LYNCHMOB VON GOTTES GNADEN

1968 ereignete sich im Dorf San Miguel Canoa im mexikanischen Bundesstaat Puebla eines der bekanntesten Verbrechen der jüngeren mexikanischen Geschichte. Fünf junge Mitarbeiter der Universität Puebla, die für den nächsten Morgen eine Bergtour geplant hatten und deshalb die Nacht in Canoa verbrachten, wurden von einem wütenden Lynchmob der Dorfbewohner*innen angegriffen, der vom einflussreichen Pfarrer des Dorfes angestachelt und bewaffnet worden war. Drei der Universitätsmitarbeiter und der Mann, der ihnen Unterkunft gewährt hatte, wurden brutal ermordet, zwei konnte schwer verletzt entkommen. Für die Verbrechen wurden nur wenige Personen zur Rechenschaft gezogen, die Urheber des Massakers gingen völlig straffrei aus.

Fotos: IMCINE y STPC, 2002

Sieben Jahre später veröffentlichte der Regisseur Felipe Cazals einen Film über die Geschehnisse. Canoa (deutscher Titel: Hetzjagd durch Canoa), der ein großer kommerzieller und künstlerischer Erfolg wurde. Bei der Berlinale 1975 gewann der in dokumentarischem Stil gehaltene und in nicht chronologischer Abfolge erzählte Film einen silbernen Bären. Bis heute gilt er als einer der besten mexikanischen Filme aller Zeiten.

Cazals setzte mit dem Film ein Zeichen gegen religiöse Verblendung und Amtsmissbrauch weltlicher und geistlicher Würdenträger. San Miguel Canoa war 1968 trotz seiner Nähe zu Puebla ein fast komplett abgeschottetes Dorf, in dem die lokalen Autoritäten ungestört schalten und walten konnten. Vor allem der örtliche Pfarrer nutzte dies, indem er auf eigene Faust Steuern eintrieb und die Bevölkerung zur Arbeit verpflichtete, oft ohne oder nur mit sehr geringer Bezahlung.

Der Pfarrer Canoas: Hassprediger und personifiziertes Sinnbild für Amtsmissbrauch

Die zu Zeiten des Kalten Krieges allgegenwärtige Paranoia vor Kommunist*innen machte er sich zu eigen, um die Bevölkerung, die zum großen Teil aus Analphabet*innen bestand, gegen Einflüsse von außen aufzuhetzen. Nicht zuletzt, um den Bevölkerungswegzug zu stoppen, der durch seine immer höheren Tributforderungen eingesetzt hatte. Als die nichtsahnenden Mitarbeiter der Universität Puebla ins Dorf kamen, wurden sie fälschlicherweise bezichtigt, eine kommunistische Fahne an der Kirche gehisst zu haben. Die Bevölkerung wurde daraufhin von den Kirchenglocken herbeigerufen und zog mit Fackeln, Äxten und Gewehren bewaffnet als wütender Mob zur Unterkunft der jungen Männer und verübte Selbstjustiz.

Felipe Cazals verwendet in dem Film mehrere Kunstgriffe, die ihn dokumentarisch wirken lassen, obwohl er keine echten Augenzeugenberichte enthält. Interviewsequenzen verschiedener Protagonisten werden in den Ablauf des Geschehens eingeschoben, die Figur eines Bauern agiert als Augenzeuge und Erzähler. Zeit- und Ortssprünge sowie der Dreh an Originalschauplätzen vermitteln die Situation extrem realistisch. Zudem hielt sich Cazals nah an die Fakten und dramatisierte die Handlung nicht durch geschliffene Dialoge oder Nebenschauplätze. Dennoch gelang es ihm, durch die unverbraucht-naive Darstellung der zutiefst unpolitischen Universitätsmitarbeiter im Kontrast zum berechnend agierenden (manchmal aber doch etwas arg dick auftragenden) Pfarrer, Spannung und Emotionalität zu erzeugen. Die Szene, in der der entfesselte Lynchmob die wehrlosen jungen Männer durch den Ort treibt, jagt einem auch heute noch Schauer über den Rücken – vor allem, wenn man an die johlenden Massen bei Veranstaltungen rechtspopulistischer Bewegungen der Gegenwart denkt. Dass Canoa erneut auf der Berlinale gezeigt wird, kann aber auch als Fingerzeig auf die aktuelle Situation in Mexiko verstanden werden, in der Amtsmissbrauch lokaler Behörden, Morde und Gewaltausbrüche in einigen Regionen mehr denn je traurige Realität sind. So könnte zum Beispiel der Fall der 43 aus Ayotzinapa verschwundenen Studenten schon bald Stoff für einen Film liefern, der im Geiste von Canoa ein grausames Verbrechen auf der Leinwand nachzeichnet und so für die Nachwelt festhält.

