Abwanderung der Gehirne

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In Honduras ist die öffentliche Gesundheitsversorgung katastrophal. Es fehlt an allem, von Medikamenten über funktionierende Geräte bis hin zu ausreichend Betten und Personal. Die Folgen davon bekommen in erster Linie die Patient*innen zu spüren, die auch teure Medikamente aus eigener Tasche bezahlen (sofern sie oder ihre Familie dazu in der Lage sind) und monatelang auf einen Termin für eine Fachärzt*innenbehandlung in den großen Städten warten müssen. Nicht alle Kranken überleben diese Tortur.

Aber auch Ärzt*innen leiden unter dem defizitären Gesundheitssystem. Sie klagen über zu viele Patient*innen, 24-Stunden-Schichten alle vier Tage im Sozialdienst, niedrige Löhne sowie erniedrigenden Umgang vonseiten ihrer Vorgesetzten. Oft muss das Gesundheitspersonal monatelang auf den Lohn warten. Manchmal ist es dann sogar notwendig, zu streiken, was das Leiden der Bevölkerung zusätzlich vergrößert.

„Das Gesundheitssystem von Honduras liegt mit einer negativen Prognose auf der Intensivstation“, ist das bittere Fazit der Koordinatorin der Studienrichtung Medizin der nationalen Universität in San Pedro Sula, Patricia Elvir.

Kein Wunder, dass die Ärzt*innen, die unter derart schwierigen Umständen Patient*innen behandeln müssen, frustriert sind. Zu den allgemeinen Problemen im System kommen die wenigen Chancen für eine Facharztausbildung. Es gibt nur ganz wenige Stellen für Fachärzt*innen im staatlichen Gesundheitssystem. Immer mehr junge Mediziner*innen, die vor Kurzem an der öffentlichen Universität UNAH promovierten, lernen jetzt Deutsch mit dem Ziel, möglichst bald in Deutschland eine Fachärzt*innenausbildung zu absolvieren und dann in einem Krankenhaus oder einer Klinik zu arbeiten.

Josué Pérez ist ein Arzt aus Santa Rosa de Copán im Westen von Honduras, der vor sieben Monaten den Schritt nach Deutschland gewagt hat. Zuvor führte er eine kleine Klinik für Familienmedizin in der Kleinstadt Quimistán. Am Humboldt-Institut in San Pedro Sula erwarb er das B2-Deutschzertifikat und ist zur Zeit im Approbationsverfahren in Essen. „Schon als Kind wollte ich in einem hochentwickelten Land studieren. Mein Ziel ist es, möglichst bald die Facharztausbildung in Neurochirurgie zu beginnen“, erklärt der 32-Jährige. Rückkehr nach Honduras? Wohl nie mehr. „Meine Frau ist auch Ärztin, wir wollen langfristig in Deutschland bleiben und die Chancen hier nutzen“, fasst Josué zusammen.

Josué ist bei Weitem nicht allein: Die Bundesärztekammer registrierte Ende 2022 insgesamt 121 zugelassene Ärzt*innen aus Honduras, ein Plus von 23,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Es darf davon ausgegangen werden, dass ihre Zahl in Zukunft weiter steigen wird, denn Dutzende Mediziner*innen aus Honduras befinden sich bereits im Approbationsverfahren, andere sind jetzt auf dem Sprung nach Deutschland.

Ärzt*innen und Pflegepersonal werden aktiv aus Deutschland angeworben

Wer über das notwendige Geld verfügt, wird bei der Einwanderung nach Deutschland von einer Agentur wie Intermed Personal GmbH in Wuppertal umfassend betreut. Ihre Website ist auf Pflegekräfte, besonders Krankenpfleger*innen aus Honduras, spezialisiert und spricht interessiertes „personal de salud“ (Gesundheitspersonal) direkt auf Spanisch an, während die Sektion „Arbeitgeber“ gut ausgebildetes und zuverlässiges Pflegepersonal auf Deutsch anbietet. Patricia Schuler-Hoffmann ist die Geschäftsführerin. In Honduras aufgewachsen, kennt sie die Mentalität und die Schwierigkeiten ihrer Klientel: „Honduraner*innen sind freundlich und empathisch, gut vorbereitet und motiviert. Deshalb kommen sie hier bei Kolleg*innen und Vorgesetzten gut an. Es gibt natürlich auch Schwierigkeiten bei der Integration wie die Sprache, niedriges Selbstbewusstsein und Probleme im Umgang mit der Technologie. Unsere Agentur hat bisher rund 40 Personen aus Honduras hier in Wuppertal vermittelt, 30 Pflegekräfte und zehn Ärzt*innen inklusive ihrer Angehörigen, aber wir könnten leicht das Zehnfache vermitteln.“

Deutschland braucht dringend Pflegekräfte: Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln gab es 2022 über 200.000 offene Stellen im Pflegebereich; bis 2030 soll diese Zahl sogar auf 500.0000 steigen. 14 Prozent aller Ärzt*innen in Deutschland haben schon jetzt ausländische Wurzeln, infomiert die Bundesärztekammer.

In der deutschen Humanmedizin herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Ende August 2022 meldete die Bundesagentur für Arbeit 2.300 unbesetzte Stellen für Mediziner*innen, also durchschnittlich vier pro Krankenhaus. Von den 421.000 praktizierenden Ärzt*innen in Deutschland ist ein Drittel bereits über 55 Jahre alt und wird in absehbarer Zeit in Rente gehen. Der demografische Wandel führt gleichzeitig zu einer Zunahme von Krankheiten wie Diabetes, Krebs und Demenz. Diese Kombination ist ein perfekter Sturm, der Deutschland heimsuchen wird.

Das weiß auch die Bundesregierung, die seit einem Jahrzehnt mit der Website „Make it in Germany“ gezielt Ingenieur*innen, IT-Spezialist*innen, Naturwissenschaftler*innen, Handwerker*innen – und eben auch Ärzt*innen und Pflegekräfte anwirbt. „Als ich zum ersten Mal diese Seite ansah, glaubte ich, dass ich träume“, erinnert sich Karen Baide, eine 52-jährige Anästhesistin aus San Pedro Sula und zweifache Mutter. „In einem modernen Gesundheitssystem zu arbeiten, mich weiterzubilden, die Lebensqualität Deutschlands, das ist mein Wunsch. Deutschland braucht mich, hier in Honduras ist alles viel zu kompliziert.“ Ursprünglich wollte sie nach Kanada auswandern, entschied sich jedoch 2019 für Deutschland. Karen lernte erst online Deutsch und zertifizierte sich auf dem Niveau B1, bevor sie im Januar dieses Jahres nach Berlin reiste, um sich intensiv auf die B2-Prüfung vorzubereiten und erste Kontakte zu knüpfen.

Mit dem Zertifikat in der Tasche erkundigte sie sich vor Ort über die nächsten Schritte, also die Fachsprachprüfung, das Approbationsverfahren und natürlich die Jobchancen auf ihrem Gebiet. „Ich habe 20 Jahre Erfahrung als Anästhesistin, aber in Honduras bin ich Freelancerin ohne jede Jobsicherheit und völlig von den operierenden Chirurgen abhängig. Oft bekomme ich mein Honorar nicht, weil die Klinik argumentiert, dass der Patient nicht bezahle. Es fehlt teilweise sogar in privaten Kliniken am nötigen Zubehör. Ich habe das honduranische Gesundheitssystem satt. Gesundheit ist hier ein Geschäft, keine Dienstleistung.” Karen ist eine Kämpferin, die sich aus einfachen Verhältnissen und unter großen persönlichen Opfern zur Fachärztin heraufgearbeitet hat. Sie ist sicher, ihren Weg in Deutschland zu finden, obwohl sie deutlich älter ist als die meisten emigrierenden Mediziner*innen. Ende dieses Jahres will sie sich in Deutschland niederlassen.

Der massive Exodus junger, gut ausgebildeter Ärzt*innen überrascht Patricia Elvir von der Nationalen Universität UNAH in San Pedro Sula nicht. „Wir sind stolz auf unsere Mediziner*innen, die überall gut ankom´men. Als Dozentin inspiriere ich meine Student*innen, sich weiterzubilden, auch im Ausland. Sie sollen jedoch ihr Heimatland und ihre Leute nicht vergessen, sondern durch ihre Kenntnisse und Ausrüstung unterstützen.“ Aber sie ist sich bewusst, dass die Allermeisten nie zurückkehren werden: „In Honduras gibt es keine soziale Gerechtigkeit, keine Sicherheit und keine Chancen.“ Auf die Frage, ob irgendwann Ärzt*innen in Honduras fehlen werden, antwortet Elvir kategorisch: „Unmöglich! Es gibt zwei Universitäten, die in Tegucigalpa und San Pedro Sula Mediziner*innen ausbilden.“

Zur Zeit gibt es nur 0,5 Ärzt*innen pro 1.000 Honduraner*innen bei nur acht Krankenhausbetten für dieselben 1.000. In Deutschland kümmern sich fast neunmal mehr Ärzt*innen um dieselbe Anzahl Patient*innen – und es gibt über 13 Mal mehr Krankenhausbetten als in Honduras. Damit steht Deutschland im Index der menschlichen Entwicklung auf Position 9 von 188 Ländern − und Honduras an 137. Stelle.

Honduras bildet aus, Deutschland profitiert

Der Demograf und Universitätsdozent Nelson Raudales ist Autor einer 2013 erschienenen Studie zum Thema „Brain Drain aus Honduras“. Diese hält fest, dass zwischen 1996 und 2010 rund 25.000 Akademiker*innen ins Ausland emigrierten. Allein die volkswirtschaftlichen Kosten dafür beziffert Raudales mit 17 Milliarden Dollar, also zwischen fünf und sieben Prozent des damaligen Bruttoinlandsproduktes von Honduras. Ein extrem hoher Preis für ein Entwicklungsland, ein tolles Geschäft für die Empfängerländer? „Honduras investiert in die Ausbildung dieser hochqualifizierten Migrant*innen, die ihr Talent dann in den Empfängerländern anwenden und dort Mehrwert schaffen. In dieser Hinsicht verliert Honduras ganz klar. Dieses Phänomen wird hier jedoch unterschätzt, denn die Migration war schon immer ein Druckventil für Honduras, weil viele Auswander*innen ihren Familien remesas (Geldsendungen) schicken“, erläutert Nelson Raudales. Diese remesas waren 2022 laut der honduranischen Nationalbank mit fast sieben Milliarden Euro für gut ein Viertel des Bruttosozialproduktes verantwortlich und halten das Land sprichwörtlich am Laufen. Je schwieriger die wirtschaftliche Lage, desto stärker steigen die remesas, nämlich 17,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die Lücke wird größer

Wie alle Interviewten versteht Nelson Raudales die Akademiker*innen, die Honduras auf der Suche nach Chancen verlassen. Auch er hält den Wissens- und Technologietransfer für eine Utopie. „Honduras fällt zurück, während die hochentwickelten Länder im Norden wachsen“.

Diese Lücke wird immer größer. Noch ist der Mangel an Fachkräften in Honduras und die sinkende Wettbewerbsfähigkeit praktisch kein Thema, aber das kann sich in Zukunft ändern: Laut dem Ökonomen Rafael Delgado verurteilt die Abwesenheit hochgebildeter Personen das Land zu mehr Armut, denn es gibt wenig technologische und wissenschaftliche Entwicklung, geschweige denn daraus entstehende Unternehmen und Patente. „Das Wissen ist heutzutage einer der wichtigsten Produktionsfaktoren.“

Aber alle diese abstrakten Bedenken werden auch in Zukunft niemanden aufhalten, der*die in Honduras keine professionelle und persönliche Zukunft sieht, besonders die Hochgebildeten mit einer klaren Vision. ¡Adiós cerebros! – Lebt wohl, Spitzenkräfte!

„Der größte Erfolg wäre, sie zu finden“

Was ist der Hintergrund Ihres Besuches in Deutschland, bei dem Sie unter anderem mit verschiedenen politischen Vertreter*innen sprechen werden?

Seit einiger Zeit drängt die Stiftung darauf, eine Sonderkommission einzusetzen. Der Grund ist: Wir haben gesehen, dass in allen Fällen, die wir vertreten, eine historische Straffreiheit besteht. In Mexiko liegt diese Straffreiheit bei mehr als 95 Prozent. Gerechtigkeit zu erlangen, ist für jemanden aus einer Familie mit Migrationshintergrund sehr schwierig. Daher ist es äußerst wichtig, diese Fälle zu untersuchen, zu erfahren, was passiert ist und den Opfern Antworten zu geben. Das soll die Sonderkommission unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen gemeinsam mit der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft leisten. Diese technische Unterstützung hat die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft schon in einigen Fällen akzeptiert, in denen es um verschwundene Migrant*innen ging – auch im Fall der fünf Massaker, die wir vertreten.

Dass ich Deutschland besuche, liegt an der Rolle, die das Land für Mexiko spielt: Deutschland hat Mexiko in verschiedenen Bereichen technische Unterstützung angeboten. Der Hintergrund: Von deutscher Regierungsseite aus wird ein besonderer forensischer Mechanismus vorangetrieben. Der ermöglicht, die mehr als 56.000 nicht identifizierten Überreste von Menschen zu identifizieren, die wir in Mexiko haben.

Was erhoffen Sie sich konkret von Deutschland?

Da Deutschland uns diese Unterstützung angeboten hat, wäre es sehr wichtig, dass sie diesen Vorschlag der Sonderkommission politisch offen unterstützen. Denn dieser Vorstoß ist für Mexiko notwendig. Und wir wissen auch, dass mehrere Regionen in Lateinamerika mit ähnlich schweren Problemen kämpfen. Wir müssen anfangen, Gerechtigkeit über Ländergrenzen hinaus zu denken. Das wäre eine andere Gerechtigkeit als die, die Menschen erleben, die sich hier niederlassen.

Für uns in Mexiko ist dieses Thema grundlegend. Aber es lässt sich auch auf andere Regionen der Welt übertragen. Wir wissen zum Beispiel, was im Mittelmeer mit Migrant*innen passiert, die sterben und nicht identifiziert werden. Was wir wollen ist: Mechanismen vorantreiben, die uns helfen zu verstehen, wie die transnationale Kriminalität – und damit auch der Menschenhandel – funktioniert. Zudem wollen wir herausfinden, wie die Staaten funktionieren, die oft mit diesen kriminellen Netzwerken zusammenarbeiten.

Wie steht es unter der Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) aktuell um die Sicherheitslage von Menschen und Organisationen, die gegen dieses Verschwindenlassen in Mexiko kämpfen?

Die Sicherheitslage hat sich nicht verbessert unter der Regierung von Andrés Manuel López Obrador. Seine Regierung hat entschieden, eine Strategie fortzusetzen, die Organisationen der Zivilgesellschaft als gescheitert ansehen: die Armee gegen die organisierte Kriminalität auf die Straße zu schicken. Es gibt keinen historischen Beweis dafür, dass das in Mexiko jemals Erfolg gehabt hätte. AMLO setzt auf Militarisierung, statt eine richtige zivile Polizei aufzubauen, die auf dieses Problem reagieren kann. Zudem wird die Generalstaatsanwaltschaft völlig vergessen. Zusammengefasst: Weder die Gewalt ist zurückgegangen, noch haben die Fälle von Straffreiheit abgenommen.

Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zu erstatten, ist für Familien nach wie vor sehr schwierig. Sie werden dort auch schlecht behandelt. Die Staatsanwaltschaften sind zu einem Ort von Korruption und organisiertem Verbrechen geworden. Das wirkt sich auf die Gesellschaft aus. In der bisherigen Amtszeit der jetzigen Regierung sind über 30.000 Menschen verschwunden. Wenn die Ursachen der Gewalt nicht bekämpft werden, wenn die Korruption in den Institutionen nicht bekämpft wird, wenn die Rechtsprechung sich nicht verbessert und wenn es keine Zivilpolizei gibt, dann werden wir in Mexiko weiterhin Gewalt erleben.

In den Medien liest man viel darüber, dass Aktivist*Innen und Suchende bedroht, verfolgt und getötet werden und verschwinden. Hatte Ihre Organisation schon mit solchen Aggressionen zu tun? Warum ist es für Angehörige so gefährlich, in Mexiko nach verschwundenen Familienmitgliedern zu suchen?

Ja, wir begleiten suchende Familien, die in sehr gefährlichen Gebieten leben oder dorthin gehen, wo es unsicher ist oder wo organisierte Verbrechen passieren, etwa in Guanajuato. Es ist unangenehm, wenn organisiertes Verbrechen involviert ist. Aber es ist auch unangenehm, wenn der Staat involviert ist. Die Suchenden haben Angst und gehen mit der Suche ein Risiko ein. Der größte Teil der Verschwundenen sind Männer. Doch es sind Mütter, Töchter und Schwestern, die nach ihnen suchen und sich deshalb in solche Gebiete begeben. Die ganze Thematik der Gerechtigkeit und des Suchens prägt Frauen. Nicht nur in Mexiko ist das so, sondern auch in Mittelamerika.

Haben auch Sie persönlich Schwierigkeiten?

Gegen mich und zwei weitere Frauen ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft seit 2016 – wegen organisierter Kriminalität und Entführung. Mit mir beschuldigt werden die Journalistin Marcela Turati und Mercedes Doretti, Mitglied des argentinischen Teams für forensische Anthropologie. Die Generalanwaltschaft leitete diese illegale Untersuchung gegen uns ein und nutzte dazu das härteste Gesetz Mexikos: das Gesetz zur organisierten Kriminalität. Es ermöglichte ihnen, für mindestens anderthalb Jahre auf unsere Telefondaten zuzugreifen. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Wir haben den Fall bei der Abteilung für interne Angelegenheiten der Generalstaatsanwaltschaft angezeigt und bei der Nationalen Menschenrechtskommission Beschwerde eingelegt. Es ist ein schwieriger Weg für uns. Das ist es für jedes Opfer, das in Mexiko vor Gericht steht.

Welchen Wert hat die Arbeit anderer ziviler Organisationen, Journalist*innen und Akademiker*innen, die bei Untersuchungen zu Verschwundenen ebenfalls eine Rolle spielen?

Glücklicherweise haben auch wissenschaftliche Einrichtungen begonnen, sich mit diesem Thema zu befassen. In einem Land, in dem mehr als 100.000 Menschen verschwunden sind, sollte die gesamte Gesellschaft einbezogen werden. Die Einrichtungen begleiten Ermittlungen gegen kriminelle Netzwerke. Sie helfen uns beim Dokumentieren und auch dabei, Statistiken zu verstehen und Berichte zu erstellen. Aber wir würden uns wünschen, dass sie noch stärker einbezogen werden. Es gibt noch viel zu tun. Es geht darum, die mexikanische Gesellschaft weiter zu sensibilisieren. Darum, dass wir solidarisch sind – auch dann, wenn wir selbst noch nicht betroffen sind. Denn andere Menschen sind betroffen.

Der Journalismus hat verbreitet, was passiert. Das war ausschlaggebend. Journalist*innen haben mit ihren Berichten die fehlenden Informationen und die fehlenden Untersuchungen der Regierung etwas kompensiert. Sie geben den Opfern eine Stimme. Das ist sehr wichtig. Zudem versuchen sie zu erklären, was genau passiert. Sie haben es geschafft, dieses Problem sehr menschlich zu betrachten. Etwa, indem sie die Geschichten von Müttern und Familien er- zählen. Oder indem sie von den Hindernissen berichten, die Familien bei der Suche nach den Verschwundenen überwinden müssen. Der Journalismus ist eine der mutigsten Stimmen, die wir in Mexiko haben.

Wie messen Sie den Erfolg Ihrer Arbeit in diesem schwierigen Umfeld?

Die Verschwundenen zu finden, wäre der größte Erfolg. Lebend. Oder, falls nicht, „zumindest ihre Überreste“, wie die Familien es sagen. Ein Erfolg wäre auch, wenn Menschen verurteilt würden für das, was in Mexiko geschehen ist. Wir messen den Erfolg vor allem an der Stärke der Familien. In dem täglichen Kampf, den sie austragen, obwohl sie so viele wirtschaftliche und andere Schwierigkeiten haben. Sie treten vereint auf: um die öffentliche Ordnung des Landes zu verändern, um die Verschwundenen zu finden, um neue Strategien für die Suche und die Gerechtigkeit zu entwickeln. Manche Situationen, die anfangs schmerzhaft sind, enden in gewisser Weise als Erfolg. Wenn es uns gelingt, einige Überreste zu identifizieren, macht uns das traurig, aber es macht uns auch glücklich. Denn es ist eine Antwort, zumindest für diese eine Familie. Sie kann dann mit diesem Kapitel abschließen, mit dieser offe- nen Folter. 2013 gelang es uns, die Generalstaatsanwaltschaft dazu zu bringen, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, um die Überreste von drei Massakern an Migrant*innen zu identifizieren.

Wie ist Ihnen das gelungen?

Das schafften wir mit Hilfe des argentinischen Teams für forensische Anthropologie, elf Organisationen aus der Region und Familienkomitees. Das war für uns ein Erfolg. Denn damals war Mexiko noch dabei, sein gesamtes forensisches System umzustrukturieren. Es ist uns auch gelungen, die Regierung dazu zu bewegen, mexikanische Botschaften und Konsulate für Betroffene zu öffnen. Dort können Familien nun die Suche nach ihren Angehörigen beantragen und Anzeigen erstatten. Das ist wichtig. Denn Mexiko muss sich an die Opfer wenden. Die Opfer sollten nicht zusehen müssen, wie sie hierherkommen, um Anzeige zu erstatten. Letztes Jahr ist es uns gelungen, einen nationalen Suchmechanismus einzurichten. Er kann alle Informationen über vermisste Migrant*Innen aus Zentralamerika mit Informationen aus den Vereinigten Staaten und Mexiko zusammenführen. Damit versuchen wir dann, Suchmuster auf regionaler Ebene zu erkennen. Das machen wir gemeinsam mit der Nationalen Suchkommission, einem Runden Tisch für Migrant*innen.

Frau Delgadillo, warum ist es so wichtig, Informationen über diesen Kampf zu verbreiten, um die internationale Solidarität zu stärken?

Eine erste Botschaft ist: Menschen verschwinden zu lassen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch dann, wenn es nicht in unserer Nähe passiert. Dieses Thema betrifft uns alle, denn seine Auswirkungen sind äußerst schwerwiegend. Deshalb ist Solidarität immer notwendig. Sie ist vor allem für die Familien notwendig, aber auch für alle Journalist*innen und Verteidiger*innen, die in diesem Bereich arbeiten. Dass in der Berichterstattung auch Familien zu Wort kommen, ist immer wichtig. Denn sie sind diejenigen, die mit allen möglichen Hindernissen konfrontiert sind. Für uns sind sie die Hauptakteur*innen. Diejenigen, die uns Wege öffnen: bei der Suche, der Gerechtigkeit und der Wiedergutmachung in unserem Land.

VIER FRAUEN, EIN GEMEINSAMER KAMPF

Gerechtigkeit Protestaktion von Me Muevo Por Colombia gegen die Kriminalisierung der ermordeten Mile Martin (Foto: Me Muevo de Colombia)

Während eines dreitägigen Mexikobesuches im September dieses Jahres traf sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unter anderem mit Müttern von Verschwundenen. Zu ihnen gehört auch Ana* aus Honduras. Sie ist seit 2012 in Mexiko, um ihren Sohn Óscar Antonio López Enamorado zu finden, der im Jahr 2010 in Jalisco verschwunden ist. Er gehört zu über 100.000 Menschen, die in Mexiko offiziell vermisst werden.

Amtliche Zahlen über gewaltsam verschwundengelassene Migrant*innen existieren nicht. Während nach Angaben des Nationalen Registers verschwundener und vermisster Personen (RNPDNO) 2.414 Einwander*innen als vermisst gelten, geht die zivilgesellschaftliche Organisation Movimiento Migrante Mesoamericano von 80.000 Migrant*innen aus, die in Mexiko verschwunden sind.

Wie die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko in einer Presseerklärung zur Reise von Bundespräsident_Steinmeier kritisiert, stehe die mexikanische Politik und Gesellschaft noch immer vor denselben Herausforderungen wie vor Ló-pez Obradors Amtsantritt im Jahr 2018. Denn obwohl die Regierung die Menschenrechtskrise anerkannt und Reformprozesse eingeleitet hat, fehle der Wille zur konsequenten Umsetzung von Gesetzen. Aus diesem Grund setzt auch Ana bei der Suche nach ihrem Sohn nicht auf die mexikanische Regierung, sondern vor allem auf eigenen Aktivismus. In ihrem täglichen Kampf um Antworten hat sie schon an zahlreiche Türen staatlicher Institutionen geklopft, Suchaktionen gestartet, Berichte verfasst und Anzeigen gestellt. Da sich die Mühlen der mexikanischen Bürokratie nur sehr langsam drehen, Verschwundene aber so schnell wie möglich gefunden werden sollen, hat sich die Honduranerin mit anderen Aktivist*innen zusammengeschlossen und das Netzwerk Red Regional de Familias Migrantes gegründet.

Gemeinsam mit dieser Gruppe unterstützt Ana andere Mütter dabei, ihre verschwundenen Angehörigen in Mexiko zu finden. Hierfür organisieren sie Demonstrationen, errichten und pflegen Denkmäler, starten Petitionen, halten Reden, geben Präventionsworkshops und bauen ein internationales Netzwerk auf, um sich weltweit gegen das Verschwindenlassen von Migrant*innen einzusetzen. Im Gespräch erläutert Ana ihre Devise klar und deutlich: „Nicht schweigen. Weiterhin unsere Stimme erheben. Diese untätigen Behörden weiterhin entlarven. Weiterhin die Familien begleiten. Sobald etwas passiert, weiterhin berichten, was passiert und nicht nachlassen. Mit dem Kämpfen nicht ruhen. Mit anderen Worten: Wir müssen hartnäckig sein, wir müssen eigensinnig sein, damit dies ein Ende hat. Denn wenn wir ruhig und passiv bleiben, wird nichts passieren“. Dass man selbst etwas tun muss, um Veränderungen zu bewirken, weiß auch Yarima. Sie stammt aus Kolumbien und ist zum Studieren nach Mexiko gekommen. Yarima ist Mitbegründerin des Kollektivs Me Muevo por Colombia. Die Gruppe besteht vor allem aus Frauen und Studierenden.

Die massive Protestbewegung der Bauern und Bäuer*innen 2013 in Kolumbien war damals der Ausgangspunkt für die Gründung des Kollektivs. Yarima hat sich daraufhin mit anderen Personen aus Kolumbien in Mexiko zusammengeschlossen, um sich mit den sozialen Bewegungen für den Frieden und gegen die sozialen Ungleichheiten in ihrem Herkunftsland zu solidarisieren.

Seit 2015 ist das Kollektiv auch gegen Feminizide an kolumbianischen Frauen in Mexiko politisch aktiv. In Mexiko werden täglich im Durchschnitt zwischen zehn und elf Frauen Opfer von Feminiziden, also geschlechtsspezifischen Morden. Bezogen auf die Feminizide an kolumbianischen Frauen erzählt Yarima, dass deren Kriminalisierung und Diffamierung durch die Medien und das Justizsystem ein großes Problem darstellt: „Eine Frau kolumbianischer Herkunft wird in Mexiko ermordet – und das Justizsystem, das für Gerechtigkeit sorgen sollte, kriminalisiert und reviktimisiert sie im Einvernehmen mit den Medien. Das ist ein Muster, das wir in mehreren Fällen beobachtet haben. Informationen über den Fall werden an die Boulevardpresse weitergegeben, die versucht, der Frau die Schuld an ihrem Tod zu geben. Diese Presse informiert falsch über Aspekte ihres Lebens. Dies dient dazu, sie zu diskreditieren und nicht zu ermitteln. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Arbeit der Frau oder verwendet die traditionelle Art, von Feminiziden abzulenken, indem sie Geschichten über Drogen und Alkohol erfindet“, erklärt Yarima. Vor allem bei Sexarbeiter*innen komme diese Herabwürdigung vor.

Zwischen zehn und elf Frauen werden in Mexiko täglich Opfer von Feminiziden

Anfangs hatte das Kollektiv es vermieden, sich öffentlich über solche Themen in Mexiko zu äußern, da der Verfassungsartikel 33 Ausländer*innen verbietet, sich in die politischen Angelegenheiten des mexikanischen Staates einzumischen. Doch weil immer mehr Fälle von Feminiziden an kolumbianischen Frauen in Mexiko an sie herangetragen wurden, entschieden sie, sich öffentlich dazu zu positionieren. „Es ist ein Thema, das uns betrifft, weil wir in Mexiko leben. Als Frauen müssen wir uns damit in Mexiko auseinandersetzen, da es sich um eines der gewalttätigsten Länder der Welt handelt. Als Kolumbianerin kommt dann noch die Last der Diskriminierung hinzu; Fremdenfeindlichkeit und Ungerechtigkeit“, sagt Yarima.

Diese Problematik hat Yarima und ihre Mitstreiter*innen auf die Straßen bewegt. Seit jeher gehen sie gegen die Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen vor. Das Kollektiv organisiert Demonstrationen, die Fälle von Diffamierung und Kriminalisierung von immigrierten Kolumbianer*innen bei mexikanischen Behörden melden oder die kolumbianische Botschaft zum Handeln auffordern. Dabei überschneidet sich der Aktivismus von Yarima und dem Kollektiv Me Muevo por Colombia mit vielen Forderungen der mexikanischen feministischen Bewegung, die sich für ein Leben ohne Gewalt gegen Frauen und Mädchen einsetzt. Aus diesem Grund sind bei Protestaktionen oft auch mexikanische Aktivist*innen dabei.

„Wenn wir ruhig und passiv bleiben, wird nichts passieren“

Die von Yarima beschriebene strukturelle Diskriminierung gegen Migrant*innen geht auch von anderen staatlichen Institutionen aus. Insbesondere stehen das Nationale Migrationsinstitut (INM) und die Nationalgarde wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik. Beide Institutionen werden von der aktuellen Regierung zur Unterbindung der irregulären Migration eingesetzt. Allein im Jahr 2021 gingen bei der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 1.239 Beschwerden gegen das INM ein. Unter anderem wurde dem Institut vorgeworfen, Migrant*innen erniedrigend zu behandeln, Personen willkürlich zu inhaftieren oder sie einzuschüchtern. Zivile Menschenrechtsorganisationen gehen allerdings von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus, da viele Migrant*innen aus Angst vor negativen Folgen keine Beschwerden einreichen.

