GEGENSTIMMEN WERDEN LAUTER

„Projekt des Todes“ Geplante Strecke des Tren Maya in grĂŒn (Grafik: Carlos Pacheco via wikimedia.com, CC BY-SA 4.0)

Kann die neoliberale Epoche per Dekret beendet werden? Der mexikanische PrĂ€sident AndrĂ©s Manuel LĂłpez Obrador scheint davon auszugehen. „Aus dem Nationalpalast erklĂ€ren wir formell das Ende der neoliberalen Politik“, sagte der 66-JĂ€hrige bei der Vorstellung des Entwicklungsplans fĂŒr seine sechsjĂ€hrige Amtszeit im MĂ€rz 2019. Erst vier Monate zuvor hatte LĂłpez Obrador, kurz AMLO genannt, das PrĂ€sidentenamt angetreten, nachdem er im Juli 2018 die Wahlen mit der historischen Mehrheit von 53,2 Prozent der Stimmen fĂŒr sich entscheiden konnte.

Bei den zwei vorausgegangenen UrnengÀngen 2006 und 2012 scheiterte AMLO noch aufgrund von Wahlmanipulationen und medialen Hetzkampagnen. Doch angesichts der wirtschaftlichen Krise, der anhaltenden Gewalt und der grassierenden Korruption im Land fanden seine sozialdemokratischen Positionen im Jahr 2018 immer mehr Anklang bei der von der politischen Klasse frustrierten Bevölkerung. Auch nach mehr als einem Jahr im Amt steht die mexikanische Bevölkerung weiter hinter AMLO.

Doch wĂ€hrend die Zugstimmungswerte zu der von LĂłpez Obrador versprochenen Transformation des Landes ungebrochen hoch sind, zeichnen sich auch klare WidersprĂŒche im Regierungsprojekt von AMLO und seiner Partei Bewegung Nationale Erneuerung (MORENA) ab, die das angekĂŒndigte Ende des Neoliberalismus als bloßes Lippenbekenntnis erscheinen lassen. Exemplarisch dafĂŒr steht die von AMLO vertretene Entwicklungspolitik sowie seine damit verbundene Haltung zu den indigenen Gruppen.

Denn um das Versprechen vom wirtschaftlichen Aufschwung Wirklichkeit werden zu lassen, setzt die mexikanische Regierung in Allianz mit der Unternehmerelite des Landes vor allem auf infrastrukturelle Großprojekte, durch die periphere Regionen in die nationale und internationale Wertschöpfungskette eingebunden werden sollen.

Besonders drei Projekte stechen heraus: Erstens die mehr als 1.500 Kilometer lange Zugstrecke namens Tren Maya, die die verarmten sĂŒdöstlichen Bundesstaaten Chiapas, Tabasco, Campeche, YucatĂĄn und Quintana Roo dem Massentourismus zugĂ€nglich machen soll. Zweitens, der Corredor TransĂ­stmico, eine Verbindung von Atlantik und Pazifik an der Meerenge des Isthmus von Tehuantepec durch den Ausbau von Zugstrecken, Logistikzentren und HĂ€fen, die Mexiko zu einer Schaltstelle des internationalen Handels machen soll. Und drittens, das Proyecto Integral Morelos, das aus verschiedenen WĂ€rme- und Erdgasanlagen besteht und Zentralmexiko mit Energie versorgen soll.

Wirtschaftlicher Aufschwung durch infrastrukturelle Großprojekte

Bereits unter den neoliberalen VorgĂ€ngerregierungen wurde immer wieder die Möglichkeit der wirtschaftlichen Erschließung des SĂŒdens diskutiert. Dass nun ausgerechnet ein sozialdemokratischer PrĂ€sident im Verbund mit nationalen und internationalen Großunternehmen an der ökonomischen Umstrukturierung ganzer Regionen arbeitet, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Gleichzeitig macht erst die PopularitĂ€t des PrĂ€sidenten derartige Vorhaben möglich, denn große Teile der mexikanischen Linken stehen nach wie vor fest hinter AMLO.

Doch wĂ€hrend in der mexikanischen Verwaltung mit Hochtouren an der Realisierung der Megaprojekte gearbeitet wird, werden die Gegenstimmen immer lauter. Vor allem sind es die zapatistische Bewegung und die im Nationalen Kongress der Indigenen (CNI) organisierten Indigenen Mexikos, die sich gegen den Tren Maya und andere von ihnen als „Projekte des Todes“ bezeichneten Großprojekte der Regierung stellen.

Bereits wĂ€hrend des Wahlkampfes positionierten sich die Zapatistas und CNI klar gegen AMLO und dessen Partei MORENA und setzten auf die Etablierung eines Indigenen Regierungsrates (CIG), der der besseren Vernetzung der autonomen indigenen Bewegungen auf dem gesamten Staatsgebiet dienen sollte. Die alternative Kampagne der Sprecherin des CIG, MarĂ­a de JesĂșs Patricio MartĂ­nez, besser bekannt als Marichuy, bescherte der antikapitalistisch-indigenen Bewegung in Mexiko erheblichen Aufwind, obwohl die nötigen Unterschriften fĂŒr eine unabhĂ€ngige PrĂ€sidentschaftskandidatur Marichuys bei weitem nicht erreicht wurden.

Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass der Einfluss der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und des CNI bei aller medialen Reichweite gesamtgesellschaftlich eher marginal ist. Doch ihre Kritik trifft einen wunden Punkt und wird immer breiter rezipiert. Die Kernfragen lauten: Welches Entwicklungsmodell kann Mexiko aus der ökonomischen und sozialen Krise fĂŒhren und somit auch zu einer Verbesserung der Sicherheitslage fĂŒhren? Wer entscheidet, ob und wie ein Entwicklungsprojekt umgesetzt wird? Und wer profitiert eigentlich schlussendlich?

Massive Kritik an Informationspolitik der Regierung

Im Laufe des Jahres 2019 zeigte sich zudem, dass die Regierung bei der Umsetzung der genannten Projekte nicht gerade zimperlich vorgeht. WĂ€hrend LĂłpez Obrador im Wahlkampf noch versprochen hatte Teile des umstrittenen Energievorhabens Proyecto Integral Morelos angesichts des Widerstandes der betroffenen indigenen Gemeinden auszusetzen, Ă€nderte er nach seinem Amtsantritt schnell seine Meinung. „Hört zu, ihr Linksradikalen, ihr seid fĂŒr mich nichts anderes als Konservative“, sagte er im Februar 2019 bei einer Veranstaltung im Bundesstaat Morelos angesichts von Protesten. Einige Tage spĂ€ter wurde der bekannteste Aktivist gegen das Energieprojekt, der 36-jĂ€hrige Samir Flores, von unbekannten TĂ€tern vor seinem Haus erschossen. Der Mord an dem Delegierten des CNI ist nach wie vor nicht aufgeklĂ€rt.

Und auch im Rahmen der Realisierung des Tren Maya nimmt es die mexikanische Regierung mit gesetzlichen Standards nicht allzu genau. Im Rahmen einer Konsultation der betroffenen indigenen Gemeinden am 15. Dezember 2019 stimmten zwar 92,3% fĂŒr den Bau des Touristenzuges, allerdings nahmen nicht einmal drei Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung Teil. Schon im Vorfeld hatte es massive Kritik an der Informationspolitik der Regierung gegeben, die in den BroschĂŒren fĂŒr die Konsultation nur positive Aspekte des Projekts betonte, dessen Gefahren und Risiken jedoch unerwĂ€hnt ließ. Zudem hatte es in der Woche vor der Abstimmung Morddrohungen gegen den indigenen Aktivisten und Kritiker des Tren Maya, Pedro Uc, gegeben. Selbst das MenschenrechtsbĂŒro der Vereinten Nationen in Mexiko Ă€ußerte Zweifel an der Einhaltung nationaler und internationaler Menschenrechtsstandards.

Angesichts der sich zuspitzenden Konflikte rund um die Megaprojekte ist absehbar, dass die Infrastrukturpolitik zu einem der zentralen PrĂŒfsteine der Regierungszeit LĂłpez Obradors werden dĂŒrfte. Noch mag der Widerstand von EZLN und CNI als gering erscheinen, doch ist es nicht auszuschließen, dass sich um die indigenen Organisationen eine linke Opposition gegen AMLO etabliert, der sich auch andere Teile der gesellschaftlichen Linken anschließen und die auch andere Teile des Regierungshandelns angreift. Denn spĂ€testens Ende 2020 werden auch die linken UnterstĂŒtzer*innen AMLOs erste handfeste Ergebnisse der Regierung erwarten. Wenn es bis dahin bei dem neoliberalen Weiter-so bleibt, dĂŒrfte es auch in Mexiko wieder zu sozialen Protesten kommen, die sich gegen weit mehr richten als gegen die Infrastrukturpolitik.

HEILSBRINGER IM STRESSTEST

PrĂ€sident LĂłpez Obrador Nach einem Jahr im Amt ist die Bilanz gemischt /Foto: Mabel Lemoniel/Presidencia RepĂșblica Dominicana via flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)

Kein Zweifel: AMLO, wie AndrĂ©s Manuel LĂłpez Obrador allgemein genannt wird, ist und bleibt der populĂ€rste PrĂ€sident Mexikos seit Jahrzehnten. Nach seinem historisch deutlichen Wahlsieg kann er seit seinem Amtsantritt am 1. Dezember 2018 bis heute konstant gute Umfrageergebnisse verbuchen. AMLO nahm das Votum als Vertrauensbeweis der Bevölkerung und versprach einen vollstĂ€ndigen Umbau von Politik und Gesellschaft unter dem Begriff der „Vierten Transformation”. Dies in Anspielung an die drei vorherigen UmwĂ€lzungen in der Geschichte des Landes: Die UnabhĂ€ngigkeit und die Reformgesetze im 19. Jahrhundert, sowie die Revolution von 1910-1920.

Getragen werden soll diese Transformation von der Partei Bewegung der Nationalen Erneuerung (MORENA), die AMLO erst wenige Jahre zuvor gegrĂŒndet hatte. Auch in der Legislative besitzt MORENA, dank Allianzen mit Kleinparteien zweifelhaften Rufs, eine qualifizierte Mehrheit und stellt in sieben der insgesamt 32 Bundesstaaten den*die Gouverneur*in. Doch angesichts der zahlreichen Probleme Mexikos, der Narco-Mafia im Land und Trump als Nachbarn steht die Partei vor einer gewaltigen Aufgabe.

Viele Bewegungen im Widerstand haben eine Verschnaufpause

Vorsichtig positiv Ă€ußerte sich die Menschenrechtsorganisation ComitĂ© Cerezo: „Alle Formen der Repression [gegen Menschenrechtsaktivist*innen] sind zurĂŒckgegangen“, doch sei es zu frĂŒh, um daraus einen dauerhaften Trend abzuleiten. TatsĂ€chlich haben – im Vergleich zur offenen Repression unter den PrĂ€sidenten Felipe CalderĂłn (2006-2012) und Enrique Peña Nieto (2012-2018) – viele Bewegungen und Gemeinden im Widerstand eine Verschnaufpause. Und oft finden sie in den neuen Behörden auch kompetente Ansprechpersonen fĂŒr einen echten Dialog ĂŒber ihre Problematik. BezĂŒglich der politisch motivierten Morde musste jedoch auch das der MORENA-Regierung gĂŒnstig gestimmte ComitĂ© Cerezo zugeben, dass die Zahlen nur minimal zurĂŒckgegangen sind. Die NGO EDUCA Oaxaca veröffentlichte am 1. November, dem Tag der Toten, eine Liste mit den Namen von 27 Menschenrechtsaktivist*innen, die seit AMLOs Amtsantritt ermordet wurden. Die Gefahr, welche Menschenrechtsarbeit auf lokaler Ebene mit sich bringt, bleibt ungebrochen, auch wenn der PrĂ€sident nicht mĂŒde wird, sein Durchgreifen zu verkĂŒnden: Er werde keine Straflosigkeit in diesen FĂ€llen dulden, alles werde aufgeklĂ€rt, die TĂ€ter*innen und deren Auftraggeber*innen bestraft. Doch angesichts der traditionell tiefen Verstrickung staatlicher Stellen in Verbrechen ist Skepsis angebracht. Der bekannte Journalist der linken Tageszeitung La Jornada, Julio HernĂĄndez LĂłpez, formulierte es so: AMLO verwechsle den Staat mit dem persönlichen Willen eines seiner Integranten, nĂ€mlich dem aktuellen PrĂ€sidenten der Republik.

AMLO verweist gern darauf, dass in den vorherigen Administrationen eine aufgeplusterte, teure BĂŒrokratie staatliches Handeln bloß simuliert habe, auch im Menschenrechtsbereich. Die nur theoretisch autonome nationale Ombudsstelle fĂŒr Menschenrechte CNDH sei nur Feigenblatt gewesen fĂŒr den jeweiligen Amtsinhaber. Unrecht hat er damit nicht, immer wieder haben Opfer und NGOs ein Ende der Straffreiheit gefordert statt Almosen und (oft unwirksame) Schutzprogramme fĂŒr Menschenrechtsaktivist*innen. Nur, wĂ€hrend AMLO alle Budgetposten nicht-staatlicher Menschenrechtsorganisationen zusammenkĂŒrzt, weil unter ihm der Staat ja seinen Schutzaufgaben wieder nachkĂ€me, hinkt die RealitĂ€t seinem Wunschtraum eines rechtsstaatlichen Mexikos weit hinterher. NGOs, die seit vielen Jahren wichtige Arbeit leisten, stehen hingegen vor dem Aus.
Der stĂ€rkste Punkt des PrĂ€sidenten AndrĂ©s Manuel LĂłpez Obrador ist seine Kampfansage gegen jegliche Korruption. Fast alle sind sich einig, die Reichen und die großen Konzerne profitieren davon, die Mafia sowieso, wĂ€hrend die normalen Leute darunter leiden. TatsĂ€chlich ist nun fĂŒr mexikanische VerhĂ€ltnisse unglaublich viel geschehen: Das Klientelsystem alten Musters erhielt Risse, unantastbar geglaubte Figuren wie Bosse der wirtschafts- und unternehmer*innen-freundlichen gelben Gewerkschaften mussten unter dem Druck eingeleiteter Strafverfahren wichtige Posten rĂ€umen, Arbeiter*innenrechte wurden gestĂ€rkt, die systematischen Steuergeschenke an Großunternehmen sind nun gesetzlich verboten, zahlreiche halbstaatliche Bauern- und andere korporativistische Organisationen mit ihren korrupten AnfĂŒhrer*innen halten vergeblich die Hand beim Staat auf. Auch die korrupte Justiz hat prominente Opfer zu beklagen. So sah sich Eduardo Medina Mora, Richter des Höchsten Gerichtshofs, zum RĂŒcktritt gezwungen, nachdem die neue Abteilung der Staatsanwaltschaft zur Untersuchung illegaler Finanzströme ĂŒber fĂŒnf Millionen US-Dollar auf europĂ€ischen Konten des Richters nachwies. Medina Mora, als Ex-Geheimdienstchef mitverantwortlich fĂŒr Repression gegen soziale Bewegungen von Chiapas bis Atenco, war trotz fehlender Qualifikation von seinem politischem WeggefĂ€hrten Ex-PrĂ€sident Peña Nieto in sein Amt gehievt worden. Im Vergleich zu historischen Anti-Korruptionskampagnen in anderen, von mafiösen Strukturen geprĂ€gten LĂ€ndern wie Italien oder Kolumbien, sind die bisherigen Ergebnisse in Mexiko allerdings sicher noch ungenĂŒgend.

