// Bestenfalls Kollateralschäden

Brasilien – vor genau 50 Jahren: Die Militärs putschen gegen die Regierung des Präsidenten João Goulart. 21 Jahre herrschen die Generäle im Land. Die Diktatur hinterlässt eine blutige Spur: Bürgerrechte werden außer Kraft gesetzt, Menschen verhaftet, gefoltert, verschwinden, werden ermordet.
Brasilien – vor 40 Jahren: Die Wirtschaft des Landes boomt. Seit 1968 wächst die brasilianische Wirtschaft um satte zehn Prozent pro Jahr. Das Land erlebt mitten in den „bleiernen Jahren“ der stärksten Repression sein Wirtschaftswunder.
Bonn – vor 39 Jahren: Die Bundesrepubliken der föderativen Staaten Brasiliens und Deutschlands unterzeichnen ein Abkommen über die „Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kern­energie“. Bis zu acht Atomkraftwerke, eine Wiederaufbereitungsanlage sowie Urananreicherungsanlagen will Deutschland Brasilien verkaufen und das entsprechende Know-how gleich mitliefern. Das größte deutsche Exportgeschäft aller Zeiten!
Bonn – vor 35 Jahren: Der amtierende brasilianische Präsident, General Geisel, stattet der Deutschen Bundesregierung einen offiziellen Besuch ab. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) lobt in seiner Tischrede die „Übereinstimmung der Werte“ und die „Konvergenz der Ziele“ der deutschen und der brasilianischen Bundesregierung, auch wenn man in Bonn „sozialliberal“ regiert und in Brasília militärisch. Und während im spätgotischen Saal in der Kölner Altstadt anlässlich des Geisel-Besuchs ein Staatsbankett der brasilianischen Regierung für „tausend Bestecke“ gegeben wird, prügelt die deutsche Polizei Atomkritiker_innen und die brasilianische Opposition der Militärdiktatur nieder. Auf einem Polizeirevier werden Festgenommene mit Fäkalien beschmiert. Die brasilianische Presse erlebt als Augenzeug_innen Szenen aus dem brasilianischen Alltag – in Köln.
Vier Ereignisse, ein gemeinsamer politischer Nenner: Die bundesdeutsche auswärtige Politik ist immer vorrangig Außenwirtschaftspolitik, Menschenrechte und Umwelt werden dieser untergeordnet. Für die in Brasilien tätigen deutschen Konzerne geht es allein um die Teilhabe am brasilianischen Wirtschaftswunder. So arbeitet zum Beispiel die deutsche Autoindustrie eng mit der Diktatur zusammen: 1994 zitiert die Tageszeitung Jornal do Brasil aus Akten der Geheimpolizei Deops, nach denen Volkswagen do Brasil und Mercedes Benz in den 1970er Jahren Spitzel in die Gewerkschaftsversammlungen ihrer Arbeiter_innen einschleusten. Die so gewonnenen Informationen werden an die Geheimpolizei der Diktatur weitergereicht. Zu den Verstrickungen mit der Militärdiktatur soll Volkswagen do Brasil erst jetzt, 2014, vor der Nationalen Wahrheitskommission in Brasília aussagen.
Profit für die Konzerne und goldene Uhren – eine schenkte Kanzler Willy Brandt (SPD) dem Junta-General Artur da Costa e Silva – aber kein Engagement für Menschenrechte und Umwelt: Brandt, Schmidt, Strauß & Co waren die Gefolterten und Ermordeten in den 1970er Jahren allenfalls egal, bestenfalls bedauernswerte Kollateralschäden. Dies galt jedoch nie für deutsche Wirtschaftsinteressen. Seit den 1970er Jahren sind in São Paulo deutsche Wirtschaftsunternehmen massiv vertreten, dort finden sich Volkswagen und Mercedes Benz, BASF und Bayer samt ihrer ebenfalls deutschen Zulieferer. Die Metropolregion Grande São Paulo mit über 20 Millionen Einwohner_innen als eine der größten Städte der Erde beherbergt bis heute die weltweit höchste Konzentration an deutscher Industrie. Für deutsche Konzerne rollte dort schon immer der Rubel, egal, ob er je nach Währungsreform Cruzeiro, Cruzeiro Novo, Cruzado, Cruzado Novo, Cruzeiro Real oder Real hieß – und die deutsche Politik gab und gibt eifrig Schützenhilfe.
Gab die Bundesregierung damals für den Bau des AKW Angra 2 eine Hermesbürgschaft in Milliardenhöhe, so bewilligte sie gleiches 2012 schon wieder, für Angra 3. Und ein Teil des Thyssenkrupp-Stahlwerks in Rio erhielt auch eine solche Exportkreditversicherung. Umwelt und Menschen – bestenfalls Kollateralschäden.


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Der Kessel kocht

Am letzten Februarwochenende sind in São Paulo mehrere tausend Menschen auf der Straße. Spannung liegt in der Luft. Ein Großaufgebot der Polizei steht den Demonstrierenden gegenüber, die sich für ihren heutigen Protestzug auf dem altehrwürdigen Platz der Republik im historischen Zentrum São Paulos eingefunden haben. Ein Hubschrauber kreist tief über dem Platz und übertönt die Trommeln und Sprechchöre der Aktivist_innen. Die Hitze macht Demonstrant_innen und Polizist_innen gleichermaßen zu schaffen. Es ist die zweite Großdemonstration gegen die Fußballweltmeisterschaft in diesem Jahr in der Stadt. „Es werden Milliarden für die WM ausgegeben, doch ein großer Teil der Bevölkerung hat immer noch keinen Zugang zu Grundrechten wie Gesundheit oder Bildung“, kommentiert Talita, Aktivistin der Gewerkschaftsbewegung CPS Conlutas, während sie Flyer an Passant_innen verteilt.
Die Wut der Demonstrant_innen richtet sich gegen die enormen Ausgaben im Zuge der Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele, sowie gegen die mit den sportlichen Großevents einhergehenden Räumungen und sozialen Probleme. „Die WM kommt nach Brasilien, doch die Bevölkerung wurde nicht darüber informiert, wer den Preis dafür zahlen muss“, heißt es im Ankündigungstext des Organisationsbündnisses.
Eine Stunde verspätet setzt sich der Demonstrationszug lautstark in Bewegung. „Es wird keine WM geben, es wird keine WM geben!“, hallt es immer wieder durch die Hochhausschluchten der Metropole. Auch heute bildet eine Gruppe von rund 200 schwarzgekleideten, vermummten Jugendlichen die Spitze der Demonstration. Die sogenannten Black Blocs stehen aufgrund ihres Auftretens und ihrer teils gewaltsamen Verteidigungsstrategie besonders im medialen Fokus. Während sie von großen Teilen der Öffentlichkeit als kriminelle Krawallmachende gebrandmarkt werden, verteidigen sie ihre Gewaltanwendung als Reaktion auf die Brutalität der Polizei und ihre Vermummung als Schutz vor Repression. Hinter den Black Blocs reihen sich Mitglieder sozialer Bewegungen, Gesundheits- und Bildungsorganisationen, linke Parteien und Studierendengruppen. Wie Medien später berichten, wächst die Demonstration im Verlauf auf über 2.000 Teilnehmer_innen an. Die Veranstalter_innen sprechen von 4.000.
Neben den enormen Ausgaben für die anstehenden Sportereignisse steht vor allem die Repression gegen die Protestbewegung und die Verschärfung des Demonstrationsrechts in der Kritik. „Der Terrorist trägt Uniform“ und „Brasilien, die Heimat der Handschellen“ ist auf Schildern und Bannern zu lesen, die die Demonstrierenden bei sich tragen.
Nach dem Tod des Kameramannes Santiago Andrade, der am 6. Februar bei einer Demonstration in Rio de Janeiro von einem Feuerwerkskörper getroffen wurde und wenige Tage später seinen Verletzungen erlag, erhält eine Gesetzesinitiative des rechtsgerichteten Senators Romero Juca Auftrieb. In dem derzeit im Senat diskutierten Anti-Terror-Gesetz PL499 sehen Kritiker_innen den Versuch, die Arbeit von sozialen Bewegungen im Zuge der Vorbereitungen zur WM weiter zu behindern. Mit dem Gesetz könnten als „terroristisch“ eingestufte Taten mit 15 bis 30 Jahre Haft bestraft werden. Laut dem zweiten Artikel des Gesetzesentwurfs würde das Gesetz greifen, „wenn Terror oder allgemeine Panik provoziert oder dazu angestiftet wird mittels eines Angriffs oder Versuchs eines Angriffs auf das Leben, auf die physische Integrität oder Gesundheit oder die Einschränkung der Freiheit einer Person zur Folge hat.“ Terrorismus ist in dem Gesetzesentwurf jedoch ungenau definiert und könnte subjektiv interpretiert werden, so die Kritik.
Kritiker_innen befürchten daher, dass Demonstrationen unter Anwendung des Gesetzes unterbunden werden könnten. „All jene, die gegen die staatliche Gewalt, Fahrpreiserhöhung oder die Räumungen auf die Straßen gehen, werden von diesem Gesetz bedroht sein“, meint die Aktivistin Juliana Brito vom Basiskomitee gegen die WM.
Der Gesetzesentwurf geht einher mit einer Reihe von Maßnahmen, die vor den näher rückenden Sportereignissen auf die Kriminalisierung sozialer Bewegungen abzielen. So bewies die Staatsmacht auch im Vorfeld dieser Demonstration ihre harte Hand. 40 Aktivist_innen aus São Paulo, denen unter fadenscheinigen Vorwürfen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen wird, erhielten in den letzten Tagen die Aufforderung, sich zum Zeitpunkt der Demonstration bei einer Polizeiwache zu melden. Wie der Chef der Operation Wagner Guidice bestätigte, hatten die Vorladungen zum Ziel, die Teilnahme der Aktivist_innen an der Demonstration zu verhindern. In Zukunft könnte diese Methode laut Guidice wiederholt werden. Zudem durchsuchte die Polizei in den letzten Tagen die Wohnungen von zwei Aktivist_innen. Ausbeute der Hausdurchsuchungen waren: einige Poster, Sprühdosen und ein Computer.
Auch an diesem Tag fährt die Polizei hartes Geschütz auf. Mehr als 2.000 Sicherheitskräfte sind im Einsatz und umstellen die Demonstration von Beginn an. Der Protestzug gleicht einem Wanderkessel. Eine neue Polizeispezialeinheit, die sich aus 100 Kampfsport erprobten Polizisten_innen zusammensetzt, darf am heutigen Tag erstmalig ihre Schlagkraft beweisen. Die erwarteten Auseinandersetzungen lassen nicht lange auf sich warten. Kurz nachdem die Demonstration in die Rua Xavier Toledo abbiegt, greifen Polizeikräfte ohne Vorwarnung den vorderen Teil der Demonstration an. Blendgranaten der Polizei explodieren, Tränengas liegt in der Luft. Für kurze Zeit herrscht Chaos.
Während die ersten Reihen eingekesselt werden, flüchtet der hintere Teil der Demonstration in die angrenzenden Straßen. Der Frust der Demon­strierenden über das abrupte Ende ihres Protests ist spürbar. Die Scheiben einiger Banken gehen zu Bruch. Rund um den Platz der Republik, wo Aktivist_innen ein Protestcamp aufgeschlagen haben, kommt es zu weiteren Auseinandersetzungen. Wieder explodieren Sprengsätze. Wieder kommt es zu Festnahmen. Der einsetzende Regen sorgt letztendlich dafür, dass sich die meisten Demonstrant_innen nach Hause begeben. Die Eingekesselten haben weniger Glück und müssen die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen. Insgesamt nimmt die Polizei an diesem Tag 262 Personen fest.
Noch am Abend verbreiten sich die Bilder des Polizeikessels und der Verletzten über soziale Netzwerke und fast alle Medien. Nicht nur linke Aktivist_innen sind empört. Zwar sind Polizeigewalt und Willkür keine Neuheit bei Protesten in Brasilien, doch die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes und der wohl gezielt geplante Abbruch der Demonstration übertreten für viele Brasilianer_innen eine Grenze. „Ich war im vorderen Teil der Demonstration. Von beiden Seiten waren wir von Polizisten umstellt und aus dem Nichts begannen sie damit, auf die Demonstrierenden vor mir einzuschlagen“, erinnert sich der Student Lucas Brito. Zu einzelnen Sachbeschädigungen kam es erst nach dem Angriff der Polizei. Diese sieht den Einsatz als Erfolg und rechtfertigt ihr Eingreifen damit, dass Demonstrant_innen dazu aufgerufen hätten Sachbeschädigungen in der Stadt durchzuführen.
Journalist_innen berichten unterdessen von starken Behinderungen ihrer Arbeit und Übergriffen seitens der Polizei. Fünf Journalist_innen werden an diesem Abend festgenommen. Ironischerweise befindet sich auch Sérgio Roxo von der rechtsgerichteten Zeitung O Globo unter den Verhafteten. Grund der Festnahme: Roxo hatte sich mit einem Tuch vermummt. Auch Anwälte üben scharfe Kritik an dem Polizeieinsatz am Samstag. Die Rechtsanwaltsvereinigung Advogados Activistas, die Festgenomme auf Demonstrationen kostenfrei vertritt, berichtet von massiven Behinderungen und Einschüchterungen.
„Als wir den Angriff eines Polizisten auf einen jungen Mann filmen wollten, wurden wir aus dem Polizeikessel geworfen, besser gesagt mit einem Fußtritt hinausbefördert“, berichtet Anwalt André Zanardo. Der Professor der staatlichen Universität von São Paulo Pablo Ortellado kommentiert die Ereignisse dieses Tages auf seiner Facebook-Seite: „Seit dem Ende der Militärdiktatur in den 1980er Jahren nehme ich an Demonstrationen teil. Was ich gestern erlebt habe, war nicht die gewalttätigste Repression, aber die schwersten Bürgerrechtsverletzungen, die ich jemals erlebt habe: Präventive Anklagen, hunderte willkürliche Festnahmen, Einschränkung von Pressearbeit und Behinderung der Arbeit von Anwälten. Für mich hat dies nichts mehr mit einer liberalen Demokratie zu tun.“
Trotz des medialen und zivilgesellschaftlichen Aufschreis müssen die beteiligten Polizist_innen wohl kaum mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen. Trotz regelrechter Gewaltexzesse und Verstöße auf fast jeder Demonstration wurde bislang kein Polizeibeamter für seine Taten bestraft. Diese Straflosigkeit wird durch das Fehlen jeglicher sichtbarer Identifikationsmöglichkeit noch begünstigt. Im Gegensatz dazu laufen ein Dutzend Ermittlungsverfahren gegen Aktivist_innen.
Diese können auch von institutioneller Seite kaum Unterstützung erwarten. Im Gegenteil: Das Urteil von Geraldo Alckmin, Gouverneur des Bundesstaates von São Paulo, zu den aktuellen Ereignissen fiel schnell und eindeutig aus. „Die Bevölkerung von São Paulo versteht den Unterschied zwischen legitimen Demonstrationen und organisiertem Vandalismus“, kommentierte Alckmin auf seinem Twitter-Account.
Auch für die in Brasília amtierende Arbeiterpartei PT scheint das Image des Landes im Vorlauf der WM über der Wahrung von Bürger_innenrechten zu stehen. Während Regierungsvertreter_innen noch im letzten Jahr verstärkt den Dialog mit sozialen Bewegungen und Basiskomitees suchten und öffentlich erklärten, Polizeigewalt vermeiden zu wollen, hat sich der Kurs der Regierung gewendet. Durch Einschüchterung und Repression sollen Proteste im Keim erstickt werden. Druck kommt dabei auch vom Fußballweltverband FIFA. Dieser hat unlängst erneut Garantien vom Gastgeberland eingefordert, dass mögliche Demonstrationen im Land nicht den Ablauf des Turniers stören. Die Protestbewegung steht somit vor großen Herausforderungen. Das Anti-Terror-Gesetz und die Zuspitzung der Repression könnten die Bewegung lähmen. Am vorletzten landesweiten Aktionstag, dem 25. Januar, beteiligten sich nur wenige. Viele Aktivist_innen fürchten sich vor Polizeigewalt und bleiben den Demonstrationen fern. Dass sich die Bewegung durch Repression mundtot machen lässt, darf jedoch bezweifelt werden. Die aktuellen Bilder könnten eine für die Regierung ungewollte Welle der Solidarität lostreten und die Geschichte wiederholen. Im vergangenen Juni löste die gewaltsame Niederschlagung von Protesten gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr in São Paulo wochenlange Massenproteste im ganzen Land aus. Bereits am 12. März findet die nächste Großdemonstration in São Paulo statt. „Wir werden weiter auf die Straße gehen. Mit ihrer Repression kommt auch unser Widerstand“, so Felipe Alencar von der linken Studierendenorganisation Coletivo Construção. Und eins steht fest: Die WM in Brasilien rückt spürbar näher.