Yesenia (alias Tuty) aus El Salvador kennt diese Diskriminierungen bei Behördengängen nur zu gut und setzt sich als Privatperson für andere Migrant*innen ein. Sie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und lebt seit 32 Jahren in Mexiko. Nachdem Yesenia ihr Jurastudium in Mexiko absolviert und nun durch ihre Arbeit in einem Rathaus in Mexiko-Stadt ein festes Einkommen hat, hilft und begleitet sie in ihrer Freizeit ehrenamtlich andere Personen aus Zentralamerika und Südamerika bei juristischen Angelegenheiten. Dazu gehören unter anderem die Regularisierungsprogramme für einen Aufenthaltstitel (Regierungsprogramm zur Legalisierung des Aufenthaltsstatus, Anm. d. Red.) oder Registrierungen von in Mexiko geborenen Kindern. Da sie selbst während ihres Regularisierungsverfahrens Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft und ihrer Hautfarbe durch INM-Beamt*innen erfuhr, will sie nun anderen helfen: „Ich tue es, weil ich nicht will, dass sie leiden. (…) Weil ich gelitten habe, möchte ich allen anderen helfen“. Einmal wurden Yesenia die Antragspapiere vor die Füße geworfen – sie solle sich keine Hoffnung auf eine Aufenthaltserlaubnis machen, denn sie sei weder blond noch weißhäutig.

Yesenias Solidarität mit Personen, die nach Mexiko kommen, geht so weit, dass sie oft Unbekannte bei sich übernachten lässt. Es sind meistens Familien, die in keiner Herberge für Migrant*innen unterkommen konnten und sonst auf der Straße hätten schlafen müssen. „Meine Kinder haben schon vorgeschlagen, unsere Wohnung in Herberge Tuty umzubenennen“, scherzt Yesenia. Migrant*innenherbergen werden in Mexiko zum größten Teil von zivilgesellschaftlichen Organisationen verwaltet. Sie unterstützen Migrant*innen, indem sie unter anderem Unterkunft, Essen, Kleidung, aber auch Rechtsbeistand und medizinische Hilfe anbieten. Doch oft sind diese Einrichtungen überbelegt, nicht jede Person kann bleiben. Bei Yesenia haben deswegen schon einige Migrant*innen eine warme Mahlzeit und einen Platz zum Schlafen bekommen.

Yesenia solle sich keine Hoffnung auf eine Aufenthaltserlaubnis machen, sie sei weder blond noch weißhäutig

Obwohl die Diskriminierung von Migrant*innen ein weit verbreitetes Problem ist, betonen Ana, Yarima und Yesenia, dass sie auch Mexikaner*innen kennen, die hilfsbereit und solidarisch sind. Die Venezolanerin Andrea, die vor sieben Jahren mit ihrem Sohn nach Mexiko kam, will sich deshalb mit ihrem sozialen Aktivismus für diese Unterstützung bei der mexikanischen Gesellschaft bedanken. Wie die anderen Frauen hat sie sich im Land ein neues Leben aufgebaut: „Mir geht es jetzt gut und deswegen wollte ich anderen helfen, die weniger haben. Es ist eine Gelegenheit, sich für die Möglichkeiten, die wir hier bekommen haben, dankbar zu zeigen. Außerdem geht es darum, sich gegenseitig zu unterstützen, damit die schwierigen Zeiten nicht so unangenehm sind“.

Spieltag mit der Gruppe Venezolanos al Rescate (Foto: Venezolanos Al Rescate)

Mit anderen Venezolaner*innen hat Andrea 2018 die Gruppe Venezolanos al Rescate gegründet. Gemeinsam unterstützen sie in Mexiko vor allem Kinder und Familien in armen Verhältnissen. Denn laut dem mexikanischen Rat für die Bewertung der sozialen Entwicklungspolitik (CONEVAL) leben immer noch 19,5 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Aus diesem Grund organisiert Andrea mit ihrer Gruppe in abgelegenen Ortschaften zum Kindertag am 30. April Feiern, bei denen sie auch Essen, Kleidung und Spielzeug verteilen. Außerdem verschenken sie zum Schulbeginn Materialien, die zuvor an die Gruppe gespendet wurden. Neben diesen Aktionen, die sich vor allem an Kinder mit mexikanischer Staatsangehörigkeit richten, unterstützt Venezolanos al Rescate auch Personen aus Venezuela: Venezolaner*innen, die in Mexiko bleiben wollen, sich im Transit durch Mexiko befinden oder die in Venezuela leben. So hat die Gruppe aufgrund der humanitären Krise im Land auch schon Pakete mit Medikamenten nach Venezuela verschickt.

Ein Aktivismus, der von Medien kaum beachtet wird

Die vier hier porträtierten Frauen stehen nicht repräsentativ für alle Migrant*innen aus Zentral- und Südamerika in Mexiko. Sie kommen aus verschiedenen Herkunftsländern und haben sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten. Doch ihre Geschichten geben Einblick in einen Aktivismus, der von den Medien kaum beachtet wird. Diese Seite Mexikos, das zum Ankunftsland für Menschen aus Zentralamerika, Südamerika und der Karibik geworden ist, wird selten zum Thema gemacht.

Doch es sind starke Geschichten von Frauen, die anderen Menschen in Mexiko helfen und dafür keinerlei Gegenleistung einfordern. Ana, Andrea, Yarima und Yesenia haben sich unabhängig voneinander organisiert. Doch ihre vielfältigen und solidarischen Formen von Aktivismus haben eine Gemeinsamkeit: Sie alle richten sich gegen Ungerechtigkeiten in Mexiko, die in neoliberalen, patriarchalen und rassistischen Strukturen wurzeln.

* Auf Wunsch der Protagonistinnen und um ihre Sicherheit zu gewährleisten, werden nur die Vornamen verwendet.

// ES HERRSCHT KRIEG

Viele Menschen werden grausam und skrupellos ermordet, noch mehr Menschen verlieren ihr Zuhause, packen das Notwendigste, um zu fliehen und hoffen darauf, dass ihnen irgendwo Schutz gewährt wird. Familien werden getrennt, Verzweiflung überall. Seit der russische Präsident Wladimir Putin seinen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen hat, passiert das nicht einmal zehn Autostunden von Deutschland entfernt in der Ukraine. Wir verurteilen die Aggressionen der russischen Führung und fordern ihre sofortige Beendigung.

Immerhin: Inmitten des Leids gibt es auch viele Bürger*innen, Unternehmen und staatliche Institutionen, die Solidarität zeigen – auch in Deutschland. Züge und Busse werden bereitgestellt, an den Bahnhöfen nehmen vor allem freiwillige Helfer*innen die Geflüchteten in Empfang. Auch wenn vieles chaotisch läuft – die Grundversorgung funktioniert. Ukrainer*innen erhalten vergleichsweise unbürokratisch einen Aufenthaltstitel, Sozialleistungen und eine Arbeitserlaubnis. Für die Betroffenen ein Lichtblick in ihrer schrecklichen Situation. Wir begrüßen es sehr, dass aktuell viel dafür getan wird, den geflüchteten Ukrainer*innen in ihrer Notlage zu helfen.

Wie schön wäre es aber, wenn allen Geflüchteten in einem solchen Maße Solidarität entgegengebracht würde. Auch in Afrika, im Mittleren Osten oder in Lateinamerika herrschen an vielen Orten dauerhaft kriegerische Konflikte. Sie werden meistens nicht als „Krieg” betrachtet, obwohl nationale sowie internationale Regierungen beteiligt sind. Diese Handlungen in der „Peripherie” gehen heute von bewaffneten staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen aus, die die Bevölkerung terrorisieren und den Betroffenen keine Chance lassen, sich wirksam vor ihnen zu schützen. Das individuell und gesellschaftlich verursachte Leid wird dadurch jedoch keineswegs kleiner.

In Mexiko, Kolumbien und Brasilien wurden in den vergangenen Jahren monatlich jeweils mehr als 1.000 Menschen getötet. Dort gelangen deutsche Waffen durch illegale Lieferungen, etwa von Heckler & Koch oder Sig Sauer, immer wieder auch in die Hände derjenigen, die Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen, Journalist*innen und Politiker*innen ermorden. Laut Schätzung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte entspricht die Anzahl dieser Morde in etwa der Anzahl der nicht an den Kämpfen beteiligten Menschen, die in der Ukraine umgebracht wurden. Dennoch erfahren die Opfer dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen unterschiedlich viel Aufmerksamkeit. Konflikte in Lateinamerika und anderswo finden nicht vor unserer Haustüre statt. Und im Unterschied zur Ukraine flüchten in aller Welt nicht vorwiegend weiße Europäer*innen, sondern oft Menschen mit einer anderen Hautfarbe und/oder Religion. Sie haben es unendlich viel schwerer, in der EU aufgenommen zu werden und meist kaum eine Chance auf ein Bleiberecht und eine Arbeitserlaubnis. Diese Ungleichbehandlung ist durch nichts zu legitimieren und verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, die eine Diskriminierung „aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslandes” verbietet.

Wir wollen nicht hinnehmen, dass es Geflüchtete „niedrigeren” und „höheren” Ranges gibt. Angesichts dieser Widersprüche in der Flüchtlingspolitik, die durch den russischen Angriffskrieg und seine Konsequenzen erneut deutlich werden, fordern wir, dass alle Menschen, die in ihrer Heimat von Krieg und Ermordung bedroht sind, nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis das gebotene Maß an Hilfsbereitschaft erfahren – unabhängig von ihrer Herkunft. Russlands Invasion in der Ukraine ist grauenvoll. Zu wünschen bleibt, dass ihre Folgen ein Umdenken in Gesellschaft und Politik bewirken, zukünftig nicht mehr „Kapazitätsgrenzen” vorzuschieben, sondern allen Schutzsuchenden einen neuen Anfang und sicheren Zufluchtsort zu ermöglichen.

EGOZENTRISCH UND EHRLICH

Foto: Sheena Matheiken

„Wenn du nicht mehr so aggressiv bist, kannst du anfangen. Sag mir, wenn du bereit bist.“ Rebecas Mutter ist sauer. Die Interviewfragen hat sie sich anders vorgestellt. Wie es ist, Schwarze Kinder zur Welt gebracht zu haben? „Ich bin Latina, aus Venezuela. Mit allem anderen kenne ich mich nicht aus“, wiederholt sie gebetsmühlenartig. Und bringt damit wieder ihre Tochter auf die Palme, der eine andere Antwort für ihren Film Beba wohl besser ins Konzept gepasst hätte.

Es spricht für Rebeca Huntt, die Interviewerin und Regisseurin ihrer autobiografischen Dokumentation, dass diese Szene trotzdem nicht dem Schnitt zum Opfer gefallen ist. Denn sie zeigt, dass der Kampf um Identität und Anerkennung in einer multiethnischen Stadt wie New York kein leichter ist und jede*r ihn auf eigene Weise führen muss. Für Beba (Rebecas Spitzname) bedeutet das zunächst Beschäftigung mit ihrer Herkunft. Ihr Vater war Plantagenarbeiter in der Dominikanischen Republik. Als die Auswüchse der Diktatur Trujillos immer schlimmer werden, flieht er mit Frau und drei Kindern auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in die USA. In New York angekommen bezieht die Familie ein winziges Zwei-Zimmer-Apartment am Central Park West. Die Entscheidung für die viel zu kleine Wohnung fällt, weil sie in einem besseren Viertel liegt, als diejenigen in denen viele andere Migrant*innen wohnen. Aus Sorge um die Sicherheit, wie Bebas Vater rechtfertigt: „Wären wir woanders hingezogen, würde mindestens eines von euch Kindern heute wohl nicht mehr leben“.

Ein Zuckerschlecken ist das Aufwachsen und Leben als Migrantin im Big Apple trotzdem nicht. Das zeigen Huntts Erzählungen und die oftmals privat gefilmten Videoaufnahmen, die sie collagenartig (aber weitgehend chronologisch) zusammengestellt hat. Ihre Schwester kämpft mit Drogenproblemen, ihr Bruder entfremdet sich von der Familie (und ist wohl auch deshalb in keinem Interview zu sehen). Rebeca, selbst kein einfacher Charakter (laut eigenem Off-Kommentar „stolz, stur, narzisstisch, chronisch grausam“), wendet sich der Kunstszene und der Black Lives Matter-Bewegung zu und bekommt einen Studienplatz an der renommierten Künstler*innenakademie Bard College. Das gibt ihr zwar einerseits die Möglichkeit, die Suche nach ihrer Identität zu vertiefen. Andererseits muss sie auch dort ihren Weg zwischen Anpassung und Auflehnung gegen die bürgerlich-weiß dominierten Strukturen erst finden.

Beba ist ein dicht komponierter und ehrlicher Blick auf migrantisches Leben in der Black / Latinx-Community in New York. Die Dominanz des autobiografischen Videomaterials lässt den Film allerdings streckenweise etwas zu selbstreferentiell werden. In manchen Momenten wirken die Episoden aus Familien- und Freund*innenkreis beliebig und erinnern an selbstgedrehte Videos von Abitur- oder Klassenfahrten. Huntts Eingangsfrage, warum Gewalt in ihrer Familiengeschichte derart stark verankert ist, gerät im Laufe des Films ein wenig aus dem Blick, genau wie die mögliche Einordnung in den größeren Kontext von Migration und Rassismus – was zum Großteil natürlich der bewusst radikal persönlichen Perspektive geschuldet ist. Auch so bleibt Beba aber ein interessantes und aufgrund seiner charismatischen Protagonistin jederzeit unterhaltsames Schlaglicht auf die Herausforderungen des Lebens lateinamerikanischer Migrant*innen in New York.

 

// NUR DAS KLEINERE ÜBEL

Am 6. April machten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel dem autoritären türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Ankara ihre Aufwartung. Dabei fand von der Leyen zwar kritische Worte, etwa zur kürzlich seitens der Türkei erfolgten Aufkündigung der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt oder zum Allgemeinplatz der Achtung von Menschenrechten und internationalem Recht. Doch an dem milliardenschweren Deal von 2016, mit dem sich die EU in der Türkei eine vorgelagerte Außengrenze erkauft hat, wird nicht gerüttelt. So wird Millionen von Schutzsuchenden effektiv die Asylsuche in der EU verwehrt.

Nicht nur in Europa ist das Outsourcing der Drecksarbeit die gängige Praxis. Auch die USA hatten 2019 unter Donald Trump mit den Regierungen von El Salvador, Guatemala und Honduras Abkommen zur Verhinderung von Migration geschlossen. Die Länder wurden de facto zu sicheren Drittstaaten erklärt, sodass alle Migrant*innen, die in die USA einreisen wollen, in diesen Staaten Asyl beantragen müssen. Trumps Nachfolger Joe Biden hat diese Migrationsverträge dieses Jahr wieder gekippt. Er steht zwar für eine weniger restriktive Politik als Trump, für eine offene Einwanderungspolitik steht er freilich nicht. Biden hat angekündigt, den Regierungen in Mittelamerika zu helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen und diese auch finanziell zu unterstützen. Wie er das gemeinsam mit den Autokraten in El Salvador, Guatemala und Honduras erreichen will, bleibt aber sein Geheimnis.

Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris mit der Migrationspolitik betraut und mit Ricardo Zúñiga Anfang April einen Sondergesandten ins „nördliche Dreieck“ geschickt. Zúñiga führte Gespräche mit Vertreter*innen aus Staat und Zivilgesellschaft in Guatemala und El Salvador, ein Treffen mit dem autoritären Präsidenten Nayib Bukele kam nicht zustande. Honduras wurde gänzlich ausgespart, vielleicht aufgrund der vermuteten Verstrickung des Präsidenten Juan Orlando Hernández in den Drogenhandel. Diese Distanz ist ein Unterschied zum Vorgänger Trump, verstand dieser sich doch bestens mit Bukele und Hernández und machte sich keine Mühe, zivilgesellschaftliche Organisationen oder Anti-Korruptionsinstitutionen in der Region zu fördern.

