EIN KOFFER VOLLER GEGENSÄTZE

Über vier Jahre haben die Fans von Chico Trujillo auf das neue und inzwischen achte Album der chilenischen Band warten müssen. Die derzeit 14-köpfige Cumbia-Combo um den Bandleader und Sänger Aldo Asenjo (aka Macha) hatte sich nach La reina de todas las fiestas (siehe LN 499) ordentlich Zeit genommen. Doch das Warten hat sich gelohnt: Mambo Mundial ist vom ersten Takt an als typischer Chico-Trujillo-Sound zu erkennen und bringt trotzdem ganz unterschiedliche neue Einflüsse mit sich.
So wirken der Eröffnungssong „Que Me Coma el Tigre“, aber auch der immer schneller gespielte Klassiker „El Eléctrico“ vertraut und dennoch nicht langweilig. Sie verbreiten genau die Stimmung, für die Chico Trujillo schon seit 20 Jahren bekannt sind: Ausgelassenheit, gute Laune, Wärme und den gemeinsamen Spaß an der Musik. Gute 40 Minuten Unterhaltung bietet Mambo Mundial mit insgesamt 11 Songs, von denen manche gegensätzlicher kaum sein könnten. Da geht es vom psychedelischen, langsam auslaufenden „Vives Pensando en la Droga“ bis zum ausgelassenen 6-Minüter „A Mi Negra“, in dem der italienisch-chilenische Keyboarder Camilo Salinas die ein oder andere Einlage feiert. Da sind zum einen Nummern mit traditionellen lateinamerikanischen Rhythmen wie „Pobre Caminante“ oder „Amor y Libertad“ in Zusammenarbeit mit den kolumbianischen Cumbialegenden Los Gaiteros de San Jacinto & Son Rompe Pera. Zum anderen mutet die auf Englisch und Spanisch gesungene Hip-Hop-Nummer „Teclitas y Niños“ modern und elektronisch an. In vielen Songs dominieren die unterschiedlichen Stimmen der Band, während ein Lied wie „Caballo Carioca“ ganz ohne Gesang überzeugt.
Mambo Mundial ist – wie es schon das Albumcover ankündigt – ein vollgepackter Musikkoffer, in dem für jede*n etwas dabei ist: Von traditionellen Balladen und klassischen Cumbiaklängen bis hin zu modernen Hip-Hop- und elektronischen Einflüssen. Dabei bleibt das Album nicht ohne politische Aussagen. Die Texte betonen immer wieder die Bedeutung gegenseitiger Solidarität, sozialer Bewegungen und schildern die Realität der einfachen Menschen. Auch die Themen Liebe, Landleben und Freiheit, schon aus früheren Texten der Band bekannt, tauchen in den Songs auf Mambo Mundial wieder auf.
Eins aber ist klar: Die Songs machen Spaß, sind tanzbar und werden live wohl auch im tristen europäischen Herbst Ausgelassenheit und Freude verbreiten. Um das zu beweisen, startet die Band aktuell eine zweimonatige Europa-Tour (Konzertdaten siehe Service S. 56). Für ihre treue Fangmeinde in Berlin nehmen sich Chico Trujillo gleich zwei Abende Zeit. Außerdem ist Mambo Mundial zum großen Teil in den Funkhaus Studios aufgenommen worden. Mit Sicherheit wird das neue Album nicht nur in Berlin jubelnd aufgenommen und der Band wie dem Publikum ein wunderbares 20-jähriges Jubiläum bescheren.

 

 

„MEINE MUSIK IST EIN SCHREI NACH FREIHEIT“

Tyaro „Wir können nicht so tun, als ob nichts passiert ist.“

Welche Botschaften der LGBT-Bewegung spiegeln sich in Ihren Songs wider?
Botschaften der Freiheit. Brasilien ist das Land auf der Welt, das am meisten LGBT- Personen tötet. Meine Musik ist ein Schrei nach Freiheit. Unsere Liebe ist frei! Meine Musik spricht von einem Fremdkörper, einem nicht-binären Ortes in dieser binären Gesellschaft. Die Botschaft ist unser Recht auf Gerechtigkeit.