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Ein Ort der Bewegung

Am 24. März 2004 jährte sich der letzte Militärputsch in Argentinien zum 28. Mal. Zwei Ereignisse markierten diesen Tag: In der Nationalen Militärschule im Westen des Großraums Buenos Aires hängte der damalige Armeechef Roberto Bendini auf Anordnung von Präsident Néstor Kirchner die Porträts zweier Massenmörder ab: Jorge Rafael Videla und Reynaldo Benito Bignone. Beide waren während der letzten Militärdiktatur (1976-1983) zu verschiedenen Zeiten Leiter der Streitkräfte gewesen. Zeitgleich wurde vor der Mechanikerschule der Marine (ESMA), in der sich eines der wichtigsten geheimen Haftzentren des Landes befunden hatte, eine öffentliche Gedenkfeier abgehalten. In Anwesenheit von Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und vor Tausenden von Zuschauer_innen begingen Néstor Kirchner und der damalige Bürgermeister von Buenos Aires, Aníbal Ibarra, die Rückgabe des Grundstücks an die Stadt. Ziel war es, einen Ort der Erinnerung und der Förderung und Verteidigung der Menschenrechte zu errichten. Die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit Argentiniens war im Kirchnerismus endlich zu einem wichtigen Eckpfeiler der staatlichen Politik geworden.
Jener 24. März vor zehn Jahren stellt einen Schlüsselmoment in der Geschichte des ESMA-Geländes dar. Der Kampf um die Rückgabe des Grundstücks hatte bereits einige Jahre zuvor begonnen. Anfang 1998 hatte der damalige Präsident Carlos Menem ein Dekret unterzeichnet, durch das die Verlegung der ESMA in eine Marinebasis im Süden der Provinz Buenos Aires verfügt wurde. Das historische Gebäude der ESMA sollte abgerissen werden, um einem Denkmal der „nationalen Einheit“ Platz zu machen. Daraufhin setzten sich Menschenrechtsorganisationen gegen den Abriss und für die Errichtung eines Gedenkortes ein. Eine Verfassungsbeschwerde, die zwei Angehörige ehemaliger Gefangener des geheimen Zentrums eingereicht hatten, führte schließlich zum Erfolg. Im Juli desselben Jahres erklärte der Richter Ernesto Marinelli den entsprechenden Artikel des Dekrets für verfassungswidrig. Er berief sich darauf, dass die ESMA zum nationalen kulturellen Erbe gehöre und daher für die zukünftigen Generationen zu erhalten sei. Das Urteil wurde im Jahr 2001 durch den Obersten Gerichtshof unterzeichnet und der frühere Beschluss des Präsidenten verworfen. Einige Jahre später wurde das Offizierskasino, in dem sich das Haftzentrum befunden hatte, zum Nationalen Historischen Denkmal erklärt; das Grundstück und die übrigen Gebäude erlangten den Status eines Nationalen Historischen Orts.
Die Öffnung der Pforten der ESMA im März 2004 für Tausende von Besucher_innen war ein ergreifender Moment für ehemalige Inhaftierte, Widerstandskämpfer_innen, Angehörige und große Teile der Gesellschaft. Und es war ebenso ein politischer Akt, der den Stellenwert der ESMA als Symbol des Kampfes um die Erinnerung besiegelte. Die dunkle Seite der argentinischen Vergangenheit wurde nun beleuchtet. Orte, die bedeutende Schauplätze des repressiven Regimes gewesen waren, wurden zurückerobert, umgedeutet und zu Beweismitteln der Justiz.
Die ESMA war nicht irgendeines der ungefähr 500 geheimen Haftzentren, die in ganz Argentinien existiert hatten. Die Bedeutung der Anlage ergibt sich nicht nur aus der großen Zahl der etwa 5.000 Verhafteten, die hier eingekerkert waren. Von der ESMA gingen auch die „Todesflüge“ aus, auf denen betäubte Gefangene aus Flugzeugen über dem Río de la Plata oder dem Atlantik abgeworfen wurden. Zudem fungierte der Ort als geheime Entbindungsstation, in der den inhaftierten schwangeren Frauen nach der Geburt die Kinder geraubt und an regimetreue Familien zur Adoption weitergegeben wurden. Die meisten der damaligen Inhaftierten sind bis heute „verschwunden“. Es gibt nur einige Überlebende, die von den Menschenrechtsverletzungen berichten können.
Die Eröffnung der ESMA als Gedenkstätte stellte einen Wendepunkt im langen Kampf der Menschenrechtsorganisationen für die Aufarbeitung der Vergangenheit dar. Und zugleich den Beginn einer intensiven Debatte um die konkrete Ausgestaltung des Ortes. Welches Konzept sollte das geplante Museum vertreten? Welchen Namen tragen? Wie viel von dem 17 Hektar großen Gelände und den über dreißig Gebäuden das Museum einnehmen? Wer sollte wann und auf welche Art am Entscheidungsprozess teilhaben dürfen? Die Diskussion dieser Fragen, so komplex wie notwendig, dauert bis heute an.
Die Aufteilung der Räume löste gleich zu Beginn eine der heftigsten Debatten aus. Die Vorstellung, den Ort der Erinnerung mit der Marine zu teilen, war für viele der beteiligten Organisationen nicht akzeptabel. Ab März 2004 wurde das Gelände von einer Kommission der argentinischen Regierung und der Stadt Buenos Aires verwaltet, die ein öffentliches Vorschlagverfahren für die Einrichtung des Museums einleitete. Zu den wichtigsten Auseinandersetzungen zählte die Frage, welcher historische Zeitraum im Museum Platz finden sollte. Nach der ersten Übergabe des Grundstücks an die Stadt im März 2004 dauerte es drei Jahre, bis die Marine es vollständig verließ. Seither liegt die Verwaltung des Grundstücks in den Händen der nationalen öffentlichen Körperschaft „Ort der Erinnerung und der Förderung der Menschenrechte“, die sich aus Repräsentant_innen der argentinischen Regierung, der Stadt Buenos Aires und der Menschenrechtsorganisationen zusammensetzt. Jede von ihnen ist durch eine Person im Vorstand der Einrichtung vertreten.
Im Lauf der vergangenen zehn Jahre füllte sich das Gelände nach und nach. Heute haben hier zahlreiche Menschenrechtsorganisationen ihren Sitz, darunter die verschiedenen Organisationen der Mütter der Plaza de Mayo sowie die Großmütter der Plaza de Mayo und H.I.J.O.S., die Organisation der Kinder der gewaltsam Verschwundenen. Auch andere zivilgesellschaftliche und staatliche Institutionen für Menschenrechte und Erinnerungskultur finden ihren Platz. Im Jahr 2013 nahmen an den vielfältigen Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsveranstaltungen auf dem Gelände 150.000 Menschen teil. Auch die Anzahl der Besuche am historischen Ort, dem ehemaligen Offizierskasino, das schon eröffnet wurde, als die Marine das Gelände noch nicht vollständig verlassen hatte, hat stetig zugenommen. Im Jahr 2006 kamen 1.300 Besucher_innen, 2009 knapp 8.000 und 2013 über 24.000. Derzeit wird von der Verwaltung ein neues Ausstellungskonzept erarbeitet, das in den kommenden Monaten umgesetzt werden soll.
Der zehnjährige Prozess der Umwidmung der ESMA in einen Ort der Erinnerung und Menschenrechte war von zahlreichen Spannungen geprägt. Judith Said, Leiterin des Archivo Nacional de la Memoria (Nationales Archiv für das Gedenken) erzählt von der schwierigen Frage, wie der Horror dargestellt, wie von dem Leiden der Opfer, die in dem Gefängnis des Offizierskasinos Qualen und menschlicher Demütigung ausgeliefert waren, erzählt werden kann. „Wie können wir als Zeitzeugen diesen Ort schaffen? Wir, die wir als Großmütter, Mütter, Kinder, Angehörige und Aktivisten ebenso wie die gesamte Gesellschaft unter den Folgen des Staatsterrorismus und unter den langen Jahren der Straflosigkeit zu leiden hatten?“ Wie auch an anderen symbolischen Orten der Brutalität der Macht bestehe die pädagogische Aufgabe der ESMA im Aufzeigen und in der Anklage des Staatsterrorismus sowie in der Verteidigung des Rechtsstaats, fügt Said hinzu. Aus all diesen Gründen sei die Herstellung des Gedenkens kein friedlicher Prozess: „Es gibt einen Kampf um die Erinnerung, da es noch einen anderen Diskurs gibt – den jener Kreise, die den Putsch unterstützt haben“.
Für Eduardo Jozami, den Leiter des Kulturzentrums für die Erinnerung Haroldo Conti, hat das ESMA-Gelände nach einem langsamen Prozess der Schaffung neuer Einrichtungen heute sehr viel an Dynamik gewonnen, ersichtlich nicht nur an dem deutlichen Anstieg der Besucher_innenzahlen, sondern auch an der Entstehung vielfältiger Initiativen. „Für uns ist der plurale Dialog zwischen Kultur und Erinnerung eine produktive Grundlage für die Schaffung eines ästhetisch-politischen Konsenses“, so Jozami. Dieser mache es möglich, weitergehende Interventionen auf dem Gelände anzugehen. Auch Judith Said glaubt, dass die Gebäude der ESMA nun einen Eindruck vermitteln, was durch den Staatsterror ausgelöst wurde: „Die Opfer werden nun gewürdigt, ebenso wie ihre Kämpfe und deren Gründe. Und zwar durch verschiedene kulturelle Mittel, die uns in unserer Identität stützen“.
Trotz der in den vergangenen zehn Jahren erreichten großen Fortschritte bleibt es für Jazomi eine Herausforderung, „den Prozess der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit aus den Händen des entschädigenden Staates hin zu einem darüber hinaus auch symbolischen Ort zu überführen.“ Nach einem Jahrzehnt und weit davon entfernt, ein Ort der verdinglichten Erinnerungen zu sein, bleibt die frühere ESMA also ein Ort der andauernden Bewegung und Umwidmung.