ERBARMUNGSLOSE JAGD

Migrant*innen im Transit durch Mexiko sind in den Händen des organisierten Verbrechens. Durch Entführung, Erpressung, Schmuggel und Zwangsarbeit und unter Mithilfe der mexikanischen Behörden sind sie zu einer zweiten Einkommensquelle geworden – nicht nur für die Mafia. Über Verträge mit Schlepper*innen und dem Drogenkartell der Zetas erhalten die mexikanischen Behörden großzügige „Gegenleistungen“, wenn sie den Menschenstrom durch Straßen, Flughäfen und Seewege durchlassen.
Wir können nicht über die Migration in Mexiko reden, ohne „die Bestie“ zu erwähnen. Diesen Namen hat sich der Güterzug nach Norden gut verdient. Es ist die vorbeifahrende Bestie, auf welche die Migrant*innen aufspringen, um den Einwanderungskontrollen und Erpresser*innen zu entkommen, die an jeder Straße lauern.
Früher waren die größten Gefahren der Zugreisenden, aus Erschöpfung einzuschlafen und vom Dach des Zuges zu fallen. Seit 2013 aber haben immer mehr kriminellen Banden ein neues Geschäft für sich entdeckt: Sie kassieren einen „Wegzoll“ von 100 US-Dollar pro Streckenabschnitt. Wer nicht zahlen kann oder will, wird vom Zug geschmissen oder gleich mit Schusswaffen exekutiert.
Das Programm „Südgrenze“ der mexikanischen Regierung soll verhindern, dass die Migrant*innen auf den Zug gelangen, „um die Menschenrechte der Migranten zu schützen“. Es lässt aber keinen Zweifel an der geopolitischen Strategie, dass Mexiko die Migrationsströme aus dem Süden aufhalten soll. Es ist ein weiterer Versuch der USA, dem sich die mexikanische Regierung unterordnet. Mit ihm hat die regionale Migrationspolitik ihre Ehrbarkeit verloren und wandelt sich offen zu einer reinen Sicherheitspolitik. Unter der Logik von „verfolgen, einfangen und abschieben“ wird versucht, die Grenze zu Guatemala zu verstärken.
Trotzdem bestimmt „die Bestie“ weiterhin das migrantischen Leben. Die ärmsten Migrant*innen nutzen den Zug weiter, wann immer sie können, den Vereinbarungen von Behörden und Eisenbahnunternehmen zum Trotz. Die Lokführer*innen versuchen daher, so schnell wie möglich zu rangieren. Sie beschleunigen an Brücken und schrecken selbst davor nicht zurück, die Waggons einfach abzukoppeln, auf die die Migrant*innen aufgestiegen sind. Andere Güterbahnhöfe sind praktisch komplett von der Bundespolizei eingenommen.
Die Migrant*innen müssen dann mit dieser Situation umgehen und entscheiden sich, hunderte von Kilometern abgelegener Wege durch Berge, Dschungel und Wüsten zu laufen. Damit sind sie unsichtbarer geworden sowie verwundbarer und hilfloser gegenüber der lauernden organisierten Kriminalität und den lokalen Banden. Diese ernten, was von einer Migrationspolitik gesät wurde, die einer Logik der nationalen Sicherheit folgt.
Die traditionellen Wege, um die nördliche Grenze zu erreichen, schließen sich. Razzien, an denen sich Bundes- und Landespolizei, Migrationsbeamte und in einigen Fällen auch die Marine beteiligen, sind das tägliche Brot: Laut Zahlen der mexikanischen Migrationsbehörde wurden allein in der ersten Jahreshälfte 2016 über 80.000 Migrant*innen aus Mexiko abgeschoben, fast ausschließlich Zentralamerikaner*innen.
Während in den letzten drei Jahren nur knapp 3.000 von fast 7.000 Asylanträgen genehmigt worden sind, hat sich die Zahl festgenommener Migrant*innen auf fast 200.000 mehr als verdoppelt. In jedem Fall hat die Überwachung und Kontrolle der mexikanischen Südgrenze zu einer erbarmungslosen Jagd auf zentralamerikanische Migrant*innen geführt.