Wie ist der Alltag in diesem „Fremdkörper“ in Rio de Janeiro?
Es ist eine Angriffsfläche, ein Kampf, sich jeden Tag wiederzuerkennen. Wenn ich auf Normkörper treffe, versuche ich mich, diesen zu stellen. Und bei den Leuten, die ein Vorurteil haben, versuche ich, mit Stärke und Willen zu kommunizieren. Ich versuche zu verstehen, wer sie sind. Ich glaube an den Austausch mit anderen und versuche, neue Wege zu beschreiten. Und das geht auch durch die Musik, den Körper, die Ästhetik.

Im Lied Logun Edé geht es um ein Wesen, das Mann und Frau zugleich ist.
Logun Edé ist ein Lied, das heilen soll, das die Vorfahren anruft und ihnen dankt. Dieser Song ist Teil eines Entdeckungsprozesses für die #CabocloSereia Identität. Das Album soll die Schönheit und Kraft des Orixá Logun Edé mit sich bringen (Orishas/Orixá sind Götter der Yoruba Religion, Anm.d.Red.). Orixá Logun Edé ist gleichzeitig weiblich und männlich und entsteht aus dem Wald und den Süßwasserströmen. Es ist das Kind der Orishas Oxum (Mutter) und des Oxóssi (Vater). Logun Edé verleiht dem Leben Schönheit, Süße, Kunst, Glanz und Kraft. Der Song ist gemeinsam mit Nana Orlandi und in Kooperation mit der Gruppe Maracutaia komponiert worden. Für mich ist Zuneigung und Heilung im  Kompositionsprozess sehr wichtig.

Was ist Ihre Vision für Brasilien?
Ich möchte, dass wir ein wachsendes Netzwerk aufbauen. Und sich mehr und mehr Menschen der LGBT-Szene anschließen. Lesben, Schwule und Transpersonen: Wir müssen uns zusammentun! Mein Traum ist es, ein starkes Netzwerk aufzubauen und durch die Musik eine Message rüberzubringen. Künstlerisch und musikalisch ist der jetzige Moment für die LGBT-Bewegung sehr wichtig. Kunst war schon immer eng mit der politischen Bewegung verbunden. Künstler wurden schon immer verfolgt, isoliert und auch ermordet. Wir leben einen sehr kritischen Moment für Kultur und Bildung. Wir können nicht so tun, als ob nichts passiert. Unsere Kultur wird ausgelöscht. Sie wollen uns ausradieren. Und als Antwort werden wir immer stärker und stärker.

Was meinen Sie, wenn Sie vom „jetzigen Moment“ sprechen?
Das Album Caboclo Sereia wurde am 31.10.2008, genau 3 Tage nach der Wahl von Bolsonaro veröffentlicht. Wir wussten schnell, dass es in den folgenden Jahren nicht einfach sein würde, einen so voreingenommenen und unmenschlichen Repräsentanten zu haben. Es ist nicht leicht, hier zu leben, besonders als Künstler, Slumbewohner und Schwuchtel. Seit Michel Temer im Jahr 2016, nach Dilma Rousseffs Amtsenthebung, als Präsident fungierte, sind wir im Begriff die brasilianische Demokratie abzubauen. Dieser Rückschlag begann, als wir die erste gewählte Präsidentin unseres Landes aufgrund eines politischen Manövers verloren hatten. Nicht alle halten es aus, hier zu leben: Man muss viel Willenskraft und Kreativität besitzen, um Wege und Möglichkeiten zu finden, um mit Würde zu leben. Besonders wenn du nicht privilegiert, nicht weiß und nicht aus reicher Familie bist. Ich denke jeden Tag darüber nach, wie ich etwas anders machen und in der Lage sein kann, auch nur ein wenig von diesem unterdrückenden, patriarchalischen, chauvinistischen und kapitalistischen System zu verändern. Ich glaube daran, dass sich das ändern wird, denn die benachteiligten Minderheiten stellen hier die überwiegende Mehrheit und bringen viel Kraft auf die Straße. Wir kämpfen, in der Kunst und im Leben. Jeden Tag!

