesen ist. Der Akt des Übersetzens hat allerdings im Heft nicht nur die Funktion, lateinamerikanische Texte einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Genau so geht es darum, die Übersetzungsarbeit als kulturelle Praxis zu würdigen. Wie bereits in vorherigen Ausgaben der alba wird in der Rubrik „Vermittler“ auch im aktuellen Heft das Schaffen eines Übersetzers gewürdigt, der maßgeblich dazu beigetragen hat, lateinamerikanische Literatur im deutschsprachigen Raum präsenter zu machen. Carl Heupel, der unter anderem Octavio Paz’ Klassiker Das Labyrinth der Einsamkeit übersetzt hat, wird von alba-Redakteur Douglas Valeriano Pompeu als zu Unrecht vergessene Schlüsselfigur in der deutschen Verlagslandschaft bezeichnet, der „eine Bresche ins deutsche Leserbewusstsein“ geschlagen habe.

Dieser Schwerpunkt auf Vermittlung zwischen Lateinamerika und Deutschland spiegelt sich auch in der ersten Rubrik des Hefts, Berlínstant wider, welche die Vielseitigkeit der lateinamerikanischen Literaturszene in Berlin darstellt. Die alba ist also nicht entlang von Kriterien wie Herkunft der Autor*innen oder Genres aufgebaut, sondern thematisch organisiert. So bringt die mexikanische Autorin Guadalupe Nettel im Interview mit Redakteurin und Übersetzerin Christiane Quandt auf den Punkt, was auch alba besonders auszeichnet: „Mir gefällt das Hybride, die Möglichkeit, alle Gattungen im Sinne dessen zu vermischen, was ich schreiben will.“ So finden wir in der alba verschiedenste Textformate, die sich abwechseln und überschneiden. Neben Kurzgeschichten, Lyrik und Romanauszügen gibt es Interviews, Essays, Autor*innenportäts, Romanrezensionen, eine Hommage an den kürzlich verstorbenen Luis Alberto Arellano und einen Auszug aus der Dankesrede Yuri Herreras, der 2016 in Berlin mit dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet wurde.

Zu den Highlights des Hefts zählen die beklemmende Kurzgeschichte „Despertar“ („Wach auf!“) der Mexikanerin Ana García Bergua, in der Traum und Wachsein nicht voneinander zu unterscheiden sind, das geradezu verstörende „Cosita“ („Süßes Ding“) von María del Carmen Pérez Cuadra aus Nicaragua und die Auszüge aus dem Gedichtband Borealis von Rocío Cerón, die in Mexiko für ihre sonore Lyrik und poetische Performances bekannt ist. Zahlreiche Illustrationen lateinamerikanischer Künstler*innen sorgen dafür, dass Text und Bild sich auf symbiotische Art und Weise ergänzen.

Die alba Texte und Grafiken sind keine zufällig zusammengewürfelten Schnipsel, sondern sorgfältig ausgewählte und angeordnete Puzzleteile, die ein Bild der aktuellen lateinamerikanischen Literaturlandschaft zeichnen, das Genregrenzen verschwimmen lässt, vielseitige Aspekte von Gewalt, Leben, Traum und Trauma thematisiert und Möglichkeiten aufzeigt, den lateinamerikanischen Kontinent tatsächlich zu lesen, um gesellschaftliche Verhältnisse besser verstehen zu können.

„KEIN FOTO IST ÜBERFLÜSSIG!“

Die Angehörigen “Wie fotografiert man jemanden, der verschwunden ist?” (Fotos: Emmanuel Guillén Lozano)

 

Als die 43 Studenten in Iguala verschwanden, waren Sie selbst noch Student in Mexiko-Stadt. Was hat Sie bewegt, in den Bundesstaat Guerrero zu reisen und den Fall zu dokumentieren?
Der Fall der Studierenden aus Ayotzinapa war so etwas wie der Wendepunkt, der dem Thema der Verschwundenen in Mexiko eine neue Relevanz gab. Mir war sofort klar, dass ich etwas tun musste, um den Fall zu dokumentieren. Ich beendete mein Studium genau zwei Monate nach dem Angriff in Iguala, kaufte mir von meinen Ersparnissen eine Kamera und reiste sofort nach Guerrero. Als ich in Iguala ankam, stellte ich jedoch fest, dass die verschwundenen Studenten der Normal Rural bei weitem nicht die einzigen waren, die in der Region vermisst werden. Als der Fall Ayotzinapa bekannt wurde, löste dies eine ganze Welle von Vermisstenanzeigen aus. Die Familien dieser weiteren Verschwundenen gründeten eine Gruppe, die sich „Die anderen Verschwundenen aus Iguala“ nennt. Gemeinsam mit den Angehörigen der vermissten Studenten organisierten sie sich, um sich selbst auf die Suche nach den Verschwundenen zu machen. Ich habe einige dieser Nachforschungen begleitet und fotografiert.

Wie liefen diese Nachforschungen ab?

Im Wesentlichen gingen die Menschen gemeinsam in die Berge, zu Orten, von denen „jemand“ ihnen gesagt hatte, dass dort ein Massengrab sein könnte. Mit nichts als Schaufeln und Hacken machten sie sich auf den Weg. Außerdem hatten sie lange, dünne Metallstäbe und Hämmer dabei, deren Sinn ich nicht sofort verstand. Dann sah ich, dass sie diese Stäbe in die Erde hämmerten, wieder herauszogen und an der Spitze rochen. Wenn die Spitze schlecht roch, fingen sie an zu graben – denn das war ein Hinweis auf verwesende Leichen. Dieser erste Geruchstest war sehr oft positiv. In den allermeisten Fällen tauchten auch schon nach kurzem Graben erste menschliche Reste, Kleidung oder Knochen, auf.

Wie war es für Sie als junger Fotograf, die Menschen bei ihrer Suche zu begleiten?

Für mich war das der erste Kontakt überhaupt mit dem Thema der Verschwundenen. Gleichzeitig waren sie der wohl emotional schwerste Teil meiner Arbeit. Die schiere Verzweiflung der Menschen, die die Reste eines geliebten Angehörigen erkennen, kann man gar nicht beschreiben. In den ersten Monaten fand die Gruppe der Angehörigen, der zeitweise bis zu 500 Familien angehörten, rund um Iguala über 70 Massengräber. Was sie nicht fanden, waren die Überreste der verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa.

 

Sie begleiteten nicht nur die Suche nach Massengräbern in Iguala, sondern besuchten auch die Angehörigen der Vermissten in Ayotzinapa. Worauf konzentrierten Sie sich bei Ihrer Arbeit?

Nachdem ich die Menschen in Iguala für einige Monate begleitet hatte, fuhr ich im Juni 2015 nach Ayotzinapa. Ich besuchte die Schule, an der die verschwundenen Lehramtsanwärter studiert hatten, begleitete ihre Familien und fotografierte in einigen ihrer Wohnhäuser. Außerdem dokumentierte ich den sozialen und politischen Kontext rund um die Bewegung der Angehörigen: Demonstrationen, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizisten, verschiedene Blockaden von Menschen, die keine politische Propaganda in ihren Dörfern wollten. Ich fotografierte auch einige bewaffnete Blockaden der Drogenkartelle. Ich brauchte lange, um einen Zugang zu dem Thema zu finden – denn wie fotografiert man jemanden, der verschwunden ist? Mein Fokus lag daher darauf, das Gefühl der Leere zu dokumentieren und zu vermitteln, das diese Studenten hinterlassen haben.

Warum entschieden Sie sich zu genau diesem Zeitpunkt, Ihre Arbeit von Iguala nach Ayotzinapa zu verlagern?

Der Juni 2015 war aus meiner Sicht ein entscheidender Moment, denn zu diesem Zeitpunkt sollten in Ayotzinapa die ersten Wahlen nach dem Verschwinden der Studenten stattfinden. Die lokale Bevölkerung war so wütend, dass sie die Wahlen verhindern wollten – was ihnen im Endeffekt auch gelang. Das war für mich ein Schlüsselmoment, in dem deutlich wurde, wie unzufrieden die Menschen mit der gesamten politischen Klasse in Mexiko sind. Denn Ayotzinapa war der erste Fall, der anschaulich beweisen konnte, wie weit die mexikanische Regierung und die Drogenkartelle miteinander verflochten sind. Vorher war den meisten Mexikanern klar, dass es diese Verbindungen gibt – aber in Ayotzinapa konnte man sie das erste Mal beweisen. Nach Ayotzinapa begann ein großer Teil der mexikanischen Gesellschaft, sich Fragen zu stellen: Wie viele Bürgermeister tolerieren den Drogenhandel, wie viele Gouverneure arbeiten mit den Kartellen direkt zusammen? Im Verlauf der Untersuchungen wurde zudem deutlich, dass die mexikanische Regierung von oberster Stelle aus versuchte, die Wahrheit im Falle der verschwundenen Studenten zu verschleiern.

Was ist bis jetzt darüber bekannt, was in dieser Nacht in Iguala geschah?

Viele Theorien sagen, dass die Studenten angegriffen wurden, weil sie von einer als rebellisch bekannten Schule kamen und eine bestimmte Ideologie oder politische Gesinnung repräsentieren. Diese Theorien lassen sich genauso wenig belegen wie die offizielle Version der Regierung, wonach der Bürgermeister von Iguala die Busse angreifen ließ, weil er die Unterbrechung einer Rede seiner Ehefrau befürchtete (siehe LN 507/508).

Was ist aus Ihrer Sicht tatsächlich passiert?

Entgegen dieser Darstellungen deuten alle tiefgründigen, unabhängigen Untersuchungen in eine andere Richtung: Die bekannte Investigativjournalistin Anabel Hernández etwa hat Ende letzten Jahres ein Buch herausgegeben, in dem sie die Ergebnisse ihrer zwei Jahre dauernden Befragungen vorstellt. Sie sprach mit unzähligen Menschen, sowohl mit Nachbarn des Tatortes in Iguala als auch mit Polizisten, Militärangehörigen und Mitgliedern des Drogenkartells Guerreros Unidos, die in dieser Nacht anwesend waren. Nach der Auswertung aller Gespräche kommt sie zu dem Schluss, dass zwei der fünf Busse, in denen die Studenten reisten, offenbar mit Heroin im Wert von über zwei Millionen US-Dollar beladen waren.

Also waren vermutlich nicht die Studierenden, sondern die Busse Ziel des Angriffs?