Manche sprechen jedoch von der „Vierten Destruktion“

WidersprĂŒchlich fĂ€llt AMLOs Bilanz hinsichtlich Großprojekten aus, die gegen die Interessen der lokalen, oft indigen geprĂ€gten Bevölkerung verstoßen. Einerseits hat er das grĂ¶ĂŸte Fass ohne Boden erstmal zugemacht, indem er die Arbeiten am neuen Großflughafen außerhalb Mexiko-Stadts trotz 20 Prozent Baufortschritts stoppte. Viele andere Projekte, auch im privatisierten Energiesektor, sind auf Eis gelegt. Nebeneffekt dieser oft sinnvollen Brems- und Sparpolitik in Verwaltung und Infrastruktur ist ein Nullwachstum in diesem Jahr. Doch es bleibt unklar, wie ernst es AMLO mit der von ihm beschworenen „Trennung von Politik und Ökonomie” und dem „Ende des Neoliberalismus” wirklich ist. Denn andererseits hinterfragen indigene Gemeinden und soziale Organisationen die Vorzeigeprojekte der neuen Administration: das Touristenprojekt Tren Maya auf der Halbinsel YucatĂĄn, die Erdölraffinerie Dos Bocas sowie den GĂŒterkorridor im Isthmus von TehuĂĄntepec, mit dem der Transport der Container zwischen Pazifik und Atlantik beschleunigt werden soll. So haben am 12. Oktober 2019 mehrere Foren stattgefunden, auf denen indigene Vertreter*innen der sozialen Bewegungen ihren dezidierten Widerstand gegen diese Großprojekte ankĂŒndigten und die von MORENA beschworene Vierte Transformation als “Vierte Destruktion” verdammten.Generell stellt sich die Frage, wie weit die gesellschaftliche Partizipation in diesem neuen Mexiko wirklich gehen wird. Die Befragungen der indigenen Gemeinden waren und sind bisher nicht ernstzunehmende AlibiĂŒbungen, eine gesetzliche Grundlage dazu wird erst erarbeitet. Die neuen direktdemokratischen Instrumente der Volksbefragung sind seit November in der Verfassung festgeschrieben. Die technischen HĂŒrden fĂŒr deren Zustandekommen sind jedoch hoch, eine Initiative benötigt die UnterstĂŒtzung von zwei Prozent aller Wahlberechtigten des riesigen Landes, was ca. 1,8 Millionen Menschen entspricht. Zum Vergleich: Kein*e parteiunabhĂ€ngige*r Kandidat*in erreichte vor den letzten PrĂ€sidentschaftswahlen die notwendige ein Prozent-UnterstĂŒtzung, um zur Wahl zugelassen zu werden.

Wenig erfolgreich war AMLO bislang in der Sicherheitspolitik. Die Militarisierung des Landes durch die neue Guardia Nacional, einer Polizeieinheit mit militĂ€rischer FĂŒhrung, wurde fortgefĂŒhrt. Durch diese hat das MilitĂ€r – schon immer ein Staat im Staat – weiter an Einfluss hinzugewonnen. Gleichzeitig tobt der Mafiakrieg weiter. In den ersten zehn Monaten seiner Amtszeit wurden 32.565 ermordete Menschen registriert, im Schnitt also mindestens sieben pro Tag. Die Mordrate wird dieses Jahr neue Rekordwerte erreichen, wobei sich im zweiten Halbjahr ein leichter RĂŒckgang der Gewalt abzeichnet. Deshalb von einer Trendwende auszugehen, wĂ€re verfrĂŒht. AMLOs Rhetorik von „Abrazos no balazos” (Umarmungen statt SchĂŒsse) hat bisher nicht die erhofften Resultate gezeigt.

Auch die Außenpolitik Mexikos war unter AMLO widersprĂŒchlich. Das Einknicken vor US-PrĂ€sident Trump in der Frage der repressiven Migrationspolitik an der mexikanischen SĂŒdgrenze ist kein Ruhmesblatt fĂŒr eine „linke” Regierung, welche erst offene Grenzen signalisierte und dann unter völlig widerrechtlichen Strafzolldrohungen der USA die neue Guardia Nacional in den SĂŒden zur Abschreckung der GeflĂŒchteten entsandte. Ein mutiger Moment der Außenpolitik war hingegen das Asyl fĂŒr Evo Morales im Zuge des Putsches in Bolivien.

Trotz der gemischten Bilanz bleibt AMLO populĂ€r. Die breite UnterstĂŒtzung bei der armen Bevölkerungsmehrheit erklĂ€rt sich insbesondere durch neue Sozialprogramme: DirektĂŒberweisungen ohne MittelmĂ€nner und Disziplinarmaßnahmen, Sozialhilfe fĂŒr Studierende, Lehrlinge, Bauern und BĂ€uerinnen und eine Verdoppelung der sehr geringen staatlichen Altersrente. 8,5 Millionen Mexikaner*innen ĂŒber 65 Jahren erhalten nun umgerechnet 60 Euro im Monat. Damit ist das prekĂ€re Leben fĂŒr viele Menschen ein gutes StĂŒck leichter geworden. Eine tiefer greifende VerĂ€nderung der höchst ungerechten gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse wird damit noch nicht erreicht. Zudem werden im neuen Staatsbudget 2020 die kostspieligsten Sozialprogramme empfindlich gekĂŒrzt, dafĂŒr fließen Milliarden in die ausgehöhlte und ĂŒberholte Infrastruktur des staatlichen Erdölunternehmens PEMEX, mit ungewissem Erfolg. Ganz abgesehen davon, dass auch Mexiko seine Versprechen im Pariser Abkommen zum Klimaschutz so keineswegs einhalten kann.

Insgesamt sehen viele Analyst*innen in der bisherigen Politik AMLOs ein „ZurĂŒck zu den Siebzigern“, zum starken Staat mit einem ungebrochenen Fortschritts- und Entwicklungscredo. Doch mit MORENA in der Regierung haben sich auch neue politische SpielrĂ€ume ergeben, die kritische Stimmen nutzen. Gezeigt hat dies die feministische Bewegung, welche radikaler denn je ihre Wut gegen den alteingesessenen Machismo und die ungebrochene Gewalt gegen Frauen auf die Straßen bringt. Auch die indigene Bewegung richtet ihre Strategien neu aus: WĂ€hrend der Zentralstaat das Friedensabkommen von San AndrĂ©s mit 23-jĂ€hriger VerspĂ€tung umzusetzen verspricht, haben die Zapatistas in einer territorialen Initiative neue Tatsachen geschaffen (siehe LN 543/544). Unter neuen staatlichen Vorzeichen geht der Kampf der mexikanischen Gesellschaft um die territoriale Verteidigung ihrer Lebenswelten gegen die Kapitalinteressen und um politische Mitbestimmung in eine neue Runde.

ÜBERRASCHUNG IN ZEITEN DER MILITARISIERUNG

„Schwierige Zeiten“ seien es in Chiapas, hört man dort seit Amtsantritt des neuen PrĂ€sidenten allenthalben. WĂ€hrend Mitglieder seiner Partei MORENA im Zentrum des Landes hin und wieder Projekte realisieren, welche von der Bevölkerung nicht als ausschließlich negativ aufgefasst werden, sieht sich der Bundesstaat Chiapas noch immer mit dem seit Jahren vorherrschenden Mantra konfrontiert: „Entwicklung“ durch mehr Wirtschaft und Wirtschaft in Form des Dreiklangs Infrastrukturausbau, Extraktivismus und Tourismus. Sinnbildlich fĂŒr diese Politik stehen nicht nur verstĂ€rkte Abholzung, Fracking und 99 Minenkonzessionen, sondern vor allem der Ausbau einer Schnellstraße von der archĂ€ologischen FundstĂ€tte Palenque in die touristische Kolonialstadt San CristĂłbal de las Casas sowie der umstrittene Bau einer Zuglinie mit dem Namen Tren Maya (Maya-Zug). Diese soll die Halbinsel YucatĂĄn mit der Pyramidenstadt Palenque verbinden. Drei Millionen Tourist*innen sollen dadurch ab 2023 jĂ€hrlich in den Bundesstaat gelockt werden. Doch Straßen und Schienen eignen sich natĂŒrlich auch fĂŒr den Warentransport. Beides bereitet der lokalen Bevölkerung Sorgen, welche die Probleme des Bundesstaates nicht in einem Mangel an Tourismus und Wirtschaft sieht. Umweltzerstörung und Landraub sind eine Folge dieser auf wirtschaftliches Wachstum ausgelegten Politik, das vermehrte Auftreten der organisierten KriminalitĂ€t eine andere. Wo das Interesse an Land und Ressourcen wĂ€chst, verbindet sich beides in einer explosiven Mischung. Seit drei Jahren gibt es im Hochland von Chiapas wieder massive und extrem gewaltvolle Vertreibungen der indigenen Bevölkerung (siehe LN 524). Die Konflikte wurzeln im Allgemeinen entweder in Korruption bei der Vergabe von Regierungsgeldern oder in ungeklĂ€rten BesitzverhĂ€ltnissen von Land, ausgelöst durch bundesstaatliche Grenzverschiebungen der Landkreise. Auffallend ist, dass hochbewaffnete Akteur*innen mit Verbindungen zu den lokalen Kartellen dabei hĂ€ufig mit lokalen AutoritĂ€ten kollaborieren.

PrĂ€sident Obrador steht den Zapatistas zweispĂ€ltig gegenĂŒber


Beim Amtsantritt des neuen PrĂ€sidenten und des neuen Gouverneurs der regierenden Partei MORENA in Chiapas, Rutilio EscandĂłn Cadenas, waren alle gespannt, wie diese mit den gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der Straflosigkeit umgehen wĂŒrden. Schnell zeigte sich, dass sie eine Ă€hnliche Politik wie ihre VorgĂ€nger verfolgen. Medienwirksam inszenierte FriedensvertrĂ€ge zwischen Lokalpolitiker*innen ohne realen Einfluss bei ausbleibender Strafverfolgung sowie Entwaffnung, wie vom lokalen Menschenrechtszentrum Fray BartolomĂ© de Las Casas (Frayba), gefordert, fĂŒhrten bisher nicht zur Lösung der Konflikte. Stattdessen wurde eine Militarisierung durch die neu geschaffene Nationalgarde im Bundesstaat vorangetrieben. UrsprĂŒnglich zur BekĂ€mpfung der Kartelle geschaffen, wird sie in Chiapas vorwiegend zur Migrationsabwehr eingesetzt. Einige ihrer Basen sind auffallend nah an den zapatistischen Territorien, was Erinnerungen an die AufstandsbekĂ€mpfungsstrategien der 1990er Jahre aufkommen lĂ€sst. Auch die militĂ€rischen Straßensperren und -kontrollen jener Zeit sind zurĂŒckgekehrt.
Neu ist die Rhetorik. WĂ€hrend Ex-PrĂ€sident Enrique Peña Nieto die Existenz der Zapatistas weitgehend ignorierte, schenkt AMLO ihnen zwiespĂ€ltige Aufmerksamkeit. Hin und wieder twittert er ein Foto auf dem er unter anderem mit dem Subcomandante Galeano zu sehen ist und bekundet VerstĂ€ndnis fĂŒr Anliegen und Autonomie der Zapatistas. Gleichzeitig verleumdet er sie sowie den Nationalen Indigenen Kongress (CNI) und andere lokale indigene und lĂ€ndliche Organisationen als „zurĂŒckgeblieben“, wenn diese sich gegen gigantische Projekte wie den „tren maya“ oder spezifische Regierungsprogramme wenden. Sie wĂŒrden nicht anerkennen, dass es sich nun um eine ganz andere Politik handele und wĂ€ren in alten anti-neoliberalen Argumentationsmustern verfangen. Ähnliches erwiderte er, als die Zapatistas öffentlich die Militarisierung im Bundesstaat kritisierten, welche auch von Frayba dokumentiert wurde, und bezichtigte beide Akteur*innen der LĂŒge.
Die ersten Monate der MORENA-Regierung beförderten in weiten Teilen von Chiapas somit nicht gerade optimistische Erwartungen fĂŒr die Zukunft. Die Zapatistas schienen diesen Tenor zu bekrĂ€ftigen. Zum Jahreswechsel betitelten sie ihr KommuniquĂ© mit „Wir sind alleine“.
Um so ĂŒberraschender traf am 17. August die letzte ErklĂ€rung einer Serie von KommuniquĂ©s ein. Der Titel ist vielversprechend: „Wir haben die Belagerung durchbrochen“. Zuvor waren auf gewohnt amĂŒsante, gleichzeitig analytische Art die aktuelle Situation, Kritik an der Regierung und deren Projekten sowie mögliche dystopische Szenarien beschrieben worden. Subcomandante Insurgente MoisĂ©s, Sprecher der Kommandantur der EZLN, gab schließlich bekannt, dass die Zapatistas trotz allem ihr Territorium massiv ausweiten konnten. Sie erfĂŒllen damit die Grundsatzentscheidung des Nationalen Indigenen Kongress von 2016, in die Offensive zu gehen. Die bisherigen fĂŒnf caracoles, zapatistische lokale Verwaltungszentren und Sitz der rotierenden AutoritĂ€ten (RĂ€te der Guten Regierung), werden auf insgesamt 12 Lokalregierungen erweitert. Zudem wurden vier neue autonome zapatistische Landkreise zu den bestehenden 27 ausgerufen.
Die Zapatistas haben es damit geschafft ihren Aktionsradius zu erweitern, wĂ€hrend viele soziale Organisationen und widerstĂ€ndige Gruppen momentan damit beschĂ€ftigt sind, wenigstens bestehende HandlungsspielrĂ€ume zu erhalten. Besonders wird in der ErklĂ€rung die wichtige Rolle der Frauen und jugendlichen Zapatistas hervorgehoben, die den Prozess entscheidend vorangetrieben haben, und all das ganz ohne den Einsatz von Waffen und Gewalt. Angesichts der steigenden PrĂ€senz des MilitĂ€rs und organisierter KriminalitĂ€t in Chiapas wĂ€re alles andere auch ein Himmelfahrtskommando gewesen. Dennoch ist das im KommuniquĂ© beschriebene kleinteilige Vorgehen mit „tausend Gemeindeversammlungen“ und dem tausendmaligen unbemerkten Passieren der MilitĂ€rposten auch als Schlappe der staatlichen Strategie zu werten. „Wie ein schmutziger Fleck blieben die Belagerer zurĂŒck, eingeschlossen in einem jetzt ausgedehnteren Gebiet, einem Gebiet, das mit Rebellion ansteckt.“ Das ist das Ziel: Den Zugang zu einer „anderen“ Regierung ermöglichen. Schon lange profitieren viele Regionen vom zapatistischen Gesundheits- und Justizsystem. Auch viele ParteianhĂ€nger*innen suchen statt staatlicher Einrichtungen wegen ihrer Unbestechlichkeit und Kenntnis der indigenen Sprache und Kultur bei Problemen die zapatistischen RĂ€te auf. Es ist bekannt, dass es in den Gebieten der Zapatistas kaum Frauenmorde, weniger Gewaltverbrechen und weniger PrĂ€senz der organisierten KriminalitĂ€t gibt. Ein Erfolg, den das MilitĂ€r nicht verbuchen kann, ganz im Gegenteil. Somit ist es eine gute Nachricht, dass einige der neuen Zentren in Landkreisen wie Chicomuselo, Tila oder Motocintla sind. Gebiete, in denen sich die Situation aufgrund von bevorstehenden Extraktivismusprojekten und militĂ€rischer Migrationsabwehr monatlich zuspitzt.
Dass AMLO, nachdem er die Zapatistas zuletzt als rĂŒckstĂ€ndig beschrieben hat, die neuesten Entwicklungen begrĂŒĂŸt, klingt wie ein EingestĂ€ndnis, dass die autonome Praxis der Zapatistas mehr zur Sicherheit betrĂ€gt, als seine von Militarisierung begleitete Rhetorik um Transformation. Dies ist aber eher im Rahmen der gewohnten DoppelzĂŒngigkeit zu verstehen, die er gegenĂŒber seinen Kritiker*innen an den Tag legt.
Interessanter ist, wie es nun weitergeht: Die Zapatistas laden zu zahlreichen internationalen thematischen Treffen und zur UnterstĂŒtzung beim Aufbau der neuen Strukturen ein. Die internationale SolidaritĂ€t ist also in Chiapas, wie immer, herzlich willkommen.