 

„IM FUNK GIBT ES EINIGE MARIA MAGDALENAS“

Furacão 2000 Plattenfirma und Veranstalterin von Baile Funk  // Foto: Marco Gomes via flickr.com CC BY-NC-SA 2.0

Anitta hat über 40 Millionen Follower*innen auf Instagram, das Musikvideo „Bola, Rebola“ wurde allein am Erscheinungstag eine Million Mal auf Spotify abgespielt. Madonna wollte sich wohl ein Stück von Anittas Funk-Chic abschneiden, als sie in diesem Jahr die Brasilianerin für das gemeinsame Stück „Faz Gostoso“ anfragte. Der 26-jährige Superstar Anitta wird inzwischen als brasilianische Beyoncé gehandelt, ist jedoch nicht unumstritten in der brasilianischen Funkszene. Doch sie hat etwas Entscheidendes geschafft: Sie hat als Frau die Sounds aus den Favelas als funk pop an die Chartspitzen katapultiert.
Der brasilianische Funk, portugiesisch ausgesprochen „Fahngki“ [fa(ŋ)ki], entstand in den 70er Jahren in den Favelas von Rio de Janeiro, aus den Rhythmen des Elektro-HipHop, dem Miami Bass, gemixt mit afro-brasilianischer Percussion. Längst ist er auch in São Paulo zu finden und überall in den Peripherien. Perifería, dieses Wort fällt häufiger als Favela, wenn man funkeiras (Funkkünstlerinnen, Anm. d. Red.) zuhört. Perifería steht für abgelegene Stadtviertel mit wenig finanziellen Möglichkeiten, keiner Infra- struktur, oftmals ohne Asphaltstraßen, dazu prekär ausgestattete Wohnräume, wenn überhaupt, es bezeichnet das gesamte strukturelle Umfeld von dem, was der Volksmund Favela nennt.

Frauen im Funk waren immer Feministinnen

Der Funk aus Rio de Janeiro, der funk carioca, erzählte in seinen Ursprüngen von den Realitäten in diesen Peripherien, von Gewalt, Armut, Perspektivlosigkeit. Mit der Zeit haben sich zahlreiche Subgenres und Stilarten herausgebildet. Während im funk probidão der Drogenhandel im Mittelpunkt steht, geht es im new funk eher um Sinnlichkeit und Erotik. Manchmal machen die Texte auf dicke Hose, erzählen von Luxus, finanziellem Aufstieg, teuren Drinks, Wertgegenständen und Frauen, bisweilen mit explizitem Sex und frauenverachtenden Männerfantasien (funk ostentacão). Der funk melody ist eher romantisch bis kitschig, der funk ousadia nutzt explizitere sexuelle Anspielungen und Humor.
An die Anfänge des brasilianischen Funk erinnert heute nur noch der typische Groove. Wer zu der Musik die passenden Moves sucht, kommt an einem gehaltvollen Hüftschwung nicht vorbei: Oberkörper vorlehnen, leicht in die Knie gehen, die Arme auf den Oberschenkeln abstützen und dann „rebolar“ – wackeln: hoch und runter und bis zum Boden. Auf den Partys tanzen das nicht nur die Frauen. Aber auf den Bühnen kommen sie vor allem als Tänzerinnen vor, nicht als Wortgeberinnen. Und dann ist da so eine wie Anitta, die bekannter wird als alle männlichen funkeiros zusammen. Sie singt über weibliche Selbstbestimmung, Macht, Verführung oder Allerweltsthemen. Diskutiert wird aber vor allem über ihren Körper, ihre Schönheits-OPs oder ihren Hintern, den sie auch mal völlig unretuschiert und mit Cellulitis vor der Kamera schwingt, so wie Ende 2017 in dem Video zu dem Song „Vai Malandra”, auf Deutsch in etwa „Los jetzt, Luder“.