Genau. Der Angriff erfolgte dieser Version nach nicht auf die Studenten, sondern eher auf die zwei Busse, die das Heroin transportierten. Die Lehramtsanwärter waren also eher zufälliges Opfer eines missglückten Drogentransportes. Diese Version erklärt auch, warum nur jene Studenten verschwanden, die in den spezifischen zwei Fahrzeugen reisten. Die anderen drei Busse wurden nicht angegriffen. Auch andere Untersuchungen wie die der Unabhängigen Interdisziplinarischen Expertenkommission (GIEI) deuten in dieselbe Richtung wie die Schlussfolgerungen von Anabel Hernández.

Wie genau lief der Angriff laut dieser Version der Geschichte ab?

Hernández beschreibt, dass die Studenten die Busse von einer Busgesellschaft ausliehen, ohne von den versteckten Drogen zu wissen. Auch von Seiten der Drogenkartelle scheint diese Entwicklung nicht geplant gewesen zu sein. So rief offenbar der Boss des Drogenkartells Guerreros Unidos direkt bei der örtlichen Militärbasis in Iguala an und beauftragte die Soldaten damit, sein Heroin zurückzuholen. Das muss man sich erstmal vorstellen: Ein Drogenboss befielt dem Militär, Busse wegen einer Ladung Drogen anzugreifen! Die Militäroffiziere reagierten und starteten eine gemeinsame Operation mit der lokalen und der Bundespolizei, um die Drogenladung zurückzubekommen. Sie hielten die Busse an und begannen damit, die Fracht zu entladen. Laut Hernández wurden sie dabei jedoch von den Studenten beobachtet – und das war dann vermutlich der Grund für ihr Verschwinden. Diese Version wird auch dadurch belegt, dass bestimmte Videos der Überwachungskameras in den Händen der Generalstaatsanwaltschaft auf mysteriöse Weise verschwanden – und zwar die Bilder aus genau dem Bereich, in dem die Drogen umgeladen worden sein sollen.

Sie haben bereits erwähnt, dass die mexikanische Regierung offenbar systematisch versucht, die Ereignisse zu vertuschen und die Untersuchungen zu behindern. Gab es weitere Ereignisse, die diese Versuche belegen?

Es gibt Hinweise, dass die Regierungsstellen selbst vermeintliche Beweismittel platzierten, um die Regierungsversion der Geschehnisse zu bestätigen. Ein besonders gravierender Fall betrifft die Untersuchung an der Müllhalde von Cocula. Dort fanden die Gutachter der Regierung Plastiktüten mit Knochen. Österreichische Gerichtsmediziner konnten einen dieser Knochen dem verschwundenen Studenten Alexander Mora zuordnen.

 

…was das offizielle Ermittlungsergebnis bestätigen würde, wonach die Studenten auf dieser Müllhalde lebendig verbrannt wurden. Sie zweifeln an diesem Fund?

Ein Kollege von mir veröffentlichte parallel ein Video, das er einen Tag vor der Entdeckung der Knochen in Cucula gedreht hatte. Dort sieht man, wie dieselben Gutachter, die am folgenden Tag die Tüten mit den Knochen finden, identische Tüten auf der Müllhalde deponieren. Der Verdacht liegt also nahe, dass sie die Tüten zuvor selbst dort platziert haben. Nun stellt sich jedoch die Frage: Wenn die Gutachter Knochen deponieren und einer dieser Knochen von einem der verschwundenen Studenten stammt – wie sind sie an diesen Knochen gekommen? Das würde bedeuten, dass die Gutachter direkten Zugang zu dem Leichnam von Alexander Mora gehabt haben müssen. Das würde auch bedeuten, dass sie mehr wissen, als sie offiziell sagen.

Sie haben die Familienangehörigen der verschwundenen Studenten über einen langen Zeitraum begleitet. Wie haben diese auf die verzögerten Ermittlungen und die widersprüchlichen Ergebnisse reagiert?

Die vermissten Studenten stammen alle aus sehr armen Familien. Das heißt, den Familien ging es vorher schon schlecht – und dann verschwinden auch noch ihre Söhne. Einige der Verschwundenen waren Brüder. Also betrauern manche Eltern nicht nur einen, sondern gleich mehrere ihrer Söhne. Ihre Situation ist grausam. Und obwohl die Regierung massiv versucht hat, die Untersuchungen zu behindern, haben diese Familien nicht aufgegeben und sich nicht korrumpieren lassen – und das obwohl ihnen von staatlicher Stelle mehrfach Schweigegeld angeboten wurde. Bis heute sind sie sehr aktiv, sie demonstrieren mindestens einmal im Monat in Mexiko-Stadt. Einige der Eltern sind durch die USA gereist, um auf den Fall aufmerksam zu machen. Andere haben vor dem UN-Komitee gegen gewaltsames Verschwindenlassen (CED) in Genf gesprochen. Doch das Frustrierende ist, dass sie trotz all ihrer Mühen keine Chance gegen die Mechanismen des Staates haben. Solange Enrique Peña Nieto an der Regierung bleibt, wird dieser Fall wohl nie aufgeklärt werden.

Wie gehen die Familien im Alltag mit dem Fehlen ihrer Söhne um?

Sie sind verzweifelt. Alle Familien, die ich besucht habe, haben direkt am Eingang ihres Hauses einen Altar mit dem Bild ihres verschwundenen Sohnes. Der Altar ist das Erste, was sie sehen, wenn sie das Haus betreten. Er ist das Letzte, was sie sehen, wenn sie das Haus verlassen. Er ist die einzige Möglichkeit, ihre Söhne auf irgendeine Art lebendig zu halten. Sie sagen, das Schlimmste für sie sei, dass sie keinen Ort haben, an dem sie trauern können. Keinen Ort, um Blumen abzulegen. Die andauerende Ungewissheit quält sie jeden Tag.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Fotograf bei der Dokumentation von Fällen wie jenem in Ayotzinapa?

Ich glaube, wenn etwas passiert wie der Fall der verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa und wir die Möglichkeit haben, die Ereignisse zu dokumentieren, dann sollten wir das aus allen uns zur Verfügung stehenden Perspektiven tun. Kein Foto ist überflüssig, kein Video zu viel. Meine Aufgabe als Fotograf besteht darin, die Ereignisse zu dokumentieren und sie bekannt zu machen. Denn ich glaube, nur wenn solche Fälle auch außerhalb Mexikos diskutiert werden, kann Druck auf die mexikanische Regierung aufgebaut werden. Die Proteste der eigenen Bevölkerung interessieren Enrique Peña Nieto nicht. Auch deswegen arbeite ich viel mit internationalen Medien zusammen – nicht nur, weil die Bezahlung in Mexiko so schlecht ist [lacht]. Zeitungen wie die New York Times drucken meistens die Fotografien, die weiße, männliche, US-amerikanische Fotografen im Ausland aufgenommen haben. Dabei kann eine andere Perspektive ein völlig neues Bild auf die Situation werfen.

 

MEXIKANISCHER KREUZWEG

In kaum einem Land der Welt dürfte dem Amtsantritt Donald Trumps ähnlich entgegen- gezittert worden sein wie in Mexiko. Die Ankündigung des neuen US-Präsidenten, Millionen illegalisierte Mexikaner*innen aus den USA abzuschieben und eine durchgehende Grenzmauer zu errichten, erhitzt die Gemüter. Ebenso die Ungewissheit, wie sich Trumps protektionistische Pläne auf die mexikanische Wirtschaft auswirken, die aufgrund ihrer strukturellen Abhängigkeit ungemein anfällig ist für Turbulenzen im Nachbarland. Das mexikanische Boulevardblatt El Gráfico titelte am Tag nach der Wahl Trumps mit fetten gelben Buchstaben: „FUUUCK!“. Und als dieser Ende Februar Anspielungen auf eine vermeintliche Sicherheitskrise in Schweden machte, fragte die überregionale Tageszeitung La Prensa auf ihrer Titelseite: „Was hat der denn geraucht?“.

Die bilateralen Beziehungen erreichten bereits kurz nach Trumps Amtsantritt einen neuen Tiefpunkt.

Es war nicht der erste Selbstmord, als sich am Morgen des 21. Februar ein 40-jähriger Mexikaner, der aus den USA abgeschoben worden war, von einer Brücke in der Grenzstadt Tijuana in den Tod stürzte. Doch die Verzweiflungstat steht symptomatisch für die aktuelle Situation. Ebenso die neu aufkommende Unsicherheit des indigenen Stammes der Tohono O’odham darüber, wie sie mit einer Mauer umzugehen haben, die ihr Territorium durchschneidet.

Die bilateralen Beziehungen erreichten bereits kurz nach Trumps Amtsantritt einen neuen Tiefpunkt. Geleakte Ausschnitte aus einem vertraulichen Telefongespräch zwischen dem mexikanischen Staatspräsidenten Enrique Peña Nieto und seinem neuen Amtskollegen offenbarten, dass der Nachbar damit drohte – ob im Scherz oder im Ernst ist unklar – die eigene Armee auf mexikanisches Territorium zu schicken, falls Mexiko mit dem Gewalt- und Drogenproblem der organisierten Kriminalität nicht eigenständig zurecht kommen werde: „Ich glaube, Ihre Armee hat Angst. Unsere nicht; ich könnte sie dorthin schicken, damit sie sich [um die ‘bad hombres’] kümmert“, soll Trump gesagt haben.
Diese Äußerungen lassen schlimmste nationale Ohnmachtsgefühle aufleben. Während des Kriegs 1846-1848 besetzen US-Truppen das Land, Mexiko kapitulierte und musste mehr als die Hälfte seines Gebietes an die USA abtreten.

Nur wenige Tage nach dem Telefonat folgte eine Militäroperation der mexikanischen Marine, die seit einigen Jahren im Inneren des Landes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität eingesetzt wird. Mit einem Black-Hawk-Hubschrauber – der normalerweise in Kriegsgebieten wie Irak oder Afghanistan eingesetzt wird – wurde der Anführer des Beltrán-Leyva-Kartells zusammen mit sieben weiteren Männern regelrecht niedergemäht. Mit der Aktion, auf die weitere folgten, sollte dem nördlichen Nachbarn signalisiert werden, dass man sehr wohl in der Lage sei, die eigenen Problemen zu lösen.

Mitte März wurde die bisher größte Anzahl an geheimen Massengräbern entdeckt.

