Reisepässe, aber keine Spur

Das Karibische Meer Eine Bootsroute führt von Kolumbien über die Corn Islands nach Nicaragua (Landkarte: Datawrapper.de)

Marian Santaella ist auf der Suche nach ihrem Ehemann Rosmer Alberto Mujimac Parra. Im Oktober 2023 war der 42-Jährige mit 38 anderen Venezolaner*innen auf der kolumbianischen Insel San Andrés in ein Boot gestiegen, das sie unbemerkt bis an die nicaraguanische Isla de Maíz bringen sollte. Innerhalb von 8 Stunden hätte das Boot Nicaragua erreichem sollen. Doch eine Textnachricht am 21. Oktober 2023, in der ihr Ehemann die Abreise bestätigt, ist das letzte Lebenszeichen, das Marian von Rosmer und ihrem Cousin Gonzalo erreicht hat.

Rosmer und Marian hatten schon seit längerer Zeit überlegt, Venezuela zu verlassen, um ihren Kindern in den USA ein besseres Leben zu ermöglichen. Obwohl beide seit Jahren in mehreren Jobs gleichzeitig arbeiten, reicht das Einkommen der Familie nicht aus, um einen Kredit für eine eigene Wohnung aufzunehmen und die Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen. In der Region ist es sehr wichtig, ein eigenes Haus zu haben, um bei den Eltern ausziehen und eine Familie gründen zu können, erklärt Marian. Die beiden beschlossen, dass Rosmer in die USA einreisen sollte, um dort nach einer Arbeitsstelle zu suchen und politisches Asyl zu beantragen – keine ungewöhnliche Entscheidung. Mehr als sieben Millionen Menschen sind in den letzten Jahren aus Venezuela geflohen. Ein Verwandter Marians in den USA brachte sie schließlich mit Bootsführern in Kontakt, die Kolumbien heimlich verlassen und Menschen in Nicaragua absetzen, damit sie von dort aus zu Fuß unentdeckt in die USA einreisen können. Von Nicaragua wollte Rosmer möglichst unentdeckt weiter nach Mexiko gelangen. Ein Visum für Mexiko oder die USA zu beantragen, stand für die Familie außer Frage. Für Mexiko etwa kostet ein Visum für Venezolaner*innen derzeit mehrere hundert Euro.

Auf dem Weg in die USA haben 2023 über eine halbe Million Menschen den Darién-Wald zwischen Kolumbien und Panama durchquert. Bewusst entschied sich Rosmer für die Route über die Karibische See und gegen den Fußweg durch Mittelamerika. Der Darién ist ein Streifen von etwa 100 Kilometern unerschlossenen Regenwaldes. Unzählige Berichte beschreiben, wie Migrierende im Darién verschwunden sind, nachdem sie auf Raubtiere und kriminelle Organisationen getroffen waren. Der Familie war bekannt, dass der Weg lebensgefährlich sein kann. Doch auch der Seeweg über San Andrés, den die Bootsführer in kleinen umgebauten Fischerbooten zurücklegen, ist nicht sicher.

Zwischen 900 und 1.400 Dollar kostet ein „Reisepaket” bis an die Grenze der USA. Das Geld der Familie reichte nicht aus, um die Fahrt für 4 Personen zu finanzieren, also reiste Rosmer zunächst allein. Anfang Oktober 2023 brach er mit Marians Cousin, Gonzalo, aus ihrer gemeinsamen Heimatstadt Guanare auf.
Das letzte Mal kommunizierten Rosmer und Marian am Samstag, den 21. Oktober 2023, auf einem geliehenen Telefon. Um 19 Uhr schrieb er auf Whatsapp: „Heute gehen wir auf die Reise, aber ich werde dir später schreiben.“

Mehr als sieben Millionen Menschen sind in den letzten Jahren aus Venezuela geflohen

Zeug*innen zufolge ist die Gruppe schließlich gegen 21 Uhr in See gestochen. Als Marian und ihre Familie auch nach Sonntag keine Nachricht von ihren Verwandten erhielten, schrieben sie erneut Nachrichten an dieselbe Whatsapp-Nummer, die nicht mehr ankamen. Schließlich erreichten sie Nachrichten aus Kolumbien. Zwei Boote seien in San Andrés verloren gegangen, von denen eines sehr voll mit Menschen gewesen sei, was die Behörden im Nachhinein bestätigten.

Inzwischen hat die kolumbianische Behörde für die Verteidigung der Menschenrechte eine Kommission aufgestellt, die den Fall untersuchen soll. Sie forscht nach dem Verbleib von mindestens 4 weiteren Booten, die zwischen 2022 und 2023 verschwunden sind. Die Zahl der Vermissten erreicht mindestens hundert Personen, etwa 900 mussten im selben Zeitraum aus einem Schiffbruch gerettet werden.

Fortwährende Ungewissheit über die Schicksale der Verwandten

Im Oktober 2023 haben die USA Venezuela zum „sicheren Herkunftsland“ erklärt. Caracas und Washington hatten dieses Übereinkommen gefunden, nachdem einige der US-Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela aufgehoben worden waren. Mit dem Argument, Geflüchteten eine Rückkehr in ein sicheres Land zu ermöglichen, hat Caracas von Washington in der Folge einige Unterstützungszahlungen erhalten. Schon seit_Mai führt das Ministerium für Innere Sicherheit wieder direkte Abschiebeflüge nach Caracas durch, über 13.000 Menschen sind bis zum Dezember 2023 deportiert worden. Auch Kolumbien und Peru haben kürzlich Übereinkommen zu beschleunigten Abschiebeverfahren für Venezolaner*innen mit Caracas getroffen. Beispielsweise können venezolanische Staatsangehörige aus Peru nun innerhalb von 48 Stunden abgeschoben werden. 263.000 Venezo­laner*innen überquerten 2023 die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Sie fliehen vor Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt und organisierter Kriminalität. Menschenrechtsorganisationen wie Alerta Venezuela erklären, dass Venezuela alles andere als ein sicheres Herkunftsland ist.

Marian Santaella hat zu Redaktionsschluss noch immer keine Lebenszeichen von ihrem Mann erhalten. Sie wartet auf eine Nachricht der kolumbianischen oder nicaraguanischen Behörden. Inzwischen wurde ein Beutel mit_8 venezolanischen Pässen vor der Küste Nicaraguas angespült. Auch die Pässe von Rosmer Alberto Mujimac Parra und Gonzalo de Jesus Mendez Torres waren darin. Eine weitere seltsame Begebenheit ereignete sich nach dem Verschwinden des Bootes. Marians Familie verfolgte den Online-Status ihrer Verwandten und schrieb Nachrichten auf Facebook. „Mein Mann hat nicht geantwortet, aber mein Cousin schon, und er hat nur mit Emojis auf unsere Fragen geantwortet, nie mit echten Worten“, sagt Marian.

Im Dezember deckten die kolumbianischen Behörden ein Schleppernetzwerk in San Andrés auf, das Migrierenden Überfahrt und Einreise nach Nicaragua organisierte. Dem Netzwerk La Agencia gehörten auch verschiedene Grenzbeamt*innen in Nicaragua und Kolumbien an.

„Wir schließen aus, dass es ein Schiffsunglück gab“, erklärt Marian, „Das Meer spuckt immer aus, was es verschluckt hat. Und wenn es dort Haie gegeben hätte, würden wir mehr Spuren von ihnen finden, ihre Schwimmwesten oder vielleicht weitere Taschen.” Wenn es ein Schiffsunglück gegeben hat und die Telefone ins Wasser gefallen sind, warum war Gonzalo de Jesus dann online und hat mit Emojis auf Nachrichten geantwortet? Was ist mit Rosmer und Gonzalo passiert?

Raus aus dem Teufelskreis

Flucht im Innland Zurück bleiben Häuser, die von Kriminellen genutzt werden – Rückkehr ausgeschlossen (Foto: Peg Hunter via Flickr, CC BY-NC 2.0 Deed)

„Meine Tochter war ein glückliches 15-jähriges Mädchen, bis es vom Bürgermeister der Nachbarstadt vergewaltigt wurde.“ So nüchtern wie krude beginnt der Bericht von Sofía Sánchez (Name geändert). Sofía lebte mit ihrem Partner und fünf Kindern in einem Dorf in den Bergen im Osten von Honduras, über drei Stunden mit dem Bus bis zur nächstgrößeren Stadt.

„Wir besaßen ein kleines Haus aus Lehmsteinen und ein Feld, auf dem wir Zwiebeln, Tomaten und Chili anbauten. Manchmal ernteten wir auch Kaffee auf verschiedenen Plantagen. Meine Tochter war in der fünften Klasse, als eine Bekannte sie bat, ihr Kind in der Stadt zu hüten: Eine Woche für 4.500 Lempiras, knapp 170 Euro. Das ist viel Geld für uns, deshalb war ich einverstanden. Aber als meine Tochter – ohne Geld – zurückkam, weinte sie oft und war sehr schweigsam. Erst einige Zeit später vertraute sie einer Freundin an, dass sie von der Bekannten gezwungen wurde, Medikamente einzunehmen und danach vom Bürgermeister in einem Stundenhotel mehrfach vergewaltigt wurde.“

Sexuelle Gewalt ist nur ein Grund für die Binnenflucht. Dazu kommen weitere Gründe, wie Schutzgelderpressung, Zwangsrekrutierungen durch kriminelle Banden, Klima- und Wetterereignisse, Vertreibung durch Landinvasion und Morddrohungen. Dass es oft nicht bei Drohungen bleibt, zeigt die aktuelle Statistik der nationalen Universität UNAH am Beispiel der Femizide. Alle 22 Stunden wird in Honduras eine Frau umgebracht, 95 Prozent dieser Morde bleiben straffrei.

Sofía wollte nicht, dass der Vergewaltiger ihrer Tochter, eine einflussreiche und wohlhabende Person der Nationalpartei, straffrei bleibt. „Ich möchte verhindern, dass weitere Mädchen Opfer dieses Perversen werden. Einige Wochen später rief mich die Bekannte an und sagte, meine Tochter solle in die Stadt kommen, um ihren Lohn abzuholen. Als ich mich weigerte und erklärte, ich würde den Bürgermeister anzeigen, lachte sie mich aus. Nach einiger Zeit ging ich zur Polizei und schließlich zur Staatsanwaltschaft. Kurz darauf begannen die telefonischen Drohungen nach dem Muster ‘Wir werden euer Haus anzünden und euch alle erschießen.‘ Daraufhin flohen wir im Morgengrauen nach Tegucigalpa, ins Haus eines Cousins. Wir konnten nichts mitnehmen außer unseren Kleidern.“

Binnengeflüchtete stehen oft ganz plötzlich vor dem Nichts. Karen Valladares ist die nationale Koordinatorin von Cristosal Honduras, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte der internen Vertriebenen einsetzt und sie bei Behördengängen, aber auch ganz praktisch mit Lebensmitteln, Kleidern und einer Unterkunft unterstützt. „Oft werden intern Vertriebene in ihrem neuen Umfeld mit Argwohn betrachtet und ausgestoßen, was ihre Lage zusätzlich erschwert“, erläutert Karen Valladares. Binnenflucht bedeutet, dass der Kontakt zum gewohnten Umfeld abbricht, der Bildungsprozess oft für lange Zeit unterbrochen wird und, dass Kinder und Erwachsene dringend psychologische Unterstützung benötigen, um ihre Traumata zu behandeln.

Sofía wohnt jetzt in einem Stadtviertel Tegucigalpas mit einer hohen Kriminalitätsrate. „Wir sind hier praktisch gefangen. Als ich zum ersten Mal die Sonderstaatsanwaltschaft für Kinder und Jugendliche suchte, verirrte ich mich, aber ich gab nie auf. Besonders als klar wurde, dass meine Tochter schwanger war. Durch die Kinderschutzbehörde wurde sie gegen meinen Willen in ein Heim eingewiesen, als ich dort die Vergewaltigung anzeigte. Sechs Wochen lang wusste ich nicht, wo sie war. Als das Baby auf die Welt kam, sah ich sie im Krankenhaus wieder. Aber erst nach der Festnahme des Bürgermeisters wurde sie aus dem Kinderheim entlassen, mit der Auflage, das Haus nicht zu verlassen.“

Nach einigen Tagen in einer Militärbasis kam der Bürgermeister jedoch auf Kaution frei. Seine Komplizin, Sofías Bekannte, ist wegen Menschenhandels noch im Gefängnis, denn sie soll Geld für Sofías Tochter erhalten haben. Sofía glaubt, dass drei weitere Mädchen aus ihrem Dorf Opfer des Bürgermeisters wurden, ihre Eltern jedoch aus Furcht schweigen – oder Geld erhalten. Sofía erzählt, dass auch ihr ein Unbekannter Geld für ein neues Haus angeboten habe, um im Gegenzug die Anzeige zurückzuziehen. Das habe sie abgelehnt.

Sofías Mut ist groß, reicht jedoch für die Rückkehr in ihr Dorf nicht aus. Die Gefahr, dass sie oder ihre Familie erneut Gewalt erfahren, ist zu groß. Ihr Haus verfällt, das Feld ist schon verdorrt. Jetzt lebt die Familie vom bescheidenen Gehalt von Sofías Partner und der Hilfe einiger Angehöriger. In der Zukunft möchte die 41-Jährige zu Hause Tortillas und Mittagessen verkaufen und ihrer Tochter eine Lehre als Kosmetikerin ermöglichen.

Kathryn Lo, Repräsentantin des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Honduras, ist nicht überrascht, dass die Binnengeflüchteten in erster Linie Hilfe bei ihren Familien suchen. „Viele sind auch nach der Flucht im Inland in Gefahr und wollen möglichst unsichtbar bleiben. Sie sind traumatisiert von Gewalt und brauchen Zeit und Unterstützung für einen Neuanfang.“

Dabei soll den Betroffenen das „Gesetz zur Prävention, Betreuung und Schutz der Binnengeflüchteten“ helfen. Dieses wurde bereits im Dezember 2022 vom Nationalkongress verabschiedet und befindet sich jetzt in der Umsetzungsphase. In einem breit angelegten Konsultationsprozess arbeiten 28 staatliche Stellen mit der Zivilgesellschaft zusammen, um die Gewalt, die der Hauptgrund der Binnenflucht ist, zu bekämpfen. Der Schutz und die Betreuung von Opfern ist ein weiteres Ziel. Eine riesige Aufgabe, denn Honduras gehört trotz einer signifikanten Verringerung der Mordrate noch immer zu den gefährlichsten Ländern Lateinamerikas. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zählte zwischen 2004 und 2018 über 247.000 Binnenvertriebene in Honduras. Das entspricht fast fünf Prozent aller Haushalte.

Familien, die wegen der Bandengewalt fliehen müssen, hinterlassen Stadtbezirke, in denen leere Häuser und geschlossene Geschäfte das Straßenbild prägen. Die wenigen Bewohner*innen sind Alte und Kinder, ständig beobachtet von jungen Spähern der Gangs, die an strategischen Stellen sitzen und per Handy alles melden, was auf den Straßen passiert. Die leerstehenden Häuser werden von den Kriminellen besetzt und im schlimmsten Fall als casas locas (verrückte Häuser) benutzt, in denen die Banden foltern und morden. Die Polizei beschränkt sich darauf die Fälle in den Medien öffentlich zu machen. Strafverfolgung gibt es praktisch nicht. Schließlich leben viele Polizist*innen selbst in Gegenden mit Gang-Präsenz. Kinder ab 10 Jahren sind in Gefahr schleichend in Banden rekrutiert zu werden und junge Erwachsene aus diesen Stadtbezirken bekommen oft keine Arbeit, weil sie wegen ihres Wohnorts stigmatisiert sind. Ein Teufelskreis, aus dem oft nur die Flucht hilft.