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Zurück zu den Wurzeln

Wie hat es die Leiharbeiter_innengewerkschaft Konföderation der Kupferarbeiter (CTC) geschafft, derart viele Mitglieder zu gewinnen, wo doch die Situation der Gewerkschaften so prekär ist?
Die Grundvoraussetzung dafür war, dass die CTC und ihre Kämpfe seit 2007 sichtbarer geworden sind. Dadurch konnte sie verschiedene Arbeitsbereiche innerhalb der Bergbauindustrie vereinen, nicht nur die Minenarbeiter, sondern auch die Arbeiter im Dienstleistungssektor – unter anderem aus dem Transportwesen, der Verwaltung, dem Hotelgewerbe und der Industriemontage. Das wurde durch eine starke Präsenz von Anführern der Gewerkschaft erreicht, was diesen eine große Glaubwürdigkeit verschafft hat.

Und auf welche Schwierigkeiten sind Sie gestoßen?
Natürlich bedeutet das nicht, dass es keine Spannungen gegeben hätte. Im Gegenteil, es gab viele Schwierigkeiten, weil die Arbeitgeber auch innerhalb der Gewerkschaften operieren. Unsere Organisation ist permanent der Bedrohung der Spaltung ausgesetzt.
Unsere Arbeit besteht darin, zu den Wurzeln des Syndikalismus zurückzukehren, der ein bildender Syndikalismus ist, der wie eine Schule sein soll. Wir versuchen das Bewusstsein der Arbeiter zu schärfen.
Wir dürfen unsere Organisation aber nicht idealisieren, denn wir sind eine Organisation im Aufbau. Und während sie konstruiert wird, dekonstruiert sie sich auch gleichzeitig. Es gibt Rückschläge und es gibt die Gefahr, dass uns die Industrie, deren Ziel es immer ist die Gewerkschaften zu zermalmen, mit ihren finanziellen Mittel vereinnahmt.
Es waren die konsequenten und glaubwürdigen Anführer und der neue Aufbau, die es möglich gemacht haben, dass diese Schwierigkeiten überstanden werden konnten.

Worauf beruht diese Glaubwürdigkeit? Generell sind doch die „Gewerkschaftsbosse“ nicht so gut angesehen.
Der große Erfolg der Militärdiktatur war, dass die Arbeiter nicht mehr daran glaubten, sich organisieren zu können. Ausgehend von dieser Situation und der ideologischen Unterwanderung, aber auch aufgrund schlechter Handlungen von den Gewerkschaften – das muss man zugeben – wurden die Gewerkschaften abgelehnt.
In unserem Fall hatten wir ein besondere Situation. 2007 konnten wir tausende Arbeiter mobilisieren und auf die Situation im sogenannten „Jaguar Lateinamerikas“ (einer chilenischen Bezeichnung des wirtschaftlichen Fortschritts, Anm. d. Red.) aufmerksam machen, wo tausende Arbeiter unter den Bedingungen der Leiharbeit, Ausbeutung und Diskriminierung leben mussten. Die CTC wurde zu einem Akteur, der es schaffte eine Realität zu interpretieren, die bis dahin niemand in Chile erkannte. Das hat dazu geführt, dass die Anführer der CTC zu verschiedensten Arbeiterschaften, Streiks et cetera in ganz Chile eingeladen wurden, um über unsere Erfahrungen zu berichten und dabei zu helfen, die Kämpfe von Anderen zu organisieren.
Und das war unser großer Erfolg, in Verbindung damit, dass wir eine neue Generation sind. Ich bin schon älter, aber meine Genossen sind 30, 25 oder 28 Jahre alt. Wir haben gezeigt, dass es möglich ist einen Klassensyndikalismus zu schaffen, haben Teile des neoliberalen Systems aufgedeckt und damit die Lebensrealität der Leiharbeiter sichtbar gemacht.

Wie sieht diese Realität der Leiharbeiter_innen aus? Was sind die Probleme mit denen sie zu kämpfen haben?
Es gibt einen Grundsatz, der nicht von uns kommt, sondern von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) festgelegt wurde: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
Das grundlegende Drama ist, dass es eine große Diskriminierung von Leiharbeitern gibt. Ein Leiharbeiter verdient ein Fünftel oder ein Viertel von dem, was ein direkt bei der jeweiligen Firma angestellter Arbeiter verdient. Zusätzlich dazu kommt die Instabilität des Arbeitsplatzes und auch in den Camps an sich gibt es eine Ungleichbehandlung. Während die festangestellten Arbeiter unter Fünf-Sterne-Bedingungen lebten, wurden wir in Baracken untergebracht.
Diese Situation hat 2006, 2007 und 2008 zum Aufstand der Arbeiter geführt. 2007 führte es zu einem Abkommen, das diese Ungleichheiten ausgleichen sollte. Solche Abkommen sind natürlich immer schwierig, weil die Arbeitgeber so ein Abkommen natürlich in erster Linie unterschreiben, um den Arbeitskampf zu beenden. Uns zu organisieren war die einzige Möglichkeit, sie zur Umsetzung des Abkommens zu zwingen.

Gibt es keine rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Arbeitgeber_innen dazu zwingen?
Im chilenischen Arbeitsgesetzbuch, das ein Erbe der Diktatur ist, ist die Vorherrschaft der Arbeitgeber massiv. In Chile kann man jemandem betriebsbedingt kündigen, aber zur selben Zeit neue Leute einstellen. Es gibt also eine faktische Macht der Arbeitgeber gegenüber Arbeitern, die sich gewerkschaftlich organisieren oder ihre Rechte einfordern.
Die Diktatur ist schon seit mehr als 20 Jahren vorbei, aber die Macht der Arbeitgeber ist immer noch unglaublich groß. Die Arbeitgeber sind zum Beispiel nicht dazu verpflichtet mit streikenden Arbeitern zu verhandeln. Sie können einfach die Streikenden ersetzen. Zum Beispiel gab es einen 60-tägigen Streik von 500 Arbeitern in einem Supermarkt. Und der Arbeitgeber konnte sich einfach zurücklehnen. Das führt dazu, dass die Gewerkschaften viel zu oft Niederlagen erleben.

Mit welchen Problemen haben die Gewerkschafter_innen zu kämpfen?
2010 haben die Arbeiter bei BHP Billingon (australisch-britischer Rohstoffkonzern, Anm. d. Red.) in Collahuasi gestreikt. Dann wurden Sicherheitskräfte und Spezialeinheiten entsandt, weil sie dem Streik anders nicht beikommen konnten und haben die Bewegung zerstört. Am Ende wurden dann 2.000 Arbeiter entlassen.
Das Problem dabei war, dass diese Aktionen nicht geplant waren und als wir ankamen um zu helfen, war die Sache schon gelaufen. Das passiert der CTC eigentlich nicht, wir planen unsere Aktionen und bauen Syndikalismus auf.
Es gibt dann auch noch das Problem der Schwarzen Listen. Das bedeutet, wenn jemand eine Führungsrolle bei einem Streik oder in der Gewerkschaft hat, bekommt er in der ganzen Industrie keinen Job mehr. Ich zum Beispiel verhandle mit den großen Arbeitgebern, aber eine Anstellung bekomme ich nicht. Das ist auch allen anderen Führungspersönlichkeiten der CTC passiert. Das trennt uns letztendlich von der Arbeiterschaft.

Gibt es Konflikte zwischen den Leiharbeiter_innen und den Arbeiter_innen, die fest angestellt sind?
Die gibt es. Im Grunde werden die festangestellten Arbeiter als eine privilegierte Klasse betrachtet. Im Prozess der Vertiefung des neoliberalen Modells werden sie dazu aufgefordert, in Rente zu gehen. 2014 werden in Chuquicamata (größte Kupfermine der Welt im Norden Chiles, Anm. d. Red.) 2.000 Arbeiter in den Ruhestand gehen. Das ist ein Abkommen zur Kostensenkung. Die Mine wird die selbe Anzahl an Arbeitern einstellen, allerdings zu wesentlich schlechteren Konditionen. Das hat die Gewerkschaft erlaubt und da gibt es nun Konflikte. Aber wir können da nicht intervenieren, unser Ziel ist es zu erreichen, dass diejenigen die keine Rechte haben, die selben Rechte bekommen, wie diejenigen, die fest angestellt sind.

Minen sind klassische Orte der Arbeiterbewegung, viele Menschen sind dauerhaft in einem bestimmten Raum. Wie ist die Situation in anderen Bereichen, wo die Mobilisierung und Organisation der Arbeiter_innen schwieriger ist?
Ein Beispiel: Im öffentlichen Nahverkehr bei Transantiago (ÖPNV-Gesellschaft in Santiago, Anm. d. Red.) gibt es über 450 Gewerkschaften, die es aber nicht schaffen sich zusammenzuschließen. Deswegen ist es nie gelungen den gesamten Nahverkehr gleichzeitig zu bestreiken, sondern immer nur einzelne Linien. Das liegt daran, dass ein großer Teil der Gewerkschaften kooptiert ist und bei den kämpferischsten Gewerkschaften die Anführer außer Gefecht gesetzt wurden.
Es gibt den Vorschlag eine automatische Gewerkschaftszugehörigkeit zu schaffen, aber wir sehen das eher als Bedrohung. Was ist, wenn man in einen Betrieb geht, es nur eine Gewerkschaft gibt, diese aber eine gelbe Gewerkschaft (von der Unternehmensführung gegründet, Anm. d. Red.) ist?
Einige aus dem neoliberalen Sektor innerhalb der Gewerkschaften – sie sind überall vertreten – wollen diese europäische Form von Gewerkschaft. Wir wollen das nicht, wir wollen Gewerkschaften, die die Arbeiter schützen, aber die wir selber aufbauen.

Haben Sie Hoffnungen in die Regierung Michelle Bachelets?
Ich denke nicht, dass Hoffnung das richtige Wort ist. Ich glaube eher, dass es Versprechen in Bezug auf den weiteren gewerkschaftlichen Zusammenschluß und das Recht auf Streik gegeben hat. Und diese Versprechen müssen eingehalten werden. Wenn das nicht passiert, dann werden wir auf die Straße gehen.
Ich habe für Michelle Bachelet gestimmt, aber das bedeutet kein Zugeständnis, sondern eine Taktik gegen die rechte Politik. Die Rechte war jetzt vier Jahre an der Macht und es gab viele Widersprüche und viele Möglichkeiten zu kämpfen, aber es gab keine Fortschritte. Die wenigen Errungenschaften, die die Arbeiter hatten, wurden weiter abgebaut und es gab wenig Kapazitäten um darauf zu reagieren.
Ich denke, dass mit der neuen Regierung die Arbeitgeber nicht mehr nur das machen können, was sie wollen und es die Möglichkeit gibt, dass wir die Rechte bekommen, die wir einfordern. Aber die einzige Möglichkeit Veränderungen zu erreichen ist, wenn wir Arbeiter mehr Arbeiter und noch mehr Arbeiter organisieren und Einigkeit zwischen den verschiedenen Sektoren erreichen.

Infokasten:

Cristián Cuevas Zambrano
Cristián Cuevas Zambrano (44) war von der Gründung 2007 bis 2013 Präsident der Leiharbeiter_innengewerkschaft Konföderation der Kupferarbeiter_innen (CTC). Er trat zurück, um einerseits neuen Genoss_innen Platz zu machen, andererseits da er für die Kommunistische Partei bei den Wahlen als Abgeordneter kandidierte.
Den Sprung ins Parlament schaffte er allerdings nicht. Im Moment ist er verantwortlich für die internationalen Verbindungen der Gewerkschaft.


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Roadmovie mit Naturkundeunterricht