Das Gelingen darf bezweifelt werden. Seit 2006 die extrem konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) das Militär in den Kampf gegen die Drogenkartelle schickte, versinkt das Land immer weiter in der Gewalt. Die 2012 gewählte Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) – der Inbegriff einer korrupten, skrupellosen Partei – führte das Gleiche fort. Medienwirksam kam es immer wieder zu Verhaftungen oder Tötungen von Kartellbossen. Geändert hat sich wenig, viel zu tief ist die Verstrickung der politischen Eliten und deren Handlanger bei Polizei und Armee in die illegalen Milliardengeschäfte. Dass sich unter den geschätzten 200.000 Toten – verlässliche offizielle Zahlen gibt es nicht – „nur“ 489 Soldat*innen befinden, lässt außerdem Rückschlüsse auf Dynamiken und Strategien der Regierungspolitik zu. Die allgemeine Bevölkerung gilt per se als Zielscheibe, ungestraft darf auf sie geschossen werden. Und selbst in den Fällen, bei denen es sich um Kriminelle handelt: In einem funktionierenden Rechtsstaat hätten auch sie den Anspruch auf ein faires juristisches Verfahren.

Aktuellster Beleg für die tiefe Krise Mexikos ist die Entdeckung der bisher größten Anzahl an geheimen Gräbern mit menschlichen Überresten Mitte März im Bundesstaat Veracruz. Verantwortlich für die Funde ist die Organisation Colectivo Solecito, gegründet von Müttern, die nach verschwundenen Angehörigen forschen. Die gemeinsame Suche mit der Staatsanwaltschaft begann bereits im August vergangenen Jahres, nach einem Tipp aus der Organisierten Kriminalität: Auf einem Blatt Papier waren mit Kreuzen am Hafen von Veracruz, rund um die Wohnsiedlung Colinas de Santa Fe, über 120 geheime Gräber eingezeichnet worden. Mehr als 250 menschliche Schädel und über zehntausend Knochenreste wurden gefunden. Die Anzahl an menschlichen Überresten lässt darauf schließen, dass die Zahl der Opfer viel höher als 250 ist. Unter den bisher nur sehr wenigen identifizierten Überresten befinden sich die eines Staatsanwalts und dessen Sekretärin, die 2013 von korrumpierten Polizisten entführt worden waren. Der international bekannte und mit Menschenrechtspreisen ausgezeichnete katholische Priester Solalinde kommentierte den Fall so: „Das ist nichts im Vergleich zu dem, was noch kommt.“

Hoffnungsvoll sieht ein Teil der mexikanischen Linken die Präsidentschaftswahlen im Juni 2018. Die 2014 gegründete Mitte-Links-Partei MORENA (Bewegung der Nationalen Erneuerung) hat Chancen, das Rennen für sich zu entscheiden, und damit auch, wenigstens offiziell, den Krieg im Land zu beenden. Erstmals zugelassen zur Wahl sind auch unabhängige Kandidat*innen. Am interessantesten scheint eine indigene Präsidentschaftskandidatin zu sein, die noch aus den Reihen des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI) bestimmt wird, mit dem Ziel zivilgesellschaftliche Mobilisierung zu stärken und politischen Wandel anzuregen (siehe LN 512). Der CNI agiert unabhängig, wurde aber 1996 von der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) gegründet.

Der Präsidentschaftskandidat von MORENA, Andrés Manuel López Obrador, versucht dagegen bereits zum dritten Mal in Folge sein Glück. Ein Unterschied zu den Wahlen von 2006, als er seinem Widersacher Felipe Calderón um 0,5 Prozentpunkte unterlag und bei denen gemeinhin von Wahlbetrug ausgegangen wird, ist vor allem in seiner medial-politischen Strategie zu sehen. Er klingt nicht nur wesentlich moderater in Interviews, sondern sucht bewusst den Schulterschluss mit Prominenten aus dem politischen und wirtschaftlichen Establishment Mexikos, die er in den letzten Wochen nach und nach in sein Team geholt hat.

Sollte es Trump gelingen, den Ausweg USA abzuriegeln, verschärft das die soziale Lage zusätzlich.

Zu ihnen zählt zum Beispiel Esteban Moctezuma Barragán, den López Obrador als Verantwortlichen für den Regierungsbereich Soziale Entwicklung benannte. Barragán hatte das Amt bereits unter dem PRI-Staatspräsidenten Ernesto Zedillo (1994-2000) inne. 1995 war er maßgeblich dafür verantwortlich, den Verrat an den Friedensgesprächen organisiert und der Generalkommandantur der EZLN eine militärische Falle gestellt zu haben. Ebenso wurde Alfonso Romo in AMLOs Schattenkabinett berufen. Der reiche Unternehmer ist unter anderem Gründer des Biotechnologiekonzerns Grupo Pulsar. Dieses war Anfang der 2000er Jahre maßgeblich daran beteiligt die Biodiversität des Urwaldgebiets Selva Lacandona, damals wie heute Stammgebiet der EZLN, zu privatisieren.

Mitte März befand sich López Obrador in den USA, um unter den dort lebenden mexikanischen Migrant*innen auf Stimmenfang zu gehen. Zugleich machte er bei der neuen US-Regierung Eigenwerbung: Mit ihm als Präsidenten sei es weitaus einfacher, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, das seit 1994 in Kraft ist, neu auszuhandeln. Trumps erklärtes Ziel trifft sich hier mit einer alten Forderung der mexikanischen Linken (und Teilen der US-amerikanischen), wenn auch unter anderen Vorzeichen. Von NAFTA profitiert hat auf mexikanischer Seite vor allem die Makroökonomie, der versprochene flächendeckende trickle-down-Effekt hinunter zu den armen Bevölkerungsschichten ist ausgeblieben. Vor allem auf dem Land hat NAFTA die Armut befördert: Mit den subventionierten US-Exporten wie Mais, Weizen und Bohnen konnten die kleinbäuerlichen Produzent*innen nie mithalten, viele mussten aufgeben. Doch auch in den Städten ist die Kehrseite von weltmarktbasierten Preisen auf Grundnahrungsmittel wie Tortillas, die immer wieder starken Schwankungen unterliegen, im Geldbeutel oder Magen spürbar. Als Nebeneffekt steht dem (inter)nationalen Niedriglohnsektor ein Reservoir an völlig mittellosen, meist jungen Bevölkerungsgruppen zur Verfügung – und ebenfalls den Drogenkartellen. Sollte es Trump tatsächlich gelingen, den Ausweg USA weitgehend abzuriegeln, verschärft das die soziale Situation weiter. Gründe, NAFTA dringend neu zu verhandeln, gibt es genügend. Verhandlungen auf Augenhöhe werden es sicherlich nicht sein.

Zweifellos um endlich einmal das Staatszepter in den Händen halten zu können, begibt sich die institutionalisierte Linke auf wackeliges Terrain. Ein wirklicher Bruch mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik ist angesichts der fragwürdigen Parteipersonalien bei MORENA kaum vorstellbar. Andererseits hat Mexiko nach elf Jahren Abwärtsgang unter den Präsidenten Calderón und Peña Nieto kaum noch etwas zu verlieren. So setzen weite Teile der organisierten Zivilgesellschaft und wichtige Persönlichkeiten auf López Obrador. So auch Pater Solalinde, für den MORENA und Obrador „das letzte Mittel sind, um Mexiko friedlich in Ordnung zu bringen. Wenn er versagt oder er dazu gebracht wird zu versagen, oder verhindert wird, dass er gewinnt, dann wird das, was kommt, schlimmer sein.“ Gottvertrauen klingt anders.

„ICH BIN ÜBERZEUGT, DAS RICHTIGE ZU TUN“

Die kritische Journalistin Carmen Aristegui im Interview (Foto: Tobias Lambert)

Mexiko gehört für Journalist*innen seit Jahren zu den gefährlichsten Ländern der Welt, wie ist aktuell der Stand der Pressefreiheit?
In bestimmten Regionen des Landes herrscht ein extremes Gewaltniveau. Seit die Regierung Felipe Calderón vor zehn Jahren den sogenannten Krieg gegen Drogen ausgerufen und den Kampf gegen das organisierte Verbrechen militarisiert hat, sind zehntausende Menschen verschwunden und getötet worden. Und diese Fälle sind praktisch alle straflos geblieben. Diese Gewalt hat auch Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit. In manchen Regionen reicht es aus, eine bestimmte Meldung zu veröffentlichen, um ermordet zu werden. Es sind Regionen, in denen Politik und organisiertes Verbrechen miteinander verbündet sind und unabhängiger Journalismus nicht möglich ist.

2012 wurde das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen verabschiedet. Warum greift es nicht?
Es ist so, wie mit vielen Gesetzen in Mexiko. Nicht zuletzt durch Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat es eine Reihe progressiver Reformen gegeben, doch die große Herausforderung ist die Umsetzung. Es ist schizophren: Wir haben fortschrittliche Gesetze, doch die Gerichte verhalten sich, als wären wir noch immer im vergangenen Jahrhundert. Oder sie haben nicht die nötige Unabhängigkeit für eine Rechtsprechung, die sich an Menschenrechten orientiert.

Sie wurden vor zwei Jahren von MVS-Radio unter einem Vorwand entlassen, nachdem zwei ihrer Mitarbeiter*innen sich mit dem Logo ihrer Sendung an der Enthüllungsplattform Mexicoleaks beteiligt hatten. Was steckte tatsächlich dahinter?
Es macht überhaupt keinen Sinn, dass ein privates Medienunternehmen das Programm abschafft, das die meisten Zuhörer*innen hat, also auch das meiste Geld bringt. Es sei denn, es mischt sich jemand von oben ein. Wir hatten zuvor recherchiert, dass der amtierende Präsident in einem Luxusviertel von Mexiko-Stadt ein Anwesen im Wert von über sieben Millionen US-Dollar besitzt. Wie er soviel Geld aufbringen konnte, ist aber aus seinen Einkünften nicht zu erklären. Die Immobilie war auf den Namen eines befreundeten Unternehmers eingetragen, der von der Zentralregierung und der Regierung des Bundesstaates Mexiko Aufträge erhalten hatte, als Peña Nieto dort Gouverneur war. In einem wirklich demokratischen Land hätte ein solcher Skandal ein Amtsenthebungsverfahren oder zumindest eine unabhängige Untersuchung nach sich gezogen, um die möglichen Interessenskonflikte zu ermitteln. Stattdessen wurde jedoch unser Rechercheteam angefeindet und nach sechs Jahren im Radiosender auf üble Art und Weise entlassen.