Allerdings ist Biden kein unbeschriebenes Blatt. Grundsätzlicher Wandel ist von dem ehemaligen Vizepräsidenten von Barack Obama nicht zu erwarten – weder beim Thema Migrationspolitik noch bei den Freihandelsabkommen USMCA (NAFTA-Nachfolger) und DR-CAFTA. So verwundert weder sein an die Migrant*innen gerichteter Appell, sich gar nicht erst auf den Weg zu machen, noch die nun unlängst bekannt gewordenen Pläne zum teilweisen Weiterbau von Trumps Grenzmauer ­– trotz gegenteiliger Wahlversprechen. Von den 172.000 Schutzsuchenden, die im März die US-Grenze erreichten, wurden 104.000 auf Basis einer unter Trump – offiziell zum Schutz vor der Ausbreitung der Covid-19-Pandemie – erlassenen Order nach Mexiko abgeschoben.

Bereits als Vizepräsident versuchte Biden im Rahmen der „Allianz für Wohlstand“ Fluchtursachen in Zentralamerika zu beseitigen. Erfolglos. Die Menschen machten sich weiterhin auf den Weg. Die Maßnahmen, mit denen jetzt sichergestellt werden soll, dass die Hilfen für Zentralamerika zielgerichtet ankommen, gehören in den Kanon der „guten Regierungsführung“. Damit haben die USA schon in den vergangenen 60 Jahren mit überschaubarem Erfolg operiert. An die strukturellen Fluchtursachen wird er seine Hand so wenig legen wie seine Vorgänger: Eine unfaire Welthandelsordnung und der Klimawandel, die in Mittelamerika Einkommensperspektiven zerstören, autoritäre Strukturen und die organisierte Kriminalität, die Gewalt fördern. Wenn es in Mittelamerika an einem nicht mangelt, sind es Fluchtursachen.

 

KARAWANE IN DEN NORDEN

An der Grenze zu Guatemala 40 Prozent der honduranischen Jugendlichen planen auszuwandern (Foto: Radio Progeso)

Guatemaltekische Sicherheitskräfte haben die Karawane von über 7.000 honduranischen Migrant*innen unterdrückt und mit Gewalt auseinandergetrieben. Die Bilder spiegeln die humanitäre Krise, die Honduras momentan durchlebt und die auf die geschwächten Institutionen des Landes zurückzuführen ist. Die Regierung nutze die wenigen vorhandenen Ressourcen, um der Korruption und den Drogenkartellen in die Hände zu spielen. Dabei verletze sie die Grundrechte der Bevölkerung, meint Elvin Hernández, Präsident der jesuitischen Menschenrechtsorganisation ERIC, die Radio Progreso betreibt, im Interview.

Die Coronapandemie und die wirtschaftlichen Schäden nach den Hurrikanes Eta und Lota im November 2020 haben die humanitäre Krise in Honduras noch verstärkt. „Die Karawane zeigt die Verzweiflung der Menschen, die Arbeitslosigkeit, Hunger und die Zerstörung ihrer Häuser ausgelöst haben. Und dann müssen sie noch mit ansehen, wie jegliche Antwort des Staates ausbleibt“, so Elvin Hernández weiter.

Die Migrant*innen machen den honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernández für die Krise verantwortlich. Sie sind sich darin einig, dass der Präsident sein Amt niederlegen sollte, damit er strafrechtlich verfolgt und für seine direkten Verbindungen zum Drogenhandel und die massive Veruntreuung von Mitteln der öffentlichen Hand zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, warum sich die Karawane nicht auf den Weg zum Palast des Präsidenten aufmacht. Warum wird der Slogan „Weg mit Juan Orlando Hernández” stattdessen in andere Länder getragen? Elvin Hernández glaubt, dass es auf diese Fragen keine einfachen Antworten gibt. Für ihn scheint es, als habe die Bevölkerung aufgehört, Honduras als ein Land zu betrachten, das den Menschen Alternativen anbieten kann. Für die Bevölkerung gebe es keine politische Partei, die das Land reformieren könne. „Unser Gefühl sagt uns: Hier gibt es nichts zu tun!“, führt Elvin Hernández weiter aus und erklärt, dass ein weiterer triftiger Grund für die Migration die Beziehungen der Migrant*innen zu ihren Familienmitgliedern in den USA sind. „Die Leute leben von den Überweisungen ihrer Verwandten und glauben, dass sie in den USA die Antworten finden können, die ihnen in Honduras fehlen. Das hat auch mit dem brüchigen sozialen Gefüge und einem Mangel an politischer Bildung zu tun.”

Nach Studien der lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLASCO) führt das hohe Niveau von Gewalt und Armut, der Mangel an Arbeitsplätzen und der fehlende Zugang zu Bildung dazu, dass vier von zehn honduranischen Jugendlichen auswandern oder dies planen.

Der Vorsitzende von FLASCO Honduras, Rolando Sierra, berichtet, dass Jugendliche häufig Opfer organisierter Gewalt werden und es ihnen an Perspektiven mangele, um weiterhin in einem verwüsteten Land zu leben. Sierra erklärt: „Trotz der Grenzmauer und der Repression durch den guatemaltekischen Staat wird es 2021 eine starke Migrationsbewegung geben. Faktoren im Inneren von Honduras zwingen die Menschen dazu, ihr Land zu verlassen“.

Die Pandemie als Rechtfertigung einer gescheiterten Migrationspolitik

Laut dem Koordinator des jesuitischen Netzwerks der Migrant*innen in Guatemala, José Luis Gonzáles SJ, bildet die Coronapandemie für die Regierungen Mexikos und Guatemalas die perfekte Rechtfertigung dafür, die Karawane aus Honduras die Grenzen nicht passieren zu lassen. Dabei lassen sie unbeachtet, dass die Migration nicht freiwillig geschieht und ihre Ursachen struktureller Natur sind. Im Vergleich zu früheren Jahren besteht die aktuelle Karawane in der Mehrheit aus unbegleiteten Minderjährigen, die die Gewalt und die verschärfte Armut, die Pandemie und die Tropenstürme 2020 zu Waisen gemacht haben. Es sind erschütternde Bilder: Kinder, die ohne jegliches Gepäck unterwegs sind und Familien, die einzig und allein von der Hoffnung angetrieben werden, die USA zu erreichen, weil sie in Honduras nichts haben.

Gonzáles beklagt weiterhin, dass Guatemala die Pandemie als Ausrede benutze, um die Forderungen der USA zu erfüllen. Ihm zufolge versucht das Land schon seit geraumer Zeit, das CA-4-Abkommen aufzuheben, das den Menschen zumindest theoretisch ermöglicht, sich in Zentralamerika frei zu bewegen.

In der Vergangenheit hatte sich die guatemaltekische Bevölkerung solidarisch mit den honduranischen Migrant*innen gezeigt. Doch die Pandemie ruft eine Situation hervor, in der die Gesellschaft in einem Klima der Angst gefangen ist. Außerdem hätten die Menschen keine Kapazitäten, um sich zu organisieren und eine solidarische Antwort auf den Hunger und die Kälte, unter denen die Migrant*innen leiden, zu finden, analysiert Úrsula Roldán, Wissenschaftlerin und Koordinatorin vom Institut für Migration der Universität Rafael Landívar in Guatemala gegenüber Radio Progreso.

Laut Roldán steht den Migrant*innen auf guatemaltekischem Territorium eine schmerzliche Zukunft bevor. Ein weiterer Grund dafür ist die Anordnung der Regierung von Alejandro Giammattei, die es internationalen Organisationen wie der UNO Flüchtlingshilfe in Guatemala verbietet, humanitäre Hilfe zu leisten, sodass Hunger und Repression die Menschen dazu zwingen, an die Grenze in den Norden zurückzukehren.

www.radioprogresohn.net

ERST EINGESPERRT, DANN AUSGESETZT

Kreative Fortbewegung Überquerung des Río Suchiate von Guatemala nach Mexiko und zurück (Fotos: Timo Dorsch)

Die Auswüchse der diskriminierenden Migrationspolitik Mexikos zeigen sich während der Corona-Pandemie in ihrer brutalsten Form, steht für Aldo Ledón fest. Für den Aktivisten und Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Voces Mesoamericanas liegt die Verantwortung beim Staat: “Die Regierung lässt Schutz suchende Menschen links liegen und begeht Menschenrechtsverletzungen.“ Erkrankte Migrant*innen etwa würden nicht behandelt und anderen kein Schutz vor einer Ansteckung geboten. Er erinnert daran, dass es sich bei diesen Menschen um „Opfer von Zwangsumsiedlungen, sexualisierter Gewalt, organisierter Kriminalität, politischer Verfolgung oder ökonomischer Verarmung“ handelt. Sie würden nun an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt und seien „multiplen-Krisen“ ausgesetzt. Rita Robles, Menschenrechtsaktivistin und Mitarbeiterin des nichtstaatlichen Menschenrechtszentrums Fray Matías Córdova, fügt hinzu, dass ihnen ohnehin schon jegliche Menschenrechte, wie „das Recht auf Freizügigkeit, Arbeit, Gesundheit oder Bildung“ vorenthalten werden. Prekäre Lebenslagen seien schon lange der Status quo für Migrant*innen in Mexiko: „Nicht einmal essenzielle Bedürfnisse werden durch die staatliche Migrationsarbeit ausreichend abgedeckt“.

Es sei wichtig, den historisch politischen Kontext zu begreifen, der zur aktuellen Krise geführt habe, erklärt Aldo Ledón. Sie sei nämlich keineswegs erst dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie geschuldet. Mexiko gelte vor allem für Menschen aus Zentralamerika traditionell als Auffangbecken. Die Volkswirtschaft des Landes − insbesondere der informelle Arbeitssektor – profitierte seit Langem von der billigen Arbeitskraft der Migrant*innen. Erst der Diskurs der Regierungen des 21. Jahrhunderts präsentiert Migration als „neues Phänomen“, das aus Gründen der nationalen Sicherheit bekämpft werden müsse. Aldo Ledón betrachtet es als polemisch, nationale Sicherheit in Verbindung mit Migration zu setzen. „Menschen in Notlagen haben das Recht auf Migration und der mexikanische Staat steht in der Sorgfaltspflicht, die Einhaltung dieses Rechts sicherzustellen“. Die Stigmatisierung von Migrant*innen ziehe sich wie ein roter Faden auch durch den Diskurs des amtierenden Präsidenten Ándres Manuel López Obrador.

Offiziell zuständig für in Mexiko ankommende Migrant*innen ist das Nationale Institut für Migration (INM). Ihm obliegt die Umsetzung der föderalen Migrationspolitik. Regierungsvorgaben entsprechend registriert es Migrant*innen bei ihrer Ankunft an der Südgrenze Mexikos zu Guatemala und Belize. Eigentlich soll es ihnen auch Information, Schutz und Unterkunft bieten. Nach Aldo Ledón würden die Menschen hier jedoch nur registriert, „um sie festnehmen und deportieren zu können“. Sie würden außerdem gegen ihren Willen in staatlichen Unterkünften (estaciónes migratorias) – in der Regierungsrhetorik auch „Herbergen“ genannt – festgehalten. Die staatlichen Unterkünfte „Herbergen“ zu nennen, sei reiner Euphemismus, da sie eigentlich nichts weiter als provisorisch hergerichtete Deportationsgefängnisse seien, findet er.

Die Migrationsbehörde in Tapachula An der Grenze zu Guatemala

Ende Februar registrierte das mexikanische Gesundheitsministerium die ersten Covid-19 Patient*innen. Daraufhin wurde landesweit ein gesundheitliches Abstandsgebot verhängt. Menschen wurden aufgefordert, alle nicht essenziellen Aktivitäten zu unterlassen und zu Hause zu bleiben. Doch die in den staatlichen Unterkünften lebenden Migrant*innen wurden über die Pandemie kaum informiert, berichtet Rita Robles. Lang sei die Regierung auf die Frage nach dem Umgang mit Covid-19 in den Unterkünften eine Antwort schuldig geblieben. Erst Anfang April legte das INM einen Plan zum Schutz der Gesundheit vor. Allerdings sei schnell klar gewesen, dass es keine realistischen Möglichkeiten geben würde, die Schutzmaßnahmen umzusetzen: „Das INM verfügt weder über Ressourcen, um einen angemessenen Hygienestandard in den staatlichen Unterkünften einzuhalten, noch um Erkrankte zu versorgen“, so Robles.

NRO stellen alternative Infrastrukturen für Migrant*innen bereit

Die Lage spitzte sich weiter zu, als mexikanische Medien den Tod eines Asylsuchenden in einer estación migratoria in Tenosique (Tabasco) meldeten. Insgesamt 41 Inhaftierte sollen gegen unzureichende Gesundheitsbedingungen protestiert und ihre sofortige Freilassung gefordert haben. Im Laufe der Ausschreitungen kam es zu einem Brand. Anstatt die Inhaftierten zu retten, sollen Beamt*innen die Ausgänge der Unterkunft versperrt haben, berichtet das linksalternative Nachrichtenportal animalpolítico am 1. April. Während sich der Großteil der Menschen dennoch befreien konnte, fiel Héctor Rolando Barrientos Dardón (42), ein guatemaltekischer Asylsuchender, dem Brand zum Opfer.

Der Leiter der nichtstaatlichen Unterkunft für Migrant*innen La 72 in Tenosique, Fray Gabriel Romero, wundert sich wenig über die Ausschreitungen. Die inhaftierten Migrant*innen seien einem hohen physischen und psychischen Leidensdruck ausgesetzt. In der besagten estación migratoria lebten sie zusammengepfercht auf engstem Raum. Zum Zeitpunkt des Aufstandes seien hier etwa 300 Menschen untergebracht gewesen, bei einer Höchstkapazität mit nur 100 Plätzen. „Regelmäßig wurde von Krankheitsausbrüchen wie Salmonellen durch verdorbenes Essen berichtet“, erinnert sich Gabriel Romero. Ein Fall, der den Leiter von La 72 besonders aufwühlt, ist die Verweigerung der medikamentösen Behandlung einer an Aids erkrankten Gefangenen. Diese habe aufgrund ihrer transsexuellen Genderidentität aus ihrem zutiefst konservativen Heimatland flüchten müssen. Er kann die Aufständischen verstehen: „Dies ist offenbar der einzige Weg, um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen.“

Aufgrund ähnlich prekärer Zustände komme es laut Rita Robles landesweit immer wieder zu Protesten in den estaciones migratorias. Es bestünde ein stetiger Mangel an Nahrungsmitteln und anderen lebensnotwendigen Ressourcen. Auch fließendes Wasser sei ein seltenes Luxusgut. Außerdem sei der Umgang der Regierungsbeamt*innen mit den Migrant*innen herablassend und von Rassismus geprägt. Voces Mesoamericanas und Fray Matías Córdova unterschrieben daher gemeinsam mit weiteren Nichtregierungsorganisationen (NRO), Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen am zweiten April die Forderung nach der Freilassung der Migrant*innen aus den staatlichen Unterkünften. Tatsächlich wurde dies Ende April durch einen richterlichen Beschluss genehmigt und Migrant*innen aus den estaciones migratorias der Städte Mexiko-Stadt, Monterrey, Tapachula, Tenosique, Tijuana und Villahermosa entlassen.