Mach dich bereit, ich werde tanzen, pass auf
(Ah, ah)
Tutudun (Ah,ah)
(….)
Ich werde nicht mehr aufhören
Du wirst das aushalten.

Funktänzerin Renata Prado „Im Funk ist Sinnlichkeit eine Form, den Machismus zu bekämpfen“ // Foto: Luan Batista

Die Botschaft: Ich mache was ich will, egal ob es euch gefällt, und ich nenne das Feminismus. Und wenn ich keinen Bock mehr habe, dann gehe ich. Für einen FAZ-Korrespondenten, der über das Video berichtete, steht dabei ganz schnell fest: Ihr Manifest sei „in Wahrheit bloß die Übertragung des drunten an den Stränden manifestierten sexistischen Frauenbildes auf die Dächer der Favela.“ Dieser Schluss liegt nicht fern, wenn man jede Form weiblichen Entblößens als Sexismus deutet. Dabei liegt der Unterschied im Detail: Anitta singt dabei über sich und dass sie weiß, was sie mit ihren Hüftschwung auslöst – sie steht auf der Bühne als Subjekt.
Es gibt Feministinnen, denen Frauen beim Hüftenkreisen Bauchschmerzen bereiten. Fast so, als ob Frauen, sobald sie ihre sexuelle Lust ausdrücken oder schlicht ihren Spaß am Hüftschwung, den feministischen Kampf um Lichtjahre zurückwerfen würden. Dabei ist es ja eigentlich ein Problem des Betrachters, Hüftschwung und Mann in einen kausalen Zusammenhang zu stellen, findet Renata Prado, Funktänzerin aus São Paulo. Sie ist selbst in einer Favela aufgewachsen und tanzt seit Teenagertagen Funk. Die rhythmische Bewegung der weiblichen Körpermitte als sexuelle Aufforderung zu deuten, komme aus einem christlichen Kontext. „In Afrika zum Beispiel, glaube ich, ist das Bild, das sie von Funk haben komplett unterschiedlich. Der Kuduro aus Angola ist dem Funk sehr ähnlich, also die Beckenbewegungen. Für uns ist das keine Sünde, das ist es nur durch eine eurozentrische Schablone. Alles, was also nicht in diese christlichen Konzepte passt, ist Sünde, ist falsch, ist nuttig. Schauen wir uns die Geschichte von Maria Magdalena an. Ich glaube im Funk gibt es einige Maria Magdalenas. Das meine ich total positiv. Denn wer war sie? Eine Frau, die mit ihrem Leben machte, was sie wollte.“
Dass Sinnlichkeit und Hüftshakes feministisch sein können, sei dabei in der Szene keine neue Botschaft, müsse nach außen aber oft erst erklärt werden, sagt Renata. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin, studiert Pädagogik und forscht zur Rolle der Frauen im Funk. All das hat sie in Talkshows, Zeitschriften und Kulturveranstaltungen gebracht. „Sinnlichkeit ist Teil der Funkkultur, und zwar auf eine lockere Art, Sinn- lichkeit nicht Erotisierung”, sagt Renata. „Das Problem ist, dass die Medien immer wieder die Körper dieser Frauen sexualisiert und kriminalisiert haben, weil sie Frauen sind, in ihrer Mehrheit Schwarze und aus der Peripherie.” Im Ballett würden die Körper der Tänzerinnen nicht sofort sexualisiert werden. „Funkeiras sind zunächst einmal Künstlerinnen und sollen auch so behandelt werden”, fordert Renata. Das Problem sei nicht, dass Schwarze Frauen tanzend dargestellt würden, sondern dass man sie auf ein bestimmtes Bild reduziere. Oder wie Djamila Ribeiro, brasilianische Black-Feministin und Philosophin schreibt: „Die Idee, dass jede Schwarze Samba tanzen kann (…) gehört zu Stereotypen, die das Ziel haben, uns an den Plätzen zu halten, die die rassistische Gesellschaft uns zugeschrieben hat“.
„Der Machismus ist nicht der des Funks oder des Hip-Hops”, so Renata weiter, „er reproduziert den Machismus der Gesellschaft. Es gibt verschiedene Formen, das zu bekämpfen. Im Funk ist die Sinnlichkeit eine der Formen, die die Frauen haben“. Für mehr Selbstorganisation unter den weiblichen MCs hat sie im vergangenen Jahr die Nationale Front für Frauen im Funk gegründet, im nächsten Jahr soll eine Dokumentation erscheinen über die prägenden Frauen in diesem Genre.
Nach Renata seien die wenigen Frauen im Funk schon immer Feministinnen gewesen. Doch blieben sie als Sängerinnen für das große Publikum unsichtbar. „Eine Tati Quebra-Barraco war zu Beginn der 2000er Jahre schon Feministin, als sie textete, sie sei hässlich aber in Mode oder mit einem Wortspiel zu einer Marke für Küchengeräte.” Tati singt als Frau „Dako é bom”, also die Küchenmarke „Dako” ist gut, dem Klang nach bedeutet „Dako” aber auch „den Hintern hinhalten”. Eine Anspielung als Frau auf Analsex und überhaupt auf Sex aus einer weiblichen Position löst etwas aus in einer Szene, in der darüber sonst nur Männer singen dürfen. Und tatsächlich finden sich auf Youtube-Videos von Tati Quebra-Barraco: Sie singt und tanzt mitunter hochschwanger und hüftkreisend in engen Leggins und Tanktop.