Im Rahmen des 81 Artikel umfassenden Gesetzes wurde das Nationale Auffangsystem für Binnenflucht gebildet. Es soll sicherstellen, dass die Betroffenen einen rechtlich abgesicherten Weg finden, um Schutz und Unterstützung durch den honduranischen Staat zu erhalten. Binnenvertriebene haben explizit das Recht auf Vorzugsbehandlung in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Unterkunft und Arbeit sowie auf die Rückgabe ihres Eigentums und die Verlängerung von Kreditlaufzeiten. Das Auffangsystem verfügt laut Gesetz über ein jährliches Budget von umgerechnet sechs Millionen Euro. Bisher wurde jedoch kein Cent davon ausgegeben. Wie so oft fehlt es am politischen Willen.

„Leider lässt der Staat bisher seine Bürger allein, das Gesetz muss dringend umgesetzt werden“, bringt es Clarissa Caballero auf den Punkt. Sie ist Anwältin und Sachbearbeiterin für intern Vertriebene von Conadeh, der staatlichen Menschrechtskommission von Honduras. „Allein 2021 erhielten wir 917 Anzeigen wegen interner Vertreibung, welche 2.529 Personen betraf. Viele von ihnen stammen aus Gebieten mit hoher Banden-Präsenz. Mithilfe von Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen helfen wir ihnen mit einer temporären Unterkunft, Jobs und juristischer Beratung.“

Sofía Sánchez kennt den Prozess um das neue Gesetz nicht. Sie glaubt aber, dass der Staat die Aufgabe hat, vertriebene Personen wie sie zu schützen und ihnen zu helfen, ein neues Leben in Honduras zu beginnen. Illegal Honduras zu verlassen ist bisher keine Option für sie, aber sie kann sich vorstellen, im Ausland Asyl zu beantragen. „Die Perspektivlosigkeit der Binnengeflüchteten und die komplizierten Prozesse führen dazu, dass ein Teil von ihnen die Hoffnung verliert und illegal emigriert“, fasst Karen Valladares von Cristosal Honduras zusammen.

Sind Binnengeflüchtete Kandidat*innen für Asyl im Ausland? Ja, sagt Clarissa Caballero von Conadeh, die Gewaltopfer beim Asylgesuch in Ländern wie Guatemala, Mexiko und den USA begleitet und Notpässe beantragt. Mittlerweile ist Honduras das Land mit den meisten Asylsuchenden in Mexiko, über 40.000. Der Vorteil dabei ist, dass sie während des Verfahrens nicht ausgewiesen werden können. Das Ziel der meisten bleiben die USA.

Die Gewalt ist in Honduras auf kriegsähnlichem Niveau. Mädchen, Frauen, Familien in Gebieten unter der Kontrolle von kriminellen Banden, Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen leben besonders gefährlich. Die Dynamik der Flucht vor der Gewalt – sei es im Inland oder ins Ausland – ist unaufhaltsam. Die Umsetzung des Gesetzes zur Prävention, Betreuung und Schutz der Binnengeflüchteten wird ein wichtiger Schritt sein, um Tausenden von Gewaltopfern eine Perspektive in Honduras zu geben und zu zeigen, dass sich der Staat um die Menschenwürde seiner verletzlichsten Bürger*innen sorgt.

Kinder und Alte bleiben zurück

Wird auch in Berliner U-Bahnhöfen beworben Anbieter zum Verschicken von remesas (Foto: Theresa Utzig)

Alle zwei Wochen fährt Julissa Gómez aus dem Dorf Ticamaya nach San Pedro Sula. Dort holt sie bei einer Bank den Gegenwert von 125 US-Dollars in der honduranischen Währung Lempira ab. Das Geld schickt ihr Mann, Elbin Antony, der vor vier Monaten illegal in die USA gereist ist. Der 26-Jährige lebt dort in New Jersey bei seinem Vater, den er über 20 Jahre lang nicht gesehen hat. Zunächst arbeitete Elbin in einem Supermarkt, jetzt als Tellerwäscher in einem Restaurant. Julissa erzählt: „Das Geld verstecke ich gut in der Hosentasche und kaufe dann sofort Lebensmittel und die Pulvermilch für meine beiden Kinder. Letzten Monat musste ich auch viel Geld für Medikamente ausgeben, weil sie unter Eisenmangelanämie leiden.“

Wie Julissa geben über 80 Prozent der Empfänger*innen ihre remesas für grundlegende Lebenshaltungskosten aus. Kein Wunder, denn in Honduras kosten allein die Lebensmittel für eine fünfköpfige Familie mehr als der Mindestlohn. Darüber hinaus müssen Patient*innen in den öffentlichen Krankenhäusern viele Medikamente selbst bezahlen, Lehrer*innen verlangen Schulmaterial und oft auch Geld von den Eltern. Auch die Mieten sind nach der Pandemie stark gestiegen.

Laut einer aktuellen Studie der honduranischen Zentralbank vom August 2023 sind die Rücküberweisungen das einzige Einkommen für weit über ein Drittel der Familien, die sie erhalten. So auch für Julissa, denn sie arbeitet nicht, um sich um ihre beiden Kinder zu kümmern. Immerhin lebt sie mietfrei im Haus ihrer Geschwister.

„Das Geld der Auslandshonduraner*innen hält das Land über Wasser“, fasst der junge Ökonom der Arbeitgeberorganisation COHEP, Alejandro Kaffati, die Situation zusammen. Im Jahr 2022 betrugen die remesas 8,68 Milliarden US-Dollars. Das entspricht einem guten Viertel des Bruttoinlandproduktes, was wiederum dem Wert aller Exporte außer Textilien entspricht. Dieses Jahr werden die Überweisungen der Auslandshonduraner*innen vermutlich erneut um gut 7 Prozent wachsen. Fast 24 Millionen US-Dollars werden jeden Tag durch die Rücküberweisungen in die Wirtschaft gepumpt. Das ist ein Segen für den Handel überall im Land: Von kleinen Lebensmittelläden, Kleidergeschäften und Restaurants über Dienstleistungen wie Schönheitssalons und Werkstätten bis hin zu nationalen Ketten, die Haushaltsartikel und elektronische Geräte vertreiben, oft auf Kredit. „Diese wirtschaftliche Dynamik trägt zum Wirtschaftswachstum von rund 4 Prozent bei, denn neben den vielen importierten Artikeln werden auch einheimische Produkte konsumiert. Dazu kommen Löhne für die Angestellten, die ebenfalls konsumieren“, erklärt der Ökonom und Universitätsdozent Rafael Delgado.

Nicht nur für die Empfänger*innen und die Wirtschaft sind die remesas lebenswichtig, sondern auch für den honduranischen Staat: Er kann den Wechselkurs der Landeswährung Lempira gegenüber dem US-Dollars stabil halten, indem er Devisenvorräte anhäuft. Noch wichtiger ist jedoch, dass sich der Druck auf das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem verringert. Alejandro Kaffati schätzt, dass ohne die Rücküberweisungen der Anteil der Armen in Honduras von aktuell 71 Prozent auf 80 Prozent steigen würde. Ein Anstieg an Menschen in finanziellen Notlagen hätte unweigerlich noch größere soziale Konflikte zur Folge, in einem Land mit hoher Kriminalität und einem fragilen sozialen Netz.

Obwohl alle Regierungen das Sozialbudget kontinuierlich erhöht haben, lag das Land im Menschlichen Entwicklungsindex der UNO 2022 bloß auf dem 137. Platz von 191 evaluierten Ländern. Eine bessere Zukunft scheint also nur im Ausland möglich.

Sechs von zehn Auslandshonduraner*innen, die remesas an ihre Familie schicken, tun das monatlich und überweisen mit 467 US Dollars etwas mehr als den honduranischen Mindestlohn. Fast die Hälfte von ihnen lebt seit über 20 Jahren in den USA. Ein großer Teil der honduranischen Arbeiter*innen in den USA ist im Service-Sektor tätig: Sie sind Putzpersonal in Hotels oder Angestellte in Restaurants und Altenpflege, Männer arbeiten oft im Baugewerbe. Laut der bereits erwähnten Studie der Honduranischen Zentralbank verdienen Auslandshonduraner*innen durchschnittlich rund 3.000 US-Dollars pro Monat und setzen zwischen 8 Prozent und 14 Prozent ihres Einkommens für Rücküberweisungen an ihre Angehörigen in der Heimat an. Dazu kommen Überweisungen in Notfällen sowie für spezielle Anlässe und große Pakete mit Kleidern und Geschenken zu Weihnachten.

„Wer remesas bekommt, hat meist keine Alternative”

Macht Geld, für das die Menschen nicht selbst arbeiten, faul? „Nein“, sagt José Manuel Pineda, Vizepräsident der Nationalen Entwicklungs-stiftung von Honduras (FUNADEH). „Wer remesas bekommt, hat meist keine Alternative, denn er findet keinen Job, ist alt oder krank oder kümmert sich um die zurückgebliebenen Kinder. Es gibt einfach nicht genug Jobchancen, die wenigen Stellen sind zudem sehr schlecht bezahlt.“

Julissa will nicht illegal emigrieren, weil das Risiko, dass ihr auf dem beschwerlichen Weg durch Mexiko etwas zustößt, zu groß sei: „Unser Ziel ist es, Geld für ein kleines Restaurant zu sparen und es dann gemeinsam zu führen.“ Falls das nicht klappt, ist sie sich bewusst, dass die Familie möglicherweise viele Jahre lang getrennt leben wird, nimmt das aber auf sich. Um sie herum geht es vielen so.

Óscar Bautista ist Kaffeeproduzent und Bürgermeister von Santa Rita, einer Gemeinde im Departamento Santa Bárbara im Westen des Landes. Er schätzt, dass 90 Prozent der circa 4.000 Einwohner*innen von Santa Rita Angehörige im Ausland haben, die ihnen remesas schicken. „Das sieht man an neuen Häusern, mehr Autos sowie Investitionen in die Plantagen. Aber da es fast keine jungen Leute mehr gibt, fehlt es an Arbeiter*innen, besonders für die arbeitsintensive Kaffee-Ernte zwischen November und März. Die Landwirtschaft kann nicht wachsen, das wird in Zukunft zu höheren Lebensmittelimporten führen“, befürchtet Bautista. Zurück bleiben die Älteren, die dank des Geldes der Migrant*innen einigermassen würdevoll leben können.

Getrennte Familien sind der soziale Preis, den Länder bezahlen, aus denen viele Menschen emigrieren. Dazu kommen weitere negative Aspekte der Rücküberweisungen, so dass sie von vielen Ökonomen sogar als Falle bezeichnet werden. In erster Linie sinkt die Produktivität und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit aufgrund fehlender Arbeitskräfte in allen drei wirtschaftlichen Sektoren sowie Investitionen in Firmen aller Art. Besonders junge Leute aus ruralen Gebieten verlassen das Land in Scharen und setzen ihre Arbeitskraft in den Ländern des globalen Nordens ein. Dazu kommen immer mehr Fachkräfte, die aufgrund fehlender Perspektiven – sprich Weiterbildung, adäquate Löhne und bessere Lebensqualität – auswandern. Dank ihnen kommen viele Devisen ins Land, von denen ein Teil in importierte Güter investiert wird. Das erhöht kurzfristig die Lebensqualität, trägt aber nicht zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum bei, das zusammen mit gerechteren Strukturen den Exodus aus Honduras zumindest etwas verringern würde.

Der Staat ermutigt die Migration dabei durch offizielle Programme

Rafael Delgado bringt es so auf den Punkt: „Die remesas erlauben einer gewissen Bevölkerungsschicht eine Bequemlichkeit, die längerfristig aber fatal ist und immer mehr Personen dazu motiviert, ebenfalls zu emigrieren.“ Der Staat ermutigt die Migration dabei durch offizielle Programme. Fernseh- und Radiospots, die vor den vielen Gefahren auf der Route durch Mexiko warnen und von der Behörde für Entwicklungszusammenarbeit der US-Regierung bezahlt sind, werden praktisch ignoriert. Zu groß sind die Not und der Traum von einer besseren Zukunft und dieser beinhaltet auch die Hilfe an die „daheimgebliebenen“ Familienmitglieder.

Ein konkreter Weg aus der Falle der Rücküberweisungen wären laut Alejandro Kaffati spezifische Kredite für die Empfänger*innen von remesas. Drei Viertel von ihnen verfügen zur Zeit nicht einmal über ein Bankkonto. Dennoch gibt es Personen, die über genug Geld für eine Investition wie ein Grundstück oder sogar ein Haus verfügen. „Durch Kredite mit niedrigeren Zinssätzen könnten Investitionen ermöglicht werden, beispielweise in Immobilien oder Kleinfirmen. Das stärkt Wirtschaftsbranchen wie das Baugewerbe, das bisher nur wenig von den remesas profitiert. So würde die Arbeitslosigkeit bekämpft und das Wohnungsdefizit verkleinert“, so Kaffati. Dafür ist ein gewisses Kapital sowie ein finanzielles Grundwissen nötig und eine klare Vision der Zukunft, die weit über das simple Konsumieren hinausgeht.
Mit größeren Investitionen in Bildung und Anreizen für neue, innovative Firmen kann der Staat die wirtschaftliche Dynamik erhöhen. Das allerdings setzt einen starken politischen Willen voraus, der die vierjährige Amtszeit einer Regierung überschreiten müsste. Nicht sehr wahrscheinlich in diesen Zeiten, wo sich nicht nur in Honduras die politische Rechte und Linke unversöhnlich gegenüberstehen.

Rafael Delgado schlägt daher vor, Modelle aus Mexiko zu übernehmen, wo der Staat auf verschiedenen Ebenen mit den remesa-Empfänger*innen zusammenarbeitet, um ihre Gemeinden zu stärken. So soll weniger konsumiert und mehr investiert werden – in soziale Infrastruktur wie Schulen, Gesundheitszentren, Wege und Trinkwasser, aber auch in ihre Häuser und Kleinstfirmen. Mexiko erhält nach Indien weltweit die meisten Rücküberweisungen.

Das ernüchternde Fazit ist, dass laut einer Studie des Internationalen Währungsfonds keines der zehn Länder, die zwischen 1990 und 2017 in Relation zu ihrem Bruttoinlandsprodukt die meisten Rücküberweisungen erhielten, sein BIP pro Kopf im Vergleich zu Ländern mit weniger Rücküberweisungen steigerte. In der Mehrheit sind die Wachstumsraten der großen Empfängerstaaten sogar um rund einen Prozent geringer als die der vergleichbaren Länder. Zu den Staaten, die besonders von Rücküberweisungen profitieren, gehören neben Honduras auch Jamaika, Kirgisien, Nepal und Tonga. Es handelt sich also keineswegs um ein rein lateinamerikanisches Phänomen. Doch rund tausend Honduraner*innen verlassen ihr Land fast täglich auf der Suche nach besseren Chancen und diese Dynamik scheint unaufhaltbar.