Trotz dieser Strategie hat die Region eine Steigerung der Migration erfahren. Die „irreguläre“ Migration aus Zentralamerika wird ihren Aufwärtstrend fortsetzen, solange die Gewalt nicht aufhört, Land enteignet und Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Armut und die weiteren Ursachen nicht angegangen werden, welche die Menschen in die Flucht treiben.
Seit 2013 sind vermehrt Garífunas auf den Migrationsrouten anzutreffen. Gruppen mit bis zu 100 afro-karibischen Personen sind auf dem Weg. Ganze Gemeinden sind aus ihrem angestammten Land vertrieben worden, weil es in die Hände von „Modellstädten“ sowie touristischen und extraktiven Megaprojekten gefallen ist. Auch hat die Zahl der Schlepper*innen zugenommen, die von Eltern in den USA bezahlt werden, um ihre Kinder nachzuholen. Jugendliche sind weiterhin im Visier der Banden in El Salvador und Honduras, die im Drogen- und Erpressungsgeschäft tätig sind. Nicht nur in den größeren Städten, sondern auch in anderen Ballungsgebieten werden Minderjährige für gewöhnlich als Informant*innen und Drogenverkäufer*innen in Schulen eingesetzt. Wer sich widersetzt, wird hingerichtet.
Die Maras kassieren für alles: große, mittlere oder kleine Geschäfte, auch den Verkauf auf der Straße. Die Schutzgelderpressung ist so verbreitet, dass selbst diejenigen zahlen müssen, die Verwandte in den USA haben. Zudem herrscht die totale Straflosigkeit: Aufgrund der Komplizenschaft der Behörden mit der organisierten Kriminalität sind viele Personen nach Erstattung einer Anzeige hingerichtet worden.
Seit dem Frühjahr 2016 sind vermehrt Migrant*innen aus Ländern Afrikas und des Nahen Ostens über Brasilien nach Mexiko in Richtung USA gereist. Ohne Reisepass und ohne weitere Möglichkeit, ihre Nationalität nachzuweisen, können sie meist gar nicht abgeschoben werden. Nach einer kurzen Festnahme entlässt die Migrationsbehörde diese Menschen in der Regel mit der Aufforderung, innerhalb von 20 Tagen das Land zu verlassen. 14.800 dieser faktischen Transiterlaubnisse sind allein an der Südgrenze ausgestellt worden.
Tausende warten derzeit in den nördlichen Grenzstädten Tijuana und Mexicali darauf, dass die U­S‑Behörden ihnen Vorladungen ausstellen, um Asyl beantragen zu können. Es ist gut bekannt, dass mit diesen Vorladungen ein illegaler Handel betrieben wird.
In Tijuana wurde die Zahl der Vorladungen auf 70 pro Tag reduziert, in Mexicali auf 40. Diese politische Entscheidung der USA ist scharf kritisiert worden, zwingt sie die Migrant*innen doch, mehrere Wochen auf der mexikanischen Seite der Grenze zu warten. Es belastet die Kapazität der Herbergen und der Zivilgesellschaft, humanitäre Hilfe sicherzustellen. Bei 300 Neuankommenden täglich, ist das nun nicht mehr möglich. Hunderte sahen sich gezwungen, auf der Straße zu schlafen. Die Situation ist zu einer humanitären Krise größeren Ausmaßes geworden.
Der jähe Anstieg von Menschen aus aller Welt auf der Migrationsroute von Brasilien nach Mexiko legt nahe, dass sich durch die Beschränkungen der Routen nach Europa neue Korridore für die Menschenschmuggler eröffnet haben. Mit noch mehr Migrant*innen an der Grenze, verschärft sich die Krise in Tijuana als weiterer Ausdruck der weltweit größten Flüchtlingsbewegung seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Eines ist klar: Für das Leiden der Menschen sind alle involvierten Länder verantwortlich. Das Thema der Migration kann nur mit regionalen Strategien gelöst werden, die die Menschenrechte respektieren: das Recht zu migrieren, das Recht, nicht gewaltsam vertrieben zu werden und das Recht, nicht migrieren zu müssen.