 

GLITZER UND GEWALT

Flammender Protest Demonstrationen vom 16. August in Mexiko-Stadt / Fotos: Mirjana Mitrović

Im August wurden unabhĂ€ngig voneinander zwei FĂ€lle von MinderjĂ€hrigen bekannt, die berichteten, von Polizisten in Mexiko-Stadt vergewaltigt worden zu sein. Eine 16-JĂ€hrige gab an, wĂ€hrend ihres Praktikums im Museum Archivo de la FotografĂ­a von einem Polizisten vergewaltigt worden zu sein. Eine 17-JĂ€hrige sagte aus, dass sie nachts auf dem Heimweg, nur zwei Straßen entfernt von ihrem Zuhause von vier Polizisten in deren Patrouillenwagen vergewaltigt wurde. Wie die mexikanische Tageszeitung El Universal berichtete, wurden die Beweise nicht ordnungsgemĂ€ĂŸ auf-genommen und somit ein ordentlicher Gerichtsprozess verhindert. Noch dazu wurde der Name des einen MĂ€dchens an die Presse weitergegeben. Dies sind keine EinzelfĂ€lle, schließlich ist Mexiko bekanntermaßen eines der gefĂ€hrlichsten LĂ€nder fĂŒr Frauen, aber sie brachten ein schon lange brodelndes Fass zum Überlaufen.

Am Montag, den 12. August, demonstrierte zunĂ€chst eine ĂŒberschaubare Gruppe von Frauen vor dem GebĂ€ude fĂŒr stĂ€dtische Sicherheit in Mexiko-Stadt gegen Polizeigewalt und fĂŒr die AufklĂ€rung der FĂ€lle sowie die Bestrafung der TĂ€ter. Dabei wurde der zustĂ€ndige SekretĂ€r JesĂșs Orta MartĂ­nez mit pinkem Glitzer beworfen. Die Demonstrantinnen zogen dann weiter vor die Zentrale der Staatsanwaltschaft. Einige der Teilnehmerinnen zerstörten eine GlastĂŒr des GebĂ€udes und hĂ€ngten einen Schweinekopf auf. Die BĂŒrgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, welche Teil der Regierungspartei MORENA und die erste Frau in diesem Amt ist, betonte noch am gleichen Tag in einer Pressemitteilung, dass der Kampf gegen die Gewalt an Frauen bereits Teil des Regierungsprogramms sei. Zugleich nannte sie die Proteste eine Provokation. Auf Plattformen wie Facebook wurde die Verbindung von Glitzer und Provokation in feministischen Kreisen zum Meme-Hit. Beispielsweise wurden Bilder von Drogenfunden nun zu Bildern von polizeilich gesicherten Paketen mit pinkem Glitzer umgestaltet. Zugleich wurde Glitzer zum Protestsymbol, denn neben der Ironie reagierten viele vor allem entsetzt auf Sheinbaums Aussage.

„Mata a tu violador“ „Töte deinen Vergewaltiger“

Die Aussage der BĂŒrgermeisterin dĂŒrfte auch die erstaunliche Schnelligkeit der spontan und dezentral organisierten Antwort angefacht haben. Innerhalb kĂŒrzester Zeit wurde in ĂŒber 30 StĂ€dten Mexikos fĂŒr Freitagabend, nur fĂŒnf Tage nach der „Provokations“-Demonstration, zu neuen Protesten aufgerufen. Bilder mit pink glitzernden FĂ€usten wurden von Smartphone zu Smartphone verschickt und die Gruppe Resistencia Femme teilte den Aufruf via Facebook unter dem Hashtag „Sie schĂŒtzen mich nicht, sie vergewaltigen mich“, begleitet von der Forderung „Wir wollen Gerechtigkeit!“. Am Morgen der Demonstration veröffentlichten sie einen Brief, welcher u.a. an die BĂŒrgermeisterin Sheinbaum und den SekretĂ€r fĂŒr die stĂ€dtische Sicherheit Orta gerichtet war. Dabei prangerten sie die UnfĂ€higkeit der Regierung an, „diejenigen zu ermitteln und zu bestrafen, welche die Menschenrechte der Frauen verletzen“ und erklĂ€rten „unsere Proteste entstehen, weil es der Staat selbst ist, der durch die StreitkrĂ€fte die Straftaten des sexuellen Missbrauchs begeht, die TĂ€ter schĂŒtzt und die Opfer zum Schweigen bringt und erniedrigt“.
Am Freitagabend war dann in Mexiko-Stadt kurz nach Beginn der Demonstration in einem brennenden Kreis auf dem Boden der Satz „Strafverfolgung zu verlangen ist keine Provokation“ zu lesen. Dazu rief eine schwarz vermummte Frau mit Spraydose in der Hand laut in Richtung der anwesenden Pressevertreter*innen „Dieser Protest wird ein Spektakel!“ und setzte damit das Motto fĂŒr diesen Abend. Stundenlang schmissen vermummte Frauen die Scheiben zweier großer Busstationen ein, welche sie vorher mit Graffiti ĂŒberdeckt hatten und zĂŒndeten kleine Feuer. Das alles ereignete sich direkt gegenĂŒber des GebĂ€udes fĂŒr öffentliche Sicherheit. Neben pinkem Glitzer in der Luft wurden mehrere Feuerwerkskörper auf das GebĂ€ude abgefeuert. Meist wurden diese Aktionen von den rund 2000 vornehmlich jungen Demonstrantinnen (MĂ€nner wurden konsequent durch Rufe und Glitzerattacken aus dem Demonstrationszug verbannt) mit Grölen und Applaus unterstĂŒtzt, nur selten wurden die Aktionen von Teilnehmerinnen lautstark kritisiert. Die Polizei griff nicht ein und mĂ€nnliche Polizisten wurden erst gar nicht sichtbar aufgestellt. Erst als auf dem Weg zur Statue am Paseo de la Reforma eine Polizeistation nicht nur demoliert, sondern auch angezĂŒndet wurde, griff die Feuerwehr ein. WĂ€hrenddessen zogen die Demonstrantinnen weiter und hinterließen ein mit Graffiti ĂŒberzogenes UnabhĂ€ngigkeitsmonument.

Die Frustration entlÀdt sich Aktivistinnen legten die Metrobus-Station Insurgentes in Schutt und Asche

Am nĂ€chsten Tag waren bereits alle Graffitis ĂŒbermalt oder entfernt und die Glasscheiben und Werbeplakate der Busstationen ersetzt worden. Wie zu erwarten wurde in den darauffolgenden Tagen in der Presse und bei den Diskussionen in sozialen Medien wenig auf die Anliegen der Frauen eingegangen. Stattdessen wurde hauptsĂ€chlich der Vandalismus thematisiert. Feministische Gruppen berichten, dass sie neben den alltĂ€glichen Attacken nun noch heftigeren Angriffen ausgesetzt seien. Nichtsdestotrotz greifen feministische Kollektive weiterhin das Thema der Proteste auf. Das Medienkollektiv Luchadoras (KĂ€mpferinnen) lud feministische Juristinnen ein, die Frage „Reicht uns diese Justiz?“ zu diskutieren. Sie setzen aber auch weiterhin auf den Austausch mit BĂŒrgermeisterin Sheinbaum. Vielleicht auch, weil viele der Aktivistinnen bezweifeln, dass bei der nĂ€chsten Demonstration wieder auf eine so konsequente Deeskalation gesetzt wird. Die Bilder der gewaltigen PrĂ€senz der Frauen auf der Straße hinterlassen aber weiterhin den Eindruck, dass der feministische Widerstand in Mexiko eine neue Form sowie eine andere (Schlag-)Kraft entwickelt hat. Die Vernetzung hat ihre FunktionstĂŒchtigkeit im ganzen Land bewiesen. Ende August fand ein weiteres feministisches Treffen in der Hauptstadt statt. Eine neue Demonstration ist zwar momentan nicht angekĂŒndigt, aber die Proteste haben gezeigt, wie schnell sich inzwischen Feministinnen landesweit zu Aktionen organisieren können.

 

EIN TAG OHNE ARBEITER*INNEN

„Keine ist frei, bis wir es alle sind“ Der Frauenkampftag am 8. MĂ€rz in Mexiko-Stadt bezieht sich auch auf die KĂ€mpfe in der Maquila-Industrie // Foto: Nina IßbrĂŒcker

Mit dem Generalstreik in Indien am 8. und 9. Januar 2019 gegen die gewerkschaftsfeindlichen GesetzesplĂ€ne der Regierung Modi fand mutmaßlich der grĂ¶ĂŸte Streik der Menschheitsgeschichte statt: 200 Millionen Arbeiter*innen sollen sich beteiligt haben. Nur zwei Tage spĂ€ter, ab dem 11. Januar, begannen vorerst „wilde“, nicht von Gewerkschaften koordinierte Streiks in der Maquiladora-Industrie an der Nordgrenze Mexikos. Dass in Maquiladoras, den lateinamerikanischen „Weltmarktfabriken“, gestreikt wird, ist selten. Kaum ist es möglich, dass sich in den grenznahen Montagefabriken die Arbeiter*innen ĂŒberhaupt organisieren. Matamoros ist neben den GrenzstĂ€dten Ciudad JuĂĄrez und Tijuana der mexikanische Hauptstandort der Maquiladoras. Über eine Millionen Arbeiter*innen, ĂŒberdurchschnittlich viele Frauen, schuften in 3.000 solcher Fabriken meist 12 Stunden am Tag. In Matamoros arbeiten etwa 80.000 Menschen in 122 Maquiladoras. Am 11. Januar 2019 haben dort 2.000 Arbeiter*innen auf einer Generalversammlung einen spontanen, nicht-gewerkschaftlichen Streik beschlossen. Gefordert wurde eine 20-prozentige Lohnerhöhung, eine Einmalzahlung von 32.000 Pesos (knapp 1.400 EUR) und die RĂŒckkehr zur 40-Stunden-Woche. Die sich ausweitende Streikbewegung ist mittlerweile bekannt als Movimiento 20/32, weil sie 20 Prozent Lohnerhöhung sowie 32.000 Pesos Einmalzahlung fordern. Zu den anfangs bestreikten Unternehmen zĂ€hlen Inteva, STC, Polytech, Kemet, Tyco, Parker, AFX und Autoliv. Die meisten Maquiladoras in Tamaupilas beliefern die US-amerikanische Autoindustrie, vor allem General Motors, Ford und Fiat-Chrysler. Ende Januar war in fast allen US-amerikanischen Montagewerken von Ford und General Motors die Produktion zurĂŒckgefahren, weil es durch den Streik zu LieferengpĂ€ssen kam. In mindestens einem Werk, bei Ford in Flat Rock im Bundestaat Michigan, wurde die Produktion ganz eingestellt.

Es geht um mehr als einen Tarifstreit

Die prekĂ€ren Bedingungen in den grenznahen Betrieben waren ein SchlĂŒsselelement in den Neuverhandlungen des Handelsabkommens NAFTA (North American Free Trade Agreement) zwischen Mexiko und der Regierung Trump. Ein festgelegter Teil der Zulieferproduktion muss seit dem neuen Handelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada (USMCA) zu Stundenlöhnen von mindestens 16 US-Dollar erfolgen (siehe LN 533), auch um die Migration in die USA einzudĂ€mmen. Am 1. Januar 2019 wurde in Mexiko der Mindestlohn um 16 Prozent angehoben und liegt damit erstmals seit 30 Jahren ĂŒber der Armutsgrenze.Im US-Grenzgebiet, in dem seit der EinfĂŒhrung von NAFTA im Jahr 1994 die Lebenshaltungskosten weit ĂŒber dem Landesdurchschnitt liegen, wurde der Mindestlohn verdoppelt. Die Freien Produktionszonen (FPZ), in denen die Maquiladoras liegen, bleiben jedoch ausgenommen. Gleichzeitig wurde fĂŒr die Maquila-Unternehmen die Umsatzsteuer auf 20 Prozent reduziert und weitere Anreize fĂŒr GesundheitsfĂŒrsorge, Bildung und Verkehrsausbau geschaffen.
Auslöser der Streikbewegung war die ausbleibende Erhöhung der Löhne in der Maquila-Industrie, „die außerhalb unserer Wettbewerbsmöglichkeiten liegen“, wie der PrĂ€sident des Nationalen Rats der Maquila-Industrie (INDEX), Luis Alegre Lang, gegenĂŒber der Tageszeitung Vanguardia sagte. Gleichzeitig geht es um die weitere Zahlung von Zusatzleistungen, die ĂŒber den Mindestlohn hinausgehen. „Der Grundlohn in den meisten Maquiladoras liegt zwischen 90 und 100 Pesos. Aber die Arbeiter erhalten auch verschiedene Boni – fĂŒr ProduktivitĂ€t, Anwesenheit, Transport und anderes. Als die Arbeiter eine Verdoppelung des Grundlohns forderten, wie es die Regierung versprochen habe, sagten die Unternehmen, sie wĂŒrden die Bonuszahlungen streichen und im Ergebnis wĂŒrden die Löhne nicht erhöht“ erlĂ€utert Julia Quiñonez vom Kommitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion (ComitĂ© Fronterizo de Obreras) gegenĂŒber dem US-Journalisten David Bacon.

Die Streikbewegung weitet sich aus


Die Rolle der Gewerkschaften in dem Streik ist zwiespĂ€ltig. Ähnlich wie in den USA sind Gewerkschaften in Mexiko einem komplexen Anerkennungsverfahren unterworfen und fungieren dann als Betriebsgewerkschaften – davon gibt es in Mexiko etwa 16.000. Die meisten Gewerkschaften sind nach wie vor in den historisch der ehemaligen Staatspartei PRI nahestehenden korporatistischen DachverbĂ€nden CROM, CROC und CTM organisiert, darĂŒber hinaus gibt es neue unabhĂ€ngige Gewerkschaften und sogenannte „gelbe“ unternehmerfreundliche Gewerkschaften. Die jeweilige Zugehörigkeit erlaubt oft noch kein Urteil ĂŒber den Charakter der Einzelgewerkschaft.
Der Streik richtete sich anfangs sogar explizit gegen die Gewerkschaft der Tagelöhner und Industriearbeiter und der Maquiladora-Industrie (SJOIIM, Mitgliedsgewerkschaft der CTM), die Überbezahlung von deren FunktionĂ€r*innen, die Höhe der GewerkschaftsbeitrĂ€ge und der Korruption beziehungsweise der Position der Gewerkschaft auf Unternehmensseite. Als am 18. Januar die Streikenden zu den GewerkschaftsbĂŒros mobilisiert hatten, ließ der lokale Vorsitzende des Dachverbands CTM, Juan Villafuerte Morales, diese sogar schließen. Unter Druck geraten, rief die SJOIIM am 24. Januar dennoch offiziell zum Streik auf, versuchte aber gleichzeitig, gemeinsam mit Politiker*innen von Morena und der Regierung, den Streik herunter zu kochen.
Ende Januar wies die mexikanische Regierung die Bundesstaatsregierung von Tamaupilas an, den Streik zu beenden. Mit der ErklĂ€rung der inexistencia (Nicht-Existenz) eines Streiks nach mexikanischem Arbeitsrecht gilt dieser als illegal und kann den Entzug der Gewerkschaftsrechte und Entlassungen zur Folge haben. Streikposten waren von diesem Zeitpunkt an mit Marine und bewaffneter Polizei konfrontiert, Gewalt ging auch von privaten Sicherheitsunternehmen aus, etwa bei der Entfernung von Streikposten. Die Unternehmen drohten als Reaktion auf die Streiks mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen und Strafanzeigen gegen „Agitatoren“. In den ersten zehn Tagen der „wilden“ Streiks hatten die Fabriken laut der Matamoros Maquila Association 100 Millionen US-Dollar verloren. 1.000 Streikende seien entlassen worden, meldete labournet.de am 25. Februar. INDEX-PrĂ€sident Lang betonte auch noch nach den Verhandlungsergebnissen, dass 15 Unternehmen planen wĂŒrden Tamaupilas in den nĂ€chsten sechs bis neun Monaten zu verlassen.

