Die Proteste in Chile im Jahr 2019 richteten sich gegen verschiedene Faktoren, die die Ungleichheit im Land bestimmen. Gleichzeitig ging es um die Konsequenzen der Kolonialisierung Amerikas, die den Kontinent prägen seit Amerigo Vespucci und Christoph Kolumbus ihn im 15. Jahrhundert betraten und die Ausbeutung zugunsten Europas begann. Vor allem indigene Bewegungen wandelten daher den Slogan „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“, der sich auf die Folgen der Diktatur bezog, in „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 500 Jahre!“ um. 30 Pesos spielen auf die Fahrpreiserhöhung an, die Initialfunke der Proteste war.
Seit dem Ende der Kolonialherrschaft hat sich in Chile zwar politisch, sozial, wirtschaftlich und ökologisch viel verändert. Dennoch sind die zum Teil jahrzehntelangen Kämpfe gegen die verschiedenen Machtstrukturen miteinander verbunden. Der 50. Jahrestag des Putsches vom 11. September 1973 in Chile verdeutlicht diese Zusammenhänge.
So ist in den Arbeiten von Paula Carmona Araya, Mercvria (Antonia Taulis), Milena Moena Moreno, Anís Estrellada (Ana Carrillo Tureo) und Mariana Soledad ein gewisses Misstrauen gegenüber der Erzählung, dass sich mit dem Ende der Diktatur die Verhältnisse grundlegend geändert haben, spürbar. Die ausgestellten Werke der fünf Künstlerinnen aus Chile sind ein Versuch, sich nicht mit den Symbolen einer Nation zu versöhnen, die auf einem brutalen Erbe aufbaut. Ihr Misstrauen offenbart die Krise eines politischen Projekts, das auf der patriotischen Idee einer monokulturellen Nation beruht. Die Arbeiten setzen sich daher mit Relikten der Diktatur wie auch der Kolonialisierung auseinander.
Einerseits wird hier die Kontinuität der Auseinandersetzungen deutlich, sei es in Form des Umsturzes des Denkmals des spanischen Kolonisators Pedro de Valdivia in Concepción oder der unkenntlich gemachten Machi, einer indigenen Mapuche, auf der 100-Peso-Münze. Andererseits zeigen die Künstlerinnen, wie vielfältig und offen die Forderungen der sozialen Bewegungen in Chile heute sind, indem sie feministische Kämpfe, Altersarmut oder den fehlenden Zugang zu Wasser thematisieren.
Den Symbolen von Gewalt, Unterdrückung und Rassismus stehen die Arbeiten unversöhnlich gegenüber. Gleichzeitig verweisen die Künstlerinnen auf Symbole, die für andere Formen von Gemeinschaft stehen: Die schwarz-weißen Porträtfotografien, die oft zerknittert sind, weil sie die Suche nach den Angehörigen begleiten, symbolisieren die Gemeinschaft der Hinterbliebenen der Gefangenen, die verschwunden worden sind. Ebenso wie rote Nelken, Abbildungen des Sängers Víctor Jara oder Stencils von Seepferdchen stehen diese Symbole für den Widerstand gegen die zivil-militärische Diktatur und ihre bis heute spürbaren Folgen.
Pedro Lemebel, Autor und Künstler, schrieb einst, dass in Chile gerne so getan werde, als sei der September ausschließlich der Monat des Nationalfeiertags und damit von Cueca (traditioneller Tanz), Copete (umgangssprachliches Wort für alkoholische Getränke) und Empanadas (gefüllte Teigtaschen). Dass im September nicht nur der Unabhängigkeit von der spanischen Krone erinnert werden sollte, veranschaulichen die fünf Künstlerinnen der Ausstellung. Die Kämpfe um Erinnerungen und ihre Repräsentationen sind ungebrochen.
2019 ist in der südchilenischen Stadt Concepción die Statue des Spaniers Pedro de Valdivia von ihrem Sockel gestürzt worden. Die Demonstrierenden trugen die Skulptur des Eroberers auf einen nahe gelegenen Platz, um sie zu Füßen des Lautaro-Denkmals zu platzieren. Lautaro oder Leftraru ist ein Symbol des indigenen Widerstands der Mapuche im 16. Jahrhundert und nahm an der Schlacht von Tucapel teil, in der Valdivia getötet wurde. Die Umkehrung der Machtverhältnisse dieser beiden historischen Figuren ist eine Art, eine andere Geschichte zu erzählen, die die Fotografin Mariana Soledad in ihrer Serie Desligarse de la Conquista (sich von der Eroberung befreien) von 2019 festhält. Der Denkmalsturz, von Manuela Badilla und Carolina Aguilera als „dekoloniale Performance“ bezeichnet, fand am ersten Jahrestag der Ermordung des jungen Mapuche Camilo Catrillanca statt. Im letzten Akt dieser Performance trägt Lautaro das Bild von Catrillanca, eine schwarzgefärbte chilenische Flagge und die Wenüfoye, die Flagge der verschiedenen territorialen Identitäten der Mapuche. Die Ereignisse sind Ausdruck der Entstehung eines neuen Ortes der Erinnerung mit neuen Symbolen.