LITERATUR ALS FLASCHENPOST

ANTONIO ORTUÑO
Geboren 1976 in Guadalajara, Mexiko. Seit 2006 veröffentlicht er Romane und Kurzgeschichten und arbeitet für verschiedene Zeitungen und Kulturmagazine in Mexiko und Spanien. Sein Roman Die Verbrannten ist 2015 auf Deutsch erschienen (siehe LN 499), im September 2016 war er beim Internationalen Literaturfestival in Berlin zu Gast.
(Foto: Álvaro Moreno)

In Ihren Romanen behandeln Sie sozialkritische Themen, die für die mexikanische Gesellschaft bedeutend sind. Welche Rolle spielt Literatur heutzutage?
Ich finde es schwierig, mich mit dem orthodoxen Konzept der engagierten Literatur zu identifizieren, ohne politisch militant zu wirken. Ich habe politische Ideen, doch leider habe ich im mexikanischen Kontext keinerlei Hoffnungen, mit meiner Literatur irgendetwas zu bewirken. Nur wenige Mexikaner lesen Literatur, sie ist kein Teil des Alltagslebens der meisten Menschen mit geringem Einkommen und geringem Bildungsniveau. Schriftsteller haben die Möglichkeit, das „hässliche“ Mexiko zum Thema zu machen, oder sich eben dagegen zu entscheiden. Für mich selbst sind die Gewalt, die Misere, die Ungerechtigkeit immer wieder ein Schlag ins Gesicht, sie sind überwältigend und allgegenwärtig. Ich neige dazu, die Dinge negativ zu definieren: Ich schreibe über Mexiko, weil ich es nicht lassen kann, nicht weil ich denke, dass ich damit etwas bewirke. In Mexiko spielt die Literatur momentan einfach keine Rolle im Leben der großen Bevölkerungsmehrheit. Zu hoffen, dass sie eine Art Motor für Veränderung sein könnte, ist illusorisch. Andererseits ist es schon so, dass diejenigen, die sich in den intellektuellen oder künstlerischen Kreisen bewegen, die sozialen Probleme Mexikos reflektieren. Leider existiert jedoch kein Konsens darüber, wie diese Veränderungen herbeigeführt werden könnten. Unsere Gesellschaft ist furchtbar individualistisch. Hinzu kommt, dass die meisten Literaturschaffenden in Mexiko selbst der Elite angehören, auch wenn sie progressive Auffassungen vertreten. Die meisten von ihnen haben kein Interesse daran, explizit politisch zu sein. Was mich persönlich interessiert, ist der Dialog mit den Lesern, mich mit ihnen konstruktiv auszutauschen. Aber es ist unmöglich, Literatur zum Gewissen einer Gesellschaft zu stilisieren, wenn diese Gesellschaft nicht liest. Die mexikanische Gesellschaft ist zutiefst anti-intellektuell. Schriftsteller sein in Mexiko bedeutet, auf gut Glück eine Flaschenpost ins Meer zu werfen und zu schauen, ob sich jemand dafür interessiert.

Die mexikanische Gesellschaft war nicht immer so anti-intellektuell.
Es gab in Mexiko immer eine gebildete Elite und vereinzelt andere Bevölkerungsteile, die Literatur konsumiert haben. An den Universitäten gab es ein offenes Klima, das der Diskussion von Ideen zugute kam. Ich denke nicht, dass es eine goldene Ära der Literatur gab, obwohl es zu gewissen Zeiten viele politisch engagierte Intellektuelle gab. Carlos Fuentes und Octavio Paz wurden von den institutionellen Mächten gleichzeitig respektiert und gefürchtet. Sie bewegten sich jedoch selbst in diesen elitären Zirkeln, waren mit Senatoren und Abgeordneten befreundet. Ich kann mir nicht vorstellen, von einem Abgeordneten zum Essen eingeladen zu werden, aber ich gehöre diesen Eliten auch nicht an. Es stimmt, dass es früher ein umfangreiches öffentliches Bildungsprojekt gab, das von der Grundschule bis hin zur Universität umgesetzt wurde und zudem laizistisch veranlagt war, was für ein so katholisches und konservatives Land wie Mexiko schon sehr erstaunlich ist. Die Geschichte wurde mexikanisch, lateinamerikanistisch interpretiert, in Opposition zum Kolonialismus. Leider starb ein Großteil dieses öffentlichen Bildungssystems in den 1990er Jahren, weil die Regierung selbst es auflöste. Geschichtsbücher wurden verändert, die Gewerkschaft der Lehrer bis ins letzte Glied unterwandert. Die PRI (Partei der institutionellen Revolution, Anm. d. Red.), die ursprünglich Erfinderin des öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystems war, siedelte zum Neoliberalismus über. Und die einzige Alternative war die Rechte, die von Anfang an gegen dieses öffentliche System war. Es gab also keine politischen Kräfte, die das System hätten verteidigen können, denn die mexikanische Linke ist in Wahrheit nur ein verkleideter Ast der PRI.