Wie ging es mit den Anschuldigungen gegen Peña Nieto anschließend weiter?
Unsere Recherchen konnte niemand widerlegen und der Präsident hat sich für den Skandal sogar öffentlich entschuldigt. Aber trotzdem gehen die Gerichte weiter gegen mich und mein Team vor. Neben Morden, Einschüchterungen und Entlassungen nutzen die Mächtigen auch die Justiz, um kritischen Journalismus zu verhindern. Gegen mich liegen eine Reihe von Anzeigen vor und mittlerweile gab es ein erstes Urteil. Es ging um ein Vorwort, das ich für ein Buch geschrieben habe, in dem es um den Fall von Peña Nietos Anwesen geht. Der zuständige Richter hat mich verurteilt und mir allen Ernstes vorgeworfen, „einen exzessiven Gebrauch der Pressefreiheit“ gemacht zu haben. Doch das ist nicht alles. Ende letzten Jahres sind fünf Personen in unsere Redaktionsräume eingebrochen. Es ging allein darum, uns einzuschüchtern, denn gestohlen wurde kaum etwas.
Welche Auswirkungen hat diese Situation auf Ihr persönliches Leben? Fühlen Sie sich bedroht?
Ich bin überzeugt, das Richtige zu tun, und glaube, dass wir unsere journalistische Arbeit unabhängig, mit Haltung und Freude ausüben müssen. Diese Motivation wiegt schwerer als die Sorge um die körperliche Unversehrtheit. Der größte Schutz, den wir haben, ist die Aufmerksamkeit des Publikums, dass die Leute sich dafür interessieren, was wir machen.

Welche Botschaft geht von Ihrer Entlassung für andere Journalist*innen aus?
Ich hatte dank der öffentlichen Wahrnehmung meiner Person und meiner Popularität einen sehr guten Vertrag ausgehandelt, der mir die alleinige inhaltliche Verantwortung für meine Sendung zugestand. Dieser Vertrag sicherte mir und meinem Team die notwendige Unabhängigkeit zu, die wir für unsere Arbeit brauchten. Dass ein Medienunternehmen solch einen Vertrag im Falle einer bekannten, etablierten Journalistin einfach brechen kann, sendet in einem Land, in dem viele Journalisten prekär arbeiten, ein furchtbares Signal aus. Denn wenn selbst ich einfach so entlassen werden kann, kann es jeden treffen. Doch auch wenn die Behinderung meiner Arbeit schlimm ist, ist sie nichts im Vergleich zu den Bedrohungen, denen viele meiner Kollegen ausgesetzt sind.

Ihre Entlassung hat nicht zuletzt ein Schlaglicht auf den staatlichen Einfluss auf den Journalismus in Mexiko geworfen. War der Sender wegen des Bezugs öffentlicher Werbeeinnahmen erpressbar?
Viele Medien hängen von staatlichen Werbemitteln ab. Es ist ein Werkzeug der Regierung, um Medienunternehmen je nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu belohnen oder zu bestrafen. Und das Geld wird diskret und ohne Transparenz verteilt. Wenn nun einzelne Medien ohne staatliche Zuwendungen nicht überleben können, ist klar, dass sie genau das berichten, was die Regierung wünscht. Peña Nieto hat bei seinem Amtsantritt angekündigt, diese Art der Zuwendungen zu regulieren. Bisher ist allerdings nichts passiert und letztlich haben weder die Regierung noch die großen Medienunternehmen ein Interesse daran. Aber der Präsident hat damit ein zentrales Thema angesprochen, da er vielfach dafür kritisiert worden ist, die Wahlen mit Hilfe einer unfassbaren Medienkampagne gewonnen zu haben. Er galt international als „Kandidat des Fernsehens“ und brachte die PRI nach zwölf Jahren zurück an die Macht.

Welche Rolle spielen alternative Medien in der öffentlichen Debatte in Mexiko?
Das hängt davon ab, was man als öffentliche Debatte bezeichnet. Alles deutet darauf hin, dass diese heute nicht mehr im traditionellen Fernsehen mit seiner einseitigen Kommunikation, sondern vor allem im Internet stattfindet. Die Zuschauerzahlen und Einnahmen des mexikanischen Fernsehduopols aus Televisa und TV Azteca gehen deutlich zurück. Ich glaube, das liegt daran, dass die Zuschauer*innen ins Internet abwandern, wo jeder eine Information veröffentlichen und damit eine Wirkung erzielen kann. Das bringt natürlich auch Gefahren mit sich, man denke nur an die Fake News, wie man heute sagt. Wir Journalist*innen müssen die Rolle der Journalist*innen für uns beanspruchen und zwar ebenso in den Zeitungen oder im Radio wie im Internet, wo die Qualitätsstandards genauso hoch sein müssen, wie in jedem anderen Medium. Erst, wenn du Informationen überprüft hast und die Verantwortung dafür übernimmst, bist du Journalist*in.

Seit Anfang des Jahres produzieren Sie Ihre neue Morgensendung selbst und streamen sie im Internet. Wie finanziert sich das Programm?
Bisher ausschließlich über die Werbeeinnahmen, die wir über die Klicks von Youtube beziehungsweise Google erhalten. Das funktioniert, weil wir im Moment eine feste Zuschauer- und Zuhörerschaft haben, die einen hohen Traffic generiert. Aufgrund des Volumens ist es uns möglich, eine Redaktion und die technischen Geräte zu bezahlen, um live als Radio- und Fernsehprogramm zu senden. Wir hoffen, dass das Publikum uns treu bleibt, denn nur so können wir auf Dauer weitermachen. Das heißt aber nicht, dass ich für die Zukunft ausschließe, auch andere Finanzierungsquellen zu nutzen, sofern sie transparent sind und unsere journalistische Unabhängigkeit garantiert ist.

 

DIE NUTZLOSIGKEIT DER LITERATUR

Der argentinische Schrifsteller César Aira im Interview (Foto: Timo Berger)

Herr Aira, Ihr auf Deutsch erschienener Essayband Duchamps in Mexiko beginnt damit, dass Sie sich darüber ärgern, in Mexiko-Stadt in eine Touristenfalle geraten zu sein. Man bekommt den Eindruck, dass Sie nicht gerne reisen?

Wenn ich reise, dann hasse ich den Ort, an dem ich bin und will so schnell wie möglich wieder in den Flieger steigen. Die Reise nach Mexiko hatte mich sehr deprimiert, und um die Traurigkeit zu überwinden, habe ich getan, was ich dann immer tue: Bücher kaufen. Es war ein Buch über Marcel Duchamp. Am nächsten Tag sah ich dasselbe Buch in einem anderen Laden, aber zwei Peso billiger. Ich dachte, hätte ich dieses Exemplar gekauft, hätte ich jetzt zwei Peso mehr und würde ich noch ein anderes, drei Peso billigeres Exemplar kaufen, dann hätte ich insgesamt schon 5 Peso gespart, und fände ich immer mehr, immer billigere Bücher, dann wäre ich irgendwann reich. Solche seltsamen Ideen kommen mir!

Mit dieser Idee haben Sie dann Duchamp in Mexiko geschrieben, ein Text, der einer trügerischen Logik folgt, ähnlich der, die dem Paradoxon von Achilles und der Schildkröte zugrunde liegt.

Ich spiele gerne mit dem Unendlichen, mit unendlichen Reihen. Das habe ich von Borges.

Und warum interessieren Sie sich ausgerechnet für Duchamp?

Duchamp ist rätselhaft, sein Werk unendlich interpretierbar. Eines der ersten Bücher, das ich mir kaufte, als ich mit 18 aus Coronel Pringles zum Studieren nach Buenos Aires ging, war eine Sammlung seiner Schriften unter dem Titel Marchand du sel (wörtlich: „Salzverkäufer“; Anm. der Red.), ein Wortspiel mit seinem Namen. Von da an wurde mir Duchamp zu einer Gewohnheit, einem Hobby. An die hundert Bücher über ihn habe ich zu Hause. Duchamp war Vater von dem, was wir heute zeitgenössische Kunst nennen, der Concept Art. Er hat alles gemacht: sich in Frauenkleidern fotografiert, Performances aufgeführt, Parfüms kreiert. Er hat sich permanent verändert – eine Eigenschaft, die mir an Künstlern gefällt: Immer wieder hat er einen neuen Weg eingeschlagen. Ich wünschte, meine Bücher wären so.

Als zweites Ihrer Bücher erschien 2016 Eine Episode im Leben des Reisemalers in einer Neuübersetzung in Deutschland. Es handelt ebenfalls von einem Künstler: Moritz Rugendas, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Südamerika bereiste und Land und Leute in beeindruckenden Tableaus festhielt. Was fasziniert Sie an der Figur Rugendas’?

Der erste Satz meines Buchs lautet: „Es hat im Westen nur wenige wirklich gute Reisemaler gegeben.“ Das spielt auf den Osten an, auf Japaner und Chinesen, wo es wirklich gute Reisemaler gegeben hat. Im Westen arbeiteten die meisten Künstler im Atelier. Anders Rugendas: Er unternahm seine erste Reise nach Südamerika im Alter von 19, 20 Jahren als Zeichner einer von Georg Heinrich von Langsdorf angeführten Expedition nach Brasilien. Mich fasziniert diese Figur des jungen Menschen, der in die Welt hinausgeht, bis dahin fast unbekannte Landstriche erkundet. Er zeichnet seine Erlebnisse auf, machte aus ihnen Kunst.

Rugendas querte die Anden von Chile nach Argentinien, weil er den Wunsch hatte, die Pampa zu sehen. Dabei wird sein Pferd vom Blitz getroffen und er selbst schwer verletzt. Gab es diesen Unfall tatsächlich?

Ja, Rugendas blieb für den Rest seines Lebens ein nervöser Tick. Zugegeben, ich übertreibe das im Buch ein wenig, bei mir ist er nach dem Unfall eine Art Monster. Aber was mir an der ganzen Episode am besten gefällt, ist das Ende. Rugendas wollte immer einen Indianerüberfall erleben, um ihn malen zu können. Und dann greifen die Indianer just in dem Moment an, in dem er sich auf einer Estancia in Mendoza aufhält. Trotz seines schlechten Gesundheitszustands skizzierte er die Gefechte. Und am Abend ging er zum Indianerlager und fertigte von ihnen Porträts an. Wie ein Regisseur: Zuerst macht er die Total-, dann die Nahaufnahmen.