Einige Unternehmen haben die Forderungen vollumfÀnglich akzeptiert

Die Streiks stellen in verschiedener Hinsicht eine Besonderheit dar: Erstens begannen sie als sogenannte „wilde“ Streiks, also ohne Aufruf einer Gewerkschaft. Das ist auch deswegen entscheidend, weil die Tendenzen zur Selbstorganisation in Form von RĂ€ten, unabhĂ€ngigen Gewerkschaften oder Komitees neue Perspektiven fĂŒr die mexikanische und die gesamtamerikanische Arbeiterbewegung bieten. Zweitens beziehen sie sich auf die Politik von StaatsprĂ€sident LĂłpez Obrador (oft AMLO genannt) und seine Partei Morena, sind also durchaus als politische Streiks zu betrachten, denn sie fordern die Einhaltung des Gesetzes zum Mindestlohn, es geht also um mehr als um einen klassischen Tarifstreit. Drittens haben sie mehrere Ausweitungen erfahren, sind tendenziell grenzĂŒberschreitend und haben damit, wenn auch teilweise indirekt, Globalisierung, Freihandel und Migration zum Thema. Und viertens war die spontane Bewegung erfolgreich. Die Zahlen schwanken, aber mindestens 40, laut einer AP-Meldung sogar 44, der bestreikten Unternehmen haben die Forderungen der Streikenden nach Lohnerhöhung und Einmalzahlung Anfang Februar 2019 vollumfĂ€nglich akzeptiert. Dies ist der wesentlichen Hintergrund fĂŒr die Ausweitung der Streikwelle. Anfang Februar dieses Jahres begannen SupermĂ€rkte und Unternehmen der Textilindustrie in Tamaupilas, sich die gleichen Forderungen auf die schwarz-roten Streik-Fahnen zu schreiben. Am 29. Januar schlossen sich 700 Arbeiter*innen der lokalen Coca Cola-AbfĂŒllanlage ARCA Continental Planta Noreste an, etwa gleichzeitig traten 400 Arbeiter*innen aus drei lokalen Stahlwerken in den Streik sowie Matamoros’ Haupt-Milchlieferant Leche Vaquita und die MĂŒllabfuhr der Stadt. Etwa 90 Kilometer von Matamoros entfernt, in der Grenzstadt Reynosa, begannen Anfang Februar 8.000 Arbeiter*innen in 45 Fabriken einen Streik, auch Angestellte in der Hauptstadt des Bundesstaates Tamaupilas, Ciudad Victoria, drohten mit Ausstand. Landesweit wollten sich Walmart-Angestellte der Bewegung anschließen. Der zustĂ€ndige Gewerkschaftssektor CROC, der 90.000 dieser Arbeiter*innen organisiert, gab am 20. MĂ€rz eine entsprechende StreikankĂŒndigung heraus. Der Streik wurde durch die Schlichtungsverhandlungen verhindert. „Arbeiter [
] von Tijuana bis Ciudad Juarez schauen auf die mutigen Aktionen der Arbeiter aus Matamoros. Die Arbeiter denken darĂŒber nach, ihrem Beispiel zu folgen, und natĂŒrlich befĂŒrchten die Unternehmer genau das.“ sagt Julia Quiñonez vom Komitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion.
Rosa Luxemburg argumentiert in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“ (1906), dass ökonomische Streiks eine Eigendynamik aufweisen, die aus sich selbst heraus zu einer Politisierung fĂŒhren. Die Streiks an der nordmexikanischen Grenze bestĂ€tigen das. Sie haben eine Dynamik entwickelt, die weit ĂŒber die geforderte Lohnerhöhung hinaus weist. Gerade an der mexikanischen Nordgrenze ist ein solches Streikgeschehen notwendigerweise mit den Themen Migration und GeschlechterverhĂ€ltnisse verknĂŒpft.
Die von den nordmexikanischen Arbeiter*innen am Generalstreiktag ausgegebene Parole „Ein Tag ohne Arbeiter“ erinnert nicht von ungefĂ€hr an die Parolen des globalen Frauen*streiks am 8. MĂ€rz diesen Jahres. Am „Tag ohne Arbeiter“ zogen die Streikenden ĂŒber die Grenze nach Brownsville in den USA (der Zwillingsstadt Matamoros‘), um SolidaritĂ€t von den US-amerikanischen Arbeiter*innen einzufordern, aber auch, um gegen jĂŒngste rassistische und antimexikanische Äußerungen von Trump bei einer Rede in Brownsville zu protestieren.
Die argentinische Sozialwissenschaftlerin VerĂłnica Gago und die mexikanische Philosophin Raquel GutiĂ©rrez Aguilar beziehen die globale Streikbewegung vom 8. MĂ€rz auf die Bewegung gegen die Frauenmorde (Feminicidios) in Ciudad Juarez und damit auch auf die KĂ€mpfe in der Maquila-Industrie. Der Streik in Matamoros weist darauf hin, dass sich die Debatten und OrganisierungsbemĂŒhungen der letzten zehn Jahre langsam in kollektiven sozialen Widerstand ĂŒbersetzen. Aus der neuen Kraft des Feminismus und den neuen Entwicklungen der Arbeiterbewegung entsteht in der Liaison eine neue Form von Streik: der soziale Streik, der ĂŒber die Welt der Lohnarbeit hinaus geht, gleichzeitig aber auch mehr ist als ein politischer Streik.

UNKLARES PROFIL

John Ackermann ist Juraprofessor, Kolumnist und enger Berater des neuen PrÀsidenten (Foto: Aline Juårez Contreras)

Seit dem Wahlsieg im Juli konzentriert sich die Medienberichterstattung im In- und Ausland vor allem auf den zukĂŒnftigen PrĂ€sidenten AMLO. Die Wahl gewann er allerdings nicht alleine, sondern mit der von ihm 2014 gegrĂŒndeten Partei Morena. Wie wichtig ist diese Plattform?

Auf jeden Fall identifizieren sich die Leute mit AMLO, aber natĂŒrlich stimmen sie nicht nur fĂŒr einen Politiker, sondern auch fĂŒr eine Partei. Und Morena hat neben dem PrĂ€sidentschaftsamt beide Kammern des Parlaments und vier Gouverneursposten auf regionaler Ebene gewonnen. Am 1. Juli haben die Leute nicht nur die Person LĂłpez Obrador, sondern die Idee eines anderen, eines möglichen Mexiko gewĂ€hlt, die er verkörpert. Und dabei hat Morena, als eine Partei neuen Typs, eine große Rolle gespielt.

Was meinen Sie mit „Partei neuen Typs“?

Morena entstand als Antwort auf die gescheiterte neoliberale Politik der 1980er und 1990er Jahre und reiht sich damit in die lange Reihe von progressiven Gruppierungen in Lateinamerika ein, die um die Jahrtausendwende entstanden sind. Wir in Mexiko sind einfach sehr spĂ€t dran, dennoch gehört Morena zu diesem Zyklus der linken Transformationen. Morena steht fĂŒr das Scheitern des neoliberalen Wirtschaftsmodells und das Versagen der etablierten Parteien. Dazu zĂ€hlt auch der Kollaps der alten sozialdemokratischen Parteien. In Mexiko ist das mit der Partei der demokratischen Revolution (PRD) passiert, fĂŒr die AMLO 2006 noch antrat und die jetzt nach den Wahlen in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wird. Die linke Leerstelle im Parteiensystem hat Morena besetzt.

Was hat die sozialdemokratische PRD falsch gemacht?

Morena wurde notwendig, weil die PRD sich auf Initiative des noch amtierenden PrĂ€sidenten Enrique Peña Nieto nach dessen Wahlsieg 2012 mit den herrschenden konservativen Eliten verbĂŒndete. Im sogenannten Pakt fĂŒr Mexiko wurde die PRD in das HerrschaftsbĂŒndnis zwischen der ehemaligen Staatspartei PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) und der konservativen PAN (Partei der Nationalen Aktion) eingebunden und trug in den Folgejahren alle neoliberalen und repressiven Reformen mit. Ein Verrat an der Linken.
Angesichts dessen wurde Morena von einer zivilgesellschaftlichen Organisation, die bereits 2011 entstanden war, um AMLOs Wahlkampf zu unterstĂŒtzen, zur neuen linken Partei aufgebaut. Die progressiven Teile der PRD schlossen sich diesem neuen Projekt schnell an, vor allem die, die stark in den sozialen Bewegungen verankert sind. Und auch fĂŒr viele Millenials wurde Morena aufgrund der AuthentizitĂ€t und den Möglichkeiten zum Mitmachen attraktiv, was sich bei den Wahlen in den riesigen Erfolgen Morenas bei jungen WĂ€hler*innen gezeigt hat.

Wenn Morena erst durch den Pakt der PRI mit der Rechten möglich wurde, warum hat sich AMLO dann selbst, bereits wĂ€hrend des Wahlkampfes, dafĂŒr eingesetzt, möglichst viele konservative Politiker*innen aus PRI und PAN in sein politisches Projekt zu integrieren?

Das ist Ă€ußerst komplex. Auf der einen Seite muss man das Ganze als Versuch betrachten, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Das ist nichts Neues und in der derzeitigen Situation Mexikos auch unbedingt notwendig. Zudem versuchen frisch gewĂ€hlte PrĂ€sidenten in Mexiko immer, ihre politischen Rivalen in ihr Regierungsprojekt zu integrieren. Der Unterschied zum Pakt von Mexiko von Peña Nieto ist, dass AMLO eben schon vor den Wahlen mit offenen Karten gespielt hat, um eine Regierung der nationalen Einheit zu forcieren. Allerdings schließt er sich eben nicht den Neoliberalen und den Konservativen an, sondern die sich ihm – und genau da liegt der Unterschied. Zudem hat AMLO dies alles mit extremem sozialen RĂŒckhalt gemacht. Viele Leute vertrauen da seiner EinschĂ€tzung.

WofĂŒr stehen die Partei Morena und der kĂŒnftige PrĂ€sident dann konkret?

Diese Frage lĂ€sst sich nicht leicht beantworten. Morena ist ein plurales Gemisch verschiedener Positionen. Um das zu verstehen, muss man nur die Siegesrede von AMLO am Wahlabend im Hotel Sheraton mit seiner Rede im Stadion Azteca vergleichen, die er wenige Tage vor dem Wahltag hielt. Bei zweiterer verortete er sich klar links und setzte seine Kandidatur in eine lange Reihe sozialer KĂ€mpfe seit der mexikanischen Revolution von 1910. Ein paar Tage spĂ€ter gewinnt er die Wahl und nutzt seine Siegesrede, um eine Nachricht an die Banken und den Finanzsektor zu senden, wonach diese durch seine PrĂ€sidentschaft nichts zu befĂŒrchten hĂ€tten. Er trĂ€gt also diesen Widerspruch in sich. Er ist pro-Business, aber aus einer links-nationalistischen Grundhaltung heraus.

Angesichts dieser ideologischen Beliebigkeit des kĂŒnftigen Kabinetts, in dem viele ehemalige Politiker*innen der PRI und der PAN vertreten sind: Muss Morena da als Korrektiv von links auf AMLO einwirken?

Ja, auf jeden Fall. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen Regierung und Partei. Und je offener die Regierung nach rechts wird, umso mehr muss Morena als Gegengewicht dazu agieren.

Kann das gelingen? Morena ist bisher ja nicht gerade mit einer lebendigen internen Debattenkultur aufgefallen. Der Fokus lag doch eher darauf, die Wahlen zu gewinnen und AMLO in den PrÀsidentenpalast zu hieven.

Die Partei als solche ist wie ein Kind, das erst vier Jahre alt ist und plötzlich einen Schwertransporter steuern muss. Es scheint zunĂ€chst unmöglich, aber wie kann es trotzdem gelingen? Die erste Möglichkeit wĂ€re schlicht und einfach zu sagen: „Lassen wir einfach die weiter fahren, die das Ding auch die vergangenen Jahre schon gesteuert haben, die wissen schon, was sie tun.“ Dann wird Morena eine ganz „moderne“ und „institutionelle“ Partei und alles bleibt beim Alten. Die zweite Option ist, dass Morena zu einem Konglomerat beliebiger politischer KrĂ€fte wird, dass AMLO zu Dienste steht. Die dritte und einzig sinnvolle Lösung fĂŒr das Problem ist, aus Morena eine wirkliche Massenpartei mit partizipativen Strukturen und einer demokratischen Kultur zu machen. Darauf hoffe ich. Ob das gelingen kann? Ich weiß es nicht.

Schwierig dĂŒrfte es auf jeden Fall werden. Denn es gibt viele Stimmen, die davor warnen, dass Morena nach dem ĂŒberwĂ€ltigenden Wahlerfolg und der daraus resultierenden enormen MachtfĂŒlle anfĂ€llig fĂŒr Korruption und Klientelismus sein könnte. Besteht die Gefahr, dass Morena in die gleichen Muster wie die VorgĂ€ngerregierungen verfĂ€llt?

Ja, diese Gefahr besteht zweifelsohne. Durch den Wahlsieg gibt es jetzt viel Geld und unzĂ€hlige Posten in der Partei. Und in den vergangenen Monaten haben sich eben viele Leute aus anderen politischen Lagern der Partei angeschlossen, weil sie wussten, dass AMLO die Wahl gewinnen wĂŒrde. Und viele von denen wollen weitermachen wie bisher.
Daher hat sich eine Gruppe von linken Intellektuellen um den Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II und den Historiker Enrique Dussel zusammengefunden, zu der auch ich gehöre, die eine Parteischule aufbauen will, in der Mitglieder von Morena politisch ausgebildet werden sollen, um die partizipative Komponente der Partei zu stÀrken. Damit soll vor allem auch die interne Debattenkultur gestÀrkt werden. Bisher gab es noch keine einzige nennenswerte innerparteiliche Auseinandersetzung. Gleichzeitig gibt es den Wunsch von vielen Aktiven, sich einzubringen und Strategien und Aktionen auch kontrovers zu diskutieren. Das soll ermöglicht werden, jedoch ohne Chaos zu kreieren. Uns geht es darum, eine demokratische Kultur zu etablieren, durch die der Transformationsprozess von unten mitgestaltet werden kann.

Dennoch gab es schon den ersten vermeintlichen Skandal fĂŒr Morena. Zwei Wochen nach der Wahl verhĂ€ngte das Nationale Wahlinstitut (INE) eine Millionenstrafe gegen Morena, weil die Partei mutmaßlich einen Fonds fĂŒr Edrbebenopfer als illegale Parteienfinanzierung genutzt haben soll. Der erste Schritt in Richtung korrupte Staatspartei?