Digitale Mauer

Für die spanischsprachige Version hier klicken

Warten auf eine App-Entscheidung Vor der Migrant*innenherberge Casa Tochan in Mexiko-Stadt (Foto: Lilia Tenango)

Mitten in der COVID-19-Pandemie, im Oktober 2020, führte der US-amerikanische Zoll- und Grenzschutz (CBP) die Smartphone-App CBP One ein, um die Migration stärker zu kontrollieren und zu reduzieren. Die neue Applikation wurde im Kontext zweier bestehender Immigrations- und Grenzmaßnahmen eingeführt, die die Migrationsdynamiken zu dem Zeitpunkt zentral bestimmen: Zum einen das binationale Abkommen Quédate en México („Bleib in Mexiko“, MPP) von 2019 bis 2022, zum anderen das zwischen 2020 und Mitte 2023 verordnete Gesundheitsgesetz, das als Title 42 bekannt ist. Unter dem MPP mussten Asylsuchende monatelang in Mexiko verweilen, während ihr Asylverfahren in den USA verhandelt wurde. Title 42 hingegen erlaubte es der US-amerikanischen Grenzbehörde, vornehmlich mexikanische und zentralamerikanische Menschen, die irregulär die US-amerikanische Grenze überquerten, direkt abzuschieben, ohne ihnen eine Chance auf ein Asylverfahren zu geben. CBP One ist somit ein weiteres Instrument zur Steuerung der Migration sowie zur Reduzierung von irregulären Grenzübertritten und heute das zentrale Tool, das Grenzübertritte reguliert.

Lupe Alberto Flores, Anthropologe an der Rice University in Houston, erklärt gegenüber LN, dass die App seit ihrer Einführung bereits für verschiedene Zwecke eingesetzt wurde. Sie kam schon während des MPP zur Anwendung, um Personen zu verifizieren, die in Mexiko auf ihren US-amerikanischen Asylbescheid warteten. Außerdem wurde die App 2021 zur Evakuierung von Menschen aus Afghanistan oder 2022 für die Einreise von Ukrainer*innen im Rahmen des humanitären Schutzprogramms Uniting for Ukraine genutzt. Venezolaner*innen können über die App unter bestimmten Bedingungen im Rahmen eines anderen humanitären Schutzprogramms ihre Asylanträge sogar schon in Venezuela stellen. Bei einem positiven Bescheid dürfen sie direkt mit dem Flugzeug in die USA einfliegen. Kurzum: Wer als Nicht-US-Amerikaner*in über den Landweg die Grenze überqueren will, braucht einen Termin. Dies ist vor allem für das Stellen eines Asylantrags relevant. Wer sich ohne diesen Termin in die USA begibt, kann mit einer Abschiebung und einem fünfjährigen Wiedereinreiseverbot rechnen.

Die App ist zunächst für jede Person mit Mobiltelefon frei erhältlich. Flores beschreibt die Funktionsweise der App als einen Filter: Sie fragt neben biometrischen Echtzeitfotos und allen persönlichen Daten auch nach Informationen zur bisherigen Reise. Menschen werden auf der Grundlage ihrer Selbstauskunft schon vor ihrem ersten Kontakt von den US-amerikanischen Grenzbeamt*innen auf frühere Verurteilungen oder Straftaten überprüft. Außerdem fragt die App stets den aktuellen Standort ab. Dies ist insofern relevant, da die App grundsätzlich erst nördlich von Mexiko-Stadt funktioniert – was bedeutet, dass Menschen auch erst einmal bis dorthin kommen müssen. Wer einen Termin bekommt, darf Mexiko in der Regel ungehindert durchqueren. Berichten von Betroffenen und Organisationen zufolge fordern mexikanische Beamt*innen dennoch häufig Geld für die Weiterreise auf dem Landweg.

Flores erklärt, dass CBP One somit eine „logistische“ Technologie ist, die zwar einerseits die Einreise erleichtert, gleichzeitig aber eine verschärfte Kontrolle der Immigration bedeutet und umsetzt. Laut Flores konnten, Stand August dieses Jahres, 90 Prozent der Asylsuchenden mit Termin die Grenze überqueren, um ihren Asylantrag in den USA zu stellen. Weil sie ebenjene Möglichkeit zur legalen Einreise in die USA bietet, ist die App unter den Menschen im Transit begehrt. Ein Mann aus Usbekistan sagt gegenüber LN darüber in Tijuana: „Du kannst die App hier einfach herunterladen und damit in die USA einreisen. Das ist cool. Du brauchst kein Visum und sie akzeptieren dich einfach“.

App mit Lotteriecharakter

Problematisch wird es für Personen, die kein Mobiltelefon besitzen oder deren Telefone die technischen Voraussetzungen der App nicht erfüllen. Hinzu kommt, dass viele Menschen im Transit durch verschiedene Städte und Länder oftmals nur eingeschränkten oder gar keinem Zugang zum Internet haben. Flores beschreibt die Terminbeantragung darüber hinaus als ein Labyrinth, bei dem verschiedene Wege zum Ziel führen können. Allerdings können technische Fehler oder fehlerhaft eingegebene Informationen genauso in eine Sackgasse führen. Diese Momente verursachen enorme Stresssituationen, da in solchen Fällen ganze Registrierungen gelöscht und erneuert werden müssen. Die Psychologin der Migrant*innen-Herberge Casa Tochan in Mexiko-Stadt, Janett De Jesús, betont im Interview mit LN, dass sich die CBP One-App erheblich auf die Psyche der Menschen auswirke. Abseits der Zufriedenheit darüber, eine legale Möglichkeit zu haben, in die USA einzureisen, kommen zunehmend Frust und Verzweiflung auf. Hervorgerufen werden diese von vielen technischen und strategischen Unsicherheiten, aber auch von den zahlreichen Gerüchten zur aktuell verbreiteten erfolgreichen Vorgehensweise. Viele Menschen können auch die Tragweite ihrer eingegeben Daten nicht einschätzen. Die App machte zudem schon zu Beginn Schlagzeilen, weil die damit aufgenommenen Echtzeitfotos Menschen mit dunkler Haut oftmals nicht erkennen.

Ein zusätzlicher Frustfaktor ist der willkürliche Lotteriecharakter, der für die Menschen eine große Belastungsprobe bedeuten kann. Flores erklärt, dass die Auswahl für die Termine zweispurig erfolgt: 50 Prozent der Anfragen werden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, die Logik der Vergabe der anderen 50 Prozent erfolgt nach dem Registrierungsdatum. Die Wartezeiten variieren somit stark und reichen von wenigen Tagen oder Wochen bis hin zu mehreren Monaten – für Menschen in prekären Situationen eine sehr lange Zeit. Darüber hinaus leiden sie unter der täglichen Ungewissheit darüber, wie lange sie noch warten müssen. Die Wartezeit ist daher nicht nur mit Geduld und Nerven, sondern im Zweifel auch mit erheblichen Kosten und Gefahren in Mexiko verbunden.

Wer nicht mehr warten kann, entscheidet sich, irregulär weiter Richtung Norden zu reisen. Die Psychologin De Jesús berichtet: „Der Grad der Verzweiflung ist so groß, dass die Menschen bereit sind, alles zu tun, was nötig ist, um den Termin tatsächlich zu bekommen. Dies impliziert, wieder auf bekannte Migrationswege wie den Zug zu setzen, auf denen die Personen Gefahren wie Überfällen, Entführungen, oder Unfällen ausgesetzt sind.“ Als Reaktion auf den Anstieg irregulärer Grenzübertritte im September haben die USA und Mexiko gemeinsam weitere Abschreckungsmaßnahmen beschlossen. Unter anderem sollen Menschen, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in den nordmexikanischen Grenzstädten aufhalten, verstärkt in ihre Herkunftsländer abgeschoben und die Nutzung von Güterzügen als Transportmittel unterbunden werden.

Durch die „neue” Situation, die sich durch die App ergibt, müssen auch die Migrant*innenherbergen ihre Arbeit mit und für die Menschen im Transit anpassen. Dazu gehört, dass sich Mitarbeiter*innen und Freiwillige mit der CBP One-App und ihren Funktionen vertraut machen, denn die Nachfrage nach Unterstützung bei der Registrierung ist groß. Maricela Reyes, die in der Casa Tochan arbeitet, betont im Interview mit LN, dass dies gar nicht so einfach sei, da die Funktionsweise der App ständig verändert wird. Weiter führt sie aus, dass die Herberge ständig am Limit arbeite. Denn obwohl Casa Tochan lediglich für 46 Bewohner*innen mit Betten ausgestattet ist, beherbergt sie weit mehr Menschen: Mitte September waren es um die 150 Menschen, für die die Mitarbeiter*innen zeitweise sogar ein großes Zelt vor dem Eingang aufstellen mussten, damit sie die Nacht dort verbringen konnten. Die Direktorin der Migrant*innenherberge, Gabriela Hernández, erklärt gegenüber LN, dass es dringend politische Maßnahmen seitens des mexikanischen Staates brauche, um diesen Menschen während ihrer Wartezeit eine temporäre Aufenthaltserlaubnis zu geben: „Wenn sie ein humanitäres Visum hätten, dürften sie arbeiten. Dann könnten sie in Ruhe arbeiten und sich unabhängig machen, Miete zahlen und auf ihren Termin warten. Das wäre eine weitere Möglichkeit, die Überfüllung der Herbergen zu beenden. Stattdessen setzt die Regierung darauf, Menschen an der irregulären Reise in die USA zu hindern und sie abzuschieben.” Die mexikanische Regierung selbst äußerte sich positiv über die Möglichkeit der legalen Grenzüberquerung mithilfe der CBP One-App. So auch Präsident López Obrador im August in einem Brief an den US-amerikanischen Präsidenten Biden.

Menschenrechtler*innen und Betroffene klagen gegen die App

Wie sich die Situation zukünftig entwickeln wird, ist ungewiss. Erstens bleibt die Frage offen, inwiefern die großen Mengen an gesammelten Daten der CBP One-Nutzer*innen zukünftig verwendet werden. Zweitens wartet auf diejenigen, die mit der App die Grenze überqueren, in den USA der Gerichtsprozess, in dem endgültig über ihr Asylersuchen geurteilt wird. Drittens ist ungeklärt, ob der Einsatz der App im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Asylrechtrechtswidrig ist und in dieser Form überhaupt bestehen bleiben kann. Menschenrechtsorganisationen und Asylbewerber*innen haben gegen dieses Vorgehen gemeinsam Klage eingereicht.

Die neue US-amerikanische Strategie im Namen einer „sicheren, geordneten und regulären Migration” schafft somit zwar eine legale Möglichkeit der Einreise in die USA, doch sie schränkt das Recht auf Asyl ein. Die damit verbundenen Kosten und Risiken tragen die Personen im Transit, die sich gezwungen sehen, im für sie unsicheren Mexiko einen längeren Zeitraum auszuharren. Außerdem fällt die größte Arbeitslast auf zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen in Mexiko, die an vorderster Front für eine menschenwürdige Behandlung und Wahrung der Menschenrechte von Migrant*innen und Geflüchteten kämpfen. Flores zufolge ist mit der App zur physischen Mauer nun noch eine digitale Mauer hinzugekommen, die es erst einmal zu überqueren gilt, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Letztlich handelt es sich um eine weitere Externalisierungsmaßnahme der USA, um die Migrationen Richtung Norden schon in Mexiko zu kontrollieren.

Abwanderung der Gehirne

Grafik , CCO 1.0 Universal)

In Honduras ist die öffentliche Gesundheitsversorgung katastrophal. Es fehlt an allem, von Medikamenten über funktionierende Geräte bis hin zu ausreichend Betten und Personal. Die Folgen davon bekommen in erster Linie die Patient*innen zu spüren, die auch teure Medikamente aus eigener Tasche bezahlen (sofern sie oder ihre Familie dazu in der Lage sind) und monatelang auf einen Termin für eine Fachärzt*innenbehandlung in den großen Städten warten müssen. Nicht alle Kranken überleben diese Tortur.

Aber auch Ärzt*innen leiden unter dem defizitären Gesundheitssystem. Sie klagen über zu viele Patient*innen, 24-Stunden-Schichten alle vier Tage im Sozialdienst, niedrige Löhne sowie erniedrigenden Umgang vonseiten ihrer Vorgesetzten. Oft muss das Gesundheitspersonal monatelang auf den Lohn warten. Manchmal ist es dann sogar notwendig, zu streiken, was das Leiden der Bevölkerung zusätzlich vergrößert.

„Das Gesundheitssystem von Honduras liegt mit einer negativen Prognose auf der Intensivstation“, ist das bittere Fazit der Koordinatorin der Studienrichtung Medizin der nationalen Universität in San Pedro Sula, Patricia Elvir.

Kein Wunder, dass die Ärzt*innen, die unter derart schwierigen Umständen Patient*innen behandeln müssen, frustriert sind. Zu den allgemeinen Problemen im System kommen die wenigen Chancen für eine Facharztausbildung. Es gibt nur ganz wenige Stellen für Fachärzt*innen im staatlichen Gesundheitssystem. Immer mehr junge Mediziner*innen, die vor Kurzem an der öffentlichen Universität UNAH promovierten, lernen jetzt Deutsch mit dem Ziel, möglichst bald in Deutschland eine Fachärzt*innenausbildung zu absolvieren und dann in einem Krankenhaus oder einer Klinik zu arbeiten.

Josué Pérez ist ein Arzt aus Santa Rosa de Copán im Westen von Honduras, der vor sieben Monaten den Schritt nach Deutschland gewagt hat. Zuvor führte er eine kleine Klinik für Familienmedizin in der Kleinstadt Quimistán. Am Humboldt-Institut in San Pedro Sula erwarb er das B2-Deutschzertifikat und ist zur Zeit im Approbationsverfahren in Essen. „Schon als Kind wollte ich in einem hochentwickelten Land studieren. Mein Ziel ist es, möglichst bald die Facharztausbildung in Neurochirurgie zu beginnen“, erklärt der 32-Jährige. Rückkehr nach Honduras? Wohl nie mehr. „Meine Frau ist auch Ärztin, wir wollen langfristig in Deutschland bleiben und die Chancen hier nutzen“, fasst Josué zusammen.

Josué ist bei Weitem nicht allein: Die Bundesärztekammer registrierte Ende 2022 insgesamt 121 zugelassene Ärzt*innen aus Honduras, ein Plus von 23,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Es darf davon ausgegangen werden, dass ihre Zahl in Zukunft weiter steigen wird, denn Dutzende Mediziner*innen aus Honduras befinden sich bereits im Approbationsverfahren, andere sind jetzt auf dem Sprung nach Deutschland.

Ärzt*innen und Pflegepersonal werden aktiv aus Deutschland angeworben

Wer über das notwendige Geld verfügt, wird bei der Einwanderung nach Deutschland von einer Agentur wie Intermed Personal GmbH in Wuppertal umfassend betreut. Ihre Website ist auf Pflegekräfte, besonders Krankenpfleger*innen aus Honduras, spezialisiert und spricht interessiertes „personal de salud“ (Gesundheitspersonal) direkt auf Spanisch an, während die Sektion „Arbeitgeber“ gut ausgebildetes und zuverlässiges Pflegepersonal auf Deutsch anbietet. Patricia Schuler-Hoffmann ist die Geschäftsführerin. In Honduras aufgewachsen, kennt sie die Mentalität und die Schwierigkeiten ihrer Klientel: „Honduraner*innen sind freundlich und empathisch, gut vorbereitet und motiviert. Deshalb kommen sie hier bei Kolleg*innen und Vorgesetzten gut an. Es gibt natürlich auch Schwierigkeiten bei der Integration wie die Sprache, niedriges Selbstbewusstsein und Probleme im Umgang mit der Technologie. Unsere Agentur hat bisher rund 40 Personen aus Honduras hier in Wuppertal vermittelt, 30 Pflegekräfte und zehn Ärzt*innen inklusive ihrer Angehörigen, aber wir könnten leicht das Zehnfache vermitteln.“

Deutschland braucht dringend Pflegekräfte: Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln gab es 2022 über 200.000 offene Stellen im Pflegebereich; bis 2030 soll diese Zahl sogar auf 500.0000 steigen. 14 Prozent aller Ärzt*innen in Deutschland haben schon jetzt ausländische Wurzeln, infomiert die Bundesärztekammer.