Ein Mädchen reitet durch eine karge Berglandschaft. Sie ist auf dem Weg zu ihrer Schule, einer Landschule in der Nähe von Los Condores, einem isolierten Städtchen am Rande der Sierra de Córdoba, im tiefsten Hinterland Argentiniens. Die wundervolle Aussicht entschädigt für die Kälte und den Wind in den Bergen.
In der Schule bleibt Lila die ganze Woche. Die Schulwege nach Hause sind zu lang für die Kinder in dieser dünn besiedelten Region, um sie jeden Tag zu gehen. So schlafen die Kinder in Gemeinschaftsräumen unter der Obhut zweier Lehrerinnen.
Insbesondere zu der Naturkundelehrerin Jimena hat Lila ein gutes Verhältnis, sie ist ihre wichtigste Bezugsperson. Doch in deren Biologieunterricht kann sich das Mädchen nicht konzentrieren. Ihre Gedanken schweifen ab. In der Nacht unternimmt das pubertierende Mädchen einen Ausbruchsversuch mit ihrem Pferd. Doch Jimena kann sie gerade noch davon abhalten, mitten im Sturm loszuziehen.
Lila will weg von der Schule, um ihren Vater zu suchen. Alles, was sie von ihm weiß ist, dass er vor zwölf Jahren in Los Condores Antennen installiert hat. Sie will ihn kennenlernen. Ihre Mutter kann diesen Wunsch nicht verstehen. Sie ist verbittert über den Mann, der ihr ein Kind gemacht und sie dann im Stich gelassen hat. Sie möchte die Episode einfach nur vergessen.
Doch für Lila ist es ein existenzielles Bedürfnis, zu erfahren, wer ihr Vater ist. Sie ist bereit, dafür einiges zu riskieren und gerät so in Schwierigkeiten. Nach einem weiteren Ausbruchsversuch wird sie von der Schule suspendiert.
Die Naturkundelehrerin Jimena soll Lila eigentlich nur nach Hause fahren. Doch die Zwölfjährige mit ihrem starken Willen überzeugt Jimena, ihr bei der Suche nach dem Vater zu helfen. Bald ist auch Jimena in großen Schwierigkeiten, doch sie bleibt bei ihrem Schützling. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach dem namenlosen Antenneninstallateur, irgendwo im Hinterland der argentinischen Provinz Córdoba. Nebenbei erhält Lila dabei im Auto einige Privatstunden in Naturkunde.
Der Debütfilm Ciencias Naturales (Naturkunde) von Matias Lucchesi ist vor allem eine Hommage an die wilde Landschaft der Sierra de Córdoba. In einem Interview erklärte er, dass er unbedingt einen Film über diese abgelegene Region machen wollte, die er in seiner Kindheit bei Ausflügen mit seiner Großmutter kennengelernt hatte. Er selbst wuchs in der Großstadt Córdoba auf. Dass wenige hundert Kilometer entfernt noch so scheinbar archaische Regionen existierten, in denen die Kinder mit dem Pferd zur Schule ritten, faszinierte ihn.
Die Landschaftsbilder, die Aufnahmen von verlassenen Straßen, die Portraits kleiner Dörfchen, in denen sich Pampahase und Mähnenwolf gute Nacht sagen, spielen die Hauptrolle im Film. Die Suche Jimenas und Lilas dient vor allem als Vorwand, die verschiedenen Dörfer abzuklappern und abgelegene Straßen abzufahren.
Doch die Geschichte wirkt nicht konstruiert. Sie ist recht einfach, doch auch sie hat ihre Irrungen und Windungen und vermag das Interesse der Zuschauer_innen aufrecht zu erhalten. Man schaut sich den Film nicht nur wegen der Landschaftsbilder an. Paula Galinelli Hertzog spielt die bockig-pubertierende Lila sehr überzeugend und trägt damit maßgeblich zu diesem gelungenen Film bei.
Das Thema selbst – Kinder, die erfahren wollen, wer ihre Eltern sind – ist in Argentinien politisch sehr bedeutsam: Schließlich suchen zahlreiche Menschen ihre Eltern, die die Militärdiktatur hat verschwinden lassen. Hier wird dieses Thema von der unpolitischen Seite aufgegriffen. Der Film erzählt einfach, was es für ein Kind bedeutet, aufzuwachsen, ohne zu wissen, wer der Vater ist. Dieses Thema bildet sicher für viele Zuschauer_innen einen impliziten Kontext, der aber nicht explizit gemacht wird. Im Zentrum der Geschichte steht ein Roadmovie durch argentinisches Hinterland.
Die Sierra de Córdoba liegt mitten im südamerikanischen Kontinent, weit weg von der Küste. Dennoch kann einem bei manchen Einstellungen von Ciencias Naturales seekrank werden. Man merkt eben doch, dass kein riesiges Budget für den Film zur Verfügung stand und alles einfach mit einer Steadycam abgedreht wurde. Dadurch rütteln auch einige Totalaufnahmen ohne Kamerabewegung doch erheblich, insbesondere, wenn der Wind in der Sierra stark weht. Doch trotz der offensichtlich geringen Mittel für den Film ist die Kameraarbeit gelungen und bietet wunderschöne Naturaufnahmen. Abgesehen von einigen kleineren technischen Verfehlungen bietet der Film ein schönes und nicht zu langes Kinoerlebnis, das einen in die entlegenen Teile Argentiniens, weit weg von Buenos Aires, entführt.

Ciencias Naturales // Matías Lucchesi // Argentinien 2014 // 77 min // Berlinale Generation // empfohlen ab zehn Jahren


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// Vorfahrt für Konzerne

Freie Fahrt für Daimler: In den USA muss der deutsche Automobilkonzern keine Strafe wegen seiner Verwicklung in die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur mehr befürchten. Der Oberste Gerichtshof der USA lehnte Mitte Januar in letzter Instanz eine Klage ab. Nicht weil die Richter_innen an der Verstrickung von Daimler über seine Tochter Mercedes-Benz Argentina zweifelten – sie ignorierten sie –, sondern weil sie sich wegen des Territorialprinzips für nicht zuständig erklärten. Verbrechen sollten gefälligst dort juristisch geahndet werden, wo sie stattfinden.

Was prima vista nachvollziehbar klingt, ist juristisch keinesfalls unumstritten. Im selben Land, den USA, auf der Grundlage desselben Rechtssystems, hatte das Berufungsgericht in Kalifornien in derselben Sache 2011 entgegengesetzt geurteilt: Die US-Justiz sei sehr wohl zuständig. Richter Stephen Reinhardt hatte argumentiert: Wer in den USA Geschäfte mache, müsse sich weltweit an die US-Gesetze halten. Folter und Entführungen in Argentinien seien demnach inakzeptabel. Die USA hatten unbestritten auch während der argentinischen Militärdiktatur jede Menge Fahrzeuge von Mercedes-Benz Argentina importiert – Fahrzeuge, an denen Blut kritischer Gewerkschafter klebte. Mindestens 14 Betriebsräte sind laut den 22 argentinischen Kläger_innen in den Jahren 1976 und 1977 in der Niederlassung von Daimler verschwunden – bis heute. Aussagen eines überlebenden Folteropfers, Héctor Ratto, und detaillierte Recherchen der Journalistin Gaby Weber belegen die Komplizenschaft von hochrangigen Daimler-Angestellten mehr als nachdrücklich.

Richter Reinhardt hatte sich im Gegensatz zum Obersten Gericht auf das Weltrechtsprinzip berufen. Das besagt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor jedem Gericht der Welt belangt werden können. Die Frage, warum es nicht auch gegen Unternehmen angewandt werden kann, ließ das Oberste Gericht offen. Dabei ermöglichte eine Besonderheit des US-Rechtssystems, der Alien Tort Claims Act (ATCA) von 1789, längst vor dem Weltrechtsprinzip die Ahndung von Völkerrechtsverletzungen außerhalb der Landesgrenzen. Der ATCA wurde geschaffen, damit die USA gegen Akte der Piraterie vorgehen konnten, die eigenen Wirtschaftsinteressen zuwiderliefen.

Es ist offensichtlich: Der Oberste Gerichtshof will es sich mit Multis nicht verderben, die in den USA Geschäfte machen und damit dort auch für Beschäftigung und Einkommen sorgen. Profite haben allemal Vorrang vor Menschenrechten. Im April 2013 scheiterten Nigerianer_innen mit ihrer Klage gegen den Ölkonzern Shell, der für Menschenrechtsverstöße im Niger-Delta verantwortlich ist. Das Argument des Obersten Gerichtes: Territorialprinzip. Im Dezember 2013 scheiterten Apartheid-Opfer aus Südafrika mit ihrer Klage gegen Daimler. Das Argument: Territorialprinzip. Nun sind es Diktatur-Opfer aus Argentinien.
Profit um jeden Preis: Diese Geschäftsgrundlage zahlt sich für Daimler und die anderen Multis bei einer solchen Rechtsprechung nach wie vor aus.

Profit um jeden Preis: Das ist auch die Devise nach der Hedgefonds wie NML Capital verfahren. Der hat argentinische Staatsanleihen rund um die Krise 2001/2002 zum Schrottwert auf dem Sekundärmarkt aufgekauft, um in den USA auf die Bedienung zum Nominalwert von 100 Prozent plus Zinsen zu klagen (siehe LN 468). Der New Yorker Bezirksrichter Thomas Griesa urteilte im November 2012 „Argentinien ist das schuldig, und es schuldet das jetzt.“ Müsste Argentinien zahlen, wäre ein erneuter Staatsbankrott mit all seinen sozialen Folgen à la 2001/2002 programmiert. Der Fall ist noch nicht letztinstanzlich entschieden. Das von Argentiniens Regierung angerufene Oberste Gericht in den USA sah sich bisher nicht bemüßigt, sich mit diesem Fall auch nur zu befassen. Argentinien ist schließlich kein für die USA wichtiger Konzern.


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Würde statt Rendite

Die Pressefreiheit galt den argentinischen Massenmedien nicht immer als hehres Gut. Zu Folter, Vernichtungszentren oder den Raub von Kindern während der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) schwiegen Presse, Radio und Fernsehen gezielt. Die damalige Gesellschaft wollte nicht sehen, was vor sich ging. Somit vernachlässigten die Medien ihr wesentliches Prinzip: zu informieren.
Nach langjährigen Aufschüben und Diskussionen hat der Oberste Gerichtshof im Oktober 2013 das im Jahr 2009 vom Parlament erlassene Gesetz über Dienstleistungen in der Audiovisuellen Kommunikation für verfassungsmäßig erklärt. Die alte Regelung stammte noch aus den Zeiten der Militärdiktatur. Das neue Mediengesetz soll zur Dezentralisierung und Regulierung der Medien beitragen, einem stark konzentrierten Markt, der eine große kulturelle, soziale und politische Wirkung hat. Das nach langen öffentlichen Sitzungen vom Parlament verabschiedete Gesetz wurde vier Jahre lang aufgrund verschiedener einstweiliger Verfügungen blockiert. Diese Maßnahmen gingen vor allem vom Unternehmen Clarín aus, dem größten Multimediakonzern des Landes. Unter anderem wird Clarín durch das neue Gesetz dazu gezwungen, sich von zahlreichen Radio- und Fernsehlizenzen zu trennen. Denn ein Unternehmer darf zukünftig statt 24 nur noch zehn Radio- und Fernsehkanäle betreiben und in einer Region nicht gleichzeitig über Kabel und Antenne senden. Die Frequenzen im Rundfunk- und Fernsehspektrum sollen prinzipiell zu einem Drittel auf private, staatliche oder gemeinnützige Akteure aufgeteilt werden. Nicht betroffen ist die gleichnamige Zeitung, die das Unternehmen Clarín herausgibt. Seit mehreren Jahren zählt Clarín zu einem der Hauptgegner der Kirchner-Regierungen.
Die Debatte wirft ein Schlaglicht auf die Rolle der Medien während der Diktatur und kann nicht von der Diskussion über die gegenwärtige Rolle der Medien getrennt werden. Während der Diktatur waren die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo die einzigen, die über die Verschwundenen, die Todesflüge und die dabei lebendig ins Meer geworfenen Opfer informiert haben. Die Medien bezeichneten sie dafür schlicht als „alte verrückte“ Frauen.
Das Mediengesetz ist das Ergebnis eines demokratischen Dialoges, an dem verschiedene soziale Sektoren teilgenommen haben und der von Organisationen für Menschenrechte unterstützt wird. Es soll dazu beitragen, dass die gesellschaftlichen Debatten mehr geöffnet und zuvor nicht gehörte Stimmen verstärkt wahrgenommen werden. Stimmen indigener Gruppen, mittelloser Frauen, junger Menschen, diskriminierter Sektoren. Also jene, die im Allgemeinen nicht zur Veranstaltungsindustrie dazugehören oder nicht den „Marktparametern“ entsprechen. Dahinter steht die Überlegung, öffentliche Kommunikation nicht mehr als einen „Markt“ für die Verteidigung von Interessen zu betrachten, sondern als Recht der Personen, ihre Meinung frei zu äußern. Letzteres ist von größerem gesellschaftlichen Interesse als die Rentabilität oder der Gewinn von Medienunternehmen.
Das argentinische Gesetz sollte allerdings nicht isoliert betrachtet werden. Es ist Teil eines Prozesses politischer, sozialer und kultureller Integration, der sich in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entwickelt hat. Das Mediengesetz folgt ähnlichen Gesetzen in anderen Ländern wie beispielsweise dem in Ecuador, das unter anderem verhindern soll, dass Banken eigene Medien besitzen.
Die Situation in Argentinien stellt also keine Ausnahme dar. Die Medienkonzentration in Lateinamerika ist sehr hoch. Dies zeigen auch die Fälle von Televisa in Mexiko oder O Globo in Brasilien, deren einflussreiche Stellung auf die Diktaturen in diesen Ländern zurückzuführen ist. In der Debatte geht es darum, genau das erfahren und sehen zu können, was zuvor nicht sichtbar war. Es geht darum, den bedauerlicherweise berühmt geordenen Satz „Ich habe nichts gewusst“, der Argentinien während der Diktatur stark geprägt hat, durch den Satz „Ich weiß“ zu ersetzen. Das „Misch dich nicht ein“ der Diktatur soll sich in eine aktive Teilnahme in der Demokratie verwandeln.
Eine der großen Herausforderungen unserer Demokratie besteht darin, die Bedeutung und den Sinn dessen zu bestimmen, was wir unter Meinungsfreiheit verstehen. Das neue Mediengesetz betrachtet die Kommunikation als ein soziales Gut des öffentlichen Interesses. Die freie Meinungsäußerung ist wesentlich für die argentinische Demokratie, in der allmählich Identitäten anerkannt werden, die früher entweder nicht respektiert oder verfolgt wurden. Hier liegt der politische Kern der Debatte in Argentinien – im Unterschied zwischen der Verteidigung der Interessen und der Verteidigung der Rechte. Dem Unterschied zwischen der Rendite der Medienunternehmen, die Informationen verwalten und verkaufen und der Würde der Menschen, ihre Meinung frei äußern zu können.