Und die Indios ließen ihn gewähren?

Er kam ihnen harmlos vor mit seinem Bleistift…

Ihr Protagonist ist ein Reisemaler. Wenn Sie auf Reisen sind, schreiben Sie auch?

Als Schriftsteller bin ich ein komplett sesshaftes Wesen. Ich habe meine Routine in den Cafés von Flores. Für mich muss jeder Tag gleich verlaufen. So habe ich eine neutrale Erfahrung, auf deren Grundlage ich meiner Fantasie freien Lauf lassen kann. Wenn ich an anderen Orten bin, funktioniert das bei mir nicht.

Benutzen Sie beim Schreiben eigene Erfahrungen?

Normalerweise schöpfe ich meine Inspiration aus der Lektüre, der Betrachtung von Kunstwerken oder aus dem Fernsehen, aus trivialen Komödien, manchmal auch aus bizarren Zeichentrickserien. Das mische ich dann mit Borges. Wenn ich dann weiterschreibe, brauche ich noch etwas Persönliches, etwas, das mich selbst berührt, denn sonst bleibt es nur ein reines Spiel mit Ideen – was mir ein wenig banal vorkommt. Zu viel Persönliches will ich aber auch nicht hineingeben, sonst kippt es ins Sentimentale, Pathetische, Autobiografische. Es muss eine Balance geben zwischen der seltsamen Logik des Achilles und der Schildkröte und meinen persönlichen Dingen, die normalerweise versteckt sind, dem Text aber Kraft geben.

Man sagt, Sie hätten mehr als 80 Bücher veröffentlicht. Denken Sie die Bücher dabei als Teil eines größeren Werkzusammenhangs oder steht jeder Roman für sich?

Wenn ich die Gesamtheit meiner Bücher betrachte, muss ich sagen, nein, es gibt kein übergreifendes Projekt, jedes Buch ist ein eigenes Abenteuer. Letztlich sind sie aber nicht so verschieden, weil ich ja immer derjenige bin, der sie schreibt. Ich habe so meine Vorlieben. So werden die Bücher am Ende immer ähnlich. Auch wenn ich versuche, etwas Neues zu machen.

In einem Ihrer Essays schreiben Sie, Sie träumen davon, ein Romanschema zu entwerfen, das Sie künftig nur noch zu füllen brauchen, um zu schreiben …

Tatsächlich gibt es eine Art Automatismus in meinem Schreiben, aber nicht den Automatismus des Unbewussten der Surrealisten, sondern den der Außenwelt. Ich sehe zum Beispiel zwei Männer mit vollem Haar und einen mit Glatze und der mit der Glatze gibt Anweisungen. Wenn ich nun etwas über einen chinesischen Supermarkt in Buenos Aires schreiben will, schreibe ich: „Da waren zwei Männer mit vollem Haar und ein Glatzkopf, der Befehle gab.“ Das hat nichts mit der Geschichte an sich zu tun, sondern kommt von dem, was ich in dem Café beobachte, wo ich schreibe. Dennoch füge ich nicht einfach nur eine Sache zu einer anderen, sondern ich muss den Glatzkopf und die beiden Männer mit vollem Haar wie in einem konventionellen Roman glaubwürdig einführen.

Also ist der konventionelle, gut geschriebene Roman wichtig als Bezugsgröße?

Das Ideale ist natürlich, dass der Schriftsteller seine eigenen Paradigmen für Qualität erfindet. Wenn er den etablierten Modellen für Qualität folgt, kann er höchsten einen „guten Roman“ schreiben, also einen Roman mehr, von denen es so viele gibt, und die diese deprimierenden Tische der Buchläden füttern, die einem die Lust am Lesen verleiden. Seine eigenen Paradigmen zu erfinden, ist selbstverständlich nicht so einfach; diejenigen, die es tun, geben der Literaturgeschichte eine neue Wendung. Neue Paradigmen zu erfinden, bedeutet, sich selbst neu zu erfinden.

Sie haben bei Ihrer Rede zur Eröffnung des internationalen Literaturfestivals Berlin 2016 die Nutzlosigkeit der Literatur verteidigt. Warum?

Die Literatur hatte noch nie einen Nutzen, außer den, den Lesern, einer winzigen Minderheit der Gesellschaft, Freude zu bereiten. Deshalb halte ich staatliche Kampagnen zur Förderung des Lesens für absurd. Wenn Verleger und Autoren sagen, dass Lesen gut sei, verstehe ich das, es ist schließlich ihr Geschäft. Wenn das aber der Staat tut, ist es nicht zu Ende gedacht. Denn man braucht Menschen, die arbeiten und produzieren, niemanden, der sich zu Hause einschließt, um Romane zu schreiben. Zwar hilft Lesen, den Geschmack zu verfeinern, einen intelligenter zu machen. Nur wer braucht diese Eigenschaften? Wenn jemand einen verfeinerten Geschmack hat, dann wird er zu einem Schmarotzer …

… weil er nicht funktional ist für das System?

Ja. Gleichzeitig ist diese Nutzlosigkeit der Literatur der Schlüssel zu ihrer Freiheit. Von dem Zeitpunkt an, in dem man der Literatur einen Nutzen zuschreibt, verliert sie ihre Freiheit. Wenn man mir vorgibt, ich solle zur Bildung der Jugend beitragen, dann kann ich schon nicht mehr so schreiben, wie es mir gefällt: mit der exzessiven Vorstellungskraft, dem ganzen Unsinn… Ich würde mir nur Gedanken darüber machen, wie mein Schreiben zur Bildung beiträgt und schon wäre ich eingeschränkt.

Welche Bücher lesen Sie selbst?

Zurzeit lese ich Bücher wieder, die ich vor dreißig Jahren gelesen habe. Auch wenn ich mich an die Grundzüge des Buchs erinnere, ist das Wiederlesen anders. Man liest aus der Perspektive von dem, was man erlebt hat, mit dem Geschmack, den man entwickelt hat. Ich mag es, Bücher wieder zu lesen, auch wenn ich mir das nicht ausgesucht habe: Oft gehe ich in einen Buchladen und komme mit leeren Händen zurück, weil das einzige Buch, das mich interessiert, eines ist, das ich schon zu Hause habe.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich werde für lange Zeit nichts mehr veröffentlichen. Ich habe es satt, gesagt zu bekommen, dass ich so viel veröffentliche. Ich werde also damit erstmal aufhören. Das passt mir aber ganz gut, denn ich schreibe besser, wenn ich nicht ans Veröffentlichen denke.

Eine Veröffentlichung ist also eigentlich eher etwas Lästiges?

Nein, mir gefällt das Buch als Gegenstand. Aber jetzt gebe ich mich mit den Übersetzungen zufrieden, die von überall herkommen, schöne Objekte in verschiedenen Sprachen, manche so exotisch, dass ich auf dem Buchumschlag nicht mal meinen Geburtsort Coronel Pringles lesen kann.

 

ABENTEUER ÜBERSETZUNG

Mexiko, woher die Texte des Erzählbandes Potslom stammen, ist ein Land mit vielen parallelen Welten, ungleichzeitigen Zeitläufen und verschiedenen Zeiträumen. In vielen Geschichten tritt dies deutlich zutage. In der
Erzählung Der Reiter wird ein Raum eröffnet, in dem ein Geist nicht schläft, sondern als Schatten auf einem großen und stattlichen Pferd durch das Dorf reitet. In der Geschichte Achá Turí wird ein fremder Mann, von dem
gesagt wird, er sei ein Sklave von Hernán Cortés gewesen, gefangen genommen und dann zum König eines Dorfes gekrönt.

Nebensächlichkeiten bekommen in den Geschichten ein für westliche Leser*innen befremdliches Gewicht. So zum Beispiel in der Geschichte Erinnerungen an einen Gewissenlosen, eine persönliche Erinnerung an den Ausbruch des Vulkans Chichonal 1982. Den Aluminiumtopf, in dem der Großvater am Morgen des Vulkanausbruchs die Bohnen aufwärmte, hatte dieser bei einem fahrenden Händler auf dem Markt von Magdalena gekauft. Der Ausbruch des Vulkans, bei dem ein Steinhagel das Dach aus Pappe zerschlug, wird fast beiläufig beschrieben. In diesem Minimalismus, der Abwesenheit des Brutalen, wird die Apokalypse des Vulkanausbruchs betont. Diese Geschichten eröffnen Panoramen, in denen man die vom offenen Herdfeuer verrauchten Häuser fast riechen oder den schnarrenden Klang einer abgewetzten Gitarre hören kann.

In der Geschichte Die Blase im Mund des Indios werden die noch heute wirkenden kolonialen und rassistischen Strukturen der Unterdrückung deutlich und außerdem die Probleme der Übersetzung fassbar. Der Begriff „máasewal“ wird aus dem Maya ins Spanische und Deutsche als „Indio“ übersetzt. Im Englischen wird es als „Indian“ übersetzt. Der Begriff „máasewal“ bezeichnet aber auch einen sozialen Status, mit dem in Yucatán heute
„einfache Leute“, Bauern und Proletarier gemeint sind. Gleichzeitig hat er eine ethnische Bedeutung. Am Ende der Geschichte gibt der Großvater seinem Enkel den Rat, die brennende Blase in seinem Mund als Quelle seiner
Kraft zu verstehen und genau dann, wenn der Schmerz nicht mehr auszuhalten ist, den Kampf des Unterdrückten aufzunehmen und den Fremden zu verletzen.

Beim Lesen wird klar: Das Abenteuer der Übersetzung ist ein Zweifaches. Zum einen ist der Prozess der Übersetzung immer wieder ein Mysterium, in dem der Inhalt aus einer Sprache in eine andere Sprache hinüber gesetzt wird. Zum anderen kann sich durch das Lesen der Übersetzung ein Tor zu einer fremden Lebenswelt öffnen. Das bedeutet nicht, dass man beim Lesen dieser Geschichten die fremden Lebenswelten versteht. Nein, vielmehr bekommt man ein Gefühl für die Fremdheit und das eigene Unverständnis. Aber nur so kann ein Verstehen erarbeitet werden: Wenn man vom Unverständnis ausgeht und Schritt für Schritt auf einander
zugeht, ohne dabei die sozio-ökonomischen und kulturellen Unterschiede in einem „Wir sind doch alle Menschen“ zu negieren. Wenn man die ethnische Frage auf sozio-ökonomische Konflikte reduziert, verhindert das den Blick auf das Andere, das kulturell Fremde und man sieht im Spiegel nur sich selbst. Der Erzählband Potslom umfasst 12 Geschichten in neun verschiedenen indigenen Sprachen Mexikos: Purépecha, Mayo, Tepehuano del norte (Odami), Nahuatl, Mazateco, Triqui, Maya, Zoque und Tsotsil, die wiederum jeweils
ins Spanische, Deutsche und Englische übersetzt wurden. Dass aus dem Spanischen ins Deutsche und Englische übersetzt wurde, ist natürlich schade, da bei einer direkten Übersetzung der Inhalt weniger verändert werden würde. Eine direkte Übersetzung hätte den Kosten- und Zeitrahmen des Erzählbandes sicherlich gesprengt. Die Prosatexte in diesem Band sind mal Geschichten und Erzählungen, mal persönliche Berichte, ein anderes Mal Fabeln oder Legenden.