Nein, auf gar keinen Fall. Diese Strafe ist schlicht und ergreifend die Rache des Systems. Im elfköpfigen Gremium, das die Strafe ausgesprochen hat, sitzen mehrere Personen, die einen öffentlich gehegten Hass auf AMLO haben. Sie wollten ihm einfach die Party verderben. Diese angeblich illegale Parteienfinanzierung wollten sie im Falle eines knappen Wahlausgangs dazu nutzen, um seinen Wahlsieg zu annullieren. Allerdings gewann er so klar, dass sie das nicht machen konnten. Also entschieden sie sich dafĂŒr diese Situation auszunutzen, um ihm eins reinzuwĂŒrgen. Das Geld, das von Parteimitgliedern und auch von AMLO fĂŒr den Fonds gespendet wurde, kam einzig und allein den Erdbebenopfern zu Gute. Morena hat das Recht, als Partei auch humanitĂ€re Hilfe zu organisieren.

Wurde das aber nicht vielleicht genutzt, um von vom Erdbeben betroffenen Menschen im Austausch fĂŒr Hilfsleistungen Stimmen fĂŒr Morena und AMLO zu verlangen?

Das ist nicht passiert und das wirft das INE Morena auch gar nicht vor. Es geht nur darum, dass der Fonds nicht beim INE angemeldet wurde und das Geld bar ausgezahlt wurde. Dabei mĂŒssen Parteien gar keine Fonds anmelden, die nicht ihrer Finanzierung dienen. Und die Auszahlungen in bar haben einfach damit zu tun, dass viele der Erdbebenopfer ohnehin schon sehr arm und marginalisiert sind und daher keine Bankkonten haben. Es wurden jedoch alle Auszahlungen registriert, was wohl nicht passiert wĂ€re, wenn man das Geld eigentlich heimlich fĂŒr Wahlkampf- und Parteizwecke hĂ€tte verwenden wollen. Das INE hat nicht einmal seine Untersuchungen vernĂŒnftig abgeschlossen. Sie haben einfach gewartet, bis sie irgendetwas fabrizieren konnten und es dann der Presse zugespielt, um einen fiktiven Skandal zu verursachen.

Die Zapatist*innen stehen der kĂŒnftigen Regierung AMLOs genauso unversöhnlich gegenĂŒber wie den vorherigen. Und mit der unabhĂ€ngigen Kandidatur von Marichuy stellte sich der Indigene Nationalkongress (CNI) klar gegen AMLOs Regierungsprojekt. Kann man da von einer linken Opposition sprechen?

ZunĂ€chst einmal ist die zapatistische Bewegung national von sehr geringer Bedeutung. Vielleicht haben sie international noch mehr AnhĂ€nger*innen, hier in Mexiko sind sie jedenfalls trotz ihrer wichtigen Impulse der 1990er-Jahre keine wichtige Stimme der Linken mehr. Gleichzeitig sind die indigenen KĂ€mpfe um Autonomie und fĂŒr den Erhalt der Umwelt lebendiger denn je. Allerdings haben aus meiner Sicht die meisten organisierten indigenen Gruppen fĂŒr AMLO gestimmt und stehen seinem Projekt positiv gegenĂŒber. In Oaxaca etwa, dem Bundesstaat mit der höchsten Quote indigener Bevölkerung, hat AMLO haushoch gewonnen. Daher glaube ich, kann man fĂŒr den Moment noch nicht von einer wirklichen linken Opposition gegen die kĂŒnftige Regierung sprechen. Die kann aber entstehen, je nachdem wie die Dinge nach AMLOs Amtsantritt laufen.

Wird es nicht spÀtestens bei der Umsetzung von AMLOs ehrgeizigen Infrastrukturprojekten, von denen viele indigene Territorien betreffen, zu Konflikten zwischen seiner Regierung und den indigenen Bewegungen kommen?

Da wird es wohl zu WidersprĂŒchen kommen. Es kann gut sein, dass AMLOs Versprechen an Mexikos Unternehmerklasse irgendwann mit seinen Verpflichtungen gegenĂŒber der indigenen Bevölkerung kollidieren. Allerdings sollen solche Projekte an Tischen ausgehandelt werden, an denen alle drei Gruppen Platz und eine Stimme haben: der öffentliche, der private und der soziale Sektor.
Auf jeden Fall werden diese Projekte eine Art BewĂ€hrungsprobe. Aber ich denke nicht, dass ein großer Knall dabei unvermeidlich ist. Diese organisierten Gruppen sind zwar oft sehr radikal, allerdings auch sehr pragmatisch. Sollte es Vorteile fĂŒr die von ihnen vertretene lokale Bevölkerung geben, werden sie auf jeden Fall Interesse an Verhandlungen mit der Regierung haben. Zudem hat AMLO ein sensibles GespĂŒr fĂŒr solche Situationen. Es wird zwar nicht leicht, aber ich denke, dass zumeist das GefĂŒhl ĂŒberwiegen wird, dass wir alle im selben Boot sitzen und das Beste fĂŒr Mexiko wollen.

Bei aller Ungewissheit, was die nĂ€chsten sechs Jahre bringen werden, die Wahl von AMLO war historisch. Was ist fĂŒr Sie das Wichtigste an diesem Wandel?

Mexiko wird ab dem 1. Dezember einen PrÀsidenten haben, der der Bevölkerung zuhört. Das ist ein radikaler Wandel und schon allein deshalb war der Wahlsieg von AMLO und Morena ein Meilenstein. Endlich werden wir eine Regierung haben, die sich nicht mehr blind den Interessen von Washington und internationaler Geldgeber unterwirft. Viele von uns hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben. In ganz Lateinamerika kamen linke Regierungen an die Macht und nur hier sollte das nie passieren? Jetzt haben wir eine historische Möglichkeit, die wir ergreifen sollten.

EINE NEUE GESCHICHTSSCHREIBUNG?

Koalition der Geschichtsschreibung Nur ein Wahlversprechen? (Foto: Jan-Holger Hennies)

RamĂłn (Name geĂ€ndert) ist nervös. Auf einem bunten Markt im Zentrum Mexiko-Stadts betreibt er einen kleinen Fleischstand. Es kommen viele Kund*innen, das GeschĂ€ft lĂ€uft gut. Überhaupt scheint alles wie immer. Und doch: „Bald kommt er ins Amt 
“, fĂ€ngt RamĂłn an. Er redet ĂŒber AndrĂ©s Manuel LĂłpez Obrador, genannt AMLO, PrĂ€sidentschafts-kandidat der linksgerichteten Partei „Bewegung zur Nationalen Erneuerung“ (Morena). „Dann ruiniert er unsere Wirtschaft – dabei geht es Mexiko gerade so gut. Alle kaufen doch. Es gibt keine Krise. Welche Krise?“, fĂ€hrt RamĂłn fort. Seine Worte erinnern an den infamen Ausspruch von Mexikos scheidendem PrĂ€sidenten Enrique Peña Nieto im MĂ€rz 2017: „Wer sagt, wir leben in einem Land in der Krise, der hat diese Krise mit Sicherheit nur im Kopf. Aber das ist nicht das, was hier passiert.“ TatsĂ€chlich befindet sich Mexiko vor den Wahlen am 1. Juli in einem katastrophalen Zustand. Statistiken weisen das Jahr 2017 mit rund 25.000 Ermordeten als das gewaltvollste Jahr der neueren Landesgeschichte aus, die vergangenen Jahrzehnte zĂ€hlen mehr als 35.000 verschwundengelassene Personen. In beiden FĂ€llen ĂŒbertrifft aktuell nur das sich im anhaltenden BĂŒrgerkrieg befindende Syrien die mexikanischen Opferzahlen. Hinzu kommen eine stagnierende Wirtschaft, hohe Straflosigkeit sowie allgegenwĂ€rtiger Korruption. RamĂłn ist dennoch ĂŒberzeugt: Sollte LĂłpez Obrador am 1. Juli die Wahl gewinnen, geht es in Mexiko erst wirklich bergab. AMLO bezeichnet er als „Diktator“, der den „Sozialismus“ in Mexiko einfĂŒhren und der Wirtschaft großen Schaden zufĂŒgen werde.

Zumindest ein Punkt von dem, was RamĂłn sagt, ist unbestritten: Alles deutet darauf hin, dass AMLO die Wahl am 1. Juli gewinnt und nach zwei gescheiterten AnlĂ€ufen in den Jahren 2006 und 2012 – damals noch als Kandidat der sozialdemokratischen PRD – tatsĂ€chlich PrĂ€sident Mexikos wird. Bis zu 52 Prozent der Stimmen werden ihm in einer Umfrage der mexikanischen Tageszeitung Reforma von Ende Mai prognostiziert. Ricardo Anaya, sein schĂ€rfster Konkurrent und Kandidat der klerikal-konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) in Koalition mit der PRD und dem Movimiento Ciudadano, kommt auf lediglich 26 Prozent der Stimmen. Weit dahinter sind Antonio Meade, Kandidat der derzeit noch regierenden PRI, mit 19 Prozent und der unabhĂ€ngige Kandidat Jaime RodrĂ­guez mit nur drei Prozent. Andere Umfragen liefern Ă€hnliche Ergebnisse. Die fĂŒnfte Kandidatin Margarita Zavala zog derweil ihre Kandidatur zurĂŒck und gab die Benachteiligung von unabhĂ€ngigen Kandidat*innen beim Zugang zu Ressourcen und Sendezeit als GrĂŒnde an. Auf eine Wahl-Empfehlung fĂŒr einen der anderen Kandidaten verzichtete die ehemalige Politikerin der PAN und Ehefrau von Ex-PrĂ€sident Felipe CalderĂłn.

Der zweitreichste Mann des Landes rief Mitarbeiter*innen zum Geldsparen auf.

Nach 71 Jahren PRI-Regierung, gefolgt von zwölf Jahren PAN und zuletzt wieder sechs Jahren PRI, scheint Mexiko also zum ersten Mal einen linksgerichteten PrĂ€sidenten zu wĂ€hlen. Bei einer simulierten Wahl innerhalb von sechs UniversitĂ€ten in Mexiko-Stadt kam AMLO sogar auf 70 Prozent der Stimmen. „Zusammen schreiben wir Geschichte“ heißt die Regierungskoalition aus Morena, der Arbeiterpartei PT und der evangelikal-rechten PES. AMLO verkörpere einen Wandel, eine ZĂ€sur, eine Absage an die Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Dies zumindest suggeriert der Name.

Dass AMLO vielen mexikanischen Wirtschaftseliten unangenehm ist, zeigte sich deutlich im Mai. Verschiedene einflussreiche Personen mexikanischer Großkonzerne positionierten sich offen gegen LĂłpez Obrador und schĂŒrten bei ihren Mitarbeiter*innen Angst vor den Folgen seiner möglichen PrĂ€sidentschaft. GermĂĄn Larrea, CEO von Mexikos grĂ¶ĂŸter Bergbau-Firma und zweitreichster Mann des Landes, rief seine Mitarbeiter*innen beispielsweise dazu auf, ihre persönlichen Ausgaben im Auge zu behalten und Geld zu sparen, denn, sollte LĂłpez Obrador die Wahl gewinnen, könne eine wirtschaftliche Schieflage entstehen. Die sozialdemokratischen WirtschaftsplĂ€ne des Morena-Kandidaten (siehe LN 527) bezeichnete er als populistisch, sie wĂŒrden unter anderem Investitionen gefĂ€hrden und den Peso schwĂ€chen. Ähnlich Ă€ußerten sich andere Großkonzerne Mexikos gegenĂŒber ihren Mitarbeit­er*innen. Die PAN schaltete passend zu den Mitteilungen der Konzerne Werbespots, die AMLO mit Hugo ChĂĄvez vergleichen und im Falle seiner Wahl zum PrĂ€sidenten fĂŒr Mexikos Zukunft einen wirtschaftlichen Absturz wie in Venezuela heraufbeschwören. Das Investigativ-Magazin Proceso bezeichnet diese Aussagen als „Angst-Kampagne“ gegen AMLO. Doch auch wenn sie bei manchen Wirkung erzielen, scheinen sie keine ernsthafte Gefahr mehr fĂŒr die Umfragewerte LĂłpez Obradors zu sein. Der PrĂ€sident der Mexikanischen Börse, Jaime Ruiz SacristĂĄn, forderte derweil dazu auf, den Kandidaten zu wĂ€hlen, den man persönlich bevorzuge. Es gebe keinerlei Anzeichen fĂŒr Kursschwankungen oder einen Absturz des mexikanischen Peso, sollte AMLO gewinnen, stellte er klar. Nach einem Treffen Anfang Juni zwischen dem Morena-Kandidaten und dem mexikanischen Wirtschaftsrat (Consejo Mexicano de Negocios), in welchem die grĂ¶ĂŸten Konzerne des Landes vertreten sind, bezeichnete LĂłpez Obrador die GesprĂ€che als „sehr gut“ und stellte trocken klar: „Wir haben Unebenheiten geglĂ€ttet.“

Der Indigene Rat erteilte ihm eine Absage – AMLO sei lĂ€ngst ein weiterer Kandidat des Systems.

Als das GlĂ€tten von Unebenheiten und Absicherung innerhalb einer konservativen Elite ist sicherlich auch die Koalition mit der ultrarechten PES zu bewerten. Dass dies bereits klare Auswirkungen auf die Kampagne LĂłpez Obradors hat, zeigt sich am Thema Abtreibung. In einer kĂŒrzlich veröffentlichten Mitteilung von zivilen Organisationen und individuellen Feminist*innen an alle PrĂ€sidentschafts-Kandidaten fordern diese unter anderem die Ausweitung des Rechts auf legale und kostenlose Abtreibungen. Bisher besteht diese Möglichkeit – mit diversen EinschrĂ€nkungen – lediglich fĂŒr Frauen in Mexiko-Stadt. Doch wĂ€hrend diverse Mitglieder von Morena diese Positionen im Gegensatz zu anderen Parteien unterstĂŒtzen, bezieht AMLO bisher keine Stellung. In einem Interview mit dem Journalisten Jorge Ramos fĂŒr UnivisiĂłn sagte er lediglich vage: „Das mĂŒssen die BĂŒrger lösen. Wir haben vorgeschlagen, dass diese Dinge beratschlagt werden.“ FĂŒr die PES ist hingegen klar, dass sie sich strikt gegen Abtreibungen und ebenso gegen gleichgeschlechtliche Ehen stellt. Einen Schritt in Richtung Gleichstellung stellt immerhin das von AMLO vorgestellte Kabinett vor, welches aus acht Frauen sowie acht MĂ€nnern bestehen soll.

Auch beim Thema Sicherheit gibt es Unklarheiten. Zwar betont LĂłpez Obrador hier vor allem die PrĂ€vention durch bessere Ausbildungschancen und ArmutsbekĂ€mpfung, doch darĂŒber hinaus sollen Polizei- und MilitĂ€rkrĂ€fte innerhalb des Landes zu einer Nationalen Garde zusammengelegt werden. Inwieweit dies Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und MilitĂ€r vorbeugen und zu einer besseren Sicherheit fĂŒhren kann, wird nicht weiter ausgefĂŒhrt. Die Normalisierung der PrĂ€senz von MilitĂ€rs innerhalb dieser Nationalen Garde zur inlĂ€ndischen Sicherheit wirft weitere Fragen auf.