MC Carol „Der Funk hat mein Leben gerettet“ // Foto: Fernando Schlapfer

Immer mehr Schwarze Frauen aus den Peripherien steigen in den letzten Jahren selbst in der Szene auf, manche werden auch international erfolgreich – die funkeira MC Carol aus Niteroi bei Rio hat im April zum zweiten Mal in Berlin gespielt. „Eigentlich wollte ich Polizistin werden”, erzählt Carolina de Oliveira Lourenço, „aber dann stand mein Leben plötzlich auf dem Kopf. Mit 14 wohnte ich allein, Leute kamen und bieten einem Drogen an, auch zum Verkaufen oder Geld für Sex. Dann kam der Funk in mein Leben und hat mein Leben gerettet.” Wenn MC Carol im Jahr 2016 mit der Rapperin Karol Conka einen Song mit dem Titel „100 Prozent Feministin“ rausbringt, dann nicht, weil die Frauenwelt gerade ganz langsam aus einem Dämmerschlaf befreit wurde. MC Carol hatte diese Vokabel „Feminismus“ erst ein paar Monate zuvor gelernt, mit 22 Jahren, von Freund*innen, die für eine Aufnahmeprüfung lernten.
Wenn man sich unter jungen funkeiras umhört, sind viel eher als Anitta Frauen wie MC Carol oder Ludmilla, Tati Quebra-Barraco und Valesca Popozuda Namen, die als Identifikationsfiguren genannt werden. „Anitta ist eine Brasilianerin, die aus dem Funk kommt”, sagt MC Carol, „aber ihr Funk ist anders. Ich identifiziere mich nicht mit ihrer Musik, aber ich bewundere ihre Arbeit. Sie hat es weit gebracht.” Tatsächlich sind MC Carols Sounds härter, ihre Texte sehr persönlich und haben keinen Deut von der heileren Pop-Melodik Anittas.
Um die Jahrtausendwende besetzten erste weibliche funkeiras die Mikrofone und traten gegen sexistische männliche Narrative an. Als Tänzerin aktiv in dieser Funkszene war zu dieser Zeit auch die junge Marielle Franco. Die linke lesbische afrobrasilianische Politikerin ist selbst in einer Favela in Rio aufgewachsen. Im März 2018 wurde sie erschossen, bis heute sind die Umstände nicht aufgeklärt, doch der Fall ist höchst politisch und Marielle längst zur Märtyrerin erklärt. Kurz vor ihrem Tod hatte sie einen Gesetzesvorschlag vorgelegt, der die Funkkultur fördern und schützen sollte. Den gleichen Kampf führt die Tänzerin Renata Prado: „Funk wurde zeitlebens innerhalb der Politik nicht als Kultur behandelt, sondern im Bereich öffentliche Sicherheit. Auch das macht meinen Aktivismus aus, zu sagen: Funk ist Kultur.”
Es wäre für Marielle Franco daher eine Genugtuung gewesen, zu wissen, dass MC Carol in diesem Jahr auf dem wichtigsten Festival Brasiliens spielt und damit auf einem der größten weltweit: dem Rock in Rio. MC Carol schreibt dazu auf Twitter:„Ich werde diese Möglichkeit nicht verschenken, Leute. Die Favela hat gesiegt.“