Die Schilderung von extremer Gewalt ist nicht unüblich für Autor*innen Ihrer Generation. Wie positionieren Sie sich in der aktuellen Literaturszene Mexikos, haben Schriftsteller wie Roberto Bolaño Sie beeinflusst?
Offen gestanden: nein. Ich habe Bolaño erst gelesen, als ich selbst schon als Schriftsteller tätig war und meinen eigenen Stil entwickelt hatte. Und Bolaño hat die Literatur der extremen Gewalt auch nicht erfunden. Mich hat besonders ein brasilianischer Autor beeinflusst, Rubem Fonseca, der der erste war, der mich durch seine Schilderungen ungleicher Gesellschaften und der infolgedessen grassierenden Gewalt beeindruckt hat. Bolaño selbst hat für seinen Roman 2666 ganz sicher sehr aufmerksam Sergio González Rodríguez gelesen, einen der großen mexikanischen Gewaltforscher. Bolaño hat lange in Mexiko-Stadt gelebt, doch von der mexikanischen Provinz und von Ciudad Juárez (unter dem Namen Santa Teresa einer der Schauplätze des Romans und Ort der Frauenmorde, Anm. d. Red.) hatte er keine Ahnung. Es ist kein schlechtes Buch, mich haben jedoch andere Autoren stärker beeinflusst. Jorge Ibargüengoitia zum Beispiel, der für mich umso relevanter war, da ich durch seine Bücher lernte, dass die Sprache, die ich sprach, auch Literatur sein konnte. Ich bin in einer spanischen Migrantenfamilie und mit spanischer Literatur aufgewachsen. Durch Ibargüengoitia lernte ich, dass auch nicht-iberisches Spanisch Träger von Literatur sein kann. Andere große mexikanische Autoren wie Juan Rulfo, Salvador Elizondo oder Elena Garro bewundere ich sehr, doch ich fühle mich durch sie nicht repräsentiert. Deshalb versuche ich, eine eigene Stimme zu schaffen.

Sie klagen in Ihrem Buch Die Verbrannten die mexikanische Gesellschaft an, indem Sie deren Umgang mit zentralamerikanischen Migrant*innen als ein Zerquetschen von Fliegen beschreiben. Wie wurde das aufgefasst?
Erstaunlicherweise ziemlich positiv. Der Roman hat sich außergewöhnlich gut verkauft, ich habe viele Interviewanfragen bekommen und mir wurde von allen Seiten gratuliert. Kurios ist, dass die Glückwünsche nicht über den ästhetischen Aspekt hinausgingen. Es wurde innerhalb Mexikos kein oder nur vereinzelt ein Dialog zum Thema der zentralamerikanischen Migration angeregt. Die interessantesten Gespräche diesbezüglich habe ich mit Journalisten, Schriftstellern oder in Universitäten geführt. Mir scheint es, dass es heutzutage in Mexiko unschick ist, über politische Themen zu schreiben. Dein Buch wird gelobt, aber kein politischer Diskurs angestoßen.