Für einen Großteil der Migrant*innen ist eine Rückkehr unmöglich

Was zunächst wie ein erster Erfolg für den Kampf um den gesundheitlichen Schutz der Migrant*innen erschien, entpuppte sich schon bald als eigentliche Verschlimmerung der bereits drastischen Situation. „Das INM transportierte Migrant*innen aus den estaciones migratorias im Norden an die Südgrenze des Landes und setzte sie dort ohne weitere Hilfeleistungen und mit der Aufforderung, nach eigenen Möglichkeiten in ihre Heimatländer zurückzukehren, einfach aus“, berichtet Rita Robles. Für einen Großteil der Migrant*innen ist eine Rückkehr jedoch unmöglich. Sie sind nun obdachlos und leben auf den Straßen in den Grenzstädten Tenosique und Tapachula. Auch dort nimmt die diskriminierende Behandlung der Migrant*innen kein Ende: „In Tapachula wurden öffentliche Plätze, wo sie zuvor übernachtet hatten, abgesperrt. Die Migrant*innen werden von allen staatlichen Instanzen ausgestoßen“, stellt Rita Robles bedauernd fest.

In den vergangenen zehn Jahren hat die zivilgesellschaftliche Mobilisierung gegen die humanitäre Notlage der Migrant*innen zugenommen. NRO und kirchliche Einrichtungen bilden mittlerweile ein wichtiges Gegengewicht zur restriktiven Migrationspolitik. Trotz knapper Ressourcen und unter Androhung von Repressalien seitens der Regierung, stellen sie autonome Infrastrukturen für alternative Hilfsmechanismen bereit. Mitarbeiter*innen von Voces Mesoamericanas oder Fray Matías Córdova sind kontinuierlich an den Grenzübergängen im Süden des Landes präsent, um die Arbeit des INM zu kontrollieren. Außerdem versorgen sie die Ankommenden medizinisch und bieten ihnen Rechtsbeistand an. Nach Bedarf organisieren sie die Überführung bedürftiger Menschen in alternative Unterkünfte wie in das La 72, um sie so vor einer Inhaftierung in den staatlichen Einrichtungen zu bewahren.

Gabriel Romero von La 72 hat viele Fragen an die Regierung. Für ihn besteht kein tragfähiger Grund, Migrant*innen zu registrieren und sie in Mexiko festzuhalten: „Die meisten Ankommenden wollen ja gar nicht bleiben, sondern weiter gen Norden in die USA. Daran werden sie bereits an der Südgrenze des Landes, zur Freude des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, gehindert”, meint Gabriel Romero. Er verweist auf das Treffen zwischen López Obrador und Trump am 8. Juli 2020 in Washington, zur Feier des nordamerikanischen Freihandelsabkommens USMCA (zuvor NAFTA), das seit dem 1. Juli in Kraft ist. Trump soll sich zuvor beim mexikanischen Präsidenten bedankt haben, „27.000 Soldaten an der Südgrenze Mexikos stationiert und dadurch die Migration aufgehalten“ zu haben. Tatsächlich sind laut dem mexikanischen Verteidigungsminister Luis Sandoval 6.500 Soldaten an der Südgrenze Mexikos im Einsatz. Gabriel Romero erklärt, dass Trump bereits 2018 den neu gewählten Präsidenten Mexikos gewarnt hatte, dass der Freihandel mit Mexiko nur weiterginge, wenn das Land den Migrationsstrom an seiner Nordgrenze „in den Griff“ bekäme. Trumps populistisches Vorhaben, eine Grenzmauer zwischen den Ländern erbauen zu lassen, habe sich nun dank der brutalen Migrationspolitik Mexikos erübrigt, so Gabriel Romero.

Trotz allem prognostizieren Rita Robles, Aldo Ledón und Fray Gabriel Romero einen massiven Anstieg der Migrationszahlen in absehbarer Zeit. Menschen würden aus existenzieller Not ihre Heimat verlassen, um in den Norden zu emigrieren. Für Aldo Ledón gleicht der Kampf um Menschenrechte in Mexiko einem Teufelskreis. Es sei klar, dass die Arbeit der Aktivist*innen keine reale Chance habe gegen die Regierungsmacht und ihre diskriminierende Migrationspolitik anzukommen. „Wir wissen, dass wir diesen Kampf nicht gewinnen können. Das was uns antreibt ist das Prinzip, so wenig wie möglich zu verlieren.”

BELASTUNGSPROBE FÜR DIE NACHBARSCHAFTLICHE SOLIDARITÄT

Solidarität in Krisenzeiten: Noch unterstützt die Stadtverwaltung die Geflüchteten (Foto: Victor Sánchez)

„Ich bin seit inzwischen zwei Jahren mit meiner Tochter in Kolumbien. Wir sind hier gut aufgenommen worden, die Leute sind hilfsbereit. In Venezuela ist das Geld nichts mehr wert, hier hingegen gibt es Möglichkeiten. Wir leben in einer Unterkunft, für die ich 7.000 Peso (rund 1,61 Euro) täglich bezahle.“ So wie die 24-jährige junge Mutter kommen viele Venezolaner*innen, die im Zuge der Migrationskrise nach Kolumbien ausgewandert sind, in sogenannten pagadiarios unter. Das sind einfache private Unterkünfte, die auf Tagesbasis an Migrant*innen vermietet werden. Diese verdienen ihr Geld vor allem als fliegende Händler*innen auf der Straße. In Zeiten von Corona und den damit einhergehenden Ausgangsbeschränkungen fallen diese Tätigkeiten als Einnahmequelle jedoch weitgehend aus. In der Folge können die Menschen ihre Tagesmiete nicht mehr aufbringen und verlieren schnell ihr Dach über dem Kopf. „Es handelt sich um Menschen, die von einem Tag auf den anderen leben und von ihrer Arbeit auch etwas Geld nach Hause schicken“, sagt Francine Howard von der Organisation Asociación Unidos por Venezuela. „Sie arbeiten im informellen Sektor und können derzeit kaum ihre Familie ernähren.“

Die wegen der Corona-Pandemie weitgehend eingeschränkte Freizügigkeit trifft die venezolanischen Migrant*innen hart. Diese konnten sich noch bis vor kurzem dank der Politik der offenen Grenzen der kolumbianischen Regierung weitgehend ungehindert zwischen den beiden Ländern bewegen. „Ohne die Möglichkeit, uns in Kolumbien mit Nahrungsmitteln zu versorgen, hätten wir es sehr viel schwerer“, berichtet eine ältere Frau aus Venezuela.

„Wir sind hier gut aufgenommen worden“

Die offene Grenze war in den vergangenen Monaten wegen der prekären Versorgungslage in Venezuela für viele Venezolaner*innen zur Lebensader geworden. Bis zu 50.000 Personen sollen sie täglich überquert haben. Diese Zeiten sind vorerst passé. Am 13. März verfügte die kolumbianische Regierung die Grenzschließung für zwei Monate. Was für Schmugglerbanden einen Glücksfall darstellt, ist eine Katastrophe für diejenigen, deren Familien oder Einkommensquellen sich beidseitig der Grenze befinden. Denn der länderübergreifende Verkehr ist nicht völlig zum Erliegen gekommen. Jenseits der offiziellen Übergänge existieren entlang des 2.200 Kilometer langen Grenzstreifens geschätzt rund 150 Schleichpfade, trochas genannt. Diese werden von kriminellen Banden und bewaffneten Gruppen kontrolliert. Neben Menschen wechseln auch geschmuggelte Waren die Seiten: günstiges Benzin von Venezuela nach Kolumbien im Gegenzug für allerlei Waren des täglichen Bedarfs.

Die Durchlässigkeit der Grenze hat es möglich gemacht, dass sich etwa die Hälfte der Venezolaner*innen ohne reguläre Aufenthaltsgenehmigung dort aufhalten. Auch wenn die Coronakrise den Aderlass Venezuelas aktuell ein wenig bremsen dürfte, stiegen die Zahlen derjenigen Venezolaner*innen, die das Land verließen, bis vor kurzem weiter stark an. Ende 2019 lag deren Zahl in Kolumbien bei 1,6 Millionen, 2016 waren es noch rund 50.000. Insgesamt sollen mindestens 4,5 Millionen Menschen Venezuela seit der Regierungsübernahme durch Nicolás Maduro 2013 verlassen haben.

Kolumbien ist bisher eher Auswanderungs- denn Einwanderungsland. Es verfügt entsprechend über wenig Unterstützungsangebote für Zuwander*innen. Nationale und internationale Hilfsorganisationen versorgen die Menschen lediglich mit dem Nötigsten. Dass es für Migrant*innen wenig Ressourcen und Angebote gibt, liegt auch daran, dass die kolumbianische Gesellschaft, mit über 6 Millionen internen Vertriebenen infolge des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts zwischen dem Militär und der FARC-Guerilla, bereits stark belastet ist. Daran hat das Friedensabkommen von 2016 bisher wenig geändert. Hinzu kommt die schwierige materielle Situation: Über ein Viertel der Bevölkerung in Kolumbien lebt in Armut und muss täglich zusehen, wie es über die Runden kommt.

Gegen den Hunger: Noch unterstützt die bogotanische Stadtverwaltung die Geflüchteten (Foto: Victor Sánchez)

Die öffentliche Infrastruktur mit sozialen Angeboten ist begrenzt. Angebote wie das des Centro Abrazar der Stadtverwaltung Bogotá sind selten. Hier können Eltern ihre Kinder tagsüber betreuen lassen, um sich in der Zeit um den Lebensunterhalt der Familie kümmern zu können. Auch wenn das Angebot allen Kindern offensteht, besuchen vor allem kleine Venezolaner*innen das Centro Abrazar. Víctor Sánchez ist einer der Pädagogen des Zentrums und kennt die Lage und die alltäglichen Herausforderungen der Migrant*innen gut. Für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung sei es vor allem schwierig, Zugang zu Gesundheit und Bildung zu erlangen. Sofern es sich nicht um einen Notfall handele, würden diese Leute an den Türen der Arztpraxen und Krankenhäuser zurückgewiesen.

Dünn ist auch das Angebot an Verdienstmöglichkeiten. Laut Sánchez konkurrieren Migrant*innen und mittellose Kolumbianer*innen in prekären informellen Arbeitsverhältnissen direkt miteinander. So habe die Zahl fliegender Händler*innen in Bussen, Straßenverkäufer*innen und Müllsammler*innen spürbar zugenommen. Es finden sich vermehrt Venezolaner*innen in der Prostitution, dem Drogenhandel oder etwa auch in der Kokaernte wieder. „Ein nicht unerheblicher Teil der Einnahmen verbleibt nicht in der informellen Ökonomie des Landes, sondern wird als Unterstützungsleistung an Familie und Freunde in Venezuela gesandt.“ Migrant*innen würden ihre Arbeitskraft außerdem im Gast- und Baugewerbe oder in der Landwirtschaft verkaufen und dies in der Regel unter dem üblichen Lohnniveau der Einheimischen. Der gesetzliche Mindestlohn fände selten Beachtung. Eine Folge des vermehrten Zuzugs von Venezolaner*innen sei aber auch, dass sich die Mietpreise in den Städten verteuerten. Denn manche Kolumbianer*innen ziehen es vor, Wohnungen oder Zimmer als pagadiarios an Neuankömmlinge zu vermieten – oft zu unverhältnismäßigen Preisen. „All diese Entwicklungen bekommen auch die armen Kolumbianer*innen zu spüren“, sagt Sánchez.

Die eingeschränkte Freizügigkeit trifft die venezolanischen Migrant*innen hart

Die prekären Verhältnisse gehen in nicht wenigen Fällen auch zu Lasten der Kinder. Diesen bleiben Bildungs- und altersgemäße Entwicklungsmöglichkeiten versagt, etwa wenn sich Eltern veranlasst sehen, ihre Kinder in den täglichen Brotverdienst miteinzuspannen. Anstatt ihre Kinder das pädagogische Angebot im Centro Abrazar nutzen zu lassen, nehmen manche Eltern diese mit, um beim Straßenverkauf ihre Einnahmen zu steigern. „Ohne den ‚Mitleidsfaktor‘ verdienen sie um die 40.000 Pesos (etwa 9,22 Euro) am Tag, mit Kindern auf dem Arm können die Einnahmen auf rund 120.000 steigen“, behauptet Sánchez. Manche Eltern würden ihre Kinder gar gegen Geld an andere „vermieten“.

Die kolumbianische Bevölkerung ist gespalten in ihrer Bewertung der Situation: Solidarität und die Betonung der Einheit beider Länder kontrastieren mit Schuldzuweisungen und der Ablehnung der offenen Grenzpolitik. Meinungsumfragen zeigen, dass die anfänglich überwiegend solidarische Haltung zunehmend kippt. Xenophobe Äußerungen und sogar Gewalt gegen Venezolaner*innen sind immer öfter an der Tagesordnung. Die sozialen Schieflagen des Landes werden dabei zunehmend den Migrant*innen angekreidet. „Die Venezolaner*innen kommen hierher und nehmen uns Kolumbianer*innen die Jobs weg. Sie sind verwöhnt, weil sie in Venezuela fast alles umsonst bekamen. Sie verkaufen Drogen, die Frauen gehen auf den Strich. Manche Stadtteile sind inzwischen so gefährlich, dass niemand sich mehr hinein traut“, sagt ein puerta a puerta-Fahrer, ein Privatfahrer, der Passagiere bis zu einem vereinbarten Ziel befördert. Er drückt damit eine pauschalisierend-ablehnende Haltung aus, wie sie inzwischen immer öfter zu hören ist.

Trotz wachsender Spannungen äußern sich viele Venezolaner*innen jedoch weiterhin positiv über die Unterstützungsbereitschaft der Menschen in Kolumbien. Man ginge meist fair mit ihnen um und werde respektiert, hört man in Gesprächen oft heraus. Ob die Solidarität auch während der Coronakrise anhalten und diese überdauern wird, lässt sich kaum vorhersagen.

DER DEHNBARE BEGRIFF DER (UN-)FREIWILLIGKEIT

Ana Jardón Hernández forscht zu Migrant*innen, die aus den USA nach Mexiko zurückkehren mussten. (Foto: Universidad Autónoma del Estado de México)

Ihre Forschung beschäftigt sich mit dem Phänomen der zurückgekehrten Migrant*innen (migrantes retornados/as). Was impliziert dieser Begriff für Sie?
Das Konzept wird in der Migrationsforschung noch immer diskutiert, weil es keine klare Definition gibt, wann man von zurückgekehrten Migrant*innen spricht. Der Zeitraum, den jemand im Ausland verbracht haben muss, um als zurückgekehrt zu gelten, ist nicht klar benannt. Manche sind nur ein halbes Jahr im Ausland gewesen und versuchen nach der Abschiebung, sofort wieder zu migrieren. Dann wird in der Forschung noch die Frage nach den Motiven diskutiert und schließlich kommen wir zur Frage nach den Rückkehrbedingungen. Hierbei unterscheiden wir zwischen der freiwilligen und der erzwungenen Rückkehr, wobei in die letztgenannte Kategorie die Abschiebung fällt.

Was sind die größten Herausforderungen für die, die unfreiwillig aus den USA zurückkehren?
Nun, mit dem Konzept der Freiwilligkeit hab ich mich in letzter Zeit viel beschäftigt. Es gibt die, die abgeschoben werden und jene, die selbst die Entscheidung zur Rückkehr fällen. Aber auch sie tun dies oft nicht freiwillig, sondern weil sie sich aus ökonomischen, politischen und sozialen Gründen dazu gezwungen sehen. Die Begriffe von Freiwilligkeit und Zwang in Bezug zur Rückkehr sind also weit gefasst.

Besonders herausfordernd ist die Situation für jene, die abgeschoben werden. Einige von ihnen verbrachten ein halbes Jahr, andere zwanzig Jahre in den Vereinigten Staaten. Es gelingt ihnen nicht immer, wieder Fuß zu fassen an dem Ort, an den sie zurückkehren. Vielleicht weil die Familie sie nicht mehr akzeptiert, da sie sich in der langen Zeit im Ausland andere Umgangsformen angewöhnt haben oder einfach, weil die emotionale Distanz zu groß geworden ist. Das Land, in das sie zurückkehren, hat sich auch verändert.