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Die Versprechen der Michelle Bachelet

Für die Medien war es eine schöne Steilvorlage: Das Duell der Generalstöchter Michelle Bachelet und Evelyn Matthei. Erstere trat für die Mitte-Links-Koalition Neue Mehrheit an, Zweitere für das rechte Parteienbündnis Allianz für Chile. Töchter von Vätern, die befreundet waren und die der Putsch gegen Salvador Allende 1973 entzweite. Bachelets Vater wurde zum Opfer der Pinochet-Diktatur, Mattheis Vater machte unter Pinochet weiter Karriere. Michelle Bachelet hatte den Wettstreit um die Wähler_innenstimmen im ersten Wahlgang am 17. November klar gewonnen und bekam 46,7 Prozent der gültigen Stimmen. Matthei konnte lediglich 25 Prozent der Stimmen für sich behaupten. Die Ausgangslage für den zweiten Wahlgang war damit klar: Alles andere als ein Sieg von Bachelet wäre eine Sensation.
Auch wenn die klare Stimmenverteilung beeindruckt, bleibt festzuhalten, dass die Wahlbeteiligung bei lediglich 49 Prozent lag. Damit hat mehr als die Hälfte der wahlberechtigten Chilen_innen nicht teilgenommen. Die im Vergleich zu den Wahlen 2009 äußerst geringe offizielle Beteiligung – diese lag damals bei 86,7 Prozent – hängt auch damit zusammen, dass nun zum ersten Mal alle Wahlberechtigten automatisch in das Wahlregister eingetragen wurden und zudem keine Wahlpflicht herrschte. Aber auch in absoluten Zahlen nahm die Beteiligung um etwa 500.000 Wähler_innen ab. Chile ist damit das lateinamerikanische Land mit der geringsten Wahlbeteiligung. Neben dem klaren Vorsprung bei den Präsidentschaftswahlen konnte das Mitte-Links-Bündnis Neue Mehrheit auch bei den Parlamentswahlen Erfolge verbuchen. Im Senat stellt sie nun 20 der 38 Senator_innen und im Abgeordnetenhaus 67 der 120 Parlamentarier_innen. Die uneindeutigen Mehrheitsverhältnisse sind dem in Chile gültigen binomialen Wahlrecht geschuldet, bei dem pro Wahlkreis die Kandidat_innen mit den meisten und den zweitmeisten Stimmen ins Parlament einziehen. Dies führt dazu, dass es äußerst schwierig ist, klare Mehrheiten im Parlament zu erlangen.
Neben den Abgeordneten, die für Parteien kandidierten oder sich als unabhängige Kandidat_innen einem Parteienbündnis anschlossen, sind auch drei unabhängige Kandidat_innen ins Abgeordnetenhaus eingezogen: Alejandra Sepúlveda, Giorgio Jackson und Gabriel Boric. Boric und Jackson bilden zusammen mit Camila Vallejo und Karol Cariola den Block der ins Parlament gewählten Studierendenvertreter_innen, die sich bei den seit 2011 andauernden Protesten einen Namen gemacht haben. Dabei ist die Wahl des unabhängigen Boric eine kleine Sensation: „Entgegen aller Prognosen haben wir es geschafft gegen beide Bündnisse zu gewinnen und das binomiale Wahlrecht zu brechen“, so Boric. Vallejo und Cariola traten hingegen für die Kommunistische Partei an, die Teil der Neuen Mehrheit ist. Der innerhalb der Studierendenbewegung als moderat geltende Jackson wurde von der Neuen Mehrheit dadurch unterstützt, dass diese in seinem Wahlkreis keine_n Kandidat_in aufstellte.
Wenn alles wie erwartet läuft und Michelle Bachelet Präsidentin wird, hat sie sich mit ihrem Programm große Aufgaben gegeben: Die zentralen Punkte ihres Programms, eine Bildungsreform, eine Steuerreform und eine neue Verfassung sind die Versprechen, mit denen sie antrat. Vor allem bei der Umsetzung der Bildungsreform ist sie allerdings auf die Stimmen der unabhängigen Abgeordneten angewiesen. Ob und wie sich die versprochenen Reformen verwirklichen lassen, ist fraglich. Schon 2006, während ihrer ersten Amtszeit, versprach sie als Reaktion auf die Proteste der Sekundarschüler_innen eine Bildungsreform. Diese entpuppte sich jedoch als absolut unzureichend. Von Seiten der Studierendenbewegung, die die Beteiligung am Wahlprozess teilweise kritisch betrachtet, ist bereits jetzt Skepsis zu vernehmen. Melissa Sepúlveda, Präsidentin der FeCh, der Organisation der Studierenden der Universidad de Chile äußerte im Interview mit der Zeitschrift Punto Final: „Die guten Absichten von Michelle Bachelet und der Kommunistischen und Sozialistischen Partei sind wenig wert. Um zu wissen, was sie wirklich wollen, müssen wir abwarten und beobachten wie sie agieren.“
Auf die Frage, wie denn die Erarbeitung einer Verfassungsreform ausehen könnte, hat Bachelet bisher auch keine konkrete Antwort gegeben. Im Zuge der Wahl forderte eine Kampagne, auf den Wahlzettel ein „AC“ für „Asamblea Constituyente“ zu schreiben und dadurch dem Wunsch nach einer Verfassunggebenden Versammlung Ausdruck zu verleihen. Die derzeit geltende Verfassung, die für viele Probleme verantwortlich gemacht wird, wurde 1980 von der Militärdiktatur geschaffen. Auf die Frage, ob Bachelet eine solche Verfassunggebende Versammlung befürworte, antwortet sie stets ausweichend, dass sie für eine neue Verfassung sei. Ob dies im Rahmen der Institutionen möglich ist, wird sich noch zeigen. Sicher ist, dass es bei diesem Thema auch innerhalb der Neuen Mehrheit Konflikte geben wird. So hat Camila Vallejo ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie sich ausdrücklich für eine solche Versammlung ausspricht.
Teile der sozialen Bewegungen betrachten eine potenzielle Regierung Bachelet kritisch. Während der Gewerkschaftsdachverband CUT das Mitte-Links-Bündnis unterstützt, sind die Stimmen aus der eher syndikalistischen Gewerkschaft CGT verhaltener: „Die Neue Mehrheit ist nicht die Stimme der Arbeiter“, so deren Präsident Manuel Ahumado. Auch die Fraktionen innerhalb der Studierendenbewegung, die sich wie Melissa Sepúlveda gegen eine Institutionalisierung der Bewegung aussprechen, betrachten die neue Regierung mit Skepsis. Aus ihren Reihen war eine Kampagne gestartet worden, die dazu aufrief, nicht an den Wahlen teilzunehmen.
Von Seiten der linken Mapuche-Organisationen ist ebenfalls wenig Begeisterung über eine zukünftige Präsidentin Bachelet zu hören. In ihre erste Amtszeit fallen unzählige Verfahren gegen Mapuche, bei denen das aus der Militärdiktatur geerbte Antiterrorgesetz Anwendung fand. Außerdem wurden während ihrer Amtszeit die jungen Aktivisten Matías Catrileo, Jaime Mendoza und Johnny Cariqueo von der Polizei ermordet, ohne dass die dafür verantwortlichen Polizeibeamten zu Haftstrafen verurteilt wurden. Im Rahmen der Veröffentlichungen von Wikileaks ist zudem ans Licht gekommen, dass die Regierung von Bachelet den US-Geheimdienst FBI um Hilfe gebeten hatte, um Verbindungen zwischen Mapuche-Organisationen und der kolumbianischen Guerilla FARC sowie der baskischen Untergrundorganisation ETA zu ermitteln. Damit wurde klar, dass die Regierung den Konflikt lediglich unter dem Aspekt der Repression betrachtete.
Sollte Bachelet wie zu erwarten den zweiten Wahlgang gewinnen, die gemachten Versprechen allerdings nicht einhalten, könnte eine unruhige Regierungszeit auf sie zukommen – oder wie es Melissa Sepúlveda ausdrückte: „In Chile müssen Veränderungen passieren oder Michelle Bachelet wird ein Land mit steigender politischer Instabilität regieren müssen.“


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„Chile braucht eine neue Verfassung“

Sie wurden bei den Parlamentswahlen am 17. November in den Kongress gewählt. Welches sind die Projekte, die Sie verfolgen werden?
Wir von der Neuen Mehrheit haben ein Programm, das das Ergebnis der Arbeit der Kommissionen und aller politischen Akteure der Neuen Mehrheit ist. Dieses Programm hat drei zentrale Punkte: eine neue Verfassung für Chile, eine Bildungsreform, die die Forderungen der Studenten nach einer öffentlichen, kostenlosen und guten Bildung aufgreift, und eine Steuerreform, da die Bildungsreform finanzielle Mittel benötigt.

Aber Ihre Sitze im Parlament reichen nicht aus, um diese Reformen ohne die Stimmen der Rechten durchzuführen.
Für einige Schritte haben wir die notwendige Mehrheit, aber für die wirklich tiefergehenden Reformen müssen wir durch klare und transparente Vorschläge und in Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen vor allem die unabhängigen Abgeordneten überzeugen.

Was ist der Unterschied zwischen der Koalition Neue Mehrheit und dem vorherigen linken Parteienbündnis Concertación?
Die Neue Mehrheit umfasst mehr politische Kräfte: die Kommunistische Partei, die Partei Breite Soziale Bewegung und die Partei Bürgerliche Linke. Und das ist gut. Man muss Kräfte vereinen. Je mehr politische Akteure an der Ausarbeitung eines Programms arbeiten, desto besser. Diversität und Meinungsverschiedenheit sind wichtig und man muss debattieren.

Während der Präsidentschaft von Michelle Bachelet wurden viele Dinge versprochen, unter anderem eine Bildungsreform. Passiert ist dann am Ende aber wenig. Warum sollte das in dieser Legislaturperiode anders werden?
Die Reform, von der Sie sprechen, war nicht Teil eines Programms und ich bin mit den Ergebnissen, die sie gebracht hat, auch nicht zufrieden. Das Programm für diese Wahlen wurde breit diskutiert, von allen politischen Kräften der Neuen Mehrheit und auch einigen Unabhängigen. Das darf man nicht vergessen! Auch unabhängige Kandidaten saßen in den Kommissionen! Nun können die Bürger überwachen, ob das Programm umgesetzt wird. Dementsprechend hat es eine größere Verbindlichkeit.
Eine Legislaturperiode dauert nur vier Jahre und nicht alles wird sich in dieser Zeit umsetzen lassen. Aber man kann Fortschritte erzielen und vor allem einen klar definierten Weg vorgeben, wohin dieser Fortschritt gehen soll. Chile befindet sich in einem neuen politischen Zyklus und das ist der Moment, um das Vertrauen in die Politik und die Institutionen wiederherzustellen.

Aber hat sich das mangelnde Vertrauen in die Institutionen nicht auch daran gezeigt, dass 51 Prozent der Chilen_innen nicht zur Wahl gegangen sind?
Es ist schwierig, den Grund zu finden, warum die Leute nicht wählen gegangen sind. Es gibt verschiedene Gründe, der größte ist wahrscheinlich, dass das Vertrauen fehlt oder dass es vielen Menschen egal ist, wer gewinnt. Es gibt aber noch viele andere Gründe, warum viele Chileninnen und Chilenen nicht wählen gegangen sind. Weil der Bus zum Wahllokal zu teuer ist, weil Leute nicht dort wohnen, wo sie gemeldet sind…
Glauben Sie, dass der Fortschritt innerhalb der engen Grenzen, die die Verfassung von 1980 setzt, erfolgen kann?
Ich spreche mich für eine neue, demokratische und partizipative Verfassung aus. Wir können nicht mit einer Verfassung weitermachen, die während der Militärdiktatur installiert wurde, die nicht demokratisch ist, die keinen Rechtsstaat garantiert. Wir müssen uns vom binomialen Wahlrecht trennen, wir müssen bindende Bürgerentscheide schaffen, die indigenen Völker anerkennen und Umweltthemen berücksichtigen. Das alles muss in eine neue Verfassung.

Welche Rolle werden die ins Parlament gewählten Studierendenvertreter_innen haben? Verändert das die Dynamik im Parlament?
Es ist wichtig, dass die Studenten ins Parlament eingezogen sind. Politische Kämpfe müssen auf der Straße von sozialen Bewegungen, aber auch in den Parlamenten, in den Institutionen geführt werden. Denn wenn sich die Studierendenvertreter nur auf die Straße beschränken, werden immer wieder dieselben Leute wie vorher gewählt. Deswegen ist es gut, dass glaubwürdige Führungspersönlichkeiten aus sozialen Bewegungen, die das System verändern wollen, auch innerhalb der Institutionen arbeiten.

Werden die Mobilisierungen weitergehen – jetzt, da eine linkere Regierung an die Macht kommt?
Das ist schwierig zu beantworten. Das wäre, als würde ich für die Studenten sprechen. Aber ich denke nicht, dass die Mobilisierungen aufhören müssen. Ich glaube, Chile ist dabei sich zu verändern. Die Demonstrationen waren ja auch nicht nur von der Studierendenbewegung, es gab Demonstrationen für die Gleichstellung von Homosexuellen, für die gleichgeschlechtliche Ehe, es gab sogar eine große Demonstration für die Legalisierung von Marihuana.

Die Mapuche sind enormen Repressalien ausgesetzt, ihre Gemeinden werden militarisiert, es gibt unzählige politische Gefangene. Wird sich daran etwas ändern?
Das muss sich in der Gesellschaft verändern. Wir können nicht darüber entscheiden, was das Volk der Mapuche will. Die Mapuche sind sehr vielseitig, es gibt verschiedene Gemeinden mit unterschiedlichen Ansichten. Ich glaube, dass die wesentlichen Politikentwürfe aus der Gemeinschaft der Mapuche kommen müssen. Ich denke, Chile hat sich verändert, wir wollen kein Antiterrorgesetz mehr, wir wollen keine Repression gegen die Mapuche mehr. Wir wollen eine Verfassung, die die indigenen Völker anerkennt. Und ich denke, da müssen wir als Gesellschaft Fortschritte erreichen.