Potslom, die Erzählung, die dem Buch seinen Namen gegeben hat, unterscheidet sich von den anderen Geschichten, da sie einen Spannungsbogen und eine überraschende Wendung hat. Ein anderer Autor aus dem Buch bezeichnete in einem Gespräch mit dem Herausgeber diese Geschichte als verunreinigt. Der Autor von Potslom war zur Universität gegangen und hätte dort die westliche Logik von Geschichten gelernt. Für den Herausgeber, Lino Santacruz Moctezuma, stellt dieser Prozess jedoch vielmehr eine Bereicherung dar
und den Kontakt, den er mit der Veröffentlichung dieses Buches anstrebt: Die indigenen Welten in Mexiko sind der urbanen-mestizischen Mittelschicht weiterhin unbekannt. Das Buch will diese parallelen Welten zusammenbringen, Brücken bauen und einen Beitrag leisten zu der Frage: Wer sind wir Mexikaner*innen? Und was macht uns aus?

FREIHEIT UND KONTROLLE


YURI HERRERA wurde 1970 im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Er studierte Politikwissenschaften in Mexiko Stadt, 2009 promovierte er in Lateinamerikanischer Literatur an der Universität von Berkley (Kalifornien). Er hatte Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten in Mexiko und den USA. Neben seiner journalistischer Arbeit hat er bislang fünf belletristische Bücher veröffentlicht, gleich sein erster Roman Abgesang auf den König sorgte für Furore in der Literaturwelt. Zuletzt ist von ihm auf Deutsch der Erzählband Der König, die Sonne und der Tod. Eine mexikanische Triologie erschienen. Ende 2016 erhielt er den internationalen Preis der Anna-Seghers-Stiftung. (Foto: Universität Köln)


Herr Herrera, Sie sagten einmal, ihre größte Muse sei die Scham, nicht produktiv zu sein. Wie geht es Ihrer Muse zurzeit?
Aktiv wie immer. Ich arbeite an mehreren Sachen gleichzeitig, aber ich habe immer das Gefühl, dass es nicht genug ist. Es ist wie der Kaffee am Morgen.

Im November 2016 haben Sie den Anna- Seghers-Preis erhalten. Gibt es einen Aspekt aus dem Werk von Anna Seghers, der Ihnen besonders wichtig ist?
Mich interessiert vor allem ihr Blick auf ihre eigene Zeit, wie sie die Geduld hat, zu verstehen, und diese mit einer Art empathischer Hoffnungslosigkeit verbindet. So kann sie das Drama der Menschen aus dieser Zeit kommunizieren.

Ihr wiederkehrendes Thema ist die Verbindung zwischen der Kunst und der Macht. Warum?
Es ist eine Spannung, die in allen Gesellschaften existiert: Zwischen denen, die bewahren und kontriollieren wollen, und denen, die nach neuen Formen suchen, auf die Welt zu sehen. In Mexiko drückt sich das seit einigen Dekaden institutionell aus. Es bleibt also ein Thema, das nicht zu Ende geht, und weiter reflektiert werden
muss.

Sie sagen, dass eine permanente und sehr tiefe Beziehung zwischen der mexikanischen Literatur und der Politik bestehe. Diese gehe so weit, dass der Staat die Schriftsteller finanziere, „eine sehr verdächtige Verbundenheit“ nannten Sie das mal. Können Sie das erklären?
Obwohl ich glaube, dass die Kulturpolitik des mexikanischen Staates sehr gute Momente hatte – zum Beispiel erfolgreiche Alphabetisierungskampagnen, Veröffentlichungen junger Autoren aus verschiedenen Landesteilen – hat sie auch eine Funktion der Kontrolle eingenommen. Oder sie sollte als solche benutzt werden: die Arbeit der Künstler zu subventionieren, im Austausch für ihre Verschwiegenheit. Zum Glück ist das literarische Feld in Mexiko weitaus vitaler und resistenter, als es diese Kulturdezernenten begreifen können.

Sie sprechen auch über die Schwierigkeit, die kulturelle Freiheit nicht zu verlieren und es sich gleichzeitig nicht mit den Eliten der Macht zu verscherzen. Wie funktioniert das?
Das passiert nicht nur in Mexiko. Schriftsteller sehen sich auf der ganzen Welt verschiedenen Typen von Grenzen ausgesetzt. Manchmal handelt es sich um staatliche Zensur, manchmal um Druck aus der Branche wie Literaturagenten, Verlage, Kritiker und manchmal um den Druck des Marktes. In jeder Epoche und an jedem Ort
müssen Schriftsteller die Art und Weise finden, sich diesem Druck nicht zu beugen und ihre eigene
Stimme zu finden.

Politiker*innen und Anführer*innen der organisierten Kriminalität in Mexiko fühlen sich unantastbar. Sie umgeben sich mit Leuten, die sagen, was sie hören wollen. Wann hat das angefangen?
Das ist kein mexikanisches Problem. Mexiko ist kein Land, in dem die Grausamkeiten großartig anders sind als in Deutschland, der Schweiz, England oder den USA. Mexiko ist das Land, das die Toten zu einem Geschäft macht, das bei anderen aus Nachfrage, Waffen und Regeln besteht. Erinnern wir daran, dass die Gruppe, die die Studenten von Ayotzinapa attackierte, deutsche Waffen hatte. Natürlich haben wir spezifische Verantwortungen, ein veraltetes politisches System bestimmt durch Korruption, einen jahrzehntelangen Rassismus, den sich viele weigern zu sehen, eine systematische Straflosigkeit, aber die Gewalt in Mexiko entspringt auch aus den Ländern, die sich für zivilisiert halten, aus der Ferne betrachtet.

Sie sagten, es sei nicht wahr, dass keiner etwas gegen die Gewalt und die Stille tue. Können Sie einige Medien oder Aktionen nennen, die nach der „Wahrheit“ suchen?
Es gibt viele Leute, die daran arbeiten, die Meinungsfreiheit zu bewahren: Da ist die Organisation Articulo 19, kleine Medien aus Veracruz, aus Sinaloa und aus Mexiko-Stadt, die elektronischen Magazine Sin Embargo und
Lado B, Gemeinderadios im Süden und Südosten des Landes und viele andere.

Sie haben auch mal eine Gewerkschaft von Haushaltshilfen erwähnt…
Das ist noch eine kleine Gewerkschaft, aber sie zeigt, dass es immer noch elende Formen der Ausbeutung aus der Kolonialzeit gibt. Sie ist bemerkenswert, weil es sich um eine Gruppe Frauen handelt, die sich entschieden hat, für ihre fundamentalen Rechte zu kämpfen. Das könnte sich als kultureller Wandel herausstellen.

Um den Prozess zu erklären, wie Sie die adäquate Sprache in Ihren Büchern finden, benutzen Sie das Bild des Malers mit seiner Farbpalette und den verschiedenen Farben. Aber nicht immer gibt es „Farben“ für die Gewalt. Gibt es Dinge, die Sie persönlich schockieren und sprachlos lassen?
Natürlich, ständig gibt es Situationen, für die man nicht sofort Worte findet. Aber genau das ist die Arbeit der Kunst, die Worte zu kreieren, sie nicht einfach aus dem Wörterbuch zu entnehmen. Manchmal geht es darum, alte Wörter zu erneuern, manchmal darum, für sie eine andere Konnotation zu finden, manchmal darum, sie zu transformieren. Es gibt nicht den einen Weg.

Stört Sie der Begriff narco poesia (“Drogenhändlerpoesie” als Titel einer Rezension eines Ihrer Bücher?
Nein, wenn man ein Buch veröffentlicht, kann man keine Kontrolle mehr über die Art und Weise haben, wie es gelesen wird. Das ist okay. Persönlich denke ich, dass diese Etiketten die Literatur nicht bereichern, aber in manchen Bereichen haben sie eine Funktion für analytische Zwecke. Letztendlich können die Lektoren mit dem Text machen, was sie wollen.

Sie sind weit weg von der US-Grenze im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Woher stammt Ihr Interesse für den Norden Mexikos und die Grenze zu den USA?
Ich habe zwischen 2000 und 2003 an der Grenze zwischen El Paso und Ciudad Juárez gelebt, aber das war nicht mein erster Kontakt. In Mexiko hat fast jeder Familienmitglieder, die mal in die Vereinigten Staaten immigriert sind, ob sie nun zurückgekehrt oder auf der anderen Seite geblieben sind.

Vor einigen Wochen hat eine deutsche Wochenzeitung Monterrey und Indianapolis miteinander verglichen. Ein Unternehmen aus Indianapolis hat letzten Februar 1.000 Arbeitsplätze nach Mexiko umgesiedelt, wie auch
andere. Mondelez produziert seine Oreos nicht mehr in Chicago, sondern in Monterrey. Er liebe Oreos, aber er werde sie nie wieder essen, sagte Donald Trump. Glauben Sie, dass der neue US-Präsident das Thema der Arbeitsplätze, die ins Ausland gehen, wirklich verändern wird? Wird er seine Rhetorik beibehalten?
Das werden wir sehen. Ich bezweifle stark, dass er die Beschäftigungen, die die Malereibetriebe in vielen Orten Mexikos geschaffen haben, zurückholen will. Zum Beispiel: Unglaublich schlecht bezahlte Arbeiten, zu viele Stunden, wenig oder gar kein Rechtsschutz, wenig oder gar keine medizinische Versorgung. Sicher wird Trump einige weitere spektakuläre Mittel ergreifen, einige Unternehmen unter Druck setzen, damit sie ihre Investitionen zurücknehmen. Aber um die wirtschaftliche Dynamik zwischen den zwei Ländern zu verändern, bedarf es weit mehr als einen Ausstoß von Testosteron. Ich habe den Eindruck, dass das Geschrei rund um das Freihandelsabkommen Nafta eher den hysterischen Versprechen des Wahlkampfs entspricht als einer Bewertung dessen, wie Nafta funktioniert hat. Es wird ohne Zweifel Veränderungen geben, aber nicht in der Schnelligkeit, die er versprochen hat.