Mercvria (2019-heute) von Antonia Taulis ist eine „Wandzeitung“, die die Pluralität der Forderungen in den Oktober-Demonstrationen von 2019 widerspiegelt. Als visuelle Kommunikation bringt das Projekt aktuelle Forderungen, verschiedene politische Kämpfe und ihre künstlerischen Ausdrucksformen zusammen. Das Format ist inspiriert vom Kunstprojekt Quebrantahuesos von Nicanor Parra, Enrique Lihn und Alejandro Jodorowsky aus den 1950er Jahren in Chile. Der Titel bezieht sich auf die auflagenstarke und älteste spanischsprachige Zeitung des Kontinents El Mercurio. Ihr Herausgeber war ein überzeugter Anhänger des Militärputsches. Noch heute ist die Zeitung bekannt für ihre reißerische und teilweise fehlerhafte Berichterstattung.
Milena Moena Moreno bearbeitet in ihrer Serie Especies Acuñadas (Geprägte Arten, 2019 & 2020) die nationale 100-Peso-Münze, auf deren Rückseite eine Machi, eine Mapuche, abgebildet ist. Die Alltäglichkeit der Münze und andere symbolische Akte der Sichtbarkeit verschleiern die Geschichte des Genozids und die anhaltende Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Chiles. Mit dem unkenntlich gemachten Gesicht der Mapuche-Frau visualisiert die bildende Künstlerin und Goldschmiedin diese Missachtung und die historische Unzufriedenheit der stets wehrhaften Mapuche. Als 2021 ein Verfassungskonvent zusammentrat, dessen erste Präsidentin die Indigene Elisa Loncón wurde, war dies ein erster Schritt der Anerkennung.
In ihrer Serie Memoria Abierta (Offene Erinnerung, 2022) verdeckt Paula Carmona Araya ihr Gesicht mit einer weißen Maske und platziert sich an drei bedeutsamen Orten in Santiago de Chile: dem Denkmal für die weiblichen Opfer politischer Repression, der Gedenkstätte Brücke Bulnes und dem Museum für Erinnerung und Menschenrechte. Die Serie steht in Verbindung zu Obraabierta (Offenes Werk, 1978 bis heute) des chilenischen Künstlers Hernán Parada. Während der Diktatur intervenierte er auf vielfältige Weise im öffentlichen Raum. Dafür nutzte er Fotografien seines Bruders Alejandro, der 1974 verschwunden wurde – und der bis heute verschwunden bleibt. Bei einer dieser Interventionen trug der Künstler eine Fotografie von Alejandros Gesicht als Maske vor seinem eigenen Gesicht. Paula, die im Museum der Erinnerung vor den Fotografien anderer verschwundener Gefangener zu sehen ist, unterstreicht die permanente Abwesenheit, die Undarstellbarkeit der Geschichten und die Notwendigkeit einer aktiven Erinnerung.
Anís Estrellada (Ana Carrillo Tureo) nimmt in ihrer Arbeit AFP (2019) die andere Seite der gleichen 100-Peso-Münze, um auf ein aktuelles Thema hinzuweisen: das Rentensystem und die damit verbundene Altersarmut. Diese ist eines der vielen Probleme, die während des Aufstands von 2019 angeprangert wurden. In der Arbeit Violador (2019) überarbeitet Ana das Staatswappen. Das Original aus dem Jahr 1834 umfasst einen Schild mit einem Stern in der Mitte, gekrönt von einem Federbusch, beide in den Nationalfarben. Die Schildhalter sind ein gekrönter Südandenhirsch (Huemul) und ein gekrönter Kondor. Auf dem Spruchband des Sockels befindet sich der Wahlspruch Chiles: „Por la razón o la fuerza“ (Durch Vernunft/Verstand oder Stärke). Huemul und Condor haben in der Version von Ana keine Augen, in Anspielung auf die mehr als 3.700 Verwundeten und 440 Menschen mit verletzten Augen im Jahr 2019. Das Wappen, das sie halten trägt statt des Sterns einen Totenkopf, darunter ist zu lesen „El violador eres tú“ (Der Vergewaltiger bist du), Titel der berühmten Performance des Kollektivs LasTesis. In den Arbeiten Molotov (2019) und Lucha (2020) verweist sie auf die Stärke der feministischen Bewegungen, den damit verbundenen Slogan „Keine Angst“ sowie das Feuer als Symbol des Kampfes.