Zur gleichen Zeit geht aber die Repression gegen die Mapuche weiter. Und es gibt auch Teile der Gesellschaft, die Machtpositionen besetzen und die nicht mit dem einverstanden sind, was Sie sagen.
Ja, das stimmt. Chile ist eine vielseitige Gesellschaft. Wir müssen daran arbeiten, dass das, was ich eben gesagt habe, umgesetzt wird. Politische Prozesse gehen nicht immer den direkten Weg. Ich werde nie für Repression sein, weder gegen die Mapuche noch gegen ein anderes indigenes Volk.

Infokasten:

MAYA FERNÁNDEZ ALLENDE
Die Tierärztin Maya Fernández Allende wuchs im kubanischen Exil auf und kehrte Anfang der 1990er Jahre nach Chile zurück. Für die Sozialistische Partei gewann sie bei den Parlamentswahlen die Hauptstadtbezirke Ñuñoa und Providencia. Diese gelten eigentlich als Hochburg der Rechten. Bereits 2012 kandidierte sie für das Bürgermeister_innenamt in Ñuñoa, wo sie dem Kandidaten der rechten Partei Nationale Erneuerung äußerst knapp unterlag.


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„Keine Schwarz-Weiss-Malerei“

Besten Dank für das interessante Dossier zum 40. Jahrestag des Putsches in Chile! Natürlich wird nicht jedeR LeserIn allem zustimmen, aber das ist ja auch gut so, denn das letzte, was wir wollen, ist ein eintöniger Totalkonsens.
Der Artikel zur unterschiedlichen Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit in Argentinien und Chile bringt sehr interessante Aspekte zur Sprache, wie zum Beispiel die unterschiedliche politische und ideologische Stärkeposition des Militärs im Moment des Übergangs zur Demokratie. Allerdings scheint mir die Darstellung besagter Unterschiede als zwei extreme Fälle (dem positiven in Argentinien und dem negativen in Chile), doch einer Schwarz-Weiss-Malerei zu unterliegen, bei dem zum Verständnis der Entwicklung der letzten Jahrzehnte notwendige Grautöne verschwinden. So wird die „umfassende Vergangenheitsbewältigung“ in Argentinien vor allem damit erklärt, dass es keinen paktierten Übergang zur Demokratie gab, die Militärs vom Malwinen-Krieg (hier – für die LN überraschend – „Falkland-Krieg“ genannt) geschwächt waren, während die Menschenrechtsbewegung demgegenüber vergleichsweise stark ist und das Thema erfolgreich immer wieder zur Sprache brachte. Mit diesem günstigen „strukturellen“ gesellschaftlichen Hintergrund lässt sich allerdings kaum erklären, dass – wie der Artikel korrekt benennt – aufgrund des Drucks des Militärs (carapintadas) 1986 Amnestiegesetze erlassen wurden und später Präsident Menem die verurteilten Juntageneräle begnadigte. Damit entstand bis 2005 „eine Situation vollkommener Straflosigkeit“, die somit mehr als doppelt so lange währte wie die argentinische Militärdiktatur selbst – nicht eben ein Hinweis auf die Dominanz besagter „struktureller“ Faktoren. Das änderte sich erst mit dem Amtsantritt von Nestor Kirchner, der die Aufarbeitung der Vergangenheit zu einem wichtigen Punkt seiner Regierungspolitik machte, allerdings bei seiner ersten Wahl im ersten (und letzten) Wahlgang nur wenig mehr als 20 Prozent der Stimmen erhielt: Nicht gerade ein massiver gesellschaftlicher Auftrag. Dagegen waren die „strukturellen“ Faktoren in Chile ungünstig für eine umfangreiche Aufarbeitung der Vergangenheit; vor allem die Machtposition des Militärs, die Beschränkungen der Verfassung und die (Selbst)Amnestie begrenzten alle weitreichenden Maßnahmen, und – wie der Artikel von Dieter Maier gut erläutert – Pinochet hatte ja auch eine gesellschaftliche Basis, die weit über das traditionelle rechte Drittel der chilenischen Politik hinausging. So konnte das Militär den Bericht der vom Präsidenten Aylwin (der die bezeichnende Kernaussage „soviel Gerechtigkeit wie möglich“ machte) eingesetzten Kommission Rettig zu den Morden und dem Verschwindenlassen in der Diktatur schlichtweg zurückweisen.
Die Strategie der demokratischen Opposition berücksichtigte die Machtverhältnisse nach dem gewonnenen Plebiszit von 1988, einschließlich der starken Minderheit, die für Pinochet gestimmt hatte, und optierte für eine graduelle Transformation im Rahmen der bestehenden Verfassungsordnung, die in vielen Politikfeldern mit „zu wenig, zu langsam“ kritisiert werden kann. Unzutreffend wäre es allerdings anzunehmen, dass sich diese „strukturellen Faktoren“ in den letzten 23 Jahren überhaupt nicht verändert haben und es daher keine Fortschritte bei der Aufarbeitung der Vergangenheit gegeben hätte. Im Artikel wird etwa behauptet, dass Pinochet bis zu seinem Tode den Prozess der Vergangenheitsbewältigung stark beeinflussen konnte. Demgegenüber ist festzustellen, dass seine Position mit der Festsetzung in London stark geschwächt war, obwohl er, zum Teil aufgrund des Drucks der chilenischen Regierung, schließlich nicht nach Spanien ausgeliefert wurde und nach Chile zurückkehrte. Nicht zuletzt aufgrund der Arbeit von MenschenrechtsanwältInnen wurde die juristische Verfolgung seiner Straftaten in Chile vorangetrieben, der er schließlich nur aus Gesundheitsgründen entkam. 2002 trat er als lebenslanger Senator zurück. Zusätzlich wurde seine öffentliche Position durch die Aufdeckung von Millionenkonten geschwächt, die er in den USA unter falschem Namen führte. Und heute? Nach einer kürzlichen Umfrage halten ihn nur noch 10 Prozent der ChilenInnen für den wichtigsten Präsidenten Chiles – 10 Prozent zu viel, aber viel weniger als in der Vergangenheit.
Die graduellen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte führten unter anderem dazu, dass der zweite Bericht einer Wahrheitskommission, der vom Präsidenten Lagos eingesetzten Kommission Valech zur Folter, kaum noch Ablehnung, dafür um so mehr Bestürzung erfuhr. Nach und nach gelang es MenschenrechtsanwältInnen und demokratischen RichterInnen auch, für Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Militärs und Polizisten hinter Gitter zu bringen, darunter alle Chefs der Geheimpolizei DINA und CNI (Zehn von ihnen allerdings in einem Luxusgefängnis, bis Ende September 2013 Präsident Piñera dessen Schließung und die Verlegung dieser Häftlinge in ein anderes Spezialgefängnis für Menschenrechtsverbrecher anordnete; in diesem Zusammenhang beging ein ehemaliger CNI-Chef Selbstmord). Ähnlich wie in Argentinien mussten dazu zum Teil juristische Wege gefunden werden, die Amnestiegesetzgebung auszuhebeln – in Argentinien vor allem der Raub von Kindern und ihre Vergabe in Adoption, in Chile die Definition des Verschwindenlassens als ungeklärtes Verbrechen, das nicht amnestiert werden kann. Ohne Zweifel laufen zu viele Menschenrechtsverletzer weiterhin frei herum, aber die Fortschritte lassen sich nicht leugnen. Das „Museo de la memoria“, Kinofilme, Fernsehserien, Dokumentationen und Theaterstücke haben die Diktatur und ihre Verbrechen immer wieder in die – mal breitere, mal spezialisiertere – Öffentlichkeit gebracht, mit einem Höhepunkt zum 40. Jahrestag des Putsches. Das massive Zuschauerinteresse widerlegte dabei die Behauptung der politischen Rechten, die Menschen seien an Gegenwart und Zukunft interessiert, während die Beschäftigung mit der Vergangenheit die Gesellschaft spalte, dem Land nicht nütze und vom Großteil der Bevölkerung auch gar nicht gewollt sei.
Also: Viele Grautöne statt Schwarz-Weiss. Speziell die Darstellung Chiles als das „schlechte Extrem“ in Sachen Vergangenheitsaufarbeitung lässt sich kaum aufrechterhalten, schon gar nicht, wie es die Autorin macht, gegenüber Brasilien und Uruguay (wo in zwei Volksabstimmungen das Schlusspunktgesetz bestätigt wurde), denen sie eine „Mittelposition“ zwischen den Extremen zuschreibt. Zum Abschluss eine, vermutlich polemische, Interpretation: Wie auch bei einigen anderen Artikeln des Dossiers scheint mir der Vernachlässigung besagter Grautöne ein Verständnis der chilenischen Realität als ein von der Diktatur begründetes neoliberales Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu Grunde zu liegen, welches nennenswerte gesellschaftliche Verbesserungen grundsätzlich unmöglich macht, sodass alle Veränderungen unterhalb der Schwelle einer radikalen Umwälzung zwangsläufig irrelevant sind. Ein solches Verständnis begrenzt jedoch die Fähigkeit zur Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse.
Alles Gute, Jürgen Weller


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Ein aufregender Streifzug

„Aber nehmen wir doch einmal die kulturelle Intelligenz: Sie können von der Kultur, in die sie hineingeboren werden, ausgehen, um von dort aus andere Kulturen zu verstehen und sie für den eigenen Entwicklungsprozess zu nutzen. Das ist genau das, was ich mit meinen Arbeiten mache. Ich suche den Dialog mit dem Anderen, nicht um es zu kopieren, sondern um etwas Neues, etwas Drittes zu entwickeln.“ Der Choreograf und Tänzer Ismael Ivo, dessen Interview zu den interessantesten Beiträgen gehört, spricht das Thema an, das sich wie ein roter Faden durch den gesamten Sammelband zieht: Ist der „kulturelle Kannibalismus“, der 1928 von Oswald de Andrade mit dem Manifesto Antropófago entwickelte Gründungsmythos der brasilianischen Moderne, noch immer das konstituierende Element zeitgenössischer brasilianischer Kunst?
Im Vorwort des Herausgebers Alfons Hug heißt es dazu: „Die brasilianische ,Kulturphagie’ hat viel zu verdauen: Hybris und Hochkultur der Europäer, Leid und Lebenslust der Afrikaner sowie Widerstand und Spiritualität der Indígenas. Daraus entsteht eine Kreolisierung, die sich fundamental von atavistischen Monokulturen unterscheidet, die traditionell eher auf Ausgrenzung beruhen.“ Dass „die Afrikaner“ und „die Indigenen“ eigene Hochkulturen beizutragen hatten, ließe sich hier noch ergänzen. Darüber hinaus wird in den unterschiedlichen Beiträgen deutlich, dass der „kulturelle Kannibalismus“ heutigen brasilianischen Künstler_innen kein Wert an sich ist, sondern eine Auseinandersetzung mit Zuschreibungen von außen, wie Ismael Ivo erklärt.
Ivo wurde in den 1980er Jahren als Solist der Tanzkompanie Alvin Aileys in New York international bekannt und füllte während seiner anschließenden Solokarriere die großen Theater Europas. Er arbeitet immer wieder mit ungewöhnlichen Choreograf_innen und Theatermacher_innen, setzte mit dem Wiener Festival ImPulsTanz kreative Akzente und kuratierte in den letzten acht Jahren die Tanz-Biennale in Venedig. Seine Arbeiten sind oft verstörend, unterlaufen die Erwartungen des Publikums, insbesondere die der Exotik des „schwarzen Tänzers“: „Wenn Kritiker versucht haben, mich zu kategorisieren in einem – sagen wir – exotischen oder folkloristischen Sinn als ,Brasilianer’, dann habe ich eben Shakespeare gemacht, oder mich mit Francis Bacon beschäftigt, mit der antiken Mythologie oder der Apokalypse. Ich lasse mich nicht in einem festen Rahmen definieren oder katalogisieren.“
Sein Interview endet mit der Entdeckung, dass die Brechung ästhetischer Konventionen in seinen Stücken ihre Wurzeln in der politischen Auseinandersetzung mit der afro-amerikanischen Geschichte hat. Während der Militärdiktatur war er Teil der Bewegung junger schwarzer Künstler_innen in Salvador de Bahia, die in ihren Arbeiten den alltäglichen Rassismus aufdeckten. Diese Erfahrungen inspirieren und motivieren seine Arbeit bis heute.
Eine andere Entdeckung ist der Multimedia-Künstler und Filmemacher Kiko Goifman, in dessen filmischen Arbeiten die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion verschwimmen. Seine Filme wurden bereits mehrfach auf internationale Festivals eingeladen; zuletzt wurde Olhe pra mim de novo (Schau mich von Neuem an) im Panorama der Internationalen Filmfestspiele in Berlin 2011 gezeigt. In FilmeFobia arbeitete Goifman mit Menschen, die echte Phobiker_innen sind, mit Schauspieler_innen und mit phobischen Schauspieler_innen, er nutzt die Mechanismen des Dokumentarfilms, um beklemmende Bilder der Angst zu erzeugen. In einem fiktiven Interview – tatsächlich also in einem Selbstporträt – setzt er sich mit der „Brasilianität“ seiner Filme auseinander: „Ich verspüre keinen Zwang über Themen zu arbeiten, die besonders brasilianisch sind. Ich lebe in Brasilien und drehe dort auch. Das ist, ob ich will oder nicht, in meiner Arbeit gegenwärtig. Wenn ich in mehreren Filmen das Thema Gewalt behandle und Brasilien ein äußerst gewalttätiges Land ist, ist klar, dass da eine Beziehung besteht. Was ich allerdings vermeiden möchte, ist, stereotype Vorstellungen von Brasilien zu bedienen. Ich denke mehr an eine verschwommene, sogar brüchige Beziehung, vielleicht über den brasilianischen Humor. Wenn wir uns darin einig sind, dass Brasilien par excellence ein Ort der Vielfalt ist, ist dies auch auf einzigartige Weise in jedem meiner Filme gegeben.“
International am bekanntesten ist die kulturelle Vielfalt Brasiliens im Bereich der Musik, in der „alles zusammengetragen und miteinander vermischt“ ist, wie die Musikjournalistin Patricia Palumbo in ihrem Artikel über Popmusik im heutigen Brasilien schreibt. Eine eher neue Erscheinung dieser musikalischen Diversität ist der Tecno-brega, zu der Gaby Amarantos, die „Königin des Tecnobrega“, interviewt wird. Amarantos wuchs in Jurunas am Rand von Belém in einer Familie von Samba-Musiker_innen auf. Zusammen mit ihrer Band Tecno Show kam sie auf die Idee, die schnellen Gitarrenriffs des traditionellen Brega mit einem Elektro-Beat zu unterlegen. Das Musikvideo zu ihrem Soloalbum Xirley machte sie und diese Musikrichtung der Peripherie in ganz Brasilien bekannt, auch das Album Treme wurde 2012 ein großer Erfolg. Der Tecnobrega speist sich aus der traditionellen Musik des amazonischen Bundesstaates Pará. Amarantos selbst erklärt ihren Erfolg so: „Jurunas, mein Viertel, ist meine Energiequelle, dort habe ich gelernt, dass man die Vielfalt schätzen muss. Ich hatte das Privileg, in einer multikulturellen Umgebung geboren worden zu sein, auch wenn sie offiziell zur Peripherie zählt. Weil Jurunas die Wiege verschiedener kultureller Strömungen ist, trage ich diese Pluralität in meinem Gepäck.“
Das klingt so, als sei der kulturelle Kannibalismus in seiner Gewalttätigkeit abgeschlossen und auch die Auseinandersetzung mit Zuschreibungen von außen in der Generation von Amarantos einem leichtherzig gelebten Diversity-Menü gewichen.