In der deutschen Humanmedizin herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Ende August 2022 meldete die Bundesagentur für Arbeit 2.300 unbesetzte Stellen für Mediziner*innen, also durchschnittlich vier pro Krankenhaus. Von den 421.000 praktizierenden Ärzt*innen in Deutschland ist ein Drittel bereits über 55 Jahre alt und wird in absehbarer Zeit in Rente gehen. Der demografische Wandel führt gleichzeitig zu einer Zunahme von Krankheiten wie Diabetes, Krebs und Demenz. Diese Kombination ist ein perfekter Sturm, der Deutschland heimsuchen wird.

Das weiß auch die Bundesregierung, die seit einem Jahrzehnt mit der Website „Make it in Germany“ gezielt Ingenieur*innen, IT-Spezialist*innen, Naturwissenschaftler*innen, Handwerker*innen – und eben auch Ärzt*innen und Pflegekräfte anwirbt. „Als ich zum ersten Mal diese Seite ansah, glaubte ich, dass ich träume“, erinnert sich Karen Baide, eine 52-jährige Anästhesistin aus San Pedro Sula und zweifache Mutter. „In einem modernen Gesundheitssystem zu arbeiten, mich weiterzubilden, die Lebensqualität Deutschlands, das ist mein Wunsch. Deutschland braucht mich, hier in Honduras ist alles viel zu kompliziert.“ Ursprünglich wollte sie nach Kanada auswandern, entschied sich jedoch 2019 für Deutschland. Karen lernte erst online Deutsch und zertifizierte sich auf dem Niveau B1, bevor sie im Januar dieses Jahres nach Berlin reiste, um sich intensiv auf die B2-Prüfung vorzubereiten und erste Kontakte zu knüpfen.

Mit dem Zertifikat in der Tasche erkundigte sie sich vor Ort über die nächsten Schritte, also die Fachsprachprüfung, das Approbationsverfahren und natürlich die Jobchancen auf ihrem Gebiet. „Ich habe 20 Jahre Erfahrung als Anästhesistin, aber in Honduras bin ich Freelancerin ohne jede Jobsicherheit und völlig von den operierenden Chirurgen abhängig. Oft bekomme ich mein Honorar nicht, weil die Klinik argumentiert, dass der Patient nicht bezahle. Es fehlt teilweise sogar in privaten Kliniken am nötigen Zubehör. Ich habe das honduranische Gesundheitssystem satt. Gesundheit ist hier ein Geschäft, keine Dienstleistung.” Karen ist eine Kämpferin, die sich aus einfachen Verhältnissen und unter großen persönlichen Opfern zur Fachärztin heraufgearbeitet hat. Sie ist sicher, ihren Weg in Deutschland zu finden, obwohl sie deutlich älter ist als die meisten emigrierenden Mediziner*innen. Ende dieses Jahres will sie sich in Deutschland niederlassen.

Der massive Exodus junger, gut ausgebildeter Ärzt*innen überrascht Patricia Elvir von der Nationalen Universität UNAH in San Pedro Sula nicht. „Wir sind stolz auf unsere Mediziner*innen, die überall gut ankom´men. Als Dozentin inspiriere ich meine Student*innen, sich weiterzubilden, auch im Ausland. Sie sollen jedoch ihr Heimatland und ihre Leute nicht vergessen, sondern durch ihre Kenntnisse und Ausrüstung unterstützen.“ Aber sie ist sich bewusst, dass die Allermeisten nie zurückkehren werden: „In Honduras gibt es keine soziale Gerechtigkeit, keine Sicherheit und keine Chancen.“ Auf die Frage, ob irgendwann Ärzt*innen in Honduras fehlen werden, antwortet Elvir kategorisch: „Unmöglich! Es gibt zwei Universitäten, die in Tegucigalpa und San Pedro Sula Mediziner*innen ausbilden.“

Zur Zeit gibt es nur 0,5 Ärzt*innen pro 1.000 Honduraner*innen bei nur acht Krankenhausbetten für dieselben 1.000. In Deutschland kümmern sich fast neunmal mehr Ärzt*innen um dieselbe Anzahl Patient*innen – und es gibt über 13 Mal mehr Krankenhausbetten als in Honduras. Damit steht Deutschland im Index der menschlichen Entwicklung auf Position 9 von 188 Ländern − und Honduras an 137. Stelle.

Honduras bildet aus, Deutschland profitiert

Der Demograf und Universitätsdozent Nelson Raudales ist Autor einer 2013 erschienenen Studie zum Thema „Brain Drain aus Honduras“. Diese hält fest, dass zwischen 1996 und 2010 rund 25.000 Akademiker*innen ins Ausland emigrierten. Allein die volkswirtschaftlichen Kosten dafür beziffert Raudales mit 17 Milliarden Dollar, also zwischen fünf und sieben Prozent des damaligen Bruttoinlandsproduktes von Honduras. Ein extrem hoher Preis für ein Entwicklungsland, ein tolles Geschäft für die Empfängerländer? „Honduras investiert in die Ausbildung dieser hochqualifizierten Migrant*innen, die ihr Talent dann in den Empfängerländern anwenden und dort Mehrwert schaffen. In dieser Hinsicht verliert Honduras ganz klar. Dieses Phänomen wird hier jedoch unterschätzt, denn die Migration war schon immer ein Druckventil für Honduras, weil viele Auswander*innen ihren Familien remesas (Geldsendungen) schicken“, erläutert Nelson Raudales. Diese remesas waren 2022 laut der honduranischen Nationalbank mit fast sieben Milliarden Euro für gut ein Viertel des Bruttosozialproduktes verantwortlich und halten das Land sprichwörtlich am Laufen. Je schwieriger die wirtschaftliche Lage, desto stärker steigen die remesas, nämlich 17,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die Lücke wird größer

Wie alle Interviewten versteht Nelson Raudales die Akademiker*innen, die Honduras auf der Suche nach Chancen verlassen. Auch er hält den Wissens- und Technologietransfer für eine Utopie. „Honduras fällt zurück, während die hochentwickelten Länder im Norden wachsen“.

Diese Lücke wird immer größer. Noch ist der Mangel an Fachkräften in Honduras und die sinkende Wettbewerbsfähigkeit praktisch kein Thema, aber das kann sich in Zukunft ändern: Laut dem Ökonomen Rafael Delgado verurteilt die Abwesenheit hochgebildeter Personen das Land zu mehr Armut, denn es gibt wenig technologische und wissenschaftliche Entwicklung, geschweige denn daraus entstehende Unternehmen und Patente. „Das Wissen ist heutzutage einer der wichtigsten Produktionsfaktoren.“

Aber alle diese abstrakten Bedenken werden auch in Zukunft niemanden aufhalten, der*die in Honduras keine professionelle und persönliche Zukunft sieht, besonders die Hochgebildeten mit einer klaren Vision. ¡Adiós cerebros! – Lebt wohl, Spitzenkräfte!

„Der größte Erfolg wäre, sie zu finden“

Was ist der Hintergrund Ihres Besuches in Deutschland, bei dem Sie unter anderem mit verschiedenen politischen Vertreter*innen sprechen werden?

Seit einiger Zeit drängt die Stiftung darauf, eine Sonderkommission einzusetzen. Der Grund ist: Wir haben gesehen, dass in allen Fällen, die wir vertreten, eine historische Straffreiheit besteht. In Mexiko liegt diese Straffreiheit bei mehr als 95 Prozent. Gerechtigkeit zu erlangen, ist für jemanden aus einer Familie mit Migrationshintergrund sehr schwierig. Daher ist es äußerst wichtig, diese Fälle zu untersuchen, zu erfahren, was passiert ist und den Opfern Antworten zu geben. Das soll die Sonderkommission unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen gemeinsam mit der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft leisten. Diese technische Unterstützung hat die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft schon in einigen Fällen akzeptiert, in denen es um verschwundene Migrant*innen ging – auch im Fall der fünf Massaker, die wir vertreten.

Dass ich Deutschland besuche, liegt an der Rolle, die das Land für Mexiko spielt: Deutschland hat Mexiko in verschiedenen Bereichen technische Unterstützung angeboten. Der Hintergrund: Von deutscher Regierungsseite aus wird ein besonderer forensischer Mechanismus vorangetrieben. Der ermöglicht, die mehr als 56.000 nicht identifizierten Überreste von Menschen zu identifizieren, die wir in Mexiko haben.

Was erhoffen Sie sich konkret von Deutschland?

Da Deutschland uns diese Unterstützung angeboten hat, wäre es sehr wichtig, dass sie diesen Vorschlag der Sonderkommission politisch offen unterstützen. Denn dieser Vorstoß ist für Mexiko notwendig. Und wir wissen auch, dass mehrere Regionen in Lateinamerika mit ähnlich schweren Problemen kämpfen. Wir müssen anfangen, Gerechtigkeit über Ländergrenzen hinaus zu denken. Das wäre eine andere Gerechtigkeit als die, die Menschen erleben, die sich hier niederlassen.

Für uns in Mexiko ist dieses Thema grundlegend. Aber es lässt sich auch auf andere Regionen der Welt übertragen. Wir wissen zum Beispiel, was im Mittelmeer mit Migrant*innen passiert, die sterben und nicht identifiziert werden. Was wir wollen ist: Mechanismen vorantreiben, die uns helfen zu verstehen, wie die transnationale Kriminalität – und damit auch der Menschenhandel – funktioniert. Zudem wollen wir herausfinden, wie die Staaten funktionieren, die oft mit diesen kriminellen Netzwerken zusammenarbeiten.

Wie steht es unter der Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) aktuell um die Sicherheitslage von Menschen und Organisationen, die gegen dieses Verschwindenlassen in Mexiko kämpfen?

Die Sicherheitslage hat sich nicht verbessert unter der Regierung von Andrés Manuel López Obrador. Seine Regierung hat entschieden, eine Strategie fortzusetzen, die Organisationen der Zivilgesellschaft als gescheitert ansehen: die Armee gegen die organisierte Kriminalität auf die Straße zu schicken. Es gibt keinen historischen Beweis dafür, dass das in Mexiko jemals Erfolg gehabt hätte. AMLO setzt auf Militarisierung, statt eine richtige zivile Polizei aufzubauen, die auf dieses Problem reagieren kann. Zudem wird die Generalstaatsanwaltschaft völlig vergessen. Zusammengefasst: Weder die Gewalt ist zurückgegangen, noch haben die Fälle von Straffreiheit abgenommen.

Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zu erstatten, ist für Familien nach wie vor sehr schwierig. Sie werden dort auch schlecht behandelt. Die Staatsanwaltschaften sind zu einem Ort von Korruption und organisiertem Verbrechen geworden. Das wirkt sich auf die Gesellschaft aus. In der bisherigen Amtszeit der jetzigen Regierung sind über 30.000 Menschen verschwunden. Wenn die Ursachen der Gewalt nicht bekämpft werden, wenn die Korruption in den Institutionen nicht bekämpft wird, wenn die Rechtsprechung sich nicht verbessert und wenn es keine Zivilpolizei gibt, dann werden wir in Mexiko weiterhin Gewalt erleben.

In den Medien liest man viel darüber, dass Aktivist*Innen und Suchende bedroht, verfolgt und getötet werden und verschwinden. Hatte Ihre Organisation schon mit solchen Aggressionen zu tun? Warum ist es für Angehörige so gefährlich, in Mexiko nach verschwundenen Familienmitgliedern zu suchen?

Ja, wir begleiten suchende Familien, die in sehr gefährlichen Gebieten leben oder dorthin gehen, wo es unsicher ist oder wo organisierte Verbrechen passieren, etwa in Guanajuato. Es ist unangenehm, wenn organisiertes Verbrechen involviert ist. Aber es ist auch unangenehm, wenn der Staat involviert ist. Die Suchenden haben Angst und gehen mit der Suche ein Risiko ein. Der größte Teil der Verschwundenen sind Männer. Doch es sind Mütter, Töchter und Schwestern, die nach ihnen suchen und sich deshalb in solche Gebiete begeben. Die ganze Thematik der Gerechtigkeit und des Suchens prägt Frauen. Nicht nur in Mexiko ist das so, sondern auch in Mittelamerika.

Haben auch Sie persönlich Schwierigkeiten?

Gegen mich und zwei weitere Frauen ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft seit 2016 – wegen organisierter Kriminalität und Entführung. Mit mir beschuldigt werden die Journalistin Marcela Turati und Mercedes Doretti, Mitglied des argentinischen Teams für forensische Anthropologie. Die Generalanwaltschaft leitete diese illegale Untersuchung gegen uns ein und nutzte dazu das härteste Gesetz Mexikos: das Gesetz zur organisierten Kriminalität. Es ermöglichte ihnen, für mindestens anderthalb Jahre auf unsere Telefondaten zuzugreifen. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Wir haben den Fall bei der Abteilung für interne Angelegenheiten der Generalstaatsanwaltschaft angezeigt und bei der Nationalen Menschenrechtskommission Beschwerde eingelegt. Es ist ein schwieriger Weg für uns. Das ist es für jedes Opfer, das in Mexiko vor Gericht steht.

Welchen Wert hat die Arbeit anderer ziviler Organisationen, Journalist*innen und Akademiker*innen, die bei Untersuchungen zu Verschwundenen ebenfalls eine Rolle spielen?

Glücklicherweise haben auch wissenschaftliche Einrichtungen begonnen, sich mit diesem Thema zu befassen. In einem Land, in dem mehr als 100.000 Menschen verschwunden sind, sollte die gesamte Gesellschaft einbezogen werden. Die Einrichtungen begleiten Ermittlungen gegen kriminelle Netzwerke. Sie helfen uns beim Dokumentieren und auch dabei, Statistiken zu verstehen und Berichte zu erstellen. Aber wir würden uns wünschen, dass sie noch stärker einbezogen werden. Es gibt noch viel zu tun. Es geht darum, die mexikanische Gesellschaft weiter zu sensibilisieren. Darum, dass wir solidarisch sind – auch dann, wenn wir selbst noch nicht betroffen sind. Denn andere Menschen sind betroffen.

Der Journalismus hat verbreitet, was passiert. Das war ausschlaggebend. Journalist*innen haben mit ihren Berichten die fehlenden Informationen und die fehlenden Untersuchungen der Regierung etwas kompensiert. Sie geben den Opfern eine Stimme. Das ist sehr wichtig. Zudem versuchen sie zu erklären, was genau passiert. Sie haben es geschafft, dieses Problem sehr menschlich zu betrachten. Etwa, indem sie die Geschichten von Müttern und Familien er- zählen. Oder indem sie von den Hindernissen berichten, die Familien bei der Suche nach den Verschwundenen überwinden müssen. Der Journalismus ist eine der mutigsten Stimmen, die wir in Mexiko haben.

Wie messen Sie den Erfolg Ihrer Arbeit in diesem schwierigen Umfeld?