Manche haben zudem Gesundheitsprobleme physischer oder psychischer Art. Letztere stehen häufig in Zusammenhang mit der Abschiebung und der Art, wie sie als Rückkehrer*innen aufgenommen werden. Denn es heißt, sie würden „mit offenen Armen“ (brazos abiertos lautet der Name des mexikanischen Regierungsprogramms für Zurückgekehrte) aufgenommen und unterstützt werden, aber diese Versprechen werden nicht gehalten, weil es nicht genügend Budget dafür gibt. Eine weitere Herausforderung zeigt sich in Bildungsfragen betreffend der minderjährigen Kinder von deportierten Migrant*innen. Viele von ihnen sprechen kein Spanisch, sie wurden US-amerikanisch sozialisiert und erleben hier Diskriminierung, das sogenannte bullying. Dann ist natürlich die Wohnungsfrage ein Problem, manche sind obdachlos und haben sich verschuldet, um den coyote (Anm. d. Red.: Schlepper) zu bezahlen. Eines meiner Hauptanliegen ist die Arbeitsproblematik. Viele der Betroffenen haben in Mexiko prekär gelebt, gehen in die USA, wo sich die Situation kaum verbessert, kommen zurück und arbeiten hier wieder prekär. Was sind ihre Strategien, um an ein Einkommen zu gelangen? Für viele ist es die Selbständigkeit im informellen Sektor, die ihnen jedoch kein stabiles Einkommen garantiert.

Sie arbeiten auch mit Migrant*innen in Chicago, die darüber nachdenken, nach Mexiko zurückzukehren. Was können Sie darüber berichten?
Ich bin über einen abgeschobenen Migranten, den ich im Zuge meiner Feldforschung in einem Dorf im Estado de México interviewt habe, mit einer Familie in Chicago in Kontakt gekommen. Wir haben zuerst über Skype telefoniert und so eine Beziehung aufgebaut und dann haben sie mich schließlich nach Chicago eingeladen. Dort habe ich mich mit einer Gruppe von Migrant*innen getroffen. Sie eint das, was ich die „Hoffnung auf Rückkehr“ nenne. Ob es dazu kommen wird, ist ungewiss, vor allem da es sich um Personen handelt, die schon seit Langem in den USA wohnen. Ich kenne ihre Migrationsgeschichten und sie unterscheiden sich von denen anderer Migrant*innen.

Es ist ihnen gelungen, sich etwas aufzubauen, sie haben trotz ihres undokumentierten Status eine Arbeit gefunden, in der sie mehr als den Mindestlohn verdienen, sie sprechen Englisch, sie kommen in den USA gut zurecht. Dennoch haben sie die Hoffnung, nach Mexiko zurückzukehren. Das kommt nicht von ungefähr. Sie werden nicht eines Morgens wach und denken sich: „Ah, ich will nach Mexiko zurück.“ Nein, die Idee zur Rückkehr entwickelten sie aufgrund des xenophoben Diskurses von Donald Trump. Als sie zu realisieren begannen, dass das, was im Jahr 2008 passiert ist, wieder passieren kann. Damals war – wie meine Interviewpartner*innen sagen – die migra (die us-amerikanische Migrationsbehörde) sehr präsent und es wurden viele Menschen abgeschoben. Und jetzt mit Trump passiert dasselbe, es gibt verstärkte Razzien in den Städten, in denen viele mexikanische und zentralamerikanische Migrant*innen leben. Deshalb beginnen diese undokumentierten Migrant*innen, ihre Situation zu reflektieren.

Es ist ein Tabu, sie wollen es nicht offen aussprechen, aber sie beginnen, sich auf die Situation einer Abschiebung vorzubereiten. Denn sie wollen nicht als gescheiterte Abgeschobene zurückkehren, sie wollen ein Ziel haben, das ihr eigenes Leben und das der zurückgebliebenen Familien in Mexiko verbessert. Sie haben das Bedürfnis, anderen zu helfen und Arbeitsplätze zu schaffen. Sie wollen nicht mit leeren Händen zurückkommen.

Ich sehe meine Forschung hier aus menschlicher Perspektive. Es geht nicht nur um Methoden und Studien, sondern ich möchte diese Personen auch wirklich bei der Entwicklung ihrer Projekte unterstützen und ihnen mein Wissen dabei zur Verfügung stellen.

VERSCHLOSSENE ARME

„Willkommen in Mexiko“ Hinter der Grenze wartet auf die Menschen eine oft ausweglose Situation (Foto: Joachim Pietsch via wikimedia.org, CC BY-SA 2.0)

Die Drohungen Donald Trumps, Exporte aus Mexiko mit hohen Zöllen zu belegen, falls die Regierung nicht radikale Maßnahmen gegen die Migrant*innen an der Südgrenze ergreift, zeigten ab Mitte des vergangenen Jahres Wirkung. Heute erfüllen die am südlichen Grenzfluss Suchiate stationierten Einsatzkräfte der Nationalgarde die Funktion der Mauer aus Beton und Stahl an der Nordgrenze. Ein knappes Drittel der Soldat*innen der Einheit ist damit beschäftigt, Migrant*innen zu kontrollieren. Aus Sicht der USA scheinbar so erfolgreich, dass es zuletzt wahre Lobeshymnen aus Washington gab. So pries der Chef der Customs and Border Protection (CBP), Mark Morgan, die Nationalgarde und die mexikanische Einwanderungsbehörde (INM) dafür, Migrant*innen auf „professionelle und humane“ Art aufzuhalten und diejenigen, die daran festhielten in die USA zu kommen, „zu repatriieren“. US-Außenminister Mike Pompeo nannte Mexiko einen „großartigen Partner in dieser Angelegenheit“.

62.000 Asylsuchende von USA zurückgeschickt

Auf der guatemaltekischen Seite der Grenze sammeln sich die Migrant*innen in der Stadt Tecún Umán. Sie warten dort auf eine günstige Gelegenheit, den Grenzfluss Suchiate zu überqueren. Gelingt ihnen dies, werden sie im mexikanischen Bundesstaat Chiapas in Zwangsunterkünften untergebracht. Berühmt-berüchtigt ist die völlig überlastete Unterkunft Siglo XXI. Besonders von dort werden immer wieder menschenunwürdige Bedingungen gemeldet. Dies betrifft auch Migrant*innen aus nicht-mittelamerikanischen Ländern: Anfang Februar deportierte Mexiko gleich 120 Haitianer*innen, die monatelang in der Unterkunft Siglo XXI auf die Bearbeitung ihrer Bleiberechtsanträge gewartet hatten.
Es gibt zwar Möglichkeiten für die Migrant*innen, einen Flüchtlingsstatus in Mexiko und eine begrenzte Arbeitserlaubnis zu erhalten. Dafür muss sich ein*e Migrant*in jedoch ausweisen können und registrieren lassen. Solange der Fall bearbeitet wird, darf die Person Chiapas nicht verlassen. Dieses Vorgehen geht insofern an den Lebensumständen der Betroffenen vorbei, als dass der Großteil der Migrant*innen den Río Suchiate ohne Papiere über- oder durchquert. Für die überwiegende Mehrheit der Ankommenden ist zudem klar: Das Ziel ist und bleibt die USA.

Euphemismus der „begleiteten Rückkehr“

Währenddessen beschönigen die staatlichen Stellen die neue Einwanderungspolitik Mexikos. Euphemistisch ist von „begleiteter Rückkehr“ die Rede. Faktisch handelt es sich dabei um Abschiebungen, auch wenn viele Geflüchtete angesichts der ausweglosen Situation in Mexiko „freiwillig“ dazu bereit sind. Im Januar deportierten die mexikanischen Behörden auf diese Art innerhalb von drei Tagen mehr als 1.000 aus Honduras stammende Migrant*innen. Die gewaltsame Auflösung der „Karawane der Verzweiflung” bezeichnete die Regierung als „humanitäre Rettungsmaßnahme“. Gleichzeitig testete die Einwanderungsbehörde das politische Klima, indem sie Kirchen- und Menschenrechtsorganisationen in einer offiziellen Mitteilung „vorübergehend“ den Zugang zu den Auffangunterkünften verweigerte. Allerdings war der Protest so groß, dass Innenministerin Olga Sánchez die Maßnahme umgehend rückgängig machte.

Die Südgrenze Mexikos ist ohne die Nordgrenze nicht zu denken. Seit einem Jahr werden in den USA die sogenannten Schutzprotokolle für Migrant*innen angewandt. Asylbewerber*innen, die es bis in die USA geschafft haben, werden während des Verfahrens nach Mexiko zurückgeschickt. Mexiko hat das angesichts der Trumpschen Strafzollandrohungen „aus humanitären Gründen“ akzeptiert und nimmt nun faktisch die Position eines „sicheren Drittlandes“ ein. Das Programm ist als „Quédate en México“ („Bleib in Mexiko”) bekannt. Bis zum 31. Dezember 2019 schickten die USA 62.000 Asylsuchende über Mexikos Nordgrenze zurück. Nur 111 Fälle wurden von den USA anerkannt. Stolz verkündete der mexikanische Außenminister Marcel Ebrard vor kurzem, der „Migrationsstrom“ aus Mittelamerika sei seitdem um drei Viertel zurückgegangen.

Der Altpolitiker Porfirio Muñoz Ledo ist einer der wenigen Abgeordneten der mexikanischen Regierungspartei Morena, der schonungslose Kritik übt und die Erfolgsmeldungen der Regierung zum Rückgang der Migrant*innenzahlen als „Horror“ bezeichnet. Die Situation in Tapachula an der guatemaltekisch-mexikanischen Grenze sei „ein Panorama von Desaster, Scheinheiligkeit und Falschheit“.

DAS LEBEN IST KEIN FREIZEITPARK

© Octavio Arauz

“We want to go Disney – one ticket please!“ schreien Max und Leo immer und immer wieder und stören damit Lucías Schlaf. Ihre Mutter ist müde, weil sie wie so oft die Nacht durchgearbeitet hat. Die 8 und 5 Jahre alten Brüder haben ein berechtigtes Anliegen: Wenn sie Englisch sprechen, das hat Lucía ihnen versprochen, dann fahren sie endlich alle zusammen nach Disneyland. Doch ihre Mutter kann den Wunsch nicht erfüllen, weil sie weder Zeit noch Geld hat. Allmählich wird den Beiden klar: Obwohl sie die Sprache mittlerweile ein bisschen können, wird sich ihr Wunsch so schnell nicht erfüllen.

Die Einzimmerwohnung der kleinen Familie im US-amerikanischen Albuquerque, New Mexico (bekannt aus der Erfolgsserie Breaking Bad) grenzt die Welt, in der sich Los Lobos („Die Wölfe“), der zweite Berlinale-Beitrag des mexikanischen Regisseurs Samuel Kishi Leopo abspielt, weitgehend ein. Wenig ist bekannt von der Vorgeschichte der Drei in Mexiko. Der Vater, ein Polizist, hat die Familie schon lange verlassen (die Kinder haben keine Erinnerungen mehr an ihn), sodass sich Lucía ohne viel Geld, Gepäck und Englischkenntnisse mit Max und Leo auf die Reise in die USA gemacht hat. Vorgeblich ist es ein Tourismus-Trip nach – richtig – Disneyland, tatsächlich hat Lucía nicht vor, nach Mexiko zurückzukehren. Im neuen Land aber läuft zunächst alles ganz und gar nicht so glamourös, wie sich zumindest die Kinder das ausgemalt haben. Die Wohnung ist klein, hat keine Möbel und ist zu Beginn sehr schmutzig. Ihre Mutter muss viel arbeiten und ist deshalb oft müde und gestresst, das Geld ist knapp. In eine Schule können die beiden als illegale Migranten auch noch nicht gehen. Und zu allem Überfluss müssen sie sieben strenge Hausregeln beachten: So sollen sie zum Beispiel unter keinen Umständen vor die Tür gehen, weil das Viertel, in dem sie untergebracht sind, dafür zu gefährlich ist. „Ihr seid starke Wölfe. Ihr weint nicht, sondern beißt und verteidigt euer Zuhause“, schärft Lucía ihren Söhnen ein. Doch sie selbst ist zu oft und zu lange außer Haus, als dass vor allem der ältere Max sich auf Dauer mit einer Fantasiewelt aus Cartoons und Spielen zu zweit zufriedengeben würde.

Regisseur Leopo hat Los Lobos aus autobiografischen Erlebnissen konstruiert und für den Film fiktionale und dokumentarische Elemente vermischt. Herausgekommen ist eine einfühlsame Migrations- und Familiengeschichte, die allerdings ihre Längen hat und einige Zeit braucht, bis sie richtig in die Gänge kommt. Die guten schauspielerischen Leistungen trösten darüber jedoch meist hinweg. Stark ist vor allem Martha Reyes Arias als liebevolle, aber überforderte Mutter. Los Lobos ist zwar offenkundig nicht in der Aktualität verortet (ein Handy würde viele Probleme im Film schnell lösen), zeigt jedoch einige zeitlose Probleme für (illegale) Migrant*innen auf und macht deren oft prekäre Lebensverhältnisse auch für Kinder gut versteh- und erfahrbar. Der Film läuft auf der Berlinale im Kinderprogramm Generation Kplus und ist ab 9 Jahren empfohlen.

Los Lobos // Samuel Kishi Leopo // Mexiko 2019 // 94 Minuten // Europäische Premiere // Generation Kplus

Link zum Trailer

 

Spielzeiten auf der Berlinale
Montag, 24.02.10:00, Urania
Dienstag, 25.02.14:00, Zoo Palast 2
Mittwoch, 26.02.09:30, Filmtheater am Friedrichshain
Donnerstag, 27.02. 14:00, Cubix 8
Sonntag, 01.03. 14:00, CinemaxX 1

Deutsch eingesprochen | Kopfhörer für OV

VOM „DRECKSLOCH“ ZUM „SICHEREN DRITTSTAAT“

Botschaft am Grenzzaun von Tijuana „Kein Hindernis kann uns daran hindern, unsere Träume zu erreichen; wir sind Mexikaner und nicht aufzuhalten“ (Foto: Wolf-Dieter Vogel)

Während des mexikanischen Herbstes der Migration vergangenen Jahres standen nicht etwa die Gewalt der organisierten Kriminalität, nicht die von extraktivistischen Projekten ausgelösten Vertreibungen, nicht die von einer strukturellen Armut gebeutelte Bevölkerung im Fokus der Öffentlichkeit. Stattdessen hat der zur Angst konvertierte Rassismus und die mediale und politische Scharfmacherei in den USA die Debatte bestimmt. Weil sich in sogenannten Karawanen von Migrant*innen (Caravanes Migrantes) tausende Menschen aus Zentralamerika gemeinsam auf den Weg gen Norden machten, gab sich der US-amerikanische Präsident Trump aggressiv, drohte und schickte das Militär an die Südgrenze des Landes. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen teilte mit, dass am 19. und 20. Oktober vergangenen Jahres 7.233 Personen aus Guatemala, Honduras und El Salvador registriert wurden, die nach der mexikanischen Grenzbrücke Rodolfo Robles über den Fluss Suchiate eine Regierungsstelle für die Erstversorgung von Migrant*innen aufsuchten. Ein Großteil von ihnen begab sich anschließend auf den Weg durch Mexiko. Es fehlten noch immer tausend Kilometer zur US-Grenze. Trump kündigte an, 5.200 weitere Soldaten an die Grenze zu schicken – zusätzlich zu den bereits stationierten 2.092. Die Größe der ersten, von den Medien so breit rezipierten Karawane ließ sich zu diesem Zeitpunkt auf ungefähr 3.500 Menschen schätzen. Darunter 2.300 Kinder.
Fast zeitgleich kam eine zweite Karawane an die guatemaltekisch-mexikanische Grenze, knapp 2.000 Menschen aus Honduras. Auch aus El Salvador hatten sich mindestens 200 Personen auf den Weg Richtung Mexiko gemacht. Der offizielle Grenzübergang bei Tecún Umán wurde, wie zu erwarten war, auf mexikanischer Seite gesperrt . Die Bundespolizei schoss, obwohl sie es verneinte, mit Gummigeschossen auf die Verzweifelten. Henry Adalid Días Reyes wurde unterhalb des rechten Auges getroffen und starb.
Zwischen Guatemala und Mexiko verläuft der Grenzfluss Suchiate. Viele Migrant*innen versuchen immer wieder den Weg über den Fluss. Was dann passierte ist nur schwer an Maßnahmen der Verachtung für diese Menschen zu übertrumpfen. Die mexikanische Bundespolizei entsandte einen Helikopter, der mit den Rotorblättern die Menschen am Durchschwimmen hinderte. Kaltblütig wurde in Kauf genommen, dass hierbei Menschen, darunter viele Kinder, hätten ertrinken können.