Alfons Hug im Auftrag der Akademie der Künste und des Goethe-Instituts (Hg.) // Positionen 6 – Zeitgenössische Künstler aus Brasilien // AdK // Berlin/Steidl, Göttingen 2013 // 24,00 Euro


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„Freiheit ist das Wichtigste in meinem Leben!“

Bereits Ende der sechziger Jahre nahm die damalige Soziologiestudentin der Universität São Paulo sich die Freiheit, das Studium abzubrechen und in der Boca do Lixo der Prostitution nachzugehen: „Die Bewegung der contracultura war prägend für meinen politischen Werdegang.“ Die Erfahrungen der Rebellion gegen traditionelle Werte und für eine soziale Revolution setzte sie bereits 1979 in die Praxis um. Zu Zeiten der Militärdiktatur organisierte sie die erste Prostituiertendemonstration gegen die Polizeirepression in São Paulo, nachdem drei Kolleg_innen gefoltert und umgebracht wurden. Der erste politische Erfolg war die Absetzung des verantwortlichen Polizeikommissars und die Einstellung der „Säuberungsaktionen“.
Ihre weiteren Wege führten sie über Belo Horizonte 1982 nach Rio de Janeiro, wo sie eigentlich nur ein paar Tage bleiben wollte. Dem Charme Rios erlegen, blieb sie und wurde zur echten carioca (Einwohnerin Rio de Janeiros), die den Samba frequentierte und Dichter wie Manuel Bandeira verehrte. Letzterer beschrieb das traditionelle Rotlichtviertel Mangue, wo sie in einer der Straßen, die die Stadtumstrukturierung überdauert hatte, anfing zu arbeiten.
1987 organisierte sie den ersten Prostituiertenkongress Brasiliens in Rio de Janeiro unter dem Motto „As rosas já falam“ („Die Rosen sprechen bereits“) in Anspielung auf das Lied des Sambakomponisten Cartola. Für sie war es wichtig, dass Prostituierte für sich sprechen und als Protagonist_innen ihrer Angelegenheiten in Gesellschaft und Politik wahrgenommen werden. „Freiheit ist das wichtigste in meinem Leben!“, sagte sie immer wieder. Dies war auch der Beginn der brasilianischen Prostituiertenbewegung, die heute in vielen Städten Brasiliens vertreten ist. Im Jahr darauf rief sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten, dem Journalisten Flavio Lenz, die Zeitung Beijo da Rua („Kuss der Straße“) ins Leben, wo die anschaffenden Frauen selbst zu Wort kommen. Ihre Kolumne nutzte sie stets, um über ihre politischen Gedanken zu philosophieren: „Wenn die Prostituierte wie jede andere Arbeiterin zu etwas Alltäglichem in der Gesellschaft wird, werden wir über Sexualität, Lust, Liebe, Glück, diese uns so wichtigen Dinge, besser nachdenken können.“
Um unabhängig von anderen Nichtregierungsoganisationen zu sein, gründete sie 1992 die Organisation Davida, die für die Rechte von Prostituierten eintritt. Als eine der Pionier_innen der Aidsbewegung machte sie sich immer dafür stark, die Krankheit im Kontext von Stigma und Vorurteilen zu sehen. „Heute werden wir als Gruppe, die „vulnerabel“ ist, bezeichnet“, argumentierte sie bei einem Treffen der Vereinten Nationen gegen diskriminierende Begrifflichkeiten. „Nach meinem Verständnis hat dies die gleiche Bedeutung wie Risikogruppe.“ Der Name habe sich geändert, aber das alte Vorurteil bleibe das gleiche. „Wenn wir als Risikogruppe bezeichnet werden, bedeutet dies, dass die anderen nicht für die Übertragung des Virus verantwortlich sind.“
Die Anerkennung der Prostitution als Arbeit war eines ihrer wichtigsten Anliegen. Ihr stetes Engagement in Brasilien führte 2002 dazu, Prostitution in den Brasilianischen Tätigkeitenkatalog (CBO) des Arbeitsministeriums aufzunehmen. Auch mit der Position, Prostitution als Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu verteidigen, war sie vielen ihrer Zeit oft voraus. „Über Prostitution nur im Zusammenhang mit Armut zu reden, bedeutet, die Sexualität außer acht zu lassen“, setzte sie den moralisch geprägten Debatten entgegen. „Auf diese Weise versuchen wir zu zeigen, daß Prostituierte keine Vagabundinnen sind oder ein Ergebnis des „wilden“ Kapitalismus, sondern ein Teil einer Gesellschaft, die vor Angst stirbt, wenn sie ihrer Sexualität gegenübertritt, und sich bedroht fühlt, wenn eine Prostituierte ihr Gesicht zeigt.“ Durch ihre klare Haltung prägte sie auch die internationale Sexarbeiter_innenbewegung, wo sie als Vorstandsmitglied des Netzwerks für Sexarbeit-Projekte (NSWP) eine entscheidende Rolle in Diskussionen mit UN-Organen einnahm. Während sich seit Ende der neunziger Jahre in vielen Ländern der Begriff der Sexarbeiterin durchsetzte, war Gabriela hingegen die Bezeichnung Prostituierte wichtig: „Ich benutze den Begriff Prostituierte als Politikum im Kampf gegen das Stigma“. Am liebsten war ihr aber das Wort Hure, das am besten die Nähe zur Boheme und Kunst charakterisierte: „Daher halte ich die Kunst, die über Prostituierte spricht, für sehr wichtig, da sie den Fantasien der Gesellschaft Raum bietet. Sie hilft, Prostituierte aus dem Ghetto zu holen und in die brasilianische Realität zu stellen.“
So waren auch die Kneipen ihr zweites Zuhause, wo sie ihre Treffen abhielt, Interviews gab, Projekte plante, neue Ideen hatte und vor allem mit unzähligen Menschen über Prostitution diskutierte und stritt. Viele haben später diese Gespräche als Lebenslektionen definiert. In ihrer Radikalität konnte sie provozieren und stieß so manchen vor den Kopf. Gleichzeitig schaffte sie es dadurch, die Menschen zum Nachdenken zu bewegen und die eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Als Ausgleich tankte sie zu Hause mit ihrer großen Leidenschaft des Kochens im Kreise der Freund_innen ihre Energien wieder auf.
Ihr wohl genialster Streich war die Gründung des Modelabels Daspu („das putas“ – „von den Huren“) im Jahre 2005, um für die Projekte von Davida Gelder zu akquirieren. Die Idee war, damit Projekte für die Rechte der Prostituierten umzusetzen, die normalerweise bei internationalen Geldgebern keinen Anklang fanden. Auf den T-Shirts sind ironische und doppeldeutige Sprüche über Rechte, Freiheit und Sexualität gedruckt, die von den Prostituierten selbst angeregt wurden: „Wir sind böse, wir können noch böser sein“, „Die guten Mädchen kommen in den Himmel, die schlechten gehen überall hin“, „Mode zum Umdenken“. Für Gabriela war es immer ein bewegendes Ereignis, wenn die Kolleg_innen über sich selbst hinauswuchsen, sobald sie als Models den Laufsteg betraten. Wenn sie am Ende unter Applaus auf die Bühne stieg, war sie stets vor Glück zu Tränen gerührt: „Wenn meine Kolleginnen, die Huren, als Models auftreten, ohne sich zu schämen, Hure zu sein, reden sie von sich selbst und sind politisch und revolutionär.“
Die zahlreichen Facetten ihres Lebens hat sie unter dem Titel Tochter, Mutter, Großmutter und Hure beschrieben, das 2009 als Buch erschien und im folgenden Jahr als Theaterstück adaptiert wurde. Darüber hinaus plant der Regisseur Caco Souza die Verfilmung ihres Buches. Auch durch den Gesetzentwurf des linken PSOL-Abgeordneten Jean Wyllys zur Regulierung der Prostitution wird sie uns in Erinnerung bleiben. Er reichte im Juni 2012 den Entwurf mit ihrem Namen als Anerkennung ihres Engagements im Parlament ein.
Nun kann sie von dem Friedhof Catumbi auf die ehemalige Vila Mimosa – die Bordellgasse, wo sie in Rio de Janeiro gearbeitet hat, blicken. Ob sie dort die Ruhe von den vielen Kämpfen, die sie Zeit ihres Lebens geführt hat, gefunden hat, weiß ich nicht. Aber ich kann mir bestens vorstellen, dass sie, wo immer sie jetzt weilt, auch dort mit aller Leidenschaft weiter gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit kämpfen wird. Viel Power dabei, Gabi!


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Die Leere des unbesetzten Stuhls

Die Familie nutzte ein verlängertes Wochenende für einen Ausflug. Auf der Landstraße São Paulo – Mogi Mirim legten sie einen kurzen Stopp und schossen ein Bild: die Mutter, die Tochter und der Sohn stehen Arm in Arm, gelehnt an die Kühlerhaube, in der Ferne verliert sich die Flucht der Autostraße. 48 Jahre später, im Jahre 2012, die gleiche Landstraße: Arm in Arm stehen Mutter und Tochter vor dem parkenden Wagen, die Flucht der Straße verliert sich immer noch im Hintergrund. Aber der Sohn fehlt. Luiz Almeida Araújo, damals 27 Jahre, wurde im Juni 1971 auf offener Straße verhaftet und gilt seither als verschwunden.
Die Familie Cardoso Rocha traf sich stets zum Familienessen, damals im Belo Horizonte Anfang der 1960er Jahre. Die Rochas waren eine kinderreiche Familie. Und alle gingen oft zusammen ins Restaurant. Zu neunt sind sie 1961 um den Tisch versammelt. 2012 sitzen nur noch acht Familienmitglieder am Tisch. Arnaldo Cardoso Rocha fehlt. 1969 ging Arnaldo für die Stadtguerrilla Nationale Befreiungsaktion ALN in den Untergrund. Er starb 1973 – laut Militärangaben infolge eines Schusswechsels. Aussagen von Zeug_innen zufolge wurde er lebend festgenommen und im Folterzentrum der DOI-CODI in São Paulo ermordet.
Ana Rosa Kucinski Silva lehnt, entspannt sitzend, am Rahmen einer Haustür in Paraty, wohin die Familie aus São Paulo im Jahre 1966 einen Ausflug gemacht hatte. 2012 sitzt niemand im Rahmen der Tür. Ana Rosa hatte sich am 22. April 1974 mit ihrem Ehemann zum Mittagessen im Zentrum São Paulos verabredet (siehe LN 471/472). Dort wurden sie und ihr Mann Wilson Silva verhaftet – und nie wieder gesehen.
Es sind die Bilder des argentinischen Fotografen Gustavo Germano. Und die der Familienangehörigen der Verschwundenen. Gustavo Germano hat dieses Projekt in Brasilien im vergangenen Jahr mit Unterstützung des Menschenrechtssekretariats realisiert, nachdem er zuvor das gleiche Projekt in Argentinien durchgeführt hatte.
Germano dokumentiert die Geschichten der Opfer der brasilianischen Militärdiktatur (1964–1985) dadurch, dass er Fotos aus den Familienalben dreißig, vierzig Jahre später mit den Hinterbliebenen nachstellt. Die Bilder werden durch die Lebensgeschichten der Verschwundenen und ihrer Familienangehörigen hervorragend ergänzt.
In der Gegenüberstellung der alten und neuen Fotografien setzt Germano die Abwesenheit der politischen Verschwundenen und von der Diktatur Ermordeten einfühlsam in Szene. Es ist diese Leere des unbesetzten Stuhls am Familientisch, die nicht vieler Worte der Erklärung bedarf. Selten sprechen Fotografien bereits beim ersten Anblick so für sich.

