MISOGYNIE ALS MODERNE KRIEGSFORM

Foto: Traficantes de Sueños

Feminist*innen aus aller Welt griffen 2019 den Tanz „Un violador en tu camino“ des chilenischen Kollektivs Las Tesis auf, der auf den Texten Rita Segatos basiert. Einer ihrer Essays kritisiert die Systematik hinter der aktuellen Misogynie.

Zuerst waren es nur ein paar Dutzend Frauen und Queers in Chile. Dann aber folgten Tausende weltweit, die die Performance „Un violador en tu camino“ (auf Deutsch: Ein Vergewaltiger in deinem Weg) aufführten. Anlass war der Internationale Tag gegen Gewalt gegen Frauen am 27. November 2019, an dem sich Feminist*innen weltweit auf den Straßen versammelten. Die Performance des chilenischen Kollektivs Las Tesis prangert die Mittäterschaft des Staates und seiner Repräsentanten an sexualisierter Gewalt an – und ging damit viral.

Weniger bekannt ist, dass der Text der Performance auf die Schriften der Anthropologin Rita Segato zurückgeht. Selten gelingt es, dass theoretische Arbeiten direkte Ideengeber und Inspirationsquellen für Protestaktionen sind. Umso interessanter scheint die Auseinandersetzung mit Rita Segatos Werk.

Die Entstellung der Körper von ermordeten Frauen, deren Leichen an öffentlichen Plätzen förmlich ausgestellt werden, zeichnen ein Muster entgrenzter Grausamkeit und Gewalt. Woher kommt diese übermäßige Grausamkeit, die in Teilen Lateinamerikas zu beobachten ist? Wer übt sie aus? Und zu welchem Zweck? Diesen Fragen geht Segato in ihrem Essay Las nuevas formas de la guerra y el cuerpo de las mujeres (auf Deutsch: Die neuen Formen des Krieges und der Körper der Frauen) nach, der inzwischen ein Grundlagentext für feministische Theoretiker*innen und Aktivist*innen ist, aber bislang weder ins Englische noch ins Deutsche übersetzt wurde.

Die neuen Kriege, von denen sie schreibt, sind keine Kriege mehr, die sich zwischen Nationalstaaten und auf Schlachtfeldern oder in Schützengräben abspielen. Es sind Kriege zwischen mafiösen Banden, parastaatlichen Milizen und privaten Sicherheitskräften. Durch mangelnde Rechtsstaatlichkeit haben sie nur selten eine Bestrafung zu fürchten. Denn bei aller nötigen Unterscheidung je nach Region und Kontext erlauben es Korruption und Straflosigkeit den jeweiligen Akteuren, die sich in einem Gefüge aus staatlichen Institutionen, Wirtschaft und organisiertem Verbrechen bewegen, jeweilige Interessen, seien sie ökonomisch oder machtpolitisch, ohne juristische Konsequenzen zu verfolgen. Staatliche Institutionen sind somit nicht unfähig, sondern dulden die „neuen Kriege“, um jenes Gefüge zu stabilisieren. Was Segato als die neuen Kriege bezeichnet, folgt somit auch der Logik eines entfesselten Ordnungsregimes, das auf kapitalistischer Verwertung und globaler Ökonomie fußt: „So sind Verbrechen und die Akkumulation von Kapital mit illegalen Mitteln keine Ausnahmeerscheinung, sondern sind strukturell und zugleich strukturierend für Politik und Ökonomie“ (S. 76).

So sind die neuen Kriege durch eine hohe Informalität geprägt, nicht nur hinsichtlich der Akteure, sondern auch hinsichtlich ihrer Ziele. Es sind nicht wie früher klar abgesteckte, nationalstaatliche Territorien, deren Eroberung Ziel des Krieges ist. Dennoch bleibt die Notwendigkeit erhalten, den Gegner zu besiegen. Der Sieg wird nun durch die moralische Zerstörung des Feindes errungen.

Wenn die Pädagogik der Grausamkeit regiert

Auf den Kriegsschauplatz der Frauenmorde übertragen heißt das: Mittels sexualisierter Gewalt zerstörte Identitäten des Feindes definieren einen Sieg über den Gegner.

Sexualisierte Gewalt, so die These Segatos, ist kein Nebenschauplatz des Krieges, sondern sein strategisches Ziel. Hierfür reicht die Ermordung von Frauen nicht aus, denn nur entstellte und öffentlich verübte Feminizide verdeutlichen die Offensive gegen den Feind. Wenn Angreifer und Gesellschaft die gleichen Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen haben, sprechen sie die gleiche Sprache und können sich verstehen. Täter, die brutale Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum anrichten, kommunizieren einer Gruppe von Gleichrangigen ihre Machtposition in einem sozialen Gefüge. Sie stellen zur Schau, zu welcher Form des Beherrschens sie fähig sind. Weibliche Körper werden zum Medium der Machtdemonstration. Den Opfern gilt die Botschaft, dass ihre Körper wertlos und ihre Lebensformen zu zensieren seien. Diese Strategie nennt Segato Pädagogik der Grausamkeit: „Es ist die Vernichtung des Feindes im Körper der Frau, und der weibliche oder feminisierte Körper ist (…) genau das Schlachtfeld, auf dem die Insignien des Sieges festgenagelt sind und das die physische und moralische Verwüstung darstellt“ (S. 81).