Die Verschwundenen zu finden, wäre der größte Erfolg. Lebend. Oder, falls nicht, „zumindest ihre Überreste“, wie die Familien es sagen. Ein Erfolg wäre auch, wenn Menschen verurteilt würden für das, was in Mexiko geschehen ist. Wir messen den Erfolg vor allem an der Stärke der Familien. In dem täglichen Kampf, den sie austragen, obwohl sie so viele wirtschaftliche und andere Schwierigkeiten haben. Sie treten vereint auf: um die öffentliche Ordnung des Landes zu verändern, um die Verschwundenen zu finden, um neue Strategien für die Suche und die Gerechtigkeit zu entwickeln. Manche Situationen, die anfangs schmerzhaft sind, enden in gewisser Weise als Erfolg. Wenn es uns gelingt, einige Überreste zu identifizieren, macht uns das traurig, aber es macht uns auch glücklich. Denn es ist eine Antwort, zumindest für diese eine Familie. Sie kann dann mit diesem Kapitel abschließen, mit dieser offe- nen Folter. 2013 gelang es uns, die Generalstaatsanwaltschaft dazu zu bringen, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, um die Überreste von drei Massakern an Migrant*innen zu identifizieren.

Wie ist Ihnen das gelungen?

Das schafften wir mit Hilfe des argentinischen Teams für forensische Anthropologie, elf Organisationen aus der Region und Familienkomitees. Das war für uns ein Erfolg. Denn damals war Mexiko noch dabei, sein gesamtes forensisches System umzustrukturieren. Es ist uns auch gelungen, die Regierung dazu zu bewegen, mexikanische Botschaften und Konsulate für Betroffene zu öffnen. Dort können Familien nun die Suche nach ihren Angehörigen beantragen und Anzeigen erstatten. Das ist wichtig. Denn Mexiko muss sich an die Opfer wenden. Die Opfer sollten nicht zusehen müssen, wie sie hierherkommen, um Anzeige zu erstatten. Letztes Jahr ist es uns gelungen, einen nationalen Suchmechanismus einzurichten. Er kann alle Informationen über vermisste Migrant*Innen aus Zentralamerika mit Informationen aus den Vereinigten Staaten und Mexiko zusammenführen. Damit versuchen wir dann, Suchmuster auf regionaler Ebene zu erkennen. Das machen wir gemeinsam mit der Nationalen Suchkommission, einem Runden Tisch für Migrant*innen.

Frau Delgadillo, warum ist es so wichtig, Informationen über diesen Kampf zu verbreiten, um die internationale Solidarität zu stärken?

Eine erste Botschaft ist: Menschen verschwinden zu lassen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch dann, wenn es nicht in unserer Nähe passiert. Dieses Thema betrifft uns alle, denn seine Auswirkungen sind äußerst schwerwiegend. Deshalb ist Solidarität immer notwendig. Sie ist vor allem für die Familien notwendig, aber auch für alle Journalist*innen und Verteidiger*innen, die in diesem Bereich arbeiten. Dass in der Berichterstattung auch Familien zu Wort kommen, ist immer wichtig. Denn sie sind diejenigen, die mit allen möglichen Hindernissen konfrontiert sind. Für uns sind sie die Hauptakteur*innen. Diejenigen, die uns Wege öffnen: bei der Suche, der Gerechtigkeit und der Wiedergutmachung in unserem Land.

VIER FRAUEN, EIN GEMEINSAMER KAMPF

Gerechtigkeit Protestaktion von Me Muevo Por Colombia gegen die Kriminalisierung der ermordeten Mile Martin (Foto: Me Muevo de Colombia)

Während eines dreitägigen Mexikobesuches im September dieses Jahres traf sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unter anderem mit Müttern von Verschwundenen. Zu ihnen gehört auch Ana* aus Honduras. Sie ist seit 2012 in Mexiko, um ihren Sohn Óscar Antonio López Enamorado zu finden, der im Jahr 2010 in Jalisco verschwunden ist. Er gehört zu über 100.000 Menschen, die in Mexiko offiziell vermisst werden.

Amtliche Zahlen über gewaltsam verschwundengelassene Migrant*innen existieren nicht. Während nach Angaben des Nationalen Registers verschwundener und vermisster Personen (RNPDNO) 2.414 Einwander*innen als vermisst gelten, geht die zivilgesellschaftliche Organisation Movimiento Migrante Mesoamericano von 80.000 Migrant*innen aus, die in Mexiko verschwunden sind.

Wie die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko in einer Presseerklärung zur Reise von Bundespräsident_Steinmeier kritisiert, stehe die mexikanische Politik und Gesellschaft noch immer vor denselben Herausforderungen wie vor Ló-pez Obradors Amtsantritt im Jahr 2018. Denn obwohl die Regierung die Menschenrechtskrise anerkannt und Reformprozesse eingeleitet hat, fehle der Wille zur konsequenten Umsetzung von Gesetzen. Aus diesem Grund setzt auch Ana bei der Suche nach ihrem Sohn nicht auf die mexikanische Regierung, sondern vor allem auf eigenen Aktivismus. In ihrem täglichen Kampf um Antworten hat sie schon an zahlreiche Türen staatlicher Institutionen geklopft, Suchaktionen gestartet, Berichte verfasst und Anzeigen gestellt. Da sich die Mühlen der mexikanischen Bürokratie nur sehr langsam drehen, Verschwundene aber so schnell wie möglich gefunden werden sollen, hat sich die Honduranerin mit anderen Aktivist*innen zusammengeschlossen und das Netzwerk Red Regional de Familias Migrantes gegründet.

Gemeinsam mit dieser Gruppe unterstützt Ana andere Mütter dabei, ihre verschwundenen Angehörigen in Mexiko zu finden. Hierfür organisieren sie Demonstrationen, errichten und pflegen Denkmäler, starten Petitionen, halten Reden, geben Präventionsworkshops und bauen ein internationales Netzwerk auf, um sich weltweit gegen das Verschwindenlassen von Migrant*innen einzusetzen. Im Gespräch erläutert Ana ihre Devise klar und deutlich: „Nicht schweigen. Weiterhin unsere Stimme erheben. Diese untätigen Behörden weiterhin entlarven. Weiterhin die Familien begleiten. Sobald etwas passiert, weiterhin berichten, was passiert und nicht nachlassen. Mit dem Kämpfen nicht ruhen. Mit anderen Worten: Wir müssen hartnäckig sein, wir müssen eigensinnig sein, damit dies ein Ende hat. Denn wenn wir ruhig und passiv bleiben, wird nichts passieren“. Dass man selbst etwas tun muss, um Veränderungen zu bewirken, weiß auch Yarima. Sie stammt aus Kolumbien und ist zum Studieren nach Mexiko gekommen. Yarima ist Mitbegründerin des Kollektivs Me Muevo por Colombia. Die Gruppe besteht vor allem aus Frauen und Studierenden.

Die massive Protestbewegung der Bauern und Bäuer*innen 2013 in Kolumbien war damals der Ausgangspunkt für die Gründung des Kollektivs. Yarima hat sich daraufhin mit anderen Personen aus Kolumbien in Mexiko zusammengeschlossen, um sich mit den sozialen Bewegungen für den Frieden und gegen die sozialen Ungleichheiten in ihrem Herkunftsland zu solidarisieren.

Seit 2015 ist das Kollektiv auch gegen Feminizide an kolumbianischen Frauen in Mexiko politisch aktiv. In Mexiko werden täglich im Durchschnitt zwischen zehn und elf Frauen Opfer von Feminiziden, also geschlechtsspezifischen Morden. Bezogen auf die Feminizide an kolumbianischen Frauen erzählt Yarima, dass deren Kriminalisierung und Diffamierung durch die Medien und das Justizsystem ein großes Problem darstellt: „Eine Frau kolumbianischer Herkunft wird in Mexiko ermordet – und das Justizsystem, das für Gerechtigkeit sorgen sollte, kriminalisiert und reviktimisiert sie im Einvernehmen mit den Medien. Das ist ein Muster, das wir in mehreren Fällen beobachtet haben. Informationen über den Fall werden an die Boulevardpresse weitergegeben, die versucht, der Frau die Schuld an ihrem Tod zu geben. Diese Presse informiert falsch über Aspekte ihres Lebens. Dies dient dazu, sie zu diskreditieren und nicht zu ermitteln. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Arbeit der Frau oder verwendet die traditionelle Art, von Feminiziden abzulenken, indem sie Geschichten über Drogen und Alkohol erfindet“, erklärt Yarima. Vor allem bei Sexarbeiter*innen komme diese Herabwürdigung vor.

Zwischen zehn und elf Frauen werden in Mexiko täglich Opfer von Feminiziden

Anfangs hatte das Kollektiv es vermieden, sich öffentlich über solche Themen in Mexiko zu äußern, da der Verfassungsartikel 33 Ausländer*innen verbietet, sich in die politischen Angelegenheiten des mexikanischen Staates einzumischen. Doch weil immer mehr Fälle von Feminiziden an kolumbianischen Frauen in Mexiko an sie herangetragen wurden, entschieden sie, sich öffentlich dazu zu positionieren. „Es ist ein Thema, das uns betrifft, weil wir in Mexiko leben. Als Frauen müssen wir uns damit in Mexiko auseinandersetzen, da es sich um eines der gewalttätigsten Länder der Welt handelt. Als Kolumbianerin kommt dann noch die Last der Diskriminierung hinzu; Fremdenfeindlichkeit und Ungerechtigkeit“, sagt Yarima.

Diese Problematik hat Yarima und ihre Mitstreiter*innen auf die Straßen bewegt. Seit jeher gehen sie gegen die Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen vor. Das Kollektiv organisiert Demonstrationen, die Fälle von Diffamierung und Kriminalisierung von immigrierten Kolumbianer*innen bei mexikanischen Behörden melden oder die kolumbianische Botschaft zum Handeln auffordern. Dabei überschneidet sich der Aktivismus von Yarima und dem Kollektiv Me Muevo por Colombia mit vielen Forderungen der mexikanischen feministischen Bewegung, die sich für ein Leben ohne Gewalt gegen Frauen und Mädchen einsetzt. Aus diesem Grund sind bei Protestaktionen oft auch mexikanische Aktivist*innen dabei.

„Wenn wir ruhig und passiv bleiben, wird nichts passieren“

Die von Yarima beschriebene strukturelle Diskriminierung gegen Migrant*innen geht auch von anderen staatlichen Institutionen aus. Insbesondere stehen das Nationale Migrationsinstitut (INM) und die Nationalgarde wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik. Beide Institutionen werden von der aktuellen Regierung zur Unterbindung der irregulären Migration eingesetzt. Allein im Jahr 2021 gingen bei der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 1.239 Beschwerden gegen das INM ein. Unter anderem wurde dem Institut vorgeworfen, Migrant*innen erniedrigend zu behandeln, Personen willkürlich zu inhaftieren oder sie einzuschüchtern. Zivile Menschenrechtsorganisationen gehen allerdings von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus, da viele Migrant*innen aus Angst vor negativen Folgen keine Beschwerden einreichen.

Yesenia (alias Tuty) aus El Salvador kennt diese Diskriminierungen bei Behördengängen nur zu gut und setzt sich als Privatperson für andere Migrant*innen ein. Sie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und lebt seit 32 Jahren in Mexiko. Nachdem Yesenia ihr Jurastudium in Mexiko absolviert und nun durch ihre Arbeit in einem Rathaus in Mexiko-Stadt ein festes Einkommen hat, hilft und begleitet sie in ihrer Freizeit ehrenamtlich andere Personen aus Zentralamerika und Südamerika bei juristischen Angelegenheiten. Dazu gehören unter anderem die Regularisierungsprogramme für einen Aufenthaltstitel (Regierungsprogramm zur Legalisierung des Aufenthaltsstatus, Anm. d. Red.) oder Registrierungen von in Mexiko geborenen Kindern. Da sie selbst während ihres Regularisierungsverfahrens Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft und ihrer Hautfarbe durch INM-Beamt*innen erfuhr, will sie nun anderen helfen: „Ich tue es, weil ich nicht will, dass sie leiden. (…) Weil ich gelitten habe, möchte ich allen anderen helfen“. Einmal wurden Yesenia die Antragspapiere vor die Füße geworfen – sie solle sich keine Hoffnung auf eine Aufenthaltserlaubnis machen, denn sie sei weder blond noch weißhäutig.

Yesenias Solidarität mit Personen, die nach Mexiko kommen, geht so weit, dass sie oft Unbekannte bei sich übernachten lässt. Es sind meistens Familien, die in keiner Herberge für Migrant*innen unterkommen konnten und sonst auf der Straße hätten schlafen müssen. „Meine Kinder haben schon vorgeschlagen, unsere Wohnung in Herberge Tuty umzubenennen“, scherzt Yesenia. Migrant*innenherbergen werden in Mexiko zum größten Teil von zivilgesellschaftlichen Organisationen verwaltet. Sie unterstützen Migrant*innen, indem sie unter anderem Unterkunft, Essen, Kleidung, aber auch Rechtsbeistand und medizinische Hilfe anbieten. Doch oft sind diese Einrichtungen überbelegt, nicht jede Person kann bleiben. Bei Yesenia haben deswegen schon einige Migrant*innen eine warme Mahlzeit und einen Platz zum Schlafen bekommen.

Yesenia solle sich keine Hoffnung auf eine Aufenthaltserlaubnis machen, sie sei weder blond noch weißhäutig

Obwohl die Diskriminierung von Migrant*innen ein weit verbreitetes Problem ist, betonen Ana, Yarima und Yesenia, dass sie auch Mexikaner*innen kennen, die hilfsbereit und solidarisch sind. Die Venezolanerin Andrea, die vor sieben Jahren mit ihrem Sohn nach Mexiko kam, will sich deshalb mit ihrem sozialen Aktivismus für diese Unterstützung bei der mexikanischen Gesellschaft bedanken. Wie die anderen Frauen hat sie sich im Land ein neues Leben aufgebaut: „Mir geht es jetzt gut und deswegen wollte ich anderen helfen, die weniger haben. Es ist eine Gelegenheit, sich für die Möglichkeiten, die wir hier bekommen haben, dankbar zu zeigen. Außerdem geht es darum, sich gegenseitig zu unterstützen, damit die schwierigen Zeiten nicht so unangenehm sind“.

Spieltag mit der Gruppe Venezolanos al Rescate (Foto: Venezolanos Al Rescate)

Mit anderen Venezolaner*innen hat Andrea 2018 die Gruppe Venezolanos al Rescate gegründet. Gemeinsam unterstützen sie in Mexiko vor allem Kinder und Familien in armen Verhältnissen. Denn laut dem mexikanischen Rat für die Bewertung der sozialen Entwicklungspolitik (CONEVAL) leben immer noch 19,5 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Aus diesem Grund organisiert Andrea mit ihrer Gruppe in abgelegenen Ortschaften zum Kindertag am 30. April Feiern, bei denen sie auch Essen, Kleidung und Spielzeug verteilen. Außerdem verschenken sie zum Schulbeginn Materialien, die zuvor an die Gruppe gespendet wurden. Neben diesen Aktionen, die sich vor allem an Kinder mit mexikanischer Staatsangehörigkeit richten, unterstützt Venezolanos al Rescate auch Personen aus Venezuela: Venezolaner*innen, die in Mexiko bleiben wollen, sich im Transit durch Mexiko befinden oder die in Venezuela leben. So hat die Gruppe aufgrund der humanitären Krise im Land auch schon Pakete mit Medikamenten nach Venezuela verschickt.

Ein Aktivismus, der von Medien kaum beachtet wird

Die vier hier porträtierten Frauen stehen nicht repräsentativ für alle Migrant*innen aus Zentral- und Südamerika in Mexiko. Sie kommen aus verschiedenen Herkunftsländern und haben sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten. Doch ihre Geschichten geben Einblick in einen Aktivismus, der von den Medien kaum beachtet wird. Diese Seite Mexikos, das zum Ankunftsland für Menschen aus Zentralamerika, Südamerika und der Karibik geworden ist, wird selten zum Thema gemacht.