Bei dem Treffen des Kollektivs Ve’i Ñuu Savi in Mexiko-Stadt, welches sich fĂŒr die Rechte und Sprachen der indigenen Bevölkerung einsetzt, lĂ€sst sich nur wenig Enthusiasmus fĂŒr AMLO finden. „Ich werde wahrscheinlich fĂŒr ihn stimmen, aber so richtig weiß ich auch nicht, was ich mir davon erwarten kann“, sagt eines der Mitglieder der Gruppe. Feindseligkeiten zwischen der politisch organisierten indigenen Bevölkerung Mexikos und AMLO gab es schon 2006 aufgrund der damaligen sogenannten „Anderen Kampagne“ (Otra Campaña) der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und bei dieser Wahl durch die AnkĂŒndigung einer unabhĂ€ngigen Kandidatin durch den Nationalen Indigenen Rat (CNI). „Die EZLN war 2006 das ‘Ei der Schlange’. Damals, ganz ‘radikal’, riefen sie dazu auf, nicht abzustimmen und jetzt postulieren sie eine unabhĂ€ngige Kandidatin“, twitterte AMLO Ende 2016. In seinen Kreisen befĂŒrchtete man, die unabhĂ€ngige Kandidatin wĂŒrde das linke Votum spalten. Der CNI wiederum erteilte der UnterstĂŒtzung AMLOs eine Absage, nachdem die indigene Kandidatin MarĂ­a de JesĂșs Patricio, bekannt als Marichuy, wegen mangelnder Unterschriften von UnterstĂŒtzer*innen nicht zur Wahl zugelassen wurde. AMLO sei lĂ€ngst ein weiterer Kandidat des Systems, so die BegrĂŒndung.

„Wer sagt, wir leben in einem Land in der Krise, der hat diese Krise mit Sicherheit im Kopf.“

Selbst vorsichtige Polit-Analyst*innen bezweifeln nicht mehr, dass LĂłpez Obrador die Wahl gewinnen wird. Doch ob die Koalition tatsĂ€chlich gemeinsam Geschichte schreiben wird und eine linke bis sozialdemokratische Politik im Land durchsetzen und Auswege aus der Krise Mexikos finden kann, wird sich erst danach zeigen. ZunĂ€chst wĂ€re der Wahlausgang ein deutliches Zeichen. Ein Zeichen dafĂŒr, dass sich die etablierten Parteien ĂŒber die letzten Jahre eigenstĂ€ndig diskreditiert haben. Ein Zeichen dafĂŒr, dass Gewalt, KriminalitĂ€t, Straffreiheit und Korruption die Mehrheit der Mexikaner*innen dazu bewegt haben, neue Wege zu betreten. Ein Zeichen, dass LĂłpez Obrador und die erst 2014 offiziell anerkannte Partei Morena samt ihrer Koalition zumindest als eine Möglichkeit des Wandels wahrgenommen werden. Und hoffentlich auch ein Zeichen, dass der mexikanische Staat in der Lage ist, das Votum seiner BĂŒrger*innen zu respektieren und einen fĂŒr viele Politik- und Wirtschaftseliten zunĂ€chst unliebsamen Kandidaten gewinnen zu lassen, insofern dieser die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen auf sich vereint. Nach der inzwischen eingestandenen WahlfĂ€lschung 1988 zu Lasten des Kandidaten CuauhtĂ©moc CĂĄrdenas und dem damit verbundenen Sieg des PRI-Kandidaten Carlos Salinas de Gortari, aber auch UnregelmĂ€ĂŸigkeiten bei den vergangenen zwei PrĂ€sidentschaftswahlen, scheint dies die letzte große Unbekannte. Im Falle einer erfolgreichen Wahl hĂ€tte LĂłpez Obrador sechs Jahre Zeit, als PrĂ€sident Mexikos die nationale und internationale politische Landschaft mitzugestalten. Das Land aus seiner derzeitigen Lage zu fĂŒhren und zu einem (geschlechter-)gerechten, sicheren und wirtschaftlich stabileren Land zu machen, bleibt eine Mammutaufgabe und hĂ€ngt sicherlich von mehr als nur dem PrĂ€sidenten ab.

ZIELGERADE MIT HINDERNISSEN

Der noch amtierende PrĂ€sident Enrique Peña Nieto von der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) wird Mexiko in einem desaströsen Zustand an seine*n Nachfolger*in ĂŒbergeben. 2017 war mit 25.000 Ermordeten das blutigste Jahr in der jĂŒngeren Geschichte Mexikos. Die Wirtschaft stagniert und Korruption sowie Straflosigkeit sind allgegenwĂ€rtig. Das ohnehin traditionelle Misstrauen der Mexikaner*innen in die staatlichen Institutionen ist so groß wie nie. Vor allem die PRI, die Mexiko von 1929 bis 2000 und seit 2012 erneut regiert, wird fĂŒr die Misere des Landes verantwortlich gemacht. Magere 21 Prozent Zustimmung zu Peña Nietos Politik bei Umfragen im Februar zeugen von der tiefen Unzufriedenheit.
So verwundert es kaum, dass die PRI mit dem neoliberalen Ökonomen JosĂ© Antonio Meade aus wahltaktischen GrĂŒnden kein Parteimitglied fĂŒr die PrĂ€sidentschaft nominiert hat. Meade hatte unter den PrĂ€sidenten Felipe CalderĂłn – von der konservativen Partei PAN – und Peña Nieto diverse MinisterĂ€mter inne. Inhaltlich steht Meade ebenfalls fĂŒr KontinuitĂ€t. Er plĂ€diert fĂŒr den forcierten Einsatz des MilitĂ€rs im Kampf gegen die immer mĂ€chtigeren Drogenkartelle. Die Telekommunikations- und Energiesektoren möchte er weiter deregulieren und privatisieren. Auch die Freihandelspolitik unterstĂŒtzt er bedingungslos. Wie bei den Lokalwahlen im vergangenen Jahr sehen Prognosen eine Halbierung der Stimmanteile der PRI voraus. In Umfragen liegt Meade meist als Drittplatzierter bei im Schnitt 18 Prozent.

Die in der ablaufenden Legislaturperiode grĂ¶ĂŸten Oppositionsparteien, die konservative PAN und die linke PRD, haben ein WahlbĂŒndnis geschlossen. Diese Links-Rechts-Allianz kann vor allem als Ausdruck der Krise beider Parteien interpretiert werden. Die einst grĂ¶ĂŸte Linkspartei PRD droht nach Korruptionsskandalen und dem Mittragen neoliberaler Reformen auf unter drei Prozent abzustĂŒrzen. Auch die PAN verliert kontinuierlich an Zuspruch und ist fĂŒr viele Mexikaner*innen kaum noch von der PRI zu unterscheiden, weshalb auch ihr eine Halbierung ihrer Stimmanteile auf circa 15 Prozent droht.

Der gemeinsame Kandidat Ricardo Anaya bekleidete schon verschiedene politische Ämter und war zuletzt Vorsitzender der PAN. Zur ArmutsbekĂ€mpfung möchte Anaya ein bedingungsloses Grundeinkommen einfĂŒhren. Als Mittel der Korruptions­bekĂ€mpfung fordert er das Verbot von Bargeld bei behördlichen Transaktionen. GegenĂŒber den USA verspricht er eine Neudefinition der Beziehung auf Augenhöhe und die Verteidigung der Rechte mexikanischer Migrant*innen. In den letzten Umfragen kommt Anaya im Schnitt auf 25 Prozent, weshalb er der einzige Kandidat ist, der dem Favoriten AndrĂ©s Manuel LĂłpez Obrador (nach seinen Initialen in Mexiko nur AMLO genannt) noch gefĂ€hrlich werden könnte. Um AMLOs Wahlsieg zu verhindern, hat Meade daher nicht nur der PRI eine Zusammenarbeit angeboten, sondern fĂŒhrt auch einen aggressiven Wahlkampf gegen seinen Konkurrenten. So richtete sich Anaya wĂ€hrend der ersten TV-Debatte der PrĂ€sidentschaftskandidaten am 22. April an ihn: „Ich respektierte dich, weil du ein wirklicher Gegner des Systems warst.“ Das habe sich jedoch geĂ€ndert, und er wisse nicht, ob der Grund dafĂŒr sein „besessenes Machtstreben“ oder MĂŒdigkeit sei.

AMLO fĂŒhrt schon seit einem Jahr alle Umfragen mit teils 20 Prozent Vorsprung an. Von 2000 bis 2005 war er fĂŒr die PRD Regierungschef des Hauptstadtbezirks Mexiko-Stadt. WĂ€hrend seiner Amtszeit wurde er durch Sozialprogramme, den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und die Reduzierung der KriminalitĂ€tsrate populĂ€r. Nach 2006 und 2012 ist es dieses Jahr sein dritter Anlauf auf das PrĂ€sidentenamt. 2014 grĂŒndete er die Bewegung zur Nationalen Erneuerung (Movimiento RegeneraciĂłn Nacional, kurz Morena) als Partei und politische Plattform fĂŒr seine dritte PrĂ€sidentschaftskandidatur. Morena könnte bei den Wahlen knapp 40 Prozent der Stimmen erreichen.

AMLO sieht sich als Gegenentwurf zur Politik von PRI und PAN, welche er als korrupte Herrschaftsinstrumente der „Mafia der Macht“ bezeichnet. Er verspricht ein Ende der Gewalt in Mexiko, indem er den Fokus von der Repression als Mittel der BekĂ€mpfung von KriminalitĂ€t und Drogenkartellen auf die PrĂ€vention durch Wirtschaftsentwicklung und ArmutsbekĂ€mpfung verlagern möchte. Bei einem Auftritt vor Studierenden in Monterrey verwies AMLO auf die 18 Millionen in Armut lebenden Jugendlichen in Mexiko: „Wir können uns nicht dem Problem der Sicherheit und Gewalt stellen, ohne uns um die Jugendlichen zu kĂŒmmern, ohne ihnen Studien- und Arbeitsmöglichkeiten zu geben.“ Er spricht sich gegen die Privatisierung von Staatseigentum aus und möchte die unter Peña Nieto erfolgte Privatisierung der Ölindustrie rĂŒckgĂ€ngig machen. Im fĂŒr ihn zur Hauptaufgabe erklĂ€rten Kampf gegen Korruption und Straflosigkeit möchte AMLO als eine der ersten Amtshandlungen die Paragrafen streichen, die dem PrĂ€sidenten und anderen hohen AmtstrĂ€gern Freiheit vor Strafverfolgung garantieren. Doch AMLO ist gerade in der mexikanischen Linken nicht unumstritten. So wird sein WahlbĂŒndnis mit der ultrakonservativen evangelikalen Splitterpartei PES kritisiert, die sich strikt gegen die Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe und eine Lockerung der strikten Abtreibungsgesetzgebung ausspricht. Zudem wird ihm Ignoranz gegenĂŒber den KĂ€mpfen der Indigenen vorgeworfen, die sich unter anderem in einer verĂ€chtlichen Haltung gegenĂŒber den Zapatist*innen Ă€ußere.

Zum ersten Mal dĂŒrfen auch unabhĂ€ngige Kandidat*innen bei den PrĂ€sidentschaftswahlen antreten. Nur drei Bewerber*innen erfĂŒllten die anspruchsvollen Anforderungen der mexikanischen Wahlbehörde INE von 866.593 in mindestens 17 Staaten gesammelten Unterschriften, wobei ein Kandidat aufgrund von Unterschriften­fĂ€lschungen nicht zur Wahl zugelassen wurde. Die beiden verbleibenden UnabhĂ€ngigen gelten als chancenlos, könnten jedoch Anaya und Meade wichtige Prozentpunkte streitig machen. Der Law-and-Order-Hardliner Jaime RodrĂ­guez CalderĂłn war bis 2014 Mitglied der PRI. Margarita Zavala ist die Ehefrau des Ex-PrĂ€sidenten Felipe CalderĂłn, der 2006 den mexikanischen Drogenkartellen den Krieg erklĂ€rte. Zavala war bis 2017 Mitglied der PAN, bis sie sich mit Ricardo Anaya wegen dessen autoritĂ€ren FĂŒhrungsstils zerstritt. Die von den Zapatist*innen unterstĂŒtzte Kandidatin des CNI (Nationalen Indigenen Kongresses), MarĂ­a de JesĂșs Patricio MartĂ­nez, genannt ‚Marichuy‘, verfehlte die Anforderungen klar. Die Menschenrechtlerin ist die erste indigene Frau in der Geschichte Mexikos, die fĂŒr die PrĂ€sidentschaft zu kandidieren versuchte.

Letztlich kann nur die formelle und informelle Macht der herrschenden Eliten den Sieg von Morena und LĂłpez Obrador verhindern. WahlauffĂ€lligkeiten und Wahlbetrug sind in Mexiko keine Seltenheit. Der mexikanischen Linken und vor allem AMLO ist das Trauma von 2006 in guter Erinnerung. Damals fĂŒhrte er als Kandidat der PRD alle Umfragen vor der Wahl deutlich an. Am Wahlabend wurde jedoch Felipe CalderĂłn als Sieger gekĂŒrt, mit einem Abstand von 0,6 Prozent. Dies hatte monatelange Proteste im gesamten Land zur Folge. AMLO und die mexikanische Linke haben dieses Ergebnis bis heute nicht akzeptiert.

„FRAUENRECHTE SIND MENSCHENRECHTE“

Die Nachrichten, die uns aus Mexiko erreichen, drehen sich um Verschwundene, um Femizide und den Drogenhandel. Wie ist es, in einem solchen Klima zu arbeiten?
Es gibt kein anderes Gegengewicht zur Regierung als die Zivilgesellschaft und diese ist akut bedroht. Korruption und Straflosigkeit betreffen auch das Gesundheitssystem. In manchen Dörfern gehen die Medikamente aus, weil sie geklaut werden. Es ist wichtig zu zeigen, dass Korruption und Straflosigkeit die tödliche Mischung in allen Bereichen ist. Am meisten leiden darunter die Frauen, die, weit entfernt von den StĂ€dten, kaum finanzielle Mittel haben. Es ist schwierig zu arbeiten, wĂ€hrend das Land in StĂŒcke zerfĂ€llt. Wir kooperieren viel mit Menschenrechtsorganisationen. Zum Beispiel machen wir jetzt ein Projekt zum Thema Straflosigkeit, das zeigen soll, dass es egal ist, an welchem Thema du arbeitest. Ob es um Migration, Mord, Verschwindenlassen oder Abtreibung geht – die Mechanismen der Straflosigkeit sind die gleichen.

Wie sieht Ihre Arbeit in der Praxis aus?
GIRE hat einen Bereich fĂŒr Rechtsstreitigkeiten eröffnet. Wir nehmen FĂ€lle an, begleiten, dokumentieren sie und fĂŒhren Gerichtsprozesse. Dadurch sind wir in engem Kontakt mit den Frauen. Die FĂ€lle sind fast nie in Mexiko-Stadt, sodass wir viel durch das ganze Land reisen. Wenn es einen Fall gibt, betreuen wir ihn. Ein Grund einen Fall nicht anzunehmen wĂ€re höchstens, wenn die Frau genug Geld hat, selbst einen Anwalt zu bezahlen. Schwierig ist auch, wenn die Taten sehr lange zurĂŒckliegen, dann kann man rechtlich oft nichts mehr machen. Auch kĂ€mpfen wir fĂŒr GesetzesĂ€nderungen im Kongress und organisieren Kampagnen, denn der öffentliche Druck hilft bei der rechtlichen Aufarbeitung schon sehr. Wir machen öffentlich, dass es um Muster, nicht um EinzelfĂ€lle geht. Der klassische Fall ist der der indigenen, armen Frau, die stirbt, schlecht behandelt oder der die Abtreibung verweigert wird.

Wie können diese MissstÀnde behoben werden?
Ein wichtiger Schritt ist, dass wĂ€hrend der medizinischen Schwangerschaftsbegleitung ĂŒber Gewalt gesprochen wird. Die Frauen und die Ärzte sollen wissen, dass es nicht normal ist, dass Frauen der Zugang zu Kliniken verwehrt wird, sie mit niemandem in ihrer Sprache sprechen können. Viele erleiden schreckliche Grausamkeiten, von Überdosierung von Medikamenten, DemĂŒtigung, SchlĂ€ge. Und das in einem Moment grĂ¶ĂŸter körperlicher und psychischer Verwundbarkeit. Es muss öffentlich gemacht werden, was in den KrankenhĂ€usern passiert. Es ist die schlimmste Art von Machismus, weil sich die Frau in diesem Moment nicht verteidigen kann.