Administrativer Irrsinn

Fast 2.500 Kilometer nördlich, an der Grenze zu den USA, wurde die mexikanische Polizei am Grenzübergang von Tijuana von den Migrant*innen der ersten Karawane ausgetrickst. Sie sprangen über Mauern und durchliefen einen Kanal, abseits des normalen Grenzübergangs. Auf ihren Versuch, die Grenze illegal zu überqueren, wurde mit Gummigeschossen und Tränengas seitens der US-Border Patrol geantwortet. Trump sagte zwei Wochen zuvor, während einer Pressekonferenz: „Wenn sie Steine auf uns werfen, wird unser Militär zurückschlagen. Wir werden die Steine als Waffe betrachten.“ Er zeigte damit, dass auf den rhetorischen Wahnsinn auch menschenfeindliche Akte folgen.
Mexikanische Behörden behaupteten zwar, es gäbe keine Verletzten, was allerdings die USA-Korrespondentin für TeleSur, Alina Duarte, auf ihrer Facebook-Seite dementierte: „Babies und Kinder, die wegen des Tränengases weinten. Frauen, die von den Gummigeschossen verletzt wurden. Mexikanische Bundespolizisten, die auf die Migrant*innen einschlugen. Vor allem aber sah ich Leute, die, wissend dass sie sterben könnten, weiterhin die Grenze zu überqueren versuchten.” Wenn die Not und die Verzweiflung der Antrieb sind, dann schreckt auch die militärisch stärkste Nation der Welt nicht ab.
Während sich die Augen der Welt damals auf die US-mexikanische Grenze konzentrierten, war mit Blick auf die mexikanische Südgrenze ersichtlich, dass sich dort auch zukünftig die Kristallisationspunkte einer verschobenen US-Grenzpolitik und dem Exodus aus Mittelamerika etablieren würden. Denn der Exodus würde weitergehen. Das verdeutlichten schon damals nicht nur die zwei, drei, vier Karawanen, die inzwischen kleiner wurden. Vielmehr zeigt es sich an der Menge der Menschen, die bisher medial und politisch meist unbemerkt fliehen. Von Januar bis September 2018 haben mexikanische Behörden 41.759 Menschen aus Honduras aufgegriffen; zusätzlich zu 9.503 aus El Salvador und 36.708 aus Guatemala. Abgeschoben wurden über 78.000. Und es ist noch lange nicht vorbei. Das ist auch der US-Regierung bewusst. Folglich vollzog sie einen schärferen Kurs in ihrem Migrationsregime und handelte mit Guatemala im Juli, El Salvador Mitte September und Honduras Ende September dieses Jahres Abkommen über eine sogenannte sichere Drittstaaten-Regelung aus. In allen drei Ländern wird zur Zeit heftige Kritik an der neuen Regierungsvereinbarung geübt, die zwar zwischen den Ländern bereits vertraglich festgehalten worden ist, von den gesetzgebenden Instanzen aber noch angenommen werden muss.
Das Konzept des sicheren Drittstaates sagt aus, dass, wenn eine Person ihr Heimatland verlässt, um in einem anderen Land Asyl zu beantragen, sich dieses zweite Land dem widersetzen und die Person stattdessen an einen dritten Staat weiter leiten kann, der als sicher verstanden wird. Zur Folge haben könnte dies, dass eine Honduranerin, die in den USA einen Asylantrag stellen will, an Guatemala oder El Salvador verwiesen wird, die als „sicher“ gelten. An sich grenzt die Regelung an einen administrativen Irrsinn, da aus allen drei „sicheren Drittstaaten“ die Menschen zuhauf fliehen. Gleichzeitig sind die Migrationspolitiken der letzten Jahrzehnte keineswegs dafür bekannt, zugunsten der fliehenden Menschen erarbeitet worden zu sein, sondern um die eigene restriktive Immigrationspolitik zu verschärfen. Nicht verwunderlich also, dass sich Donald Trump nun mit scheinheiliger Wertschätzung an seinen salvadorianischen Amtskollegen wendet.

Über 10.000 Soldat*innen sichern Mexikos Südgrenze

Diejenigen, die sich von der Regelung nicht abschrecken lassen und sich dennoch auf den Weg machen, treffen an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko seit Juni 2019 auf eine militarisierte Zone. Über 10.000 Soldat*innen hat Präsident Andrés Manuel López Obrador in den Süden seines Landes geschickt – und zollte damit seinem nördlichen Nachbarn Tribut, damit er nicht, wie zuvor angedroht, höhere Zöllen auf mexikanische Produkte erhob.
Sollte es dennoch Mittelamerikaner*innen geben, die all die tödlichen Strapazen der Reise überwinden und vor den Toren der USA stehen, dann warten an der über 3000 km langen Grenze, laut Trump, an die 27.000 Militärs, die López Obrador geschickt habe. Nicht umsonst frohlockte Scharfmacher Trump Ende Oktober und gab vor einigen Journalist*innen bekannt, was allen klar war: „Ich benutze Mexiko, um unsere Grenze zu sichern.“ Nebst der militärischen Drohung wartet seit Jahresanfang auch eine neue administrative Hürde auf die Schutzsuchenden. Die Verordnung (Migrant Protection Protocol) dient dazu, dass Personen, die aus Mexiko in die USA einreisen wollen und über keine ausreichenden Dokumente verfügen, in Mexiko auf die Bearbeitung ihres Antrags warten müssen. Der Theorie nach, so das US-Department for Homeland-Security, „wird Mexiko ihnen einen angemessenen humanitären Schutz während ihres Wartens gewähren.“ Diese Zusicherung sind die elektronischen Bytes nicht wert, mit denen sie auf der Internetseite zu lesen sind, bedenkt man die Gewalt- und vor allem Mordrate in den zwei mexikanischen Grenzstädten Tijuana und Ciudad Juárez.
Der Ausbau des Migrationsregimes zahlt sich für die Trumpsche Politik aus. Verhaftete der US-Grenzschutz noch 144.000 Menschen im Mai, waren es 82.000 im Juli und später im August nur noch 64.000, erklärte das Weiße Haus im September dieses Jahres. Dies geht zeitgleich einher mit einer höheren Zahl der Abschiebungen auf mexikanischer Seite. Bereits im Juli 2017 lag die Zahl der Abschiebungen an der Südgrenze Mexikos bei 700 pro Tag.
Wirkte in den vergangenen Jahren das Land Mexiko wie eine Mauer, aufgrund der Gefahren, denen sich die Migrant*innen zu stellen hatten, hat es sich unter dem vermeintlich linken Präsidenten López Obrador in den erweiterten US-Grenzschutz verwandelt.

 

„UNSERE KLEINE GRENZSTADT“

Tucson im Bundesstaat Arizona liegt 100 Kilometer von der Grenze zu Mexiko / Fotos: Tina Büchslbauer

Das ehemalige benediktinische Kloster Las Alitas („Die Flügel“) ist die größte Notunterkunft in Tucson für Migrant*innen aus dem Süden. Der Kirchenraum bietet Platz für Frauen* und Kinder, während in den ehemaligen Schlafräumen der Nonnen die Familien unterkommen. Räumlich ist das schöne alte Gebäude bestens für diesen Zweck geeignet, auch eine große Küche steht zur Verfügung. Das Gebäude ist nicht mehr in kirchlicher, sondern in privater Hand. Der Besitzer hat es den Catholic Community Services (CCS) bis August dieses Jahres überlassen, um dort Geflüchtete zu beherbergen. Was danach geschieht, blieb bis Redaktionsschluss unklar. Allein zwischen Februar und Mai 2019 sind um die 8.000 Menschen in Las Alitas angekommen. Ohne ehrenamtliche Arbeit wäre es nicht möglich, die Unterkunft zu betreiben. Neben zwei Angestellten von CCS arbeiten 150 freiwillige Helfer*innen im Kloster. „Ich verstehe diese Politik und diesen Rassismus nicht. Früher war das hier Mexiko, daran sollten wir uns immer erinnern. Diese Grenze ist einfach verrückt“, sagt Laurie, eine Universitätsangestellte, die hier mehrmals pro Woche in der Küche hilft.

Die Border Patrol, die nach Nine/Eleven vor Terrorismus schützen sollte, verfolgt heute Migrant*innen


Heute liegt Tucson zwar 100 Kilometer von der Grenze entfernt, fällt damit jedoch gerade noch in das Einflussgebiet der Border Patrol und ist somit offizielle Grenzstadt. Nichtregierungsorganisationen wie die ACLU (Amercian Civil Liberties Union) kritisieren den 100 Kilometer breiten Streifen an der Grenze als „verfassungsfreie Zone“. Die Border Patrol, die nach Nine/Eleven ursprünglich die USA vor Terrorist*innen schützen sollte, fokussiert ihre Arbeit hier tagtäglich nicht auf Menschen, die Gewalt ausüben, sondern auf Migrant*innen. Viele der von Armut und Gewalt betroffenen Menschen lassen sich jedoch nicht durch Mauern und Repressionen von der Migration abhalten. Täglich gelangen circa 5.000 Menschen über die südliche Grenze in die USA. Gegenwärtig kommen die meisten von ihnen aus Guatemala, Honduras oder El Salvador. In Arizona ist Tucson als zweitgrößte Stadt des Bundesstaats eine der wichtigsten Anlaufstellen, da es dort Unterkünfte wie Las Alitas gibt, in denen sich die Migrant*innen ein paar Tage ausruhen und ihre Weiterreise organisieren können.
Bestenfalls schlafen in Las Alitas täglich 200 Geflüchtete, bei Engpässen bis zu 300. Alle Ankommenden haben bereits einen Asylantrag gestellt und mussten an der Grenze eine Person angeben, von der sie nach der Ankunft in den USA finanziell unterstützt werden. Diese Person muss auch die Weiterreise (vor)finanzieren. Die Menschen werden mittlerweile von der Border Patrol und der Migrations- und Zollbehörde ICE (Immigration and Customs Enforcement) direkt in Bussen von der Grenze zum ehemaligen Kloster gefahren. Sie bringen die Menschen nicht nur vom Grenzübertritt Nogales, der Tucson am nächsten ist, sondern auch von anderen wie El Paso in Texas.

Die Unterkunft soll ein sicherer Ort sein und meist ist sie das auch


In der Regel haben die Ankommenden eine mehrwöchige Flucht hinter sich und mussten eine bis zu 72-stündige Prozedur an der Grenze durchlaufen, im Zuge derer ihre Daten aufgenommen wurden. Sie berichten von wenig und schlechtem Essen, keinen Möglichkeiten zum Duschen, Betten auf dem kalten Boden bis hin zu rassistischen Beschimpfungen seitens der Beamt*innen der Border Patrol. Aufgrund dieser Erfahrungen ist es den freiwilligen Helfer*innen wichtig, gleich eingangs zu betonen, dass Las Alitas keine Regierungseinrichtung ist und, dass von hier keine Informationen an die Migrationsbehörden weitergegeben werden. Die Unterkunft soll ein sicherer Ort sein und meist ist sie das auch. Seit Anfang des Jahres allerdings Rechtsextreme kamen, die Migrant*innen filmten und das Video mit hetzerischen Botschaften ins Netz stellten, wird der Parkplatz regelmäßig kontrolliert und die Freiwilligen achten verstärkt darauf, wer ein- und ausgeht.
Alle, die es bis nach Las Alitas geschafft haben, haben ein minderjähriges Kind bei sich. Es hat sich herumgesprochen, dass ein Kind dem Migrationsgesetz entsprechend vor einer längeren Haft an der Grenze schützt. Meist hat sich jedoch nur ein Teil der Familie auf die Flucht begeben: „Meine Frau und die anderen zwei Kinder sind in Honduras geblieben, ich habe mich nur mit der Kleinsten auf den Weg gemacht, aber wir hoffen, dass wir bald alle wieder zusammen sein können“, sagt Manuel Ruiz* und deutet auf seine dreijährige Tochter. Er gehört zu den Glücklichen, die weder von ihrem Kind getrennt wurden, noch in Haft gelandet sind und abgeschoben wurden.
Haben sich die Menschen von den Anstrengungen der Flucht erholt und sind die Tickets für die Weiterreise gebucht, bringen Helfer*innen sie zur Greyhound-Busstation in Tucson und versorgen sie mit Lunchpaketen für die Fahrt. Vielen steht eine mehrtägige Reise quer durch das ganze Land bevor. Greyhound, das größte Fernbus-Unternehmen der USA, konnte durch die Vielzahl von Migrant*innen, die mit den Bussen mit dem Windhund-Logo nun durch das Land reisen, sein Budget sanieren. Der Service ist dennoch schlecht. Zudem führt die Border Patrol Personenkontrollen in den Bussen durch, um undokumentierte Personen zu überführen und abzuschieben. Viele derer, deren Asylantrag negativ beschieden wird, bleiben als sogenannte „Undokumentierte“ in den USA, da sie keinen anderen Ausweg sehen.
Die, die es nicht in die Unterkünfte geschafft haben, werden hinter der Grenze aufgegriffen und stehen täglich im Rahmen der „Operation Streamline“ in Tucson vor Gericht. Bei der Operation handelt es sich um Schnellprozesse mit dem Zweck, möglichst viele Migrant*innen, die angeblich illegal die Grenze überschritten haben, abzuschieben. Streamline-Gerichte wurden seit 2005 an der gesamten Südgrenze der USA installiert, um die Kriminalisierung der Migration voranzutreiben. Je nach Gericht werden den Richter*innen bis zu 100 Angeklagte gleichzeitig in Hand- und Beinketten vorgeführt. Die Anklage lautet auf erstmaligen oder wiederholten illegalen Grenzübertritt. Ihnen allen werden Pflichtverteidiger*innen zur Seite gestellt, die einheitlich empfehlen, sich schuldig zu bekennen. Die Freiheitsstrafen, die den Angeklagten drohen, reichen von bis zu sechs Monaten bei einem erstmaligen Vergehen und bis zu zwei Jahren bei Wiederholung. Die Initiative End Streamline Coalition kritisiert, dass die Betreiberfirmen der privaten Gefängnisse, für die die USA bekannt sind und in denen die undokumentierten Migrant*innen landen, mit der Kriminalisierung der Migration Millionen verdienen.
An der Grenze in Nogales warten Menschen in einer kleinen Unterkunft, die von der berüchtigten Mauer gerade einmal 20 Meter Luftlinie entfernt ist, darauf, die Grenze überqueren zu dürfen. Etwa zwanzig Menschen schlafen in Stockbetten in einem stickigen Raum. Als freiwillige Helfer*innen aus Tucson zu Besuch kommen, zeigen zwei Geflüchtete aus Guatemala ihnen Fotos von erschossenen Familienangehörigen und Schusswunden, die sie sich zugezogen haben, als sie unschuldig in Bandenschießereien geraten sind. Der Mann erzählt, dass er bereits einmal illegal in die USA eingereist sei, weil er nicht so lange an der Grenze warten wollte. Diesmal sei er mit seiner Familie gekommen, um es „richtig“ zu machen und an einem offiziellen Grenzübertritt Asyl zu beantragen. Hundertprozentige Sicherheit wird ihm das aber nicht geben, denn auch manche derer, die Asyl beantragt haben, landen vor der „Operation Streamline“. Hinzu kommt die Möglichkeit, dass sein Asylantrag abgelehnt wird. Für Fälle wie diesen hat US-Präsident Donald Trump Massenabschiebungen nach Guatemala angeordnet.