Haben Sie während der Recherchen auch selbst mit Migrant*innen gesprochen?
Es sollte keine Reportage werden, gezielt habe ich also keine Interviews geführt. Journalistisches Material gibt es ja zuhauf. Mein erster Berührungspunkt ergab sich dadurch, dass sich mein Viertel in Guadalajara auf einmal mit Migranten füllte. Nach dem Massaker von San Fernando (Massenmord an zentralamerikanischen Migrant*innen im Bundesstaat Tamaulipas im Jahr 2011, Anm. d. Red.), und anderen Vorfällen begannen sie, ihre Route zu ändern. Tatsächlich ist es Wahnsinn, von Zentralamerika aus in die USA zu reisen und dabei die Pazifikroute zu nutzen, die so viel länger ist als die Golfroute, und dabei auch noch die Wüste von Sonora zu durchqueren. Aber sie sahen sich praktisch gezwungen, sowohl vom organisierten Verbrechen als auch vom Staat – wobei die Grenzen hier bekannterweise fließend sind. Guadalajara ist weit entfernt von der Grenze, die Leute dort hatten nie zentralamerikanische Migranten gesehen. Dann sahen wir sie durch das Viertel laufen, auf den Parkbänken schlafen, um Wasser bitten. Die erste Herberge für Migranten befand sich nur vier Straßen von meinem Haus entfernt. Also sprach ich mit einigen von ihnen, sie erzählten mir, was sie zu dem Zeitpunkt beschäftigte, was sie erlebt hatten.

Einer der interessantesten Charaktere des Romans ist ein Mann, der in einer Transitzone lebt und sich eine Migrantin als Haussklavin hält. Wie macht sich dieser Rassismus, der tief in der mexikanischen Gesellschaft verankert ist, bemerkbar?
Der Roman konzentriert sich darauf, etwas aufzudecken, was der Journalismus nur schwer aufdecken kann: den unterschwelligen Rassismus und Klassismus in Mexiko. Wenn du einem Mexikaner ein Diktiergerät vor die Nase hältst, wird er dir wahrscheinlich nicht seine wahre Meinung sagen. Wenn ich allerdings als Schriftsteller Zugang zu privaten Gesprächen bekomme, sieht es oft ganz anders aus. Ich kann im fiktionalen Kontext reale Begebenheiten zur Sprache bringen, mich fragen, warum in aller Welt ein Land, dass Abermillionen von Migranten in die USA geschickt hat und das sich schrecklich über die dortige Diskriminierung aufregt, den Zentralamerikanern mit noch gewaltsamerer Diskriminierung begegnet. Die Figur dieses Mannes fasziniert mich, und auf gewisse Weise kann ich nachvollziehen, wie er diesen Jagdwahn entwickeln konnte. Rassismus ist Teil der mexikanischen Gesellschaft, seit es sie gibt. Wir waren schon immer in Menschen erster, zweiter und dritter Klasse unterteilt. Interessant ist, dass es eine Zeit gab, in der Mexiko sich damit brüstete, ein Einwanderungsland zu sein. Es gab Einwanderungswellen von Spaniern, Argentiniern, Chilenen und vielen mehr. Während der Diktaturen in Südamerika und Spanien hat Mexiko viele Menschen aufgenommen, unter ihnen meine Familie. Und das Bemerkenswerte ist, dass die meisten von ihnen gekommen sind, um zu bleiben. Die zentralamerikanischen Migranten wollen nicht bleiben, sie durchqueren Mexiko weil sie keine andere Möglichkeit haben. Alles worum sie bitten ist, nicht umgebracht zu werden. Ich denke, dass wir Mexikaner den Zentralamerikanern zu sehr ähneln, wir hassen es, dass sie uns an uns selbst erinnern. Dieselben Codes der Diskriminierung, die in klassistischen Mustern denkende Mexikaner auf sich selbst anwenden, wenden sie auf Zentralamerikaner an. Doch diese haben keinen juristischen Schutz, niemand sucht nach ihnen, Verbrechen bleiben straflos.

Auch in Deutschland wird momentan viel über einen „gesellschaftsfähigen Rassismus“ gesprochen. Ist Die Verbrannten auch auf andere Migrationskontexte übertragbar?
Ich denke, dass es mehr Gemeinsamkeiten gibt, als man denkt. Eine der Möglichkeiten der Literatur ist es, spezielle Kontexte in universale Kontexte zu transformieren. Ich denke, dass in vielen Gesellschaften dieselben Probleme bezüglich rassistischen Gedankenguts herrschen, dieselben Codes der Diskriminierung und Menschenverachtung aufzufinden sind. Der Umgang mit diesen ist jedoch unterschiedlich. In Deutschland wachsen Parteien, die das Thema Migration zum Hauptthema ihrer politischen Agenda erheben. In Mexiko existiert so etwas nicht, der Migrant wird auch nicht zum öffentlichen Feind erklärt, man begeht lediglich Gräueltaten und geht mit aller Kraft der Autoritäten gegen sie vor. Entweder werden sie von staatlichen Funktionären selbst misshandelt, oder diese tun nichts, um ihnen Schutz zu gewähren. Sie werden entführt, versklavt, totgeschlagen. Das ist der größte Unterschied.