Was verbindet die meisten FĂ€lle, die Sie begleiten?
In fast allen FĂ€llen geht es um Vergewaltigung. Manchmal sind es junge MĂ€dchen, die von Verwandten oder Nachbarn vergewaltigt wurden und schwanger sind. Sie bitten um legale Abtreibung. Wir ĂŒbernehmen ihre Verteidigung, verklagen die örtliche Verwaltung wegen Vorenthaltung medizinischer Grundversorgung. Wir haben Klagen gegen Bundesstaaten eingereicht. Diese FĂ€lle haben wir nicht gewonnen. Die Richter sagen, dass die Frau die Schwangerschaft fortsetzen mĂŒsse, um den Fall zu gewinnen. Immerhin haben wir erreicht, dass Frauen ihren Vergewaltiger – manchmal den eigenen Vater – nicht mehr anzeigen mĂŒssen und MinderjĂ€hrige nicht mehr das EinverstĂ€ndnis ihrer Eltern benötigen, um abtreiben zu dĂŒrfen. Die politische Rechte hat Einspruch eingelegt, die Entscheidung liegt jetzt beim Obersten Gericht. Das Schlimme ist, dass so viele MĂ€dchen dazu gezwungen werden, sehr jung MĂŒtter zu werden, das Risiko einer frĂŒhen Geburt zu tragen und die Schule abzubrechen.

Warum stellt sich die Politik so gegen die Legalisierung von Abtreibung?
Ich glaube, es ist ideologisch motiviert. Viele können nicht tolerieren, dass eine Frau nicht Mutter sein will. Es gibt diese Wahrnehmung, dass die Mutterschaft ein Geschenk Gottes ist, ĂŒber das man sich freuen muss. Es gibt viel Druck von Seiten verschiedener Kirchen und Konservativer, die glauben, dass du das Leben ab EmpfĂ€ngnis respektieren musst. Der politische Wille von oben fehlt, zu sagen, dass Mexiko ein laizistischer Staat ist und es die Option geben muss, auf legale und sichere Weise abzutreiben.

Haben Sie schon konkrete Angriffe auf Ihre Organisation erlebt?
Unsere Internetseite wurde angegriffen, wir haben Briefe bekommen, dass wir Kindermörder*innen seien, solche Sachen, aber mehr zum GlĂŒck noch nicht. Schwierig ist, dass die Frauen, die wir verteidigen, manchmal bedroht werden. Ich weiß nicht, wie ihre IdentitĂ€t bekannt wird, wahrscheinlich durch die lokalen Behörden selbst. Jemand bietet ihnen Geld an fĂŒr ein Video, in dem sie behaupten sollen, dass GIRE sie gezwungen habe abzutreiben. Das ist besorgniserregend. Deshalb mĂŒssen wir sehr eng mit den Familien zusammenarbeiten, Vertrauen aufbauen. Wir haben auch ein Sicherheitsprotokoll fĂŒr alles. Zum Beispiel reisen wir nicht mehr nach MichoacĂĄn, Tamaulipas und Sinaloa. Es ist schrecklich, einer Frau zu sagen, dass wir sie nicht begleiten können. Wir suchen dann nach anderen Wegen, um ihnen in ihren Bundesstaaten zu helfen.

Wie schÀtzen Sie die aktuelle politische Situation ein?
Ich bin besorgt darĂŒber, was im nĂ€chsten Jahr bei den Wahlen passieren wird. Die PRI (Partei der institutionellen Revolution, Anm. d. Red.) ist absolut korrupt. AndrĂ©s Manuel LĂłpez Obrador von Morena (Bewegung der nationalen Erneuerung, Anm. d. Red.) ist auch nicht unser Freund. Zwar will niemand die PRI. Aber die Alternative ist fĂŒr Frauen auch nicht ĂŒberzeugend. Neulich wurde LĂłpez Obrador in einem Interview gefragt, ob er Feminist sei und hat geantwortet, dass die Frauen „den Himmel verdienen“. Es ist traurig.

Was mĂŒsste passieren, damit sich die Situation fĂŒr die Frauen verbessert?
Legalisierung von Abtreibung. Gute medizinische Versorgung. Die Möglichkeit, Armut nicht dein Leben bestimmen zu lassen. Vor allem die Entnormalisierung von Gewalt gegen Frauen. Nicht mehr stĂ€ndig in der Defensive sein zu mĂŒssen, alltĂ€gliche Entscheidungen frei von Angst treffen zu können. Es ist im internationalen Kontext wichtig, SolidaritĂ€t zu zeigen. Das gibt den Organisationen in Mexiko Kraft. Ein Gegengewicht zur offiziellen Version muss her. FĂŒr uns war dieser Preis sehr wichtig. Normalerweise bekommt das Thema Frauenrechte nicht viel Aufmerksamkeit.

 

MEXIKANISCHER KREUZWEG

In kaum einem Land der Welt dĂŒrfte dem Amtsantritt Donald Trumps Ă€hnlich entgegen- gezittert worden sein wie in Mexiko. Die AnkĂŒndigung des neuen US-PrĂ€sidenten, Millionen illegalisierte Mexikaner*innen aus den USA abzuschieben und eine durchgehende Grenzmauer zu errichten, erhitzt die GemĂŒter. Ebenso die Ungewissheit, wie sich Trumps protektionistische PlĂ€ne auf die mexikanische Wirtschaft auswirken, die aufgrund ihrer strukturellen AbhĂ€ngigkeit ungemein anfĂ€llig ist fĂŒr Turbulenzen im Nachbarland. Das mexikanische Boulevardblatt El GrĂĄfico titelte am Tag nach der Wahl Trumps mit fetten gelben Buchstaben: „FUUUCK!“. Und als dieser Ende Februar Anspielungen auf eine vermeintliche Sicherheitskrise in Schweden machte, fragte die ĂŒberregionale Tageszeitung La Prensa auf ihrer Titelseite: „Was hat der denn geraucht?“.

Die bilateralen Beziehungen erreichten bereits kurz nach Trumps Amtsantritt einen neuen Tiefpunkt.

Es war nicht der erste Selbstmord, als sich am Morgen des 21. Februar ein 40-jĂ€hriger Mexikaner, der aus den USA abgeschoben worden war, von einer BrĂŒcke in der Grenzstadt Tijuana in den Tod stĂŒrzte. Doch die Verzweiflungstat steht symptomatisch fĂŒr die aktuelle Situation. Ebenso die neu aufkommende Unsicherheit des indigenen Stammes der Tohono O’odham darĂŒber, wie sie mit einer Mauer umzugehen haben, die ihr Territorium durchschneidet.

Die bilateralen Beziehungen erreichten bereits kurz nach Trumps Amtsantritt einen neuen Tiefpunkt. Geleakte Ausschnitte aus einem vertraulichen TelefongesprĂ€ch zwischen dem mexikanischen StaatsprĂ€sidenten Enrique Peña Nieto und seinem neuen Amtskollegen offenbarten, dass der Nachbar damit drohte – ob im Scherz oder im Ernst ist unklar – die eigene Armee auf mexikanisches Territorium zu schicken, falls Mexiko mit dem Gewalt- und Drogenproblem der organisierten KriminalitĂ€t nicht eigenstĂ€ndig zurecht kommen werde: „Ich glaube, Ihre Armee hat Angst. Unsere nicht; ich könnte sie dorthin schicken, damit sie sich [um die ‚bad hombres‘] kĂŒmmert“, soll Trump gesagt haben.
Diese Äußerungen lassen schlimmste nationale OhnmachtsgefĂŒhle aufleben. WĂ€hrend des Kriegs 1846-1848 besetzen US-Truppen das Land, Mexiko kapitulierte und musste mehr als die HĂ€lfte seines Gebietes an die USA abtreten.

Nur wenige Tage nach dem Telefonat folgte eine MilitĂ€roperation der mexikanischen Marine, die seit einigen Jahren im Inneren des Landes zur BekĂ€mpfung der organisierten KriminalitĂ€t eingesetzt wird. Mit einem Black-Hawk-Hubschrauber – der normalerweise in Kriegsgebieten wie Irak oder Afghanistan eingesetzt wird – wurde der AnfĂŒhrer des BeltrĂĄn-Leyva-Kartells zusammen mit sieben weiteren MĂ€nnern regelrecht niedergemĂ€ht. Mit der Aktion, auf die weitere folgten, sollte dem nördlichen Nachbarn signalisiert werden, dass man sehr wohl in der Lage sei, die eigenen Problemen zu lösen.

Mitte MĂ€rz wurde die bisher grĂ¶ĂŸte Anzahl an geheimen MassengrĂ€bern entdeckt.

Das Gelingen darf bezweifelt werden. Seit 2006 die extrem konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) das MilitĂ€r in den Kampf gegen die Drogenkartelle schickte, versinkt das Land immer weiter in der Gewalt. Die 2012 gewĂ€hlte RevolutionĂ€re Institutionelle Partei (PRI) – der Inbegriff einer korrupten, skrupellosen Partei – fĂŒhrte das Gleiche fort. Medienwirksam kam es immer wieder zu Verhaftungen oder Tötungen von Kartellbossen. GeĂ€ndert hat sich wenig, viel zu tief ist die Verstrickung der politischen Eliten und deren Handlanger bei Polizei und Armee in die illegalen MilliardengeschĂ€fte. Dass sich unter den geschĂ€tzten 200.000 Toten – verlĂ€ssliche offizielle Zahlen gibt es nicht – „nur“ 489 Soldat*innen befinden, lĂ€sst außerdem RĂŒckschlĂŒsse auf Dynamiken und Strategien der Regierungspolitik zu. Die allgemeine Bevölkerung gilt per se als Zielscheibe, ungestraft darf auf sie geschossen werden. Und selbst in den FĂ€llen, bei denen es sich um Kriminelle handelt: In einem funktionierenden Rechtsstaat hĂ€tten auch sie den Anspruch auf ein faires juristisches Verfahren.

Aktuellster Beleg fĂŒr die tiefe Krise Mexikos ist die Entdeckung der bisher grĂ¶ĂŸten Anzahl an geheimen GrĂ€bern mit menschlichen Überresten Mitte MĂ€rz im Bundesstaat Veracruz. Verantwortlich fĂŒr die Funde ist die Organisation Colectivo Solecito, gegrĂŒndet von MĂŒttern, die nach verschwundenen Angehörigen forschen. Die gemeinsame Suche mit der Staatsanwaltschaft begann bereits im August vergangenen Jahres, nach einem Tipp aus der Organisierten KriminalitĂ€t: Auf einem Blatt Papier waren mit Kreuzen am Hafen von Veracruz, rund um die Wohnsiedlung Colinas de Santa Fe, ĂŒber 120 geheime GrĂ€ber eingezeichnet worden. Mehr als 250 menschliche SchĂ€del und ĂŒber zehntausend Knochenreste wurden gefunden. Die Anzahl an menschlichen Überresten lĂ€sst darauf schließen, dass die Zahl der Opfer viel höher als 250 ist. Unter den bisher nur sehr wenigen identifizierten Überresten befinden sich die eines Staatsanwalts und dessen SekretĂ€rin, die 2013 von korrumpierten Polizisten entfĂŒhrt worden waren. Der international bekannte und mit Menschenrechtspreisen ausgezeichnete katholische Priester Solalinde kommentierte den Fall so: „Das ist nichts im Vergleich zu dem, was noch kommt.“

Hoffnungsvoll sieht ein Teil der mexikanischen Linken die PrĂ€sidentschaftswahlen im Juni 2018. Die 2014 gegrĂŒndete Mitte-Links-Partei MORENA (Bewegung der Nationalen Erneuerung) hat Chancen, das Rennen fĂŒr sich zu entscheiden, und damit auch, wenigstens offiziell, den Krieg im Land zu beenden. Erstmals zugelassen zur Wahl sind auch unabhĂ€ngige Kandidat*innen. Am interessantesten scheint eine indigene PrĂ€sidentschaftskandidatin zu sein, die noch aus den Reihen des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI) bestimmt wird, mit dem Ziel zivilgesellschaftliche Mobilisierung zu stĂ€rken und politischen Wandel anzuregen (siehe LN 512). Der CNI agiert unabhĂ€ngig, wurde aber 1996 von der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) gegrĂŒndet.

Der PrĂ€sidentschaftskandidat von MORENA, AndrĂ©s Manuel LĂłpez Obrador, versucht dagegen bereits zum dritten Mal in Folge sein GlĂŒck. Ein Unterschied zu den Wahlen von 2006, als er seinem Widersacher Felipe CalderĂłn um 0,5 Prozentpunkte unterlag und bei denen gemeinhin von Wahlbetrug ausgegangen wird, ist vor allem in seiner medial-politischen Strategie zu sehen. Er klingt nicht nur wesentlich moderater in Interviews, sondern sucht bewusst den Schulterschluss mit Prominenten aus dem politischen und wirtschaftlichen Establishment Mexikos, die er in den letzten Wochen nach und nach in sein Team geholt hat.

Sollte es Trump gelingen, den Ausweg USA abzuriegeln, verschÀrft das die soziale Lage zusÀtzlich.

Zu ihnen zĂ€hlt zum Beispiel Esteban Moctezuma BarragĂĄn, den LĂłpez Obrador als Verantwortlichen fĂŒr den Regierungsbereich Soziale Entwicklung benannte. BarragĂĄn hatte das Amt bereits unter dem PRI-StaatsprĂ€sidenten Ernesto Zedillo (1994-2000) inne. 1995 war er maßgeblich dafĂŒr verantwortlich, den Verrat an den FriedensgesprĂ€chen organisiert und der Generalkommandantur der EZLN eine militĂ€rische Falle gestellt zu haben. Ebenso wurde Alfonso Romo in AMLOs Schattenkabinett berufen. Der reiche Unternehmer ist unter anderem GrĂŒnder des Biotechnologiekonzerns Grupo Pulsar. Dieses war Anfang der 2000er Jahre maßgeblich daran beteiligt die BiodiversitĂ€t des Urwaldgebiets Selva Lacandona, damals wie heute Stammgebiet der EZLN, zu privatisieren.

Mitte MĂ€rz befand sich LĂłpez Obrador in den USA, um unter den dort lebenden mexikanischen Migrant*innen auf Stimmenfang zu gehen. Zugleich machte er bei der neuen US-Regierung Eigenwerbung: Mit ihm als PrĂ€sidenten sei es weitaus einfacher, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, das seit 1994 in Kraft ist, neu auszuhandeln. Trumps erklĂ€rtes Ziel trifft sich hier mit einer alten Forderung der mexikanischen Linken (und Teilen der US-amerikanischen), wenn auch unter anderen Vorzeichen. Von NAFTA profitiert hat auf mexikanischer Seite vor allem die Makroökonomie, der versprochene flĂ€chendeckende trickle-down-Effekt hinunter zu den armen Bevölkerungsschichten ist ausgeblieben. Vor allem auf dem Land hat NAFTA die Armut befördert: Mit den subventionierten US-Exporten wie Mais, Weizen und Bohnen konnten die kleinbĂ€uerlichen Produzent*innen nie mithalten, viele mussten aufgeben. Doch auch in den StĂ€dten ist die Kehrseite von weltmarktbasierten Preisen auf Grundnahrungsmittel wie Tortillas, die immer wieder starken Schwankungen unterliegen, im Geldbeutel oder Magen spĂŒrbar. Als Nebeneffekt steht dem (inter)nationalen Niedriglohnsektor ein Reservoir an völlig mittellosen, meist jungen Bevölkerungsgruppen zur VerfĂŒgung – und ebenfalls den Drogenkartellen. Sollte es Trump tatsĂ€chlich gelingen, den Ausweg USA weitgehend abzuriegeln, verschĂ€rft das die soziale Situation weiter. GrĂŒnde, NAFTA dringend neu zu verhandeln, gibt es genĂŒgend. Verhandlungen auf Augenhöhe werden es sicherlich nicht sein.