Doch es sind starke Geschichten von Frauen, die anderen Menschen in Mexiko helfen und dafür keinerlei Gegenleistung einfordern. Ana, Andrea, Yarima und Yesenia haben sich unabhängig voneinander organisiert. Doch ihre vielfältigen und solidarischen Formen von Aktivismus haben eine Gemeinsamkeit: Sie alle richten sich gegen Ungerechtigkeiten in Mexiko, die in neoliberalen, patriarchalen und rassistischen Strukturen wurzeln.

* Auf Wunsch der Protagonistinnen und um ihre Sicherheit zu gewährleisten, werden nur die Vornamen verwendet.

// ES HERRSCHT KRIEG

Viele Menschen werden grausam und skrupellos ermordet, noch mehr Menschen verlieren ihr Zuhause, packen das Notwendigste, um zu fliehen und hoffen darauf, dass ihnen irgendwo Schutz gewährt wird. Familien werden getrennt, Verzweiflung überall. Seit der russische Präsident Wladimir Putin seinen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen hat, passiert das nicht einmal zehn Autostunden von Deutschland entfernt in der Ukraine. Wir verurteilen die Aggressionen der russischen Führung und fordern ihre sofortige Beendigung.

Immerhin: Inmitten des Leids gibt es auch viele Bürger*innen, Unternehmen und staatliche Institutionen, die Solidarität zeigen – auch in Deutschland. Züge und Busse werden bereitgestellt, an den Bahnhöfen nehmen vor allem freiwillige Helfer*innen die Geflüchteten in Empfang. Auch wenn vieles chaotisch läuft – die Grundversorgung funktioniert. Ukrainer*innen erhalten vergleichsweise unbürokratisch einen Aufenthaltstitel, Sozialleistungen und eine Arbeitserlaubnis. Für die Betroffenen ein Lichtblick in ihrer schrecklichen Situation. Wir begrüßen es sehr, dass aktuell viel dafür getan wird, den geflüchteten Ukrainer*innen in ihrer Notlage zu helfen.

Wie schön wäre es aber, wenn allen Geflüchteten in einem solchen Maße Solidarität entgegengebracht würde. Auch in Afrika, im Mittleren Osten oder in Lateinamerika herrschen an vielen Orten dauerhaft kriegerische Konflikte. Sie werden meistens nicht als „Krieg” betrachtet, obwohl nationale sowie internationale Regierungen beteiligt sind. Diese Handlungen in der „Peripherie” gehen heute von bewaffneten staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen aus, die die Bevölkerung terrorisieren und den Betroffenen keine Chance lassen, sich wirksam vor ihnen zu schützen. Das individuell und gesellschaftlich verursachte Leid wird dadurch jedoch keineswegs kleiner.

In Mexiko, Kolumbien und Brasilien wurden in den vergangenen Jahren monatlich jeweils mehr als 1.000 Menschen getötet. Dort gelangen deutsche Waffen durch illegale Lieferungen, etwa von Heckler & Koch oder Sig Sauer, immer wieder auch in die Hände derjenigen, die Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen, Journalist*innen und Politiker*innen ermorden. Laut Schätzung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte entspricht die Anzahl dieser Morde in etwa der Anzahl der nicht an den Kämpfen beteiligten Menschen, die in der Ukraine umgebracht wurden. Dennoch erfahren die Opfer dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen unterschiedlich viel Aufmerksamkeit. Konflikte in Lateinamerika und anderswo finden nicht vor unserer Haustüre statt. Und im Unterschied zur Ukraine flüchten in aller Welt nicht vorwiegend weiße Europäer*innen, sondern oft Menschen mit einer anderen Hautfarbe und/oder Religion. Sie haben es unendlich viel schwerer, in der EU aufgenommen zu werden und meist kaum eine Chance auf ein Bleiberecht und eine Arbeitserlaubnis. Diese Ungleichbehandlung ist durch nichts zu legitimieren und verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, die eine Diskriminierung „aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslandes” verbietet.

Wir wollen nicht hinnehmen, dass es Geflüchtete „niedrigeren” und „höheren” Ranges gibt. Angesichts dieser Widersprüche in der Flüchtlingspolitik, die durch den russischen Angriffskrieg und seine Konsequenzen erneut deutlich werden, fordern wir, dass alle Menschen, die in ihrer Heimat von Krieg und Ermordung bedroht sind, nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis das gebotene Maß an Hilfsbereitschaft erfahren – unabhängig von ihrer Herkunft. Russlands Invasion in der Ukraine ist grauenvoll. Zu wünschen bleibt, dass ihre Folgen ein Umdenken in Gesellschaft und Politik bewirken, zukünftig nicht mehr „Kapazitätsgrenzen” vorzuschieben, sondern allen Schutzsuchenden einen neuen Anfang und sicheren Zufluchtsort zu ermöglichen.

EGOZENTRISCH UND EHRLICH

Foto: Sheena Matheiken

„Wenn du nicht mehr so aggressiv bist, kannst du anfangen. Sag mir, wenn du bereit bist.“ Rebecas Mutter ist sauer. Die Interviewfragen hat sie sich anders vorgestellt. Wie es ist, Schwarze Kinder zur Welt gebracht zu haben? „Ich bin Latina, aus Venezuela. Mit allem anderen kenne ich mich nicht aus“, wiederholt sie gebetsmühlenartig. Und bringt damit wieder ihre Tochter auf die Palme, der eine andere Antwort für ihren Film Beba wohl besser ins Konzept gepasst hätte.

Es spricht für Rebeca Huntt, die Interviewerin und Regisseurin ihrer autobiografischen Dokumentation, dass diese Szene trotzdem nicht dem Schnitt zum Opfer gefallen ist. Denn sie zeigt, dass der Kampf um Identität und Anerkennung in einer multiethnischen Stadt wie New York kein leichter ist und jede*r ihn auf eigene Weise führen muss. Für Beba (Rebecas Spitzname) bedeutet das zunächst Beschäftigung mit ihrer Herkunft. Ihr Vater war Plantagenarbeiter in der Dominikanischen Republik. Als die Auswüchse der Diktatur Trujillos immer schlimmer werden, flieht er mit Frau und drei Kindern auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in die USA. In New York angekommen bezieht die Familie ein winziges Zwei-Zimmer-Apartment am Central Park West. Die Entscheidung für die viel zu kleine Wohnung fällt, weil sie in einem besseren Viertel liegt, als diejenigen in denen viele andere Migrant*innen wohnen. Aus Sorge um die Sicherheit, wie Bebas Vater rechtfertigt: „Wären wir woanders hingezogen, würde mindestens eines von euch Kindern heute wohl nicht mehr leben“.

Ein Zuckerschlecken ist das Aufwachsen und Leben als Migrantin im Big Apple trotzdem nicht. Das zeigen Huntts Erzählungen und die oftmals privat gefilmten Videoaufnahmen, die sie collagenartig (aber weitgehend chronologisch) zusammengestellt hat. Ihre Schwester kämpft mit Drogenproblemen, ihr Bruder entfremdet sich von der Familie (und ist wohl auch deshalb in keinem Interview zu sehen). Rebeca, selbst kein einfacher Charakter (laut eigenem Off-Kommentar „stolz, stur, narzisstisch, chronisch grausam“), wendet sich der Kunstszene und der Black Lives Matter-Bewegung zu und bekommt einen Studienplatz an der renommierten Künstler*innenakademie Bard College. Das gibt ihr zwar einerseits die Möglichkeit, die Suche nach ihrer Identität zu vertiefen. Andererseits muss sie auch dort ihren Weg zwischen Anpassung und Auflehnung gegen die bürgerlich-weiß dominierten Strukturen erst finden.

Beba ist ein dicht komponierter und ehrlicher Blick auf migrantisches Leben in der Black / Latinx-Community in New York. Die Dominanz des autobiografischen Videomaterials lässt den Film allerdings streckenweise etwas zu selbstreferentiell werden. In manchen Momenten wirken die Episoden aus Familien- und Freund*innenkreis beliebig und erinnern an selbstgedrehte Videos von Abitur- oder Klassenfahrten. Huntts Eingangsfrage, warum Gewalt in ihrer Familiengeschichte derart stark verankert ist, gerät im Laufe des Films ein wenig aus dem Blick, genau wie die mögliche Einordnung in den größeren Kontext von Migration und Rassismus – was zum Großteil natürlich der bewusst radikal persönlichen Perspektive geschuldet ist. Auch so bleibt Beba aber ein interessantes und aufgrund seiner charismatischen Protagonistin jederzeit unterhaltsames Schlaglicht auf die Herausforderungen des Lebens lateinamerikanischer Migrant*innen in New York.

 

// NUR DAS KLEINERE ÜBEL

Am 6. April machten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel dem autoritären türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Ankara ihre Aufwartung. Dabei fand von der Leyen zwar kritische Worte, etwa zur kürzlich seitens der Türkei erfolgten Aufkündigung der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt oder zum Allgemeinplatz der Achtung von Menschenrechten und internationalem Recht. Doch an dem milliardenschweren Deal von 2016, mit dem sich die EU in der Türkei eine vorgelagerte Außengrenze erkauft hat, wird nicht gerüttelt. So wird Millionen von Schutzsuchenden effektiv die Asylsuche in der EU verwehrt.

Nicht nur in Europa ist das Outsourcing der Drecksarbeit die gängige Praxis. Auch die USA hatten 2019 unter Donald Trump mit den Regierungen von El Salvador, Guatemala und Honduras Abkommen zur Verhinderung von Migration geschlossen. Die Länder wurden de facto zu sicheren Drittstaaten erklärt, sodass alle Migrant*innen, die in die USA einreisen wollen, in diesen Staaten Asyl beantragen müssen. Trumps Nachfolger Joe Biden hat diese Migrationsverträge dieses Jahr wieder gekippt. Er steht zwar für eine weniger restriktive Politik als Trump, für eine offene Einwanderungspolitik steht er freilich nicht. Biden hat angekündigt, den Regierungen in Mittelamerika zu helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen und diese auch finanziell zu unterstützen. Wie er das gemeinsam mit den Autokraten in El Salvador, Guatemala und Honduras erreichen will, bleibt aber sein Geheimnis.

Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris mit der Migrationspolitik betraut und mit Ricardo Zúñiga Anfang April einen Sondergesandten ins „nördliche Dreieck“ geschickt. Zúñiga führte Gespräche mit Vertreter*innen aus Staat und Zivilgesellschaft in Guatemala und El Salvador, ein Treffen mit dem autoritären Präsidenten Nayib Bukele kam nicht zustande. Honduras wurde gänzlich ausgespart, vielleicht aufgrund der vermuteten Verstrickung des Präsidenten Juan Orlando Hernández in den Drogenhandel. Diese Distanz ist ein Unterschied zum Vorgänger Trump, verstand dieser sich doch bestens mit Bukele und Hernández und machte sich keine Mühe, zivilgesellschaftliche Organisationen oder Anti-Korruptionsinstitutionen in der Region zu fördern.

Allerdings ist Biden kein unbeschriebenes Blatt. Grundsätzlicher Wandel ist von dem ehemaligen Vizepräsidenten von Barack Obama nicht zu erwarten – weder beim Thema Migrationspolitik noch bei den Freihandelsabkommen USMCA (NAFTA-Nachfolger) und DR-CAFTA. So verwundert weder sein an die Migrant*innen gerichteter Appell, sich gar nicht erst auf den Weg zu machen, noch die nun unlängst bekannt gewordenen Pläne zum teilweisen Weiterbau von Trumps Grenzmauer ­– trotz gegenteiliger Wahlversprechen. Von den 172.000 Schutzsuchenden, die im März die US-Grenze erreichten, wurden 104.000 auf Basis einer unter Trump – offiziell zum Schutz vor der Ausbreitung der Covid-19-Pandemie – erlassenen Order nach Mexiko abgeschoben.

Bereits als Vizepräsident versuchte Biden im Rahmen der „Allianz für Wohlstand“ Fluchtursachen in Zentralamerika zu beseitigen. Erfolglos. Die Menschen machten sich weiterhin auf den Weg. Die Maßnahmen, mit denen jetzt sichergestellt werden soll, dass die Hilfen für Zentralamerika zielgerichtet ankommen, gehören in den Kanon der „guten Regierungsführung“. Damit haben die USA schon in den vergangenen 60 Jahren mit überschaubarem Erfolg operiert. An die strukturellen Fluchtursachen wird er seine Hand so wenig legen wie seine Vorgänger: Eine unfaire Welthandelsordnung und der Klimawandel, die in Mittelamerika Einkommensperspektiven zerstören, autoritäre Strukturen und die organisierte Kriminalität, die Gewalt fördern. Wenn es in Mittelamerika an einem nicht mangelt, sind es Fluchtursachen.

 

KARAWANE IN DEN NORDEN

An der Grenze zu Guatemala 40 Prozent der honduranischen Jugendlichen planen auszuwandern (Foto: Radio Progeso)

Guatemaltekische Sicherheitskräfte haben die Karawane von über 7.000 honduranischen Migrant*innen unterdrückt und mit Gewalt auseinandergetrieben. Die Bilder spiegeln die humanitäre Krise, die Honduras momentan durchlebt und die auf die geschwächten Institutionen des Landes zurückzuführen ist. Die Regierung nutze die wenigen vorhandenen Ressourcen, um der Korruption und den Drogenkartellen in die Hände zu spielen. Dabei verletze sie die Grundrechte der Bevölkerung, meint Elvin Hernández, Präsident der jesuitischen Menschenrechtsorganisation ERIC, die Radio Progreso betreibt, im Interview.

Die Coronapandemie und die wirtschaftlichen Schäden nach den Hurrikanes Eta und Lota im November 2020 haben die humanitäre Krise in Honduras noch verstärkt. „Die Karawane zeigt die Verzweiflung der Menschen, die Arbeitslosigkeit, Hunger und die Zerstörung ihrer Häuser ausgelöst haben. Und dann müssen sie noch mit ansehen, wie jegliche Antwort des Staates ausbleibt“, so Elvin Hernández weiter.

Die Migrant*innen machen den honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernández für die Krise verantwortlich. Sie sind sich darin einig, dass der Präsident sein Amt niederlegen sollte, damit er strafrechtlich verfolgt und für seine direkten Verbindungen zum Drogenhandel und die massive Veruntreuung von Mitteln der öffentlichen Hand zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, warum sich die Karawane nicht auf den Weg zum Palast des Präsidenten aufmacht. Warum wird der Slogan „Weg mit Juan Orlando Hernández” stattdessen in andere Länder getragen? Elvin Hernández glaubt, dass es auf diese Fragen keine einfachen Antworten gibt. Für ihn scheint es, als habe die Bevölkerung aufgehört, Honduras als ein Land zu betrachten, das den Menschen Alternativen anbieten kann. Für die Bevölkerung gebe es keine politische Partei, die das Land reformieren könne. „Unser Gefühl sagt uns: Hier gibt es nichts zu tun!“, führt Elvin Hernández weiter aus und erklärt, dass ein weiterer triftiger Grund für die Migration die Beziehungen der Migrant*innen zu ihren Familienmitgliedern in den USA sind. „Die Leute leben von den Überweisungen ihrer Verwandten und glauben, dass sie in den USA die Antworten finden können, die ihnen in Honduras fehlen. Das hat auch mit dem brüchigen sozialen Gefüge und einem Mangel an politischer Bildung zu tun.”

Nach Studien der lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLASCO) führt das hohe Niveau von Gewalt und Armut, der Mangel an Arbeitsplätzen und der fehlende Zugang zu Bildung dazu, dass vier von zehn honduranischen Jugendlichen auswandern oder dies planen.