Iuri Xavier Pereira. 23 Jahre

Geboren am 2. August 1948 in Rio de Janeiro im gleichnamigen Bundesstaat als ältester Sohn von João Baptista und Zilda de Paula Xavier Pereira, beide engagierte Kommunisten und Mitglieder der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB). Iuris Bruder, Alex de Paula Xavier Pereira, ebenfalls aktives Mitglied der Nationalen Befreiungsaktion ALN, wurde im Januar 1972 umgebracht.
Im Untergrund war Iuri aktiv an den internen Machtkämpfen der PCB beteiligt. Er stand Carlos Marighella bei der Gründung der ALN zur Seite und gehörte seit 1970 zu deren Zentralkommando. Iuri war nicht nur für seinen Kampfgeist bekannt, sondern auch für seine theoretische Kompetenz und sein Engagement im Bereich der Untergrund-Presse.
Am 14. Juni 1972 traf er sich zum Mittagessen mit drei Kampfgefährten in einem Restaurant in São Paulo. Der Besitzer rief die Polizei an und teilte ihr mit, in seinem Lokal säßen gesuchte Terroristen. Schnell war ein Hinterhalt vor Ort aufgebaut. Im Verlauf der Operation kamen Iuri und zwei seiner Gefährten ums Leben. Der dritte konnte verletzt entkommen. Iuri bekam ein Armenbegräbnis auf dem Friedhof Dom Bosco in Perus im Bundesstaat São Paulo. Erst im Jahr 1980 wurde sein Leichnam zusammen mit dem seines Bruders Alex nach Rio de Janeiro überführt. Die Exhumierung in São Paulo wurde von Polizeibeamten überwacht, die mit Maschinengewehren ausgestattet die Überführung der sterblichen Überreste der Brüder nach Rio de Janeiro begleiteten.

Fernando Augusto de Santa Cruz Oliveira. 26 Jahre

Geboren am 20. Februar 1948 in Recife, Bundesstaat Pernambuco, als Sohn von Izita Santos de Santa Cruz Oliveira und Lincoln de Santa Cruz Oliveira. Fernando Augusto war verheiratet mit Ana Lúcia Valença Santa Cruz Oliveira und hatte einen Sohn, Felipe. Er arbeitete als Angestellter der Wasser- und Elektrizitätswerke in São Paulo, wo er mit seiner Frau und seinem damals zweijährigen Sohn lebte. An einem Samstag vor Karneval hielt die Familie sich in Rio de Janeiro auf. Gegen 15:30 Uhr verließ Fernando das Haus, um seinen Freund Eduardo Collier zu treffen. Er gab zu verstehen, dass, sollte er um 18.00 Uhr nicht zurück sein, er verhaftet worden sei. Sein Hinweis bestätigte sich: Er wurde von Agenten des Sonderkommandos Geheimoperationen – Operationszentrum Innere Verteidigung/Rio de Janeiro (DOI-CODI/RJ) am 23. Februar 1974 verhaftet, nur wenige Wochen vor Ende der Regierungszeit von General Garrastazu Médici. Seine Festnahme erfolgte im Rahmen einer Operation der Militärpolizei in verschiedenen Orten des Landes, die 1973 eingeleitet wurde, um die Widerstandskämpfer der Marxistisch-Leninistischen Volksaktion (APML), einer linken Bewegung, die der Katholischen Kirche nahestand, zu liquidieren.

Luiz Almeida Araújo. 27 Jahre

Geboren am 27. August 1943 in Anadia, Bundesstaat Alagoas, als Sohn von Maria José Mendes de Almeida Araújo und João Rodrigues de Araújo. Luiz ging 1957 nach São Paulo, wo er Botengänge erledigte und ein Abendstudium absolvierte. Bereits während des Studienkollegs im Instituto Santa Inês begann er, sich in der Studentenbewegung zu engagieren und unterhielt Verbindungen zur Katholischen Studentenjugend (JEC).1964 wurde er verhaftet und gefoltert. Im selben Jahr reiste er nach Chile und wurde nach seiner Rückkehr erneut verhaftet.
Als politischer Aktivist zeigte er zwischen 1966 und 1968 eine zunehmende Militanz und schloss sich den Dissidenten um Carlos Marighella an, die der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB) den Rücken zukehrten. Er engagierte sich im Bereich Kunst und Kultur und spielte im Theater Leopoldo Fróes. Da er für eine Aktion der Gruppe Marighella seinen Wagen zur Verfügung gestellt hatte, wurde er aufgegriffen und in der Avenida Angélica im Juni 1971 entführt. Das Todesdatum von Luiz steht nicht genau fest. In einem Bericht der Marine von 1993 gibt es einen Eintrag zu seiner Person: „AUG/71 – ist angeblich tot.“ Als Luiz verschwand, war seine Lebensgefährtin Josephina Vargas Hernandes schwanger. Er starb, ohne seine Tochter Alina kennenzulernen.

Übersetzung: Sarita Brandt und Ursula Kindel

Ausstellung „Ausências“ // Fotografien: Gustavo Germano und die Familienangehörigen der Verschwundenen // Kontakt und Informationen zur Ausstellung bei: www.gustavogermano.com

Die Ausstellung „Ausências Brasil“ wurde produziert durch das Menschenrechtssekretariat der Präsidentschaft Brasiliens mit Unterstützung der brasilianischen Agentur Alice – Agência livre para informação, cidadania e educação.

Im Rahmen des Ehrengastauftritts von Brasilien auf der Frankfurter Buchmesse war die Ausstellung „Ausências Brasil“ vom 7. bis 20. Oktober 2013 im Haus am Dom in Frankfurt zu sehen.

„Ausências“ wird voraussichtlich im Frühjahr 2014 in Berlin und Köln/Bonn im Rahmen der „Nunca-Mais“-Brasilien-Tage gezeigt werden, die an den 50. Jahrestag des Militärputsches in Brasilien erinnern.
Das Programm der „Nunca-Mais“-Brasilien-Tage wird demnächst hier in den LN bekannt gegeben werden.


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Des Journalisten Fährte

Chile, Mitte der achtziger Jahre. Die Militärdiktatur sitzt noch fest im Sattel. Der Journalist Oliver Podewin reist in den Süden Chiles, nach Punta Arenas. Sein Sitznachbar im Flugzeug fällt ihm auf, da dieser ungerührt die Turbulenzen erträgt. Auch hat er oberhalb seines Handgelenks eine markante Tätowierung, einen Raubvogel, der etwas im Schnabel trägt.
Ins Gespräch kommen die beiden Fluggäste nicht. Dennoch bleibt die Bekanntschaft nicht folgenlos: Podewin will in der Stadt an der Magellanstraße einen Hörfunkbericht über die Hintergründe eines Attentats auf eine Kirche in einem Armenviertel machen, bei dem der vom Geheimdienst stammende Attentäter selbst ums Leben kam. Die Kirchenleute unterstützen ihn bei seinen Interviews und Recherchen. Von einem von ihnen erfährt Podewin, dass jener Sitznachbar ein Folterer war. Einer der Folterlehrer, die aus dem Ausland in lateinamerikanische Staaten reisten und dort ihre Dienste feilboten.
Als Podewin wenig später auf einer Fahrt nach Santiago einen Zwischenstopp in der Nähe der Foltersiedlung Colonia Dignidad machen will, erhält er einen in akzentfreiem Deutsch gesprochenen Drohanruf. Podewin verzichtet daraufhin auf den Halt und setzt seine Reise nach Santiago fort. Spätere überraschende Begegnungen führen ihn zu der Erkenntnis, dass es sich bei dem deutschen Anrufer und dem Unbekannten aus dem Flugzeug um dieselbe Person handelt. – El Salvador, knapp zwei Jahre später. Podewin begleitet als Journalist die internationale Untersuchungskommission zum Tod eines Aktivisten aus der Solidaritätsszene. Wie auch im Chile-Teil verarbeitet hier der Autor reale Vorkommnisse: Der Schweizer Jürg Weis – im Roman gibt ihm der Autor den Nachnamen Roth, behält aber den Vornamen bei – war im August 1988 nach El Salvador gereist und dort von Militäreinheiten erschossen worden (siehe LN 178). Es gelingt der Untersuchungskommission aus der schweizer und deutschen Soli-Szene, in El Salvador die Version des Militärs zu widerlegen.
Dann taucht unvermittelt der geheimnisvolle Fremde wieder auf. Und Podewin, ganz Journalist, setzt sich auf die Fährte, recherchiert und lässt seine Kontakte spielen, um dessen Geheimnis zu ergründen. Es geht ihm hierbei nicht darum, den mutmaßlichen Folterer dingfest zu machen. Aus dem Journalisten wird nicht der überspannte Privatkommissar, der den Schurken zur Strecke bringt. Vielmehr lässt ihn die Idee, ein Interview mit diesem „negativen Helden“ zu bekommen, nicht mehr los. Im Kolumbien der neunziger Jahre – an Militärs und Paramilitärs, Guerillas und Drogenbaronen mangelt es nicht – gelingt es Podewin schließlich, den Fremden ausfindig zu machen.
Der Autor, Norbert Ahrens, nimmt die Lesenden auf eine Reise durch drei lateinamerikanische Länder der achtziger und neunziger Jahre mit und lädt sie ein, den geheimnisvollen Fremden aus dem Flugzeug wieder zu treffen, ihn zu suchen und dessen Geheimnis zu ergründen. All dies vor den konkreten historischen Ereignissen der Zeit – Militärdiktaturen, Bürgerkrieg, Guerilla –, die der Autor literarisch verarbeitet. Die Beschreibungen der politischen Situationen lassen den erfahrenen Blick des Journalisten erkennen, der sich seinem Sujet diesmal als Romanautor annähert. Und das macht den Roman dann so realitätsnah und lesenswert.

Norbert Ahrens // Podewins Verfolgung // Kulturmaschinen // Berlin 2013 // 270 Seiten // 24,90 Euro


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Canción Chilena mit tango

„Die Musik von Inti Illimani ist ein Bestandteil der chilenischen Kulturgeschichte und eine Stimme der fortschrittlichen Kräfte unseres Landes“, so wird Michelle Bachelet in der neuen Veröffentlichung von Inti-Illimani histórico Vivir en libertad (Leben in Freiheit) zitiert. Neben Quilapayún sind Inti Illimani die wohl bekanntesten Vertreter der in den 1960er Jahren entstandenen Musikrichtung La Nueva Canción Chilena (Das Neue Chilenische Lied). Sie baut auf lateinamerikanischen Musiktraditionen auf und verbindet politische Inhalte mit Musik. Dieses Jahr hat Inti Illimani in veränderter Besetzung eine neue CD herausgebracht.
Inti-Illimani histórico ist eines der beiden Nachfolgeprojekte der 1967 an der Universidad de Chile von Studierenden gegründeten Gruppe Inti Illimani. In dieser Zeit des politischen Aufbruchs in Lateinamerika überraschte sie der Militärputsch vom 11. September 1973 auf einer Europatournee. Die Zeit der Militärdiktatur verbrachten sie im italienischen Exil. Schon zuvor war die Gruppe zu einem Symbol chilenischer Musik geworden und trug nun über ihre Musik auch dazu bei, dass das Thema Chile in der europäischen Linken nicht von der Bildfläche verschwand.
Nach dem Ende des Militärputsches und der Rückkehr nach Chile begannen die einzelnen Musiker von Inti Illimani mit Soloprojekten, darunter auch der musikalische Leiter der Band, Horacio Salinas. 2004 schloss er sich mit den anderen Altvorderen Horacio Durán und José Seves sowie anderen Musikern zusammen: Sie beanspruchten für sich, die wahren Inti Illimani zu sein. Mit den unter fast vollständig neuer Besetzung spielenden Inti Illimani entbrannte ein Rechtsstreit um die Frage, welche Gruppe das Erbe und den Namen Inti Illimani weitertragen durfte. Als Folge nannte sich Salinas’ Band Inti-Illimani histórico.
Auf dem Mediabook Vivir en Libertad, das Inti-Illimani histórico nun bei Heupferd Musik veröffentlicht hat, befinden sich eine CD mit der Studioproduktion Esencial und eine CD mit den Aufnahmen eines Konzerts im Estadio Víctor Jara in Santiago de Chile. Außerdem gibt es ein ausführliches Booklet mit einem Text über die Geschichte Inti Illimanis, mit den Liedtexten zu beiden CDs sowie einigen historischen Bildern und einem Aufsatz zum Exil in BRD und DDR. Musikalisch schließen die Aufnahmen an die Traditionen der Nueva Canción Chilena an; Saiteninstrumente und Percussion sorgen für treibende Rhythmen, Holz- und Blechbläser harmonieren wunderbar mit dem choralen Gesang der Bandmitglieder. Im Vergleich zu älteren Aufnahmen fällt auf, dass mit Horacio Salinas‘ Sohn, Camilo Salinas, neue Instumente den Weg in die Musik der alten Inti-Illimani gefunden haben. Der Pianist und Akkordeonspieler bringt teilweise Tango-Atmosphäre in die sonst eher von kubanischen und andinen Einflüssen geprägte Musik und gibt gerade den Studioaufnahmen eine neue Tiefe und Melancholie.
Ansonsten hält das Mediabook, was es verspricht: Die Studioaufnahmen können, was die Intensität betrifft, nicht mit den Live-Aufnahmen mithalten, überraschen aber gerade durch den dezenten Einsatz von Akkordeon und Piano. Auch fast alle Lieder, die man erwarten würde, finden sich auf den beiden CDs. „Mercado de testaccio“, der im italienischen Exil entstandene Song, fehlt genauso wenig wie „Tinkú“ und „El Pueblo Unido“, die heimliche Hymne der chilenischen Linken. Leider fehlt eine übersichtliche Auflistung d


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