Zweifellos um endlich einmal das Staatszepter in den HĂ€nden halten zu können, begibt sich die institutionalisierte Linke auf wackeliges Terrain. Ein wirklicher Bruch mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik ist angesichts der fragwĂŒrdigen Parteipersonalien bei MORENA kaum vorstellbar. Andererseits hat Mexiko nach elf Jahren AbwĂ€rtsgang unter den PrĂ€sidenten CalderĂłn und Peña Nieto kaum noch etwas zu verlieren. So setzen weite Teile der organisierten Zivilgesellschaft und wichtige Persönlichkeiten auf LĂłpez Obrador. So auch Pater Solalinde, fĂŒr den MORENA und Obrador „das letzte Mittel sind, um Mexiko friedlich in Ordnung zu bringen. Wenn er versagt oder er dazu gebracht wird zu versagen, oder verhindert wird, dass er gewinnt, dann wird das, was kommt, schlimmer sein.“ Gottvertrauen klingt anders.

LEICHTES RUCKELN STATT BEBEN

Es war eine Frage der Ehre, mindestens. Eine Massendemonstration sollte es werden, ein eindeutiges Zeichen der Mexikaner*innen gegen den respektlosen Umgang von US-PrĂ€sident Donald Trump mit ihrem Land und ihren Landsleuten. Ganz Mexiko auf der Straße gegen dessen Plan einer Grenzmauer, gegen Abschiebungen aus den USA, gegen die pauschale Beschimpfung als „Vergewaltiger und Kriminelle“. Der Initiative #VibraMĂ©xico („Mexiko erbebt“) gelang es schnell, UnterstĂŒtzung zu finden. Knapp 90 Organisationen aller Couleur, darunter Oxfam und Amnesty International sowie die grĂ¶ĂŸten UniversitĂ€ten des Landes, auch die Autonome Nationale UniversitĂ€t (UNAM), traten dem BĂŒndnis bei.

Protest gegen Trump „ohne Demagogie und Hurrapatriotismus“.

Die Ausrichtung schien massentauglich, pathetisch- patriotische AllgemeinplĂ€tze statt politischer Positionierung waren angesagt. „Aus Respekt und Liebe zu Mexiko“ sei die Initiative geboren, „unparteiisch, friedlich und respektvoll“ solle der Marsch am 12. Februar „die Rechte aller verteidigen, eine gute Regierung einfordern und den Stolz feiern, mexikanisch zu sein“, so der Aufruf. Wer konnte da noch ruhigen Gewissens zu Hause bleiben?

„Wir!“, hatten schon etliche studentische Gruppen der UNAM im Vorfeld angekĂŒndigt. Sie kritisierten zunĂ€chst die Entscheidung des Rektors der UNAM, Enrique Graue, die Aktion im Namen der UniversitĂ€t ohne vorherige Befragung ihrer Mitglieder zu unterstĂŒtzen. In einem offenen Brief gingen die Studierenden dann auch auf den Protestmarsch direkt ein, den sie als UnterstĂŒtzung der Regierung unter dem Deckmantel der „nationalen Einheit“ bewerteten. Protest gegen Trump mĂŒsse „ohne Demagogie und Hurrapatriotismus“ einhergehen. Auch andere regierungskritische Organisationen und Intellektuelle lehnten eine Beteiligung an dem ProtestbĂŒndnis ab. Sie kritisierten die Beteiligung von regierungsnahen Organisationen und Politiker*innen. Diese hĂ€tten ein Interesse daran, den Unmut ĂŒber Trump in eine RĂŒckendeckung fĂŒr die unpopulĂ€re mexikanische Regierung der RevolutionĂ€ren Institutionellen Partei (PRI) umzumĂŒnzen. Diese hat nach der drastischen Erhöhung der Benzinpreise (siehe LN 512) eine Zustimmungsrate von nur noch zwölf Prozent. So Ă€ußerte sich der katholische Priester Alejandro Solalinde, Menschenrechtsverteidiger insbesondere fĂŒr Migrant*innen, besorgt ĂŒber die unkritische UnterstĂŒtzung von #VibraMĂ©xico. „Ich bedauere es sehr, dass Personen mit so viel moralischer Anerkennung und AutoritĂ€t in einem von Televisa, der PRI und der PAN organisierten Marsch mitmachen“, so Solalinde (PAN war Regierungspartei von 2000-2012, Anm. d. Red.).

Pathetisch-patriotische AllgemeinplÀtze statt politischer Positionierung

TatsĂ€chlich zĂ€hlen vor allem rechte und regierungsnahe Medien, WirtschaftsverbĂ€nde und Organisationen zu den Initiator*innen von #VibraMĂ©xico. Dazu zĂ€hlt neben dem TV-Giganten Televisa auch die Organisation Mexicanos Primero. Diese steht federfĂŒhrend hinter derneoliberalen Bildungsreform, gegen die sich die Gewerkschaft der Lehrer*innen (CNTE) weiter vehement wehrt (siehe LN 509). AndrĂ©s Manuel LĂłpez Obrador, Chef der Linkspartei MORENA und erneut PrĂ€sidentschaftskandidat fĂŒr 2018, sonst nicht um ein Wort zur Verteidigung mexikanischer SouverĂ€nitĂ€t gegenĂŒber den USA verlegen, vermied es geflissentlich, auch nur ein Wort ĂŒber #VibraMĂ©xico zu verlieren.

Das Beben blieb am Tag der Wahrheit aus. Nach Angaben der Initiative folgten 40.000 Menschen in 21 StĂ€dten dem Aufruf, davon 20.000 in Mexiko-Stadt – eher bescheiden angesichts der Vielzahl an potenten UnterstĂŒtzungsorganisationen und ihres Anspruchs, das ganze Land auf die Straße zu holen. Gerade fĂŒr die VerhĂ€ltnisse der demonstrationserprobten Hauptstadt war es alles andere als die erhoffte Massendemonstration. Zum Vergleich: Die LGBTIQ*-Parade im letzten Jahr hatte das Zehnfache an Menschen auf die Straßen von Mexiko-Stadt gelockt. Und es kamen auch deutlich weniger Teilnehmer*innen als bei den Januar-Protesten gegen die Regierung von PrĂ€sident Enrique Peña Nieto anlĂ€sslich des Anstiegs der Benzinpreise, dem gasolinazo. Allein in Guadalajara, der zweitgrĂ¶ĂŸten Stadt Mexikos, waren am 22. Januar 40.000 Menschen auf die Straße gegangen.

Das Beben blieb am Tag der Wahrheit aus.

Und wĂ€hrend die Gasolinazo-Demonstrationen tatsĂ€chlich sozial sehr heterogen zusammengesetzt waren, war am 12. Februar vor allem die obere Mittelschicht prĂ€sent, um gegen Trump zu protestieren. Was auf Plakaten und Schildern zu sehen war, entsprach weitestgehend den WĂŒnschen der Organisator*innen: Gegen Trump – gern als Hitler oder Anti-Christ dargestellt –, die Mauer und Abschiebungen sowie Einforderung von Respekt; beliebteste Accessoires waren bei weitem die mexikanische Fahne und Luftballons in den Nationalfarben. Reden gab es keine, die hĂ€ufig intonierte Nationalhymne musste ausreichen. Bestimmte bei den vorherigen Protesten die regierungsfeindliche Parole „Peña raus!“ den Ton, dominierten nun patriotische „¡MĂ©-xi-co, MĂ©-xi-co!“-Sprechchöre – auch, um aufkommende Anti-Peña-Rufe zu ĂŒbertönen. Dennoch nutzten einige Menschen die Gelegenheit, ihren Unmut gegenĂŒber der eigenen Regierung auf Plakaten auszudrĂŒcken: „Das grĂ¶ĂŸte Problem Mexikos ist die Korruption“ oder „Ob mit oder ohne Mauer – zu Hause werden wir ausgeraubt“ lauteten einige Slogans. Keinen Erfolg hatten aber jene, die in grĂ¶ĂŸerem Stil protestieren wollten. Eine Gruppe mit Musikwagen und Plakaten gegen den mexikanischen PrĂ€sidenten wurde sofort von der Polizei eingeschlossen. Die dahinter folgende Gruppe von Akademiker*innen der UNAM musste dadurch eine ungewollte Pause einlegen. Ein paar der wenigen anwesenden Studierenden nahmen dies zum Anlass, ihren Rektor Graue direkt zu fragen: „Wo war die UniversitĂ€tsbĂŒrokratie, als wir wegen Ayotzinapa (Bezug auf die verschwundenen 43 Studenten, siehe LN 507/508, Anm. d. Red.) auf die Straße gegangen sind?“ Als Graue dann auch noch ein Foto mit den Initiator*innen der Demonstration machte, fragte ein Journalist der Tageszeitung La Jornada: „Wann werden Sie ein Foto mit den Eltern von Ayotzinapa machen?“ Graue musste auch in den folgenden Tagen noch einige Kritik fĂŒr die institutionelle UnterstĂŒtzung seiner UniversitĂ€t an #VibraMĂ©xico einstecken.

Die Initiator*innen hinter #VibraMĂ©xico haben ihr Mobilisierungspotential trotz der weit verbreiteten Wut gegen Trump ĂŒberschĂ€tzt. Es macht jedoch Hoffnung, wenn sich diese Wut angesichts der tiefen Krise des Landes nicht massenhaft gegen einen Ă€ußeren „gemeinsamen“ Feind kanalisiert – zumindest noch nicht. Erste Boykottaufrufe gegen US-Produkte hatten wenig Erfolg. Im Gegenteil, viele progressive Stimmen wenden sich dezidiert gegen die Burgfrieden- Absichten der regierungsnahen oder staatsaffirmativen Organisationen. Denn Anlass fĂŒr Massenproteste gegen die VerhĂ€ltnisse im eigenen Land gibt es zuhauf.

PARTEILOS, WEIBLICH, INDIGEN

Nach monatelangen Basisbefragungen in zahlreichen Regionen Mexikos hat der autonom und basisdemokratisch organisierte Nationale Indigene Kongress (CNI) beschlossen, eine indigene Frau aus den Reihen des CNI als PrĂ€sidentschaftskandidatin aufzustellen. Die Kandidatin wird explizit keiner politischen Partei angehören, sondern soll als Sprecherin und ausfĂŒhrende Kraft eines ebenfalls parteiunabhĂ€ngigen Indigenen Regierungsrates fungieren, in dem Vertreter*innen aller 62 indigenen Bevölkerungsgruppen Mexikos vertreten sein sollen.

Konzentrierte Gesichter: Zapatistas sind bekannt fĂŒr ihre ungewöhnlichen Strategien (Foto: Tejemedios)

Die zentralen Forderungen des CNI fĂŒr das durch Gewalt, Korruption, Ausbeutung, Diskriminierung und Medienmanipulation zerrissene Land sind die Einhaltung aller Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und Respekt fĂŒr sexuelle PrĂ€ferenz, die demokratische Selbstverwaltung in allen Gesellschaftssektoren, die Kontrolle der Produktionsmittel, der LĂ€ndereien und der Dienstleistungen durch die im jeweiligen Bereich arbeitenden Menschen, das Recht auf kostenlose laizistische Bildung, solidarische Gesundheitsversorgung, erschwinglicher Wohnraum, Glaubens- und Meinungsfreiheit sowie ein konsequenter Naturschutz.

Der CNI wurde 1996 auf Initiative der EZLN gegrĂŒndet, er ist die einzige landesweite autonome Vernetzungsstruktur der Indigenen und verpflichtet sich radikaldemokratischen Prinzipien. Dies bedeutet, dass alle FunktionstrĂ€ger*innen jederzeit ersetzt werden können, wenn sie ihre Arbeit nicht zur Zufriedenheit ihrer Basis ausfĂŒhren. Der geplante Indigene Regierungsrat soll Ende Mai konstituiert werden und versteht sich keineswegs nur als Vertretung der indigenen, sondern aller marginalisierten Bevölkerungssektoren und hat eine klare linke und antikapitalistische Ausrichtung.

Bei den kommenden PrĂ€sidentschaftswahlen 2018 ist es zum ersten Mal möglich, parteilose Kandidat*innen ins Rennen zu schicken. Die Realisierung der Kandidatur einer Vertreterin des CNI ist allerdings nicht einfach. Es gibt bĂŒrokratische HĂŒrden, in 120 Tagen mindestens 820.000 Unterschriften von Wahlberechtigten in mindestens 17 von 32 Bundesstaaten zu sammeln. Zudem ist seitens des Staates und der ökonomischen Eliten mit Repression sowie mit medialen Desinformationskampagnen zu rechnen. Auch wenn die Chancen auf einen Wahlsieg sehr gering sind, erhoffen sich die Aktivist*innen einen enormen Mobilisierungs- und Organisierungsschub fĂŒr die mexikanische Linke jenseits der korrupten institutionellen Sozialdemokratie, eine bisher nicht dagewesene Sichtbarmachung zahlreicher sozialer und ökologischer Probleme im Land sowie eine Verbreitung basisdemokratischer Politikpraktiken. „Es ist an der Zeit, dass die WĂŒrde dieses Land und diese Welt regieren – und mit ihr werden Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit erwachsen“, so CNI und EZLN in ihrer ErklĂ€rung vom 1. Januar 2017.

Es ist mit Repression und Desinformation zu rechnen.

Die etablierten sozialdemokratischen Parteien reagierten mit harten Worten auf den Vorstoß von CNI und EZLN. John Ackermann, ehemaliger Weltbankberater und heute loyaler UnterstĂŒtzer des mehrfach erfolglosen sozialdemokratischen PrĂ€sidentschaftskandidaten AndrĂ©s Manuel LĂłpez Obrador (frĂŒher fĂŒr Partei der Demokratischen Revolution PRD, heute Chef der Partei Bewegung zur Nationalen Erneuerung MORENA) bemĂŒhte einmal mehr Verschwörungstheorien: „Ist es nicht so, dass der Wechsel der Taktik der Zapatistas [die Aufstellung einer unabhĂ€ngigen indigenen PrĂ€sidentschaftskandidatin, Anm. d. A.] eine KontinuitĂ€t ihrer langjĂ€hrigen politischen Strategie darstellt, um die Linke zu spalten und mit den MĂ€chtigen zu verhandeln?“ Vom CNI und der EZLN wurde mehrfach klargestellt, dass es beide Organisationen keine politische Partei werden und dass die PrĂ€sidentschaftskandidatin in keinem Falle von den Zapatistas gestellt wird, die weiterhin auf den Ausbau ihrer De-facto-Autonomie im sĂŒdmexikanischen Chiapas setzen und beachtliche Verbesserungen der LebensqualitĂ€t in ihren rund 1.000 Gemeinden erreichen konnten.
Nationaler Indigener Kongress von CNI und EZLN streben mit eigener PrĂ€sidentschaftskandidatin antikapitalistische Basisdemokratie fĂŒr ganz Mexiko an. Die zapatistische Bewegung unterstĂŒtzt den Beschluss des CNI ausdrĂŒcklich. EZLN-Sprecher Subcomandante MoisĂ©s unterstrich in seiner abschließenden Rede, die auf tosenden Beifall stieß: „Der Kapitalismus plĂŒndert, zerstört und unterdrĂŒckt auf der ganzen Welt Mensch und Natur. Der CNI hat entschieden, auf zivile und friedliche Weise zu kĂ€mpfen. Seine Ziele sind gerecht und nicht zu leugnen. Wir als Zapatistas werden den CNI unterstĂŒtzen.“