Pädagogisch ist die Gewalt im doppelten Sinne: Einerseits, indem sie den Ausübenden des Krieges jegliches Mitgefühl entzieht, um anhand größtmöglicher Desensibilisierung die Täter auf die Ausübung von Grausamkeit zu trimmen. Die Pädagogik der Grausamkeit, die andererseits an Frauenkörpern ausgeübt wird, ist unerlässlich, um gehorsame und wenig widerständige Subjekte zu erziehen.

Für die Strategie feministischer Kämpfe ergibt sich hieraus die Chance und Notwendigkeit, sexualisierte Gewalt auf eine Art zu politisieren, die Rolle, Leben und schließlich Überleben von Frauen in den Mittelpunkt stellt, indem die moralische Botschaft sexualisierter Gewalt entlarvt wird. Las Tesis findet dafür direkte Worte: El patriarcado es un juez // Que nos juzga por nacer // Y nuestro castigo // Es la violencia que no ves (Das Patriarchat ist ein Richter / Der uns für unsere Geburt verurteilt / Und unsere Strafe / Ist die Gewalt, die du nicht siehst).

Gewalt gegen Frauen und Queers ist immer auch eine Reaktion auf deren steigende Autonomie und Selbstbestimmung. Entziehen sich Frauen und Queers einer männlichen Dominanz, führt das bei Männern zu einem Gefühl der Entmachtung. Sie setzt eine Gewaltspirale in Gang, die unter bestimmten Umständen in Hass und Gewalt gegen Frauen umschlägt. Segato gelingt es sehr eindrücklich darzustellen, welche kommunikative Funktion sexualisierte Gewalt hat. Sie vernachlässigt dabei jedoch, auch Frauen in diesem Gefüge als Akteur*innen in den Blick zu nehmen: Ohne die Verantwortung bei Frauen und Queers zu suchen, ist ihre aktive Rolle in Betracht zu ziehen, um zu verstehen, wie etwa die Transformation von Geschlechterverhältnissen einen Einfluss auf Gewaltdynamiken haben.

Entmachtung, die in Hass umschlägt

Weniger gut gelingt es Segato, die unterschiedlichen sozialen Identitäten einzubeziehen, die Frauen und Queers jeweils anderen Formen der Gewalt aussetzen. Aus ihrer Analyse kann deshalb nur unzureichend erklärt werden, weshalb die Opfer der brutalen Feminizide insbesondere junge proletarische Frauen, häufig Migrant*innen sind. Auch die Dynamik von Transfeminiziden vermag ihr Ansatz zumindest in diesem Essay nicht ausreichend zu erklären; in ihrer Analyse bezieht sich Segato fast ausschließlich auf cis Frauen (also Frauen, deren zugeschriebenes Geschlecht bei Geburt mit der sich entwickelnden Geschlechtsidentität zusammenfällt).

In Europa wird ein solcher informeller Krieg nicht in dieser Form geführt. Parastaatliche Strukturen gibt es nur punktuell. Feminizide existieren, aber ihre Systematik ist eine andere: Meist finden sie nicht auf der Straße, sondern im Zuhause statt, Opfer und Täter sind in den häufigsten Fällen zusammen oder verwandt. Aber die Lektüre von Segatos Essay ist auch für den hiesigen Kontext sehr erhellend.

Mit ihren Theorien ist es möglich, diese Gewalttaten nicht als Kollateralschaden des Patriarchats und schon gar nicht als tragische Beziehungstat oder Eifersuchtsdrama abzutun, sondern in ihrer Systematik zu begreifen: Feminizide geschehen hierzulande entweder in Fällen von ökonomischer Abhängigkeit oder in Umbruchsituationen, besonders wenn Frauen versuchen, sich aus der Abhängigkeit zu lösen. Die männlichen Täter sehen sich und ihre Lebensformen in Gefahr, wenn Frauen und Queers sich ihrer individuellen oder strukturellen Unterwerfung widersetzen. Die sexualisierte Gewalt oder der Feminizid sind der Versuch des Täters, seine Macht zurückzugewinnen, seine Überlegenheit zur Schau zu stellen. Segato gelingt es, femizidale Gewalt im Kontext ökonomischer Ausbeutung zu analysieren und so die Funktion von Gewalt gegen Frauen für eine kapitalistisch organisierte Gesellschaft auch über den lateinamerikanischen Kontext hinaus sichtbar zu machen.

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