Die Rechtlosen

“Die Revolution ist ein Orkan, und derjenige, der sich ihr hingibt, ist kein Mensch mehr, sondern ein verdorrtes Blatt, das vom Sturm weggefegt wird…”. Gewaltige Metaphern fallen, wenn die Rebellen von ihrem Kampf sprechen. Es geht um die Mexikanische Revolution und um einfache Bergbauern, die als Opfer der rücksichtslosen Bodenpolitik des Diktators Díaz schon am Rande des Existenzminimums leben. Die Willkürherrschaft des Putschdiktators Victoriano Huerta läßt sie mit der einfachen und unideologischen Losung “Tierra y Liberdad” – Boden und Freiheit – in die Kämpfe eingreifen.
Diese historische Situation bildet den Hintergrund des nun neu übersetzten Romans “Die Rechtlosen” (Los de abajo) von Mariano Azuela.
Azuelas Roman schildert das Schicksal des Campesinos Demetrio Marcías, der in die Revolutionswirren schlittert und Anführer einer Gruppe Gleichgestellter wird, die sich mit den historischen Bauerngenerälen Julían Medina und Pancho Villa verbündet. Demetrio und seine Truppe machen sich bald einen Namen als tapfere Kämpfer. Trotzdem erzählt das Werk “Die Rechtlosen” alles andere als eine Heldenvita.
Das Faszinierende an diesem Roman liegt fast 80 Jahre nach seiner Niederschrift weder in der Handlung noch in dem für den heutigen Geschmack schon komisch wirkenden pathetischen Stil. Was den Roman über den historischen Bezug hinaus interessant macht, ist die virtuos dargestellte Eigendynamik des revolutionären Geschehens.
Zwar erlangt Demetrio den Rang eines Generals, doch dieser Aufstieg ist mit der völligen moralischen Entwurzelung seiner Truppe verbunden. Azuela führt Szenen vor, in denen Männer sich wie Schulbuben an der Jahrmarktsschießbude gebärden und begeistert ihre Gegner abknallen. Die Lust an den vor Todesangst starren Augen eines Gefangenen, dem sie die Pistole an die Stirn drücken, Plünderungen aus Freude an der Zerstörung und Morde wegen fragwürdiger Ehrbegriffe werden sehr eindringlich geschildert. Sex und Liebe fehlen nicht. Die Bräute rauben die Männer aus Dörfern. Ihre eifersüchtigen Konkubinen spinnen Intrigen und stechen ihre Konkurrentinnen einfach ab. Den ursprünglichen Grund ihres Kampfes haben die Männer längst vergessen. Sie geraten in den Sog der Gewalt, kämpfen um des Kampfes willen. Die Spirale von Plündern, Brandschatzen und blindwütigem Abschlachten dreht sich immer schneller, bis Demetrio und seine Bande beinahe vorsätzlich in einen tödlichen Hinterhalt geraten.
Die Revolution und ihre zerstörerische Kraft ist das eigentliche Thema des Romans. Azuela spart nicht mit mystifizierenden Bildern, um zu veranschaulichen, wie die Revolution ihre Kinder frißt. Er vergleicht sie mit einem Stein, der – einmal losgetreten – unaufhaltsam in den Abgrund stürzt. Die Revolution führe anstatt zu einer Blumenwiese in einen Sumpf, läßt der Autor eine Figur sagen. Azuela schreckt auch nicht davor zurück, den Ruf des berühmten Bauerngenerals Pancho Villa anzukratzen: Sein Ruhm beruhe auf Legende, die die armen Bauern schmiedeten.
Kritik an der blutrünstigen Mexikanischen Revolution ist nicht neu. Jeder zehnte Mexikaner, insgesamt eine Million Menschen, kam um. Aber im Gegensatz zu Autoren wie Juan Rulfo und Carlos Fuentes, die ebenfalls ein negatives Bild von der Revolution entwarfen, veröffentlichte Azuela sein Werk bereits 1916 mit dem Untertitel “Bilder und Szenen der gegenwärtigen Revolution” in einer Zeitung. Damit hielt er seinen revolutionären Landsleuten einen Spiegel vor.