Der Vorsitzende von FLASCO Honduras, Rolando Sierra, berichtet, dass Jugendliche häufig Opfer organisierter Gewalt werden und es ihnen an Perspektiven mangele, um weiterhin in einem verwüsteten Land zu leben. Sierra erklärt: „Trotz der Grenzmauer und der Repression durch den guatemaltekischen Staat wird es 2021 eine starke Migrationsbewegung geben. Faktoren im Inneren von Honduras zwingen die Menschen dazu, ihr Land zu verlassen“.

Die Pandemie als Rechtfertigung einer gescheiterten Migrationspolitik

Laut dem Koordinator des jesuitischen Netzwerks der Migrant*innen in Guatemala, José Luis Gonzáles SJ, bildet die Coronapandemie für die Regierungen Mexikos und Guatemalas die perfekte Rechtfertigung dafür, die Karawane aus Honduras die Grenzen nicht passieren zu lassen. Dabei lassen sie unbeachtet, dass die Migration nicht freiwillig geschieht und ihre Ursachen struktureller Natur sind. Im Vergleich zu früheren Jahren besteht die aktuelle Karawane in der Mehrheit aus unbegleiteten Minderjährigen, die die Gewalt und die verschärfte Armut, die Pandemie und die Tropenstürme 2020 zu Waisen gemacht haben. Es sind erschütternde Bilder: Kinder, die ohne jegliches Gepäck unterwegs sind und Familien, die einzig und allein von der Hoffnung angetrieben werden, die USA zu erreichen, weil sie in Honduras nichts haben.

Gonzáles beklagt weiterhin, dass Guatemala die Pandemie als Ausrede benutze, um die Forderungen der USA zu erfüllen. Ihm zufolge versucht das Land schon seit geraumer Zeit, das CA-4-Abkommen aufzuheben, das den Menschen zumindest theoretisch ermöglicht, sich in Zentralamerika frei zu bewegen.

In der Vergangenheit hatte sich die guatemaltekische Bevölkerung solidarisch mit den honduranischen Migrant*innen gezeigt. Doch die Pandemie ruft eine Situation hervor, in der die Gesellschaft in einem Klima der Angst gefangen ist. Außerdem hätten die Menschen keine Kapazitäten, um sich zu organisieren und eine solidarische Antwort auf den Hunger und die Kälte, unter denen die Migrant*innen leiden, zu finden, analysiert Úrsula Roldán, Wissenschaftlerin und Koordinatorin vom Institut für Migration der Universität Rafael Landívar in Guatemala gegenüber Radio Progreso.

Laut Roldán steht den Migrant*innen auf guatemaltekischem Territorium eine schmerzliche Zukunft bevor. Ein weiterer Grund dafür ist die Anordnung der Regierung von Alejandro Giammattei, die es internationalen Organisationen wie der UNO Flüchtlingshilfe in Guatemala verbietet, humanitäre Hilfe zu leisten, sodass Hunger und Repression die Menschen dazu zwingen, an die Grenze in den Norden zurückzukehren.

www.radioprogresohn.net

ERST EINGESPERRT, DANN AUSGESETZT

Kreative Fortbewegung Überquerung des Río Suchiate von Guatemala nach Mexiko und zurück (Fotos: Timo Dorsch)

Die Auswüchse der diskriminierenden Migrationspolitik Mexikos zeigen sich während der Corona-Pandemie in ihrer brutalsten Form, steht für Aldo Ledón fest. Für den Aktivisten und Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Voces Mesoamericanas liegt die Verantwortung beim Staat: “Die Regierung lässt Schutz suchende Menschen links liegen und begeht Menschenrechtsverletzungen.“ Erkrankte Migrant*innen etwa würden nicht behandelt und anderen kein Schutz vor einer Ansteckung geboten. Er erinnert daran, dass es sich bei diesen Menschen um „Opfer von Zwangsumsiedlungen, sexualisierter Gewalt, organisierter Kriminalität, politischer Verfolgung oder ökonomischer Verarmung“ handelt. Sie würden nun an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt und seien „multiplen-Krisen“ ausgesetzt. Rita Robles, Menschenrechtsaktivistin und Mitarbeiterin des nichtstaatlichen Menschenrechtszentrums Fray Matías Córdova, fügt hinzu, dass ihnen ohnehin schon jegliche Menschenrechte, wie „das Recht auf Freizügigkeit, Arbeit, Gesundheit oder Bildung“ vorenthalten werden. Prekäre Lebenslagen seien schon lange der Status quo für Migrant*innen in Mexiko: „Nicht einmal essenzielle Bedürfnisse werden durch die staatliche Migrationsarbeit ausreichend abgedeckt“.

Es sei wichtig, den historisch politischen Kontext zu begreifen, der zur aktuellen Krise geführt habe, erklärt Aldo Ledón. Sie sei nämlich keineswegs erst dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie geschuldet. Mexiko gelte vor allem für Menschen aus Zentralamerika traditionell als Auffangbecken. Die Volkswirtschaft des Landes − insbesondere der informelle Arbeitssektor – profitierte seit Langem von der billigen Arbeitskraft der Migrant*innen. Erst der Diskurs der Regierungen des 21. Jahrhunderts präsentiert Migration als „neues Phänomen“, das aus Gründen der nationalen Sicherheit bekämpft werden müsse. Aldo Ledón betrachtet es als polemisch, nationale Sicherheit in Verbindung mit Migration zu setzen. „Menschen in Notlagen haben das Recht auf Migration und der mexikanische Staat steht in der Sorgfaltspflicht, die Einhaltung dieses Rechts sicherzustellen“. Die Stigmatisierung von Migrant*innen ziehe sich wie ein roter Faden auch durch den Diskurs des amtierenden Präsidenten Ándres Manuel López Obrador.

Offiziell zuständig für in Mexiko ankommende Migrant*innen ist das Nationale Institut für Migration (INM). Ihm obliegt die Umsetzung der föderalen Migrationspolitik. Regierungsvorgaben entsprechend registriert es Migrant*innen bei ihrer Ankunft an der Südgrenze Mexikos zu Guatemala und Belize. Eigentlich soll es ihnen auch Information, Schutz und Unterkunft bieten. Nach Aldo Ledón würden die Menschen hier jedoch nur registriert, „um sie festnehmen und deportieren zu können“. Sie würden außerdem gegen ihren Willen in staatlichen Unterkünften (estaciónes migratorias) – in der Regierungsrhetorik auch „Herbergen“ genannt – festgehalten. Die staatlichen Unterkünfte „Herbergen“ zu nennen, sei reiner Euphemismus, da sie eigentlich nichts weiter als provisorisch hergerichtete Deportationsgefängnisse seien, findet er.

Die Migrationsbehörde in Tapachula An der Grenze zu Guatemala

Ende Februar registrierte das mexikanische Gesundheitsministerium die ersten Covid-19 Patient*innen. Daraufhin wurde landesweit ein gesundheitliches Abstandsgebot verhängt. Menschen wurden aufgefordert, alle nicht essenziellen Aktivitäten zu unterlassen und zu Hause zu bleiben. Doch die in den staatlichen Unterkünften lebenden Migrant*innen wurden über die Pandemie kaum informiert, berichtet Rita Robles. Lang sei die Regierung auf die Frage nach dem Umgang mit Covid-19 in den Unterkünften eine Antwort schuldig geblieben. Erst Anfang April legte das INM einen Plan zum Schutz der Gesundheit vor. Allerdings sei schnell klar gewesen, dass es keine realistischen Möglichkeiten geben würde, die Schutzmaßnahmen umzusetzen: „Das INM verfügt weder über Ressourcen, um einen angemessenen Hygienestandard in den staatlichen Unterkünften einzuhalten, noch um Erkrankte zu versorgen“, so Robles.

NRO stellen alternative Infrastrukturen für Migrant*innen bereit

Die Lage spitzte sich weiter zu, als mexikanische Medien den Tod eines Asylsuchenden in einer estación migratoria in Tenosique (Tabasco) meldeten. Insgesamt 41 Inhaftierte sollen gegen unzureichende Gesundheitsbedingungen protestiert und ihre sofortige Freilassung gefordert haben. Im Laufe der Ausschreitungen kam es zu einem Brand. Anstatt die Inhaftierten zu retten, sollen Beamt*innen die Ausgänge der Unterkunft versperrt haben, berichtet das linksalternative Nachrichtenportal animalpolítico am 1. April. Während sich der Großteil der Menschen dennoch befreien konnte, fiel Héctor Rolando Barrientos Dardón (42), ein guatemaltekischer Asylsuchender, dem Brand zum Opfer.

Der Leiter der nichtstaatlichen Unterkunft für Migrant*innen La 72 in Tenosique, Fray Gabriel Romero, wundert sich wenig über die Ausschreitungen. Die inhaftierten Migrant*innen seien einem hohen physischen und psychischen Leidensdruck ausgesetzt. In der besagten estación migratoria lebten sie zusammengepfercht auf engstem Raum. Zum Zeitpunkt des Aufstandes seien hier etwa 300 Menschen untergebracht gewesen, bei einer Höchstkapazität mit nur 100 Plätzen. „Regelmäßig wurde von Krankheitsausbrüchen wie Salmonellen durch verdorbenes Essen berichtet“, erinnert sich Gabriel Romero. Ein Fall, der den Leiter von La 72 besonders aufwühlt, ist die Verweigerung der medikamentösen Behandlung einer an Aids erkrankten Gefangenen. Diese habe aufgrund ihrer transsexuellen Genderidentität aus ihrem zutiefst konservativen Heimatland flüchten müssen. Er kann die Aufständischen verstehen: „Dies ist offenbar der einzige Weg, um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen.“

Aufgrund ähnlich prekärer Zustände komme es laut Rita Robles landesweit immer wieder zu Protesten in den estaciones migratorias. Es bestünde ein stetiger Mangel an Nahrungsmitteln und anderen lebensnotwendigen Ressourcen. Auch fließendes Wasser sei ein seltenes Luxusgut. Außerdem sei der Umgang der Regierungsbeamt*innen mit den Migrant*innen herablassend und von Rassismus geprägt. Voces Mesoamericanas und Fray Matías Córdova unterschrieben daher gemeinsam mit weiteren Nichtregierungsorganisationen (NRO), Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen am zweiten April die Forderung nach der Freilassung der Migrant*innen aus den staatlichen Unterkünften. Tatsächlich wurde dies Ende April durch einen richterlichen Beschluss genehmigt und Migrant*innen aus den estaciones migratorias der Städte Mexiko-Stadt, Monterrey, Tapachula, Tenosique, Tijuana und Villahermosa entlassen.

Für einen Großteil der Migrant*innen ist eine Rückkehr unmöglich

Was zunächst wie ein erster Erfolg für den Kampf um den gesundheitlichen Schutz der Migrant*innen erschien, entpuppte sich schon bald als eigentliche Verschlimmerung der bereits drastischen Situation. „Das INM transportierte Migrant*innen aus den estaciones migratorias im Norden an die Südgrenze des Landes und setzte sie dort ohne weitere Hilfeleistungen und mit der Aufforderung, nach eigenen Möglichkeiten in ihre Heimatländer zurückzukehren, einfach aus“, berichtet Rita Robles. Für einen Großteil der Migrant*innen ist eine Rückkehr jedoch unmöglich. Sie sind nun obdachlos und leben auf den Straßen in den Grenzstädten Tenosique und Tapachula. Auch dort nimmt die diskriminierende Behandlung der Migrant*innen kein Ende: „In Tapachula wurden öffentliche Plätze, wo sie zuvor übernachtet hatten, abgesperrt. Die Migrant*innen werden von allen staatlichen Instanzen ausgestoßen“, stellt Rita Robles bedauernd fest.

In den vergangenen zehn Jahren hat die zivilgesellschaftliche Mobilisierung gegen die humanitäre Notlage der Migrant*innen zugenommen. NRO und kirchliche Einrichtungen bilden mittlerweile ein wichtiges Gegengewicht zur restriktiven Migrationspolitik. Trotz knapper Ressourcen und unter Androhung von Repressalien seitens der Regierung, stellen sie autonome Infrastrukturen für alternative Hilfsmechanismen bereit. Mitarbeiter*innen von Voces Mesoamericanas oder Fray Matías Córdova sind kontinuierlich an den Grenzübergängen im Süden des Landes präsent, um die Arbeit des INM zu kontrollieren. Außerdem versorgen sie die Ankommenden medizinisch und bieten ihnen Rechtsbeistand an. Nach Bedarf organisieren sie die Überführung bedürftiger Menschen in alternative Unterkünfte wie in das La 72, um sie so vor einer Inhaftierung in den staatlichen Einrichtungen zu bewahren.

Gabriel Romero von La 72 hat viele Fragen an die Regierung. Für ihn besteht kein tragfähiger Grund, Migrant*innen zu registrieren und sie in Mexiko festzuhalten: „Die meisten Ankommenden wollen ja gar nicht bleiben, sondern weiter gen Norden in die USA. Daran werden sie bereits an der Südgrenze des Landes, zur Freude des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, gehindert”, meint Gabriel Romero. Er verweist auf das Treffen zwischen López Obrador und Trump am 8. Juli 2020 in Washington, zur Feier des nordamerikanischen Freihandelsabkommens USMCA (zuvor NAFTA), das seit dem 1. Juli in Kraft ist. Trump soll sich zuvor beim mexikanischen Präsidenten bedankt haben, „27.000 Soldaten an der Südgrenze Mexikos stationiert und dadurch die Migration aufgehalten“ zu haben. Tatsächlich sind laut dem mexikanischen Verteidigungsminister Luis Sandoval 6.500 Soldaten an der Südgrenze Mexikos im Einsatz. Gabriel Romero erklärt, dass Trump bereits 2018 den neu gewählten Präsidenten Mexikos gewarnt hatte, dass der Freihandel mit Mexiko nur weiterginge, wenn das Land den Migrationsstrom an seiner Nordgrenze „in den Griff“ bekäme. Trumps populistisches Vorhaben, eine Grenzmauer zwischen den Ländern erbauen zu lassen, habe sich nun dank der brutalen Migrationspolitik Mexikos erübrigt, so Gabriel Romero.

Trotz allem prognostizieren Rita Robles, Aldo Ledón und Fray Gabriel Romero einen massiven Anstieg der Migrationszahlen in absehbarer Zeit. Menschen würden aus existenzieller Not ihre Heimat verlassen, um in den Norden zu emigrieren. Für Aldo Ledón gleicht der Kampf um Menschenrechte in Mexiko einem Teufelskreis. Es sei klar, dass die Arbeit der Aktivist*innen keine reale Chance habe gegen die Regierungsmacht und ihre diskriminierende Migrationspolitik anzukommen. „Wir wissen, dass wir diesen Kampf nicht gewinnen können. Das was uns antreibt ist das Prinzip, so wenig wie möglich zu verlieren.”