Hat Sie das Tempo überrascht, mit dem Trump die ersten, spektakulären Entscheidungen getroffen hat?
Nein, aber viele dieser Entscheidungen entstammen eher seinem Versuch, entschlossen zu wirken als einem konkreten Plan. Viele davon werden nicht einmal realisiert werden. Trump wird herausfinden, dass es deutlich
mehr braucht, als Papiere zu unterschreiben, damit die Dinge in Bewegung kommen. Aber vielleicht kommt es ihm darauf nicht an, seine Sache ist das Spektakel.

Ist es möglich, die Problematik um die Migration zu verschlimmern, anstatt sie zu lösen?
Wenn man die Migration ausschließlich als ein Problem betrachtet und nicht als ein Phänomen, das die Gesellschaften bereichert, ist es natürlich möglich. In Europa ist das passiert, und wir können bereits sehen, dass der mit dem Aufstieg Trumps entstandene Hass die Situation der Migranten verschlimmert, die in den Obama-Jahren schon ziemlich schlecht war.

Was denken Sie über die Rolle der mexikanischen Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Migrant*innen aus Zentralamerika?
Das ist eine passive Komplizenschaft. Es hätte eine viel größere Reaktion auf den Missbrauch geben müssen, den die Migranten aus Zentralamerika auf ihrem Weg durch Mexiko und bei ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten erleiden mussten.

Die Reaktion der Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung auf Präsident Peña Nietos Ablehnung von Trumps Ideen und seiner Absage des geplanten Staatsbesuchs in Washington – war das ein kurzer Moment von Einigkeit in Mexiko?
Einigkeit kommt nicht auf magische Weise zustande. Ja, es gibt eine Einheit in der Ablehnung von Trump. Diese darf aber nicht als unbegrenzte Unterstützung des Präsidenten verstanden werden, mehr noch: Wenn diese ganze Episode etwas bewiesen hat, ist es die Unfähigkeit Peña Nietos eine Vision des Staates aufzuzeigen.

DEM HORROR IN DIE AUGEN SEHEN

Foto: Berlinale

Eines sei vorweg gestellt: Wer „La libertad del diablo“ bis zum Ende sehen will, der muss hart gesotten sein. Fiktionale Darstellungen der Drogenmafia haben seit Jahren Hochkonjunktur, sind aber meist verpackt in einen unterhaltsamen Kinoabend mit Comic-Gemetzel im Stile eines Quentin Tarantino oder höchstens in kurzfristiges Befindlichkeits-Jojo á la Breaking Bad. Und man vergisst dabei schnell, dass diese Geschichten ihren Ursprung in der Realität haben. An Zahlen alleine lässt sie sich nur schwer ermessen. 20 000 Tote durch den Drogenkrieg alleine jedes Jahr in Mexiko sind zu viel, um das Ausmaß des Horrors verarbeiten zu können. Die beeindruckende Dokumentation „La libertad del diablo“ zeigt deswegen nur einen kleinen, aber genau deshalb so intensiven und schockierenden Ausschnitt davon – hart, grausam und gnadenlos. auch wenn man die Bilder dazu nur im Kopf des Betrachters ablaufen. Denn der Film besteht fast ausschnittlich aus Interviews, die aber so außergewöhnlich sind, dass man den Blick nicht eine Sekunde von der Leinwand wenden kann. Zu Wort kommen Beteiligte von allen Seiten des Drogenkrieges: Menschen, die entführt und gefoltert wurden. Mütter, die ihre Kinder verloren haben. Polizisten, die offen Selbstjustiz und Machtmissbrauch eingestehen. Und Auftragskiller, die ihre grausamen Morde in allen Einzelheiten nacherzählen. Das besondere: Die Identität aller Personen bleibt zwar natürlich verborgen, jedoch nur unter einer Strumpfmaske. Die Augen sind immer sichtbar, auch die Stimmen wurden von Regisseur Everardo González nicht verzerrt. Das macht die Interviews manchmal zutiefst erschütternd, manchmal unheimlich, manchmal geradezu abstoßend. Es macht Angst, wenn ein Auftragskiller voll Stolz und ohne Reue von seinem ersten kaltblütigen Mord erzählt, dem Adrenalin, das er spürte, den Glückwünschen seiner Gang. Es macht wütend, die Erzählung einer Mutter zu hören, die nach langer Suche bei einer Ausgrabung auf die Turnschuhe ihrer toten Kinder stieß und von der Polizei von deren Leichen weggedrängt wurde. Es widert an, wenn fast alle Mörder und Folterer – Polizisten wie Mafiakiller – ihre Verbrechen damit rechtfertigen, sie würden nur „Befehle von oben befolgen“. Und fast nicht zu ertragen ist es, wenn ein anderer Massenmörder berichtet, wie er einen Schuldner nicht zu Hause antraf und deshalb seine komplette Familie, inklusive seiner kleinen Kinder, erschoss. Gerne würde man wissen, wie Everardo González all diese Menschen dazu brachte, ihre Geschichte vor einer Kamera zu erzählen und auf seine präzisen, schonungslosen Fragen ihre Geheimnisse preiszugeben. Ein Mann spricht zum ersten Mal in seinem Leben über seine Entführung und Folter durch die Polizei. Ein Polizist erklärt offen, dass man Selbstjustiz verüben müsse und sich nicht an Gesetze halten könne, wenn man den Krieg gewinnen wolle. Und als schließlich die Frage auf die gerechte Bestrafung für das Morden kommt, erklären zwei Kinder, deren Mutter verschwand, dass sie ihre Entführer*innen genau so leiden sehen möchten, wie diese ihre Opfer leiden ließen. Dieser Film ist beängstigend und schockierend, weil er zeigt, wie tief sich die Spirale aus Gewalt, Wut und Vergeltung in den Alltag der Menschen, die mit dem Drogenkrieg leben müssen, eingefressen hat. Und er ist wichtig, weil er ins Bewusstsein ruft, dass dieser Krieg in Mexiko nicht nur in Spielfilmen und Serien existiert, sondern Tag für Tag die Realität von Millionen Menschen definiert.

DIE WIEDERAUFERSTEHUNG EINER LEGENDE


Foto: Berlinale

Gekleidet in einem langen, schwarz-rot gemusterten Poncho steht Chavela Vargas, ruhig und aufrecht, im Scheinwerferlicht einer kleinen Bühne. Neben ihr ein Gitarrist, der mit gehauchten Bewegungen langsam die Melodie eines Boleros erahnen lässt. Chavelas charaktervolle, in Rauch und Tequilla gereifte Stimme erklingt zunächst sanft und zart, fast zerbrechlich, wächst jedoch stetig an, wird scheinbar unaufhaltsam lauter, bis sie schließlich leidenschaftlich explodiert, in einem kaum auszuhaltenden Schmerz, wie der hemmungslose Schrei eines Betrunkenen im Vollrausch. In eigenwilligen Harmonien, singt Chavela gnadenlos nostalgisch über Liebe, Schmerz und Einsamkeit. Ein Leidensweg eingefangen von altem Videomaterial, Bildern und Interviews, womit Chaterine Gund und Daresha Kyi ein liebevolles, bewegendes und intimes Porträt gelungen ist, das für 90 Minuten Chavela wieder zum Leben erweckt.

Geboren ist Isabela Vargas Lizano 1919 in San Joaquín de las Flores, Costa Rica. Dort beginnt der Dokumentarfilm. Die Einsamkeit begleitete sie seit ihre Kindheit, berichtet Chavela hier selbst, in einem vor über 20 Jahren gedrehten und bis dato unveröffentlichten Interview. Wegen ihrer maskulinen Art und Kleidung wurde sie schon in jungen Jahren vom familiären Leben und von der Kirche ausgegrenzt. Nach der Trennung ihrer Eltern, lebte sie eine Weile bei einer Tante, bis sie mit vierzehn Jahren allein nach Mexiko Stadt zog.

Auch in Mexiko stieß Chavela Vargas wegen ihres Erscheinungsbildes auf Missfallen. Sie brach als stark rauchende, trinkende, mit Hose, Hemd und strenger Frisur auftretende Ranchera-Sängerin alle Tabus der männlich dominierten und streng katholischen Gesellschaft Mexikos der 1940er Jahre. Dennoch fand sie schnell Anschluss an die mexikanischen Kulturszene und machte Bekanntschaften, wie den mexikanischen Schriftsteller Juan Rulfo und schauspielerte sogar im Film La Soldadera vom Regisseur José Bolaños. Sie ging regelmäßig in die Cantina El Tenapa, feierte und musizierte mit José Alfredo Jiménez, einem der berühmteste Ranchera Sänger Mexikos, und lernte die Maler*innen Diego Rivera und Frida Kahlo kennen. José Alfredo Jiménez wurde zu einem engen Freund und Kollegen, dessen schmachtende Texte sie später selber sang. Leidenschaftliche Begierde und Liebeserklärungen an Frauen, diesmal von einer Frau. Mit Kahlo hatte Chavela eine kurze, liebevolle Liaison.

Chavela Vargas hatte viele Leben, viele Versionen ihres Selbst. Erinnert wird sie häufig als „die männlichste aller Rancheras Sängerinnen“, als offen lesbisch lebende Frau, die aber nie ihre Homosexualität aussprach, mit vielen Affären: Anfangs besonders gerne mit den, oft mäuschenhaften Ehefrauen von Politikern und berühmten Persönlichkeiten.

In den 60er Jahren war sie zu einer begehrten Sängerin in Cantinas und Bars geworden, blieb jedoch mit ihren ungewöhnlichen Interpretationen der mexikanischen und lateinamerikanischen Folklore eine Randfigur, die mit ihrer provozierenden Art, aber vor allem mit Tequila, sich den weiteren Karriereweg versperrte.