Vermutlich gehen die beschriebenen Szenen auf Azuelas eigene Erfahrungen mit der Revolution zurück: Als Stabsarzt begleitete er die Truppe des mit Villa verbündeten Bauerngenerals Julían Medina und nahm so an den Siegen und Niederlagen der villinistischen Bewegung teil, bis er sich 1916 zur Niederschrift des Romans in Texas absetzte.
Die Gänsehaut des Bürgers Azuela bei der Beobachtung der Eßgewohnheiten und des Erscheinungsbildes dieser Rechtlosen ist in der Beschreibung spürbar. Barbarisch und kulturbedrohend werden sie skizziert. Bei ihren Plünderungen zerfleddern sie Dantes Göttliche Komödie, weil ihnen die “Nackedeis so gut gefallen”. Die Botschaft ist einfach: Diese barbarische Horde ließe mangels Bildung besser die Finger von der Revolution und bliebe bei ihrer Scholle.
Aber auch mit dem bürgerlichen Revolutionär rechnet Mario Azuelas ab. Aus politischer Überzeugung schließt er sich der Truppe an und steht als ideologisches Alter Ego dem Anführer Demetrio zur Seite. Aber auch er kann dem Sog der Gewalt nicht widerstehen. Keinem der beiden, weder dem Bürgerlichen noch dem Bauern, wünscht man die Macht.
Mit den unterschiedlichen Schicksalen von Luis Cervantes und Demetrio Macías gelingt dem Autor eine zynische Prognose für den Ausgang der Revolution. Während sich der junge Mediziner rechtzeitig nach Texas absetzt und seine Beute in eine zukunftsträchtige Promotion investiert, bleibt Demetrio nur das Pathos des Schlußsatzes: “Am Fuße einer riesigen, prächtigen Felsspalte, die dem Portal einer alten Kathedrale ähnelt, hat Demetrio Macías noch immer den Gewehrlauf angelegt. Sein Blick ist nun für immer starr.”
Mario Azuelas begründete mit diesem Werk das Genre des Revolutionsromans, das sich seither wie ein roter Faden durch die Literaturgeschichte Mexikos zieht.
Trotz des virtuosen Abgesangs auf die Revolution wurde dieses Buch als vielgelobter Klassiker mehrfach verfilmt und steht in den mexikanischen Schulen noch heute auf der Liste der Pflichtlektüren.
Weil der Autor für seine Zeigenossen schrieb, setzte er die damaligen Verhältnisse in Mexiko als bekannt voraus. Für den heutigen Leser empfiehlt es sich daher, ausnahmsweise das Nachwort vorher zu lesen. Verfaßt wurde es von Klaus Jetz, der die historische und literaturgeschichtliche Bedeutung des Romans prägnant zusammenfaßt. Seiner Arbeit ist es auch zu verdanken, daß das Buch, das 1930 unter dem Titel “Die Rotte” in einem Berliner Verlag erschien und schnell vergriffen war, wieder neu aufgelegt wurde und damit ein Stück mexikanischer Kultur bereit hält, das das Verständnis des heutigen Mexiko erleichtert. Denn aus der Revolution ging die Regierungspartei PRI hervor, die vielfach für die weitverbreitete Schicksalsergebenheit der Mexikaner, für Lethargie und Entpolitisierung verantwortlich gemacht wird. Und vor diesem Hintergrund versteht man auch Octavio Paz besser, wenn er sagt: “Das mexikanische Volk glaubt, nach mehr als zwei Jahrhunderten voller Experimente und Niederlagen, nur noch an die Jungfrau von Guadalupe und an die Nationallotterie.”

Mario Azuela: Die Rechtlosen
Roman aus dem Spanischen von K. Jetz; Dipa-Verlag, Frankfurt am Main 1992. ISBN 3-7638-0180-4; 144 S.; 32.- DM

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