BELASTUNGSPROBE FÜR DIE NACHBARSCHAFTLICHE SOLIDARITÄT

Solidarität in Krisenzeiten: Noch unterstützt die Stadtverwaltung die Geflüchteten (Foto: Victor Sánchez)

„Ich bin seit inzwischen zwei Jahren mit meiner Tochter in Kolumbien. Wir sind hier gut aufgenommen worden, die Leute sind hilfsbereit. In Venezuela ist das Geld nichts mehr wert, hier hingegen gibt es Möglichkeiten. Wir leben in einer Unterkunft, für die ich 7.000 Peso (rund 1,61 Euro) täglich bezahle.“ So wie die 24-jährige junge Mutter kommen viele Venezolaner*innen, die im Zuge der Migrationskrise nach Kolumbien ausgewandert sind, in sogenannten pagadiarios unter. Das sind einfache private Unterkünfte, die auf Tagesbasis an Migrant*innen vermietet werden. Diese verdienen ihr Geld vor allem als fliegende Händler*innen auf der Straße. In Zeiten von Corona und den damit einhergehenden Ausgangsbeschränkungen fallen diese Tätigkeiten als Einnahmequelle jedoch weitgehend aus. In der Folge können die Menschen ihre Tagesmiete nicht mehr aufbringen und verlieren schnell ihr Dach über dem Kopf. „Es handelt sich um Menschen, die von einem Tag auf den anderen leben und von ihrer Arbeit auch etwas Geld nach Hause schicken“, sagt Francine Howard von der Organisation Asociación Unidos por Venezuela. „Sie arbeiten im informellen Sektor und können derzeit kaum ihre Familie ernähren.“

Die wegen der Corona-Pandemie weitgehend eingeschränkte Freizügigkeit trifft die venezolanischen Migrant*innen hart. Diese konnten sich noch bis vor kurzem dank der Politik der offenen Grenzen der kolumbianischen Regierung weitgehend ungehindert zwischen den beiden Ländern bewegen. „Ohne die Möglichkeit, uns in Kolumbien mit Nahrungsmitteln zu versorgen, hätten wir es sehr viel schwerer“, berichtet eine ältere Frau aus Venezuela.

„Wir sind hier gut aufgenommen worden“

Die offene Grenze war in den vergangenen Monaten wegen der prekären Versorgungslage in Venezuela für viele Venezolaner*innen zur Lebensader geworden. Bis zu 50.000 Personen sollen sie täglich überquert haben. Diese Zeiten sind vorerst passé. Am 13. März verfügte die kolumbianische Regierung die Grenzschließung für zwei Monate. Was für Schmugglerbanden einen Glücksfall darstellt, ist eine Katastrophe für diejenigen, deren Familien oder Einkommensquellen sich beidseitig der Grenze befinden. Denn der länderübergreifende Verkehr ist nicht völlig zum Erliegen gekommen. Jenseits der offiziellen Übergänge existieren entlang des 2.200 Kilometer langen Grenzstreifens geschätzt rund 150 Schleichpfade, trochas genannt. Diese werden von kriminellen Banden und bewaffneten Gruppen kontrolliert. Neben Menschen wechseln auch geschmuggelte Waren die Seiten: günstiges Benzin von Venezuela nach Kolumbien im Gegenzug für allerlei Waren des täglichen Bedarfs.

Die Durchlässigkeit der Grenze hat es möglich gemacht, dass sich etwa die Hälfte der Venezolaner*innen ohne reguläre Aufenthaltsgenehmigung dort aufhalten. Auch wenn die Coronakrise den Aderlass Venezuelas aktuell ein wenig bremsen dürfte, stiegen die Zahlen derjenigen Venezolaner*innen, die das Land verließen, bis vor kurzem weiter stark an. Ende 2019 lag deren Zahl in Kolumbien bei 1,6 Millionen, 2016 waren es noch rund 50.000. Insgesamt sollen mindestens 4,5 Millionen Menschen Venezuela seit der Regierungsübernahme durch Nicolás Maduro 2013 verlassen haben.

Kolumbien ist bisher eher Auswanderungs- denn Einwanderungsland. Es verfügt entsprechend über wenig Unterstützungsangebote für Zuwander*innen. Nationale und internationale Hilfsorganisationen versorgen die Menschen lediglich mit dem Nötigsten. Dass es für Migrant*innen wenig Ressourcen und Angebote gibt, liegt auch daran, dass die kolumbianische Gesellschaft, mit über 6 Millionen internen Vertriebenen infolge des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts zwischen dem Militär und der FARC-Guerilla, bereits stark belastet ist. Daran hat das Friedensabkommen von 2016 bisher wenig geändert. Hinzu kommt die schwierige materielle Situation: Über ein Viertel der Bevölkerung in Kolumbien lebt in Armut und muss täglich zusehen, wie es über die Runden kommt.

Gegen den Hunger: Noch unterstützt die bogotanische Stadtverwaltung die Geflüchteten (Foto: Victor Sánchez)

Die öffentliche Infrastruktur mit sozialen Angeboten ist begrenzt. Angebote wie das des Centro Abrazar der Stadtverwaltung Bogotá sind selten. Hier können Eltern ihre Kinder tagsüber betreuen lassen, um sich in der Zeit um den Lebensunterhalt der Familie kümmern zu können. Auch wenn das Angebot allen Kindern offensteht, besuchen vor allem kleine Venezolaner*innen das Centro Abrazar. Víctor Sánchez ist einer der Pädagogen des Zentrums und kennt die Lage und die alltäglichen Herausforderungen der Migrant*innen gut. Für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung sei es vor allem schwierig, Zugang zu Gesundheit und Bildung zu erlangen. Sofern es sich nicht um einen Notfall handele, würden diese Leute an den Türen der Arztpraxen und Krankenhäuser zurückgewiesen.

Dünn ist auch das Angebot an Verdienstmöglichkeiten. Laut Sánchez konkurrieren Migrant*innen und mittellose Kolumbianer*innen in prekären informellen Arbeitsverhältnissen direkt miteinander. So habe die Zahl fliegender Händler*innen in Bussen, Straßenverkäufer*innen und Müllsammler*innen spürbar zugenommen. Es finden sich vermehrt Venezolaner*innen in der Prostitution, dem Drogenhandel oder etwa auch in der Kokaernte wieder. „Ein nicht unerheblicher Teil der Einnahmen verbleibt nicht in der informellen Ökonomie des Landes, sondern wird als Unterstützungsleistung an Familie und Freunde in Venezuela gesandt.“ Migrant*innen würden ihre Arbeitskraft außerdem im Gast- und Baugewerbe oder in der Landwirtschaft verkaufen und dies in der Regel unter dem üblichen Lohnniveau der Einheimischen. Der gesetzliche Mindestlohn fände selten Beachtung. Eine Folge des vermehrten Zuzugs von Venezolaner*innen sei aber auch, dass sich die Mietpreise in den Städten verteuerten. Denn manche Kolumbianer*innen ziehen es vor, Wohnungen oder Zimmer als pagadiarios an Neuankömmlinge zu vermieten – oft zu unverhältnismäßigen Preisen. „All diese Entwicklungen bekommen auch die armen Kolumbianer*innen zu spüren“, sagt Sánchez.

Die eingeschränkte Freizügigkeit trifft die venezolanischen Migrant*innen hart

Die prekären Verhältnisse gehen in nicht wenigen Fällen auch zu Lasten der Kinder. Diesen bleiben Bildungs- und altersgemäße Entwicklungsmöglichkeiten versagt, etwa wenn sich Eltern veranlasst sehen, ihre Kinder in den täglichen Brotverdienst miteinzuspannen. Anstatt ihre Kinder das pädagogische Angebot im Centro Abrazar nutzen zu lassen, nehmen manche Eltern diese mit, um beim Straßenverkauf ihre Einnahmen zu steigern. „Ohne den ‚Mitleidsfaktor‘ verdienen sie um die 40.000 Pesos (etwa 9,22 Euro) am Tag, mit Kindern auf dem Arm können die Einnahmen auf rund 120.000 steigen“, behauptet Sánchez. Manche Eltern würden ihre Kinder gar gegen Geld an andere „vermieten“.

Die kolumbianische Bevölkerung ist gespalten in ihrer Bewertung der Situation: Solidarität und die Betonung der Einheit beider Länder kontrastieren mit Schuldzuweisungen und der Ablehnung der offenen Grenzpolitik. Meinungsumfragen zeigen, dass die anfänglich überwiegend solidarische Haltung zunehmend kippt. Xenophobe Äußerungen und sogar Gewalt gegen Venezolaner*innen sind immer öfter an der Tagesordnung. Die sozialen Schieflagen des Landes werden dabei zunehmend den Migrant*innen angekreidet. „Die Venezolaner*innen kommen hierher und nehmen uns Kolumbianer*innen die Jobs weg. Sie sind verwöhnt, weil sie in Venezuela fast alles umsonst bekamen. Sie verkaufen Drogen, die Frauen gehen auf den Strich. Manche Stadtteile sind inzwischen so gefährlich, dass niemand sich mehr hinein traut“, sagt ein puerta a puerta-Fahrer, ein Privatfahrer, der Passagiere bis zu einem vereinbarten Ziel befördert. Er drückt damit eine pauschalisierend-ablehnende Haltung aus, wie sie inzwischen immer öfter zu hören ist.

Trotz wachsender Spannungen äußern sich viele Venezolaner*innen jedoch weiterhin positiv über die Unterstützungsbereitschaft der Menschen in Kolumbien. Man ginge meist fair mit ihnen um und werde respektiert, hört man in Gesprächen oft heraus. Ob die Solidarität auch während der Coronakrise anhalten und diese überdauern wird, lässt sich kaum vorhersagen.

DER DEHNBARE BEGRIFF DER (UN-)FREIWILLIGKEIT

Ana Jardón Hernández forscht zu Migrant*innen, die aus den USA nach Mexiko zurückkehren mussten. (Foto: Universidad Autónoma del Estado de México)

Ihre Forschung beschäftigt sich mit dem Phänomen der zurückgekehrten Migrant*innen (migrantes retornados/as). Was impliziert dieser Begriff für Sie?
Das Konzept wird in der Migrationsforschung noch immer diskutiert, weil es keine klare Definition gibt, wann man von zurückgekehrten Migrant*innen spricht. Der Zeitraum, den jemand im Ausland verbracht haben muss, um als zurückgekehrt zu gelten, ist nicht klar benannt. Manche sind nur ein halbes Jahr im Ausland gewesen und versuchen nach der Abschiebung, sofort wieder zu migrieren. Dann wird in der Forschung noch die Frage nach den Motiven diskutiert und schließlich kommen wir zur Frage nach den Rückkehrbedingungen. Hierbei unterscheiden wir zwischen der freiwilligen und der erzwungenen Rückkehr, wobei in die letztgenannte Kategorie die Abschiebung fällt.

Was sind die größten Herausforderungen für die, die unfreiwillig aus den USA zurückkehren?
Nun, mit dem Konzept der Freiwilligkeit hab ich mich in letzter Zeit viel beschäftigt. Es gibt die, die abgeschoben werden und jene, die selbst die Entscheidung zur Rückkehr fällen. Aber auch sie tun dies oft nicht freiwillig, sondern weil sie sich aus ökonomischen, politischen und sozialen Gründen dazu gezwungen sehen. Die Begriffe von Freiwilligkeit und Zwang in Bezug zur Rückkehr sind also weit gefasst.

Besonders herausfordernd ist die Situation für jene, die abgeschoben werden. Einige von ihnen verbrachten ein halbes Jahr, andere zwanzig Jahre in den Vereinigten Staaten. Es gelingt ihnen nicht immer, wieder Fuß zu fassen an dem Ort, an den sie zurückkehren. Vielleicht weil die Familie sie nicht mehr akzeptiert, da sie sich in der langen Zeit im Ausland andere Umgangsformen angewöhnt haben oder einfach, weil die emotionale Distanz zu groß geworden ist. Das Land, in das sie zurückkehren, hat sich auch verändert.

Manche haben zudem Gesundheitsprobleme physischer oder psychischer Art. Letztere stehen häufig in Zusammenhang mit der Abschiebung und der Art, wie sie als Rückkehrer*innen aufgenommen werden. Denn es heißt, sie würden „mit offenen Armen“ (brazos abiertos lautet der Name des mexikanischen Regierungsprogramms für Zurückgekehrte) aufgenommen und unterstützt werden, aber diese Versprechen werden nicht gehalten, weil es nicht genügend Budget dafür gibt. Eine weitere Herausforderung zeigt sich in Bildungsfragen betreffend der minderjährigen Kinder von deportierten Migrant*innen. Viele von ihnen sprechen kein Spanisch, sie wurden US-amerikanisch sozialisiert und erleben hier Diskriminierung, das sogenannte bullying. Dann ist natürlich die Wohnungsfrage ein Problem, manche sind obdachlos und haben sich verschuldet, um den coyote (Anm. d. Red.: Schlepper) zu bezahlen. Eines meiner Hauptanliegen ist die Arbeitsproblematik. Viele der Betroffenen haben in Mexiko prekär gelebt, gehen in die USA, wo sich die Situation kaum verbessert, kommen zurück und arbeiten hier wieder prekär. Was sind ihre Strategien, um an ein Einkommen zu gelangen? Für viele ist es die Selbständigkeit im informellen Sektor, die ihnen jedoch kein stabiles Einkommen garantiert.

Sie arbeiten auch mit Migrant*innen in Chicago, die darüber nachdenken, nach Mexiko zurückzukehren. Was können Sie darüber berichten?
Ich bin über einen abgeschobenen Migranten, den ich im Zuge meiner Feldforschung in einem Dorf im Estado de México interviewt habe, mit einer Familie in Chicago in Kontakt gekommen. Wir haben zuerst über Skype telefoniert und so eine Beziehung aufgebaut und dann haben sie mich schließlich nach Chicago eingeladen. Dort habe ich mich mit einer Gruppe von Migrant*innen getroffen. Sie eint das, was ich die „Hoffnung auf Rückkehr“ nenne. Ob es dazu kommen wird, ist ungewiss, vor allem da es sich um Personen handelt, die schon seit Langem in den USA wohnen. Ich kenne ihre Migrationsgeschichten und sie unterscheiden sich von denen anderer Migrant*innen.

Es ist ihnen gelungen, sich etwas aufzubauen, sie haben trotz ihres undokumentierten Status eine Arbeit gefunden, in der sie mehr als den Mindestlohn verdienen, sie sprechen Englisch, sie kommen in den USA gut zurecht. Dennoch haben sie die Hoffnung, nach Mexiko zurückzukehren. Das kommt nicht von ungefähr. Sie werden nicht eines Morgens wach und denken sich: „Ah, ich will nach Mexiko zurück.“ Nein, die Idee zur Rückkehr entwickelten sie aufgrund des xenophoben Diskurses von Donald Trump. Als sie zu realisieren begannen, dass das, was im Jahr 2008 passiert ist, wieder passieren kann. Damals war – wie meine Interviewpartner*innen sagen – die migra (die us-amerikanische Migrationsbehörde) sehr präsent und es wurden viele Menschen abgeschoben. Und jetzt mit Trump passiert dasselbe, es gibt verstärkte Razzien in den Städten, in denen viele mexikanische und zentralamerikanische Migrant*innen leben. Deshalb beginnen diese undokumentierten Migrant*innen, ihre Situation zu reflektieren.

Es ist ein Tabu, sie wollen es nicht offen aussprechen, aber sie beginnen, sich auf die Situation einer Abschiebung vorzubereiten. Denn sie wollen nicht als gescheiterte Abgeschobene zurückkehren, sie wollen ein Ziel haben, das ihr eigenes Leben und das der zurückgebliebenen Familien in Mexiko verbessert. Sie haben das Bedürfnis, anderen zu helfen und Arbeitsplätze zu schaffen. Sie wollen nicht mit leeren Händen zurückkommen.

Ich sehe meine Forschung hier aus menschlicher Perspektive. Es geht nicht nur um Methoden und Studien, sondern ich möchte diese Personen auch wirklich bei der Entwicklung ihrer Projekte unterstützen und ihnen mein Wissen dabei zur Verfügung stellen.

Newsletter abonnieren