Eine Stadt im Widerstand: Tucson soll erste Sanctuary City in Arizona werden


Viele Menschen in Tucson bieten der staatlichen Migrationspolitik die Stirn. Im Wohngebiet neben der Notunterkunft Las Alitas finden sich viele Schilder mit der Aufschrift „Drop the charges“. Mit der Aufforderung, die Anklagen fallen zu lassen, zeigen die Bewohner*innen ihre Solidarität mit Scott Warren, einem Aktivisten der Gruppe No More Deaths, der hierzulande zum aktuell bekanntesten Opfer staatlicher Repression gegen humanitäre Hilfsorganisationen geworden ist. No More Deaths hilft Migrant*innen, indem sie Wasserkanister, Lebensmittel und Decken in der Wüste deponiert und Erste Hilfe leistet, um sie vor dem Tod in der Wüste zu bewahren. Die Anklage gegen Warren beinhaltet unter anderem das Betreten eines Naturschutzgebietes ohne Erlaubnis. Anfang Juni wurde Scott Warren endlich freigesprochen. Nach seiner Freilassung verkündete er: „Seit ich im Januar 2018 eingesperrt wurde, sind nicht weniger als 88 Leichen in der Wüste Arizonas geborgen worden. Und was ist der Plan der Regierung angesichts dieser humanitären Krise? Eine Polizei, die undokumentierte Menschen, Geflüchtete und ihre Familien verfolgt. Und die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe, Herzlichkeit und Solidarität.“

“Humanitäre Hilfe ist nie ein Verbrechen” Viele Menschen in Tucson bieten der Migrationspolitik die Stirn / Foto: Tina Füchslbauer

Dagegen setzt sich auch die Gruppe Tucson Famlies Free & Together ein. Ihre Mitglieder fordern, dass Tucson eine sogenannte Sanctuary City wird. Das englische Wort sanctuary steht für Asyl, Schutz, aber auch für heilige Stätte und sakralen Raum. Die Sanctuary-Bewegung entstand in den 1970er und 1980er Jahren an der südlichen Grenze der USA, als immer mehr Migrant*innen aus Süd- und Mittelamerika vor (von den USA mit verursachten) Kriegen in den Norden flüchteten. Tucson spielte dabei von Beginn an eine Vorreiterrolle, indem Mitarbeiter*innen christlicher Organisationen Fluchtwege durch das ganze Land organisierten und dabei Kirchen als Schutzorte nutzten. Heute gibt es einige offizielle Sanctuary Cities in den USA, zu denen Los Angeles und New York zählen. Sie verweigern weitgehend die Zusammenarbeit mit Border Patrol und ICE und die Auslieferung undokumentierter Menschen. Die Aktivist*innen arbeiten daran, Tucson zur ersten Sanctuary City des Bundesstaats Arizonas zu machen. Diese Art des Widerstands der Menschen in Tucson ist gerade deshalb so wichtig, weil immer restriktivere Migrationspraktiken die Menschen zu gefährlicheren Fluchtwegen durch die Wüste oder über den Rio Grande an der Grenze zu Texas zwingen. Die Bemühungen der USA, Mexiko migrationsrechtlich zum „sicheren Drittstaat“ zu erklären, sind glücklicherweise bislang gescheitert. Mexikos Regierung unterstützt allerdings seit Juni dieses Jahres die USA bei der Grenzsicherung und führt verstärkt Personenkontrollen an der Grenze zu Guatemala durch, sodass bereits deutlich weniger Menschen überhaupt bis zur US-amerikanischen Grenze gelangen.
Derweil wird an der Tucson High Magnet School das Stück Our little Bordertown gespielt. Die Schüler*innen feiern darin Migrationsbewegungen und verurteilen Rassismen. Im November dieses Jahres wird in Tucsons Stadtregierung darüber abgestimmt, ob die Stadt mit 500.000 Einwohner*innen eine Sanctuary City werden soll. Mit dem Sitz einer der wichtigsten Universitäten des Bundesstaats – der University of Arizona – gilt Tucson, im Gegensatz zu Arizonas Hauptstadt Phoenix, als progressiv. Im November wird sich zeigen, wie sehr. Und, wie viele Stadtpolitiker*innen der Grenzstadt derselben Meinung wie die Schüler*innen und viele Bewohner*innen sind.

 

„FÜR EINEN INDIGENEN DAS SCHLIMMSTE, WAS PASSIEREN KANN“

Illustration: Joan Farias Luan, www.cuadernoimaginario.cl

…ich komme aus Miraflores und wuchs dort im indigenen Reservat El Gran Cumbal, in der Nähe von Pasto an der Grenze zu Ecuador auf. Unsere Nachbarn sind die Awá, die dort auch in Reservaten leben. Wir alle leiden unter einem brutalen Konflikt. Unsere Region war lange Zeit unter der Kontrolle der FARC (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens, Anm. d. Red.). Zum Friedensprozess haben einige ihre Waffen abgegeben und andere gründeten Dissidentengruppen wie die Frente Oliver Sinisterra in unserer Region. Diese kämpfte gegen die ELN (Nationale Befreiungsarmee, Anm. d. Red.) um die Vorherrschaft in unserer Region. Auch die Präsenz von Paramilitärs nahm zu. Vor allem die Awá leiden unter ihnen, viele wurden von Paramilitärs ermordet.

Worum geht es bei diesen Kämpfen?
Dabei geht es um Kokain und Gold, vor allem der illegale Bergbau ist ein Problem. Außerdem wird über die Grenze viel geschmuggelt, zum Beispiel Waffen. Es ist bei uns für einen Bauern viel rentabler, Kokain oder Mohn zu kultivieren als Kartoffeln. Doch mit dem Drogenanbau ändert sich auch das Zusammenleben. Deswegen haben wir vom Indigenen Rat immer versucht, die Leute davon abzubringen, Kokain anzubauen. Wir Indigenen wollen keinen dieser bewaffneten Akteure in unserer Region haben. Keine Paramilitärs, keine Guerilla. Die benutzen die Angst, um die Dörfer unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie töten einen oder zwei Anführer aus dem Dorf und alle folgen ihrer Herrschaft. Darum haben sie auch meine Familienmitglieder umgebracht, zwei Onkel und eine Tante.

Als wir 2003 von unserem Land vertrieben wurden, trug mein Großvater mir auf, es zu verteidigen.

Waren die auch Oberhäupter der Gemeinde?
Ja. Mein Onkel brachte jeden Tag die Milch vom Land ins Dorf, um sie dort zu verkaufen. Er war wichtig für die Wirtschaft unseres Reservats. Mein Vater war zuständig für die Bildung, er war Lehrer. Mein anderer Onkel wiederum war einer der wichtigsten Bauern und mein Großvater war der politische Anführer. Wie also bringst du ein Dorf unter Kontrolle? Indem du die zentralen Personen umbringst und so Angst säst.

Sie haben von den Anstrengungen der Gemeinde erzählt, die Jugendlichen davon abzubringen, in den Kokainhandel einzusteigen oder sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen. Wie kann das gelingen?
Nach den Morden an meiner Familie 2003 floh ich zunächst nach Cali. Ich sollte aber weiter für den Indigenen Rat mit Jugendlichen arbeiten. Ich versuchte, die Jugendlichen zu motivieren, an die Universität zu gehen. Dann half ich ihnen auch mit den Dokumenten, der Bewerbung. In Cali gründeten wir ein Studentenwohnheim für indigene Studierende und einen Indigenen Rat in der Universität, damit die Jugendlichen, die aus den Dörfern in die Stadt kamen, nicht ihre Traditionen und ihre Wurzeln verlieren. Das war interessant, weil wir Indigene aus verschiedensten Regionen Kolumbiens waren. Wir luden indigene Anführer nach Cali ein, um uns weiterzubilden.

Was haben Sie eigentlich studiert?
Agrarwissenschaften und später dann in Neiva Erdölingenieurswissenschaften. Ich wollte wissen, wie die Erdölgewinnung funktioniert, damit wir uns dann besser gegen die Ölkonzerne verteidigen und ihre Informationen überprüfen können. Ich konnte mein Studium aber nicht beenden, da ich wieder mit dem Tode bedroht wurde.

Wie kam es zu diesen Bedrohungen?
Als wir 2003 von unserem Land vertrieben wurden, trug mein Großvater mir auf, es zu verteidigen. Nun gibt es in Kolumbien aber ein Gesetz, wonach derjenige, der ein Land zehn Jahre bearbeitet, automatisch zum Landbesitzer wird. Also bemühten wir uns 2013 um die Rückgewinnung unseres verlorenen Landes und ich stellte den Antrag dazu. Die dafür zuständige Person in Nariño war eine Bekannte von mir. Ich dachte also, dass die Chancen gut stünden, unser Land zurückzuerhalten. Weißt du, was sie mir sagte? Dass wir in meiner Region die einzigen Antragsteller gewesen wären und deswegen zunächst alle anderen Regionen bearbeitet würden. Und das kann Jahrzehnte dauern.

Was passiert zur Zeit mit dem Land, das Ihnen gehört hat?
Dort wird Kokain angebaut. Ich habe mehrere Versuche gestartet, das Land mit der Guardia Indigena zurückzuholen. Doch so konnten wir die Leute nicht vertreiben.
Stattdessen erhielt ich Bedrohungen und musste erneut nach Cali fliehen. Als die Bedrohungen nicht aufhörten, ging ich nach Palmira und schließlich nach Neiva. Schließlich wurde mir gesagt, dass ich Kolumbien verlassen müsste. Die ELN hatte einen meiner Schulfreunde umgebracht. Sie zogen ihn um 5 Uhr morgens aus seinem Haus und schossen 16 Mal auf ihn. Am nächsten Tag riefen sie das Dorf zusammen und sagten, dass sie ihn ermordet hätten, weil er ein Informant der Paramilitärs gewesen sei, und dass sie zwei weitere Menschen umbringen würden, von denen einer ich war. Dann erhielt ich eine SMS, in der stand, ich hätte sieben Tage, um zu verschwinden. Ich wandte mich an die Opferschutzbehörde des Staates, doch die sagten, sie bräuchten zwei Wochen, um die Ermittlungen aufzunehmen und über Schutzmaßnahmen für mich zu entscheiden. Später erzählte mir ein Bekannter, der für dieselbe Behörde arbeitet, dass sie kaum Gelder zur Verfügung hätten und sogar die schusssicheren Westen ausgegangen seien.

Die Bedrohungen haben Sie bis in verschiedene Städte weiterverfolgt?
Ja, das funktioniert systematisch. Der Landbesitzer, der mich umbringen lassen möchte, kann verschiedenste Gruppen an unterschiedlichen Orten damit beauftragen. Und diese Bedrohungen werden in vielen Fällen auch wahr gemacht.

Trotz dieser schwierigen Situation gibt es eine starke indigene Bewegung im Südwesten Kolumbiens. Wie erklärt sich diese?
Dafür ist es wichtig, die indigene Gemeinschaft zu verstehen. Unsere Einheit war immer unsere Stärke. Bei uns hat sich die Individualisierung nie so durchgesetzt wie im Rest Kolumbiens. Dazu gehört auch, dass alle unsere Entscheidungen in Versammlungen getroffen werden. Wenn jemand einen Fehler begeht, entscheidet die Gemeinschaft, welche Form der Bestrafung er erhält. Das stärkt die Gemeinschaft. Uns wurde immer beigebracht, dass wir verschwinden, wenn wir nicht stark genug sind. Wenn wir nicht zusammenhalten, verschwinden wir. Es ist also auch ein Schutzmechanismus. Es sind Kämpfe, die notwendig sind, aber auf die wir eigentlich keine Lust haben. Wer will protestieren gehen, Straßen blockieren und sich einer bewaffneten Gruppe entgegenstellen? Aber wir sind dazu gezwungen, weil die Regierung nie die Versprechen uns gegenüber eingehalten hat. Die Minga, unser Protest, hat dieses Jahr viel Aufmerksamkeit erhalten, das ist gut. Aber eigentlich machen wir das jedes Jahr.

Wird auch Ihre Arbeit mit den Jugendlichen vor Ort weitergeführt?
Nein, gerade nicht. Mein Freund Miguel Ángel hatte die Aufgabe übernommen und kümmerte sich um die Jugendlichen des Reservats. Er wurde dieses Jahr am 1. Mai umgebracht. Ich habe nun den Kontakt zum Reservat etwas abgebrochen, seit ich in Deutschland bin. Aus Sicherheitsgründen, meine Familie ist ja noch dort und auch in Gefahr. Dazu kommt, dass für einen Indigenen das Verlassen des Landes das Schlimmste ist, was ihm passieren kann. Das ist, wie wenn dir jemand das Herz bricht. Innerhalb unserer Gemeinschaft bestrafen wir Menschen, die schwere Verbrechen begangen haben damit, dass sie ihre Dörfer verlassen müssen. Deswegen wollte ich nie das Land verlassen, ich versteckte mich lieber, lebte fern von meiner Familie, wechselte meine Wohnorte. Aber dann gab es keine Alternative mehr. Eines Tages sagte mir die staatliche Menschenrechtsverteidigerin: „Christian, du musst Kolumbien verlassen, es gibt keine andere Möglichkeit.“

Welche Erfahrungen haben Sie bei Ihrem Asylantrag in Deutschland bisher gemacht?
Für mich kam das alles sehr schnell. Die Menschenrechtsverteidigerin sagte, Deutschland sei ein gutes Ziel. Sofort kaufte ich das Ticket und einen Ratgeber „Wie ich mich in Deutschland verhalte“ (lacht). Am Flughafen in Deutschland wurde ich mehrere Stunden festgehalten, bis sie mich schließlich zur Erstaufnahmestelle schickten. Es war 11 Uhr nachts und ich hatte Angst, da man in Kolumbien nachts nicht einfach so rumlaufen kann. Jetzt weiß ich, dass das hier kein Problem ist. Ich habe meinen Antrag gestellt, aber ich habe kaum Informationen darüber, wie genau der Prozess weitergeht. Für mich ist das neu und alles sehr fremd, wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich wohne derzeit in einer Geflüchtetenunterkunft und es gibt einfach nichts zu tun. Alles ist verboten für mich – dabei bin ich ein Mensch, der gerne unterwegs ist, arbeitet und Pläne schmiedet. Dafür kann ich ohne Angst leben. Manchmal wache ich nachts auf und denke, dass ich immer noch in Kolumbien bin. Und dann erinnere ich mich wieder daran, dass es hier sehr ruhig und sicher für mich ist.

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