Mit etwa 50 Jahren verschwand Chavela Vargas aus der Öffentlichkeit. Lebte von der Wohltätigkeit ihrer Freunde und gab sich vollends dem Alkohol hin, bis sie die junge Anwältin Alicia Pérez Duarte traf. Pérez Duarte klärte nicht nur Chavelas Rechte an ihren Liedern -denn von dem Erlös aus dem Verkauf ihrer Platten hatte Chavela all die Jahre kaum etwas gesehen-, sie eroberte auch Chavelas Herz. Aus dieser, im Film sehr eindrucksvoll beschriebenen, ersten Begegnung entstand eine lange intensive Beziehung.

In ihrem Beitrag gewährt die Anwältin besonders bezeichnende und intime Einblicke in das Leben der Künstlerin. Die fortlaufend schlimmer werdenden Alkoholexzesse und ihre Brutalität, bis zu dem Moment der Kehrtwende – an die kaum noch jemand geglaubt hatte – und Chavelas musikalische Wiederauferstehung.

Denn nachdem ihre Beziehung im Tequila-Fluss ertrunken war, gelang Chavela „die Heilung“ der Trunksucht, wie sie darüber selber spricht. Mit der Hilfe von Bewunderer*innen, einer Reihe berühmter Musiker*innen und Regisseur*innen gelang ihr mit 70 Jahren das Comeback. 20 weitere Jahre triumphierte Chavela daraufhin wieder auf der Bühne und brachte es zu Weltruhm. Schließlich, im alter von 80 Jahren, sprach sie zum ersten Mal ihre Homosexualität öffentlich aus.

Mit ihren herzzerreißenden Interpretationen von Songs wie „La Llorona“, „La Macorina“, „Piensa en Mi“, ihrer tiefen rauen Stimme, wie ein Abbild ihrer persönlichen Geschichte, ist Chavela Vargas lebend zur Legende der lateinamerikanischen Musik und Heldin der Frauenbewegung Mexikos geworden. Eine Frau, die verliebt in Lieben und Singen war, dem Leben im Moment. Sie starb 2012 mit 93 Jahren in ihrer Wahlheimat Mexiko Stadt, als wahrhaft große Künstlerin.

PARTEILOS, WEIBLICH, INDIGEN

Nach monatelangen Basisbefragungen in zahlreichen Regionen Mexikos hat der autonom und basisdemokratisch organisierte Nationale Indigene Kongress (CNI) beschlossen, eine indigene Frau aus den Reihen des CNI als Präsidentschaftskandidatin aufzustellen. Die Kandidatin wird explizit keiner politischen Partei angehören, sondern soll als Sprecherin und ausführende Kraft eines ebenfalls parteiunabhängigen Indigenen Regierungsrates fungieren, in dem Vertreter*innen aller 62 indigenen Bevölkerungsgruppen Mexikos vertreten sein sollen.

Konzentrierte Gesichter: Zapatistas sind bekannt für ihre ungewöhnlichen Strategien (Foto: Tejemedios)

Die zentralen Forderungen des CNI für das durch Gewalt, Korruption, Ausbeutung, Diskriminierung und Medienmanipulation zerrissene Land sind die Einhaltung aller Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und Respekt für sexuelle Präferenz, die demokratische Selbstverwaltung in allen Gesellschaftssektoren, die Kontrolle der Produktionsmittel, der Ländereien und der Dienstleistungen durch die im jeweiligen Bereich arbeitenden Menschen, das Recht auf kostenlose laizistische Bildung, solidarische Gesundheitsversorgung, erschwinglicher Wohnraum, Glaubens- und Meinungsfreiheit sowie ein konsequenter Naturschutz.

Der CNI wurde 1996 auf Initiative der EZLN gegründet, er ist die einzige landesweite autonome Vernetzungsstruktur der Indigenen und verpflichtet sich radikaldemokratischen Prinzipien. Dies bedeutet, dass alle Funktionsträger*innen jederzeit ersetzt werden können, wenn sie ihre Arbeit nicht zur Zufriedenheit ihrer Basis ausführen. Der geplante Indigene Regierungsrat soll Ende Mai konstituiert werden und versteht sich keineswegs nur als Vertretung der indigenen, sondern aller marginalisierten Bevölkerungssektoren und hat eine klare linke und antikapitalistische Ausrichtung.

Bei den kommenden Präsidentschaftswahlen 2018 ist es zum ersten Mal möglich, parteilose Kandidat*innen ins Rennen zu schicken. Die Realisierung der Kandidatur einer Vertreterin des CNI ist allerdings nicht einfach. Es gibt bürokratische Hürden, in 120 Tagen mindestens 820.000 Unterschriften von Wahlberechtigten in mindestens 17 von 32 Bundesstaaten zu sammeln. Zudem ist seitens des Staates und der ökonomischen Eliten mit Repression sowie mit medialen Desinformationskampagnen zu rechnen. Auch wenn die Chancen auf einen Wahlsieg sehr gering sind, erhoffen sich die Aktivist*innen einen enormen Mobilisierungs- und Organisierungsschub für die mexikanische Linke jenseits der korrupten institutionellen Sozialdemokratie, eine bisher nicht dagewesene Sichtbarmachung zahlreicher sozialer und ökologischer Probleme im Land sowie eine Verbreitung basisdemokratischer Politikpraktiken. “Es ist an der Zeit, dass die Würde dieses Land und diese Welt regieren – und mit ihr werden Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit erwachsen”, so CNI und EZLN in ihrer Erklärung vom 1. Januar 2017.

Es ist mit Repression und Desinformation zu rechnen.

Die etablierten sozialdemokratischen Parteien reagierten mit harten Worten auf den Vorstoß von CNI und EZLN. John Ackermann, ehemaliger Weltbankberater und heute loyaler Unterstützer des mehrfach erfolglosen sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador (früher für Partei der Demokratischen Revolution PRD, heute Chef der Partei Bewegung zur Nationalen Erneuerung MORENA) bemühte einmal mehr Verschwörungstheorien: „Ist es nicht so, dass der Wechsel der Taktik der Zapatistas [die Aufstellung einer unabhängigen indigenen Präsidentschaftskandidatin, Anm. d. A.] eine Kontinuität ihrer langjährigen politischen Strategie darstellt, um die Linke zu spalten und mit den Mächtigen zu verhandeln?“ Vom CNI und der EZLN wurde mehrfach klargestellt, dass es beide Organisationen keine politische Partei werden und dass die Präsidentschaftskandidatin in keinem Falle von den Zapatistas gestellt wird, die weiterhin auf den Ausbau ihrer De-facto-Autonomie im südmexikanischen Chiapas setzen und beachtliche Verbesserungen der Lebensqualität in ihren rund 1.000 Gemeinden erreichen konnten.
Nationaler Indigener Kongress von CNI und EZLN streben mit eigener Präsidentschaftskandidatin antikapitalistische Basisdemokratie für ganz Mexiko an. Die zapatistische Bewegung unterstützt den Beschluss des CNI ausdrücklich. EZLN-Sprecher Subcomandante Moisés unterstrich in seiner abschließenden Rede, die auf tosenden Beifall stieß: „Der Kapitalismus plündert, zerstört und unterdrückt auf der ganzen Welt Mensch und Natur. Der CNI hat entschieden, auf zivile und friedliche Weise zu kämpfen. Seine Ziele sind gerecht und nicht zu leugnen. Wir als Zapatistas werden den CNI unterstützen.“

“WISSENSCHAFT FÜR DAS LEBEN”

Das Treffen sei auf Wunsch der zapatistischen Basis organisiert worden, dort gebe es einen großen Wissensdurst nach tiefgründiger Bildung, so EZLN-Sprecher Subcomandante Moisés, es gehe um „eine Wissenschaft für das Leben, nicht für den Kapitalismus”. Besonderes Charakteristikum des Kongresses war, dass ausschließlich 100 zapatistische Schülerinnen und 100 zapatistische Schüler unterschiedlichen Alters Fragen an die Vortragenden stellen durften. Die Aufgabe dieser 200 Delegierten ist, ihre Eindrücke in ihren Heimatgemeinden weiterzugeben. Weit über 1.000 Interessierte aus Mexiko und aller Welt nahmen darüber hinaus am Treffen teil und tauschten sich aus. Viele neue Kontakte entstanden.
Neben der Wissensvermittlung prangern viele der Vortragenden die fehlende Ethik der Wissenschaft an. Sie stehe meist im Dienste der Eliten und nicht des Allgemeinwohls, wie die Mathematikerin Pilar Martínaz hervorhob: „Viele Wissenschaftler sind fest überzeugt, die Wissenschaft werde in einem neutralen Umfeld praktiziert. Doch Konzerne wie Bayer und Monsanto verbreiten genetisch modifiziertes Saatgut, das von Leuten wie uns entwickelt wird, um die ursprünglichen Sämereien zu verdrängen. Unser Wissen wird auch zur Produktion von Waffen verwendet. Viele Wissenschaftler kümmern sich mehr um ihre Publikationen als um die Studierenden. Die Zapatistas haben uns mehrfach gesagt, dass die kapitalistische Hydra alles zerstören wird. Wir haben hier dazu wissenschaftliche Erkenntnisse beigetragen. Die Zapatistas brauchen eine kritische Wissenschaft, um die Arche zu konstruieren, die uns retten kann.“
Beim feierlichen Kongressabschluss im Auditorium fasste eine Schülerin die Eindrücke der Zapatistas zusammen: „Viele Worte, die wir in diesen Tagen gehört haben und durch die wir gelernt haben, haben mehr Fragen als Erkenntnisse aufgeworfen. Eure Worte haben große Zweifel und Beunruhigung erzeugt. Eure Worte sind sehr groß, aber wir empfinden sie als sehr hart. Nicht, weil sie beleidigen, sondern weil es uns nicht immer gelingt, sie zu verstehen.“ Die patriarchale Praxis im Mainstream kritisierte sie hart: „In der sogenannten wissenschaftlichen Community werden die Beiträge und Forschungen der Frauen nicht anerkannt. Hier regiert der Machismo.“ Die Sprecherin betonte gleichzeitig, dass vieles in diversen Fachbereichen gelernt werden konnte und auch konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Status Quo gemacht wurden.
Das Treffen endete in konstruktiver Stimmung, den Vortragenden wurde herzlich gedankt. Subcomandante Moisés kündigte an, dass ein langer gemeinsamer Weg begonnen habe und es weitere Treffen geben wird, um wirklich unabhängige, kapitalismus- und herrschaftskritische Wissenschaften zu fördern und zugänglich zu machen, zum Beispiel durch den Aufbau autonomer Hochschulen. Ende 2017 wird der nächste Wissenschaftskongress stattfinden.

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