Obwohl der Funk längst im Mainstream angekommen ist, bleibt er für die öffentlichen Ordnungshüter ein Synonym für Gewalt, Drogen, Armut und Kriminalität. Erst vor zwei Jahren scheiterte die letzte Petition im Kongress, die den baile funk, die Tänze in den Straßen der Favelas als „Gefährdung der Gesundheit von Kindern und Erwachsenen“ verbieten wollte. Während MC Carol an die US-amerikanische Brown University eingeladen wurde, um von ihrem Leben zu erzählen, während sie am 6. April zum zweiten Mal im Berliner Gretchen Club spielte, sitzt mit dem 26-jährigen DJ Rennan da Penha seit April eine der wichtigsten Figuren der Szene im Gefängnis. Er hatte auf einem Baile die Leute auf die eintreffende Polizei hingewiesen. Sofort hieß es, Drogenhandel sei im Spiel. Immer wieder kommt es bei solchen Anlässen zu Begegnungen mit der Polizei, die Show wird aufgelöst, Soundanlagen zerstört – im besten Fall. Die bailes werden verboten, oder von der Polizei geräumt. Immer wieder kommt es zu Schusswechseln mit der Militärpolizei, Festnahmen oder sogar Toten.
Eine Realität fern der Raveparties und Electroclubs der Mittel- und Oberschicht, in denen Drogen mitunter zum Lifestyle gehören. Es ist eine Kriminalisierung, die viele Stilarten des Black Movements durchliefen: Capoeira, Hiphop und ein brasilianischer Tanz, der heute als Kulturerbe gilt, sagt MC Cacau Rocha (25) funkeira und Dichterin aus São Paulo. „Das war mit dem Samba früher genauso. Als der dann akzeptiert wurde, hörte die Kriminalisierung auf. Leider ist das mit dem Funk nicht so, das hat mit Vorurteilen zu tun. Ich glaube an den Funk als Mittel in der Bildung. Er redet von unseren Ursprüngen, er ist eine Feier, fast schon ein Ritual. Daneben muss er auch von unserer Lebensrealität handeln, davon wie wichtig es ist, dass wir uns organisieren, um den tatsächlichen Aufstieg zu erreichen.“
Das dürfte in der aktuellen politischen Situation unter dem rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro noch schwieriger sein als zuvor. Funk ist nicht nur Text, Rhythmus, Körper. Er ist eine politische, kulturelle und soziale Bewegung aus Brasiliens Peripherien. Für viele junge Menschen ist er eine Perspektive und ein Ausblick auf ein finanzielles Einkommen. Vor allem ist er ein Ort für Sprache, Ermächtigung und der Ausdruck einer sich wandelnden lebendigen Kultur.

POETISCH POLITISCH FEIERN

Kunst gegen Rechtsruck Sara Hebe vereint Poesie mit politischer Meinung / Foto: Fotografías Emergentes

Gerade ist Ihr neues Album Politicalpari erschienen. Was möchten Sie mit diesem Titel aussagen?
Politicalpari zu machen war der Versuch, das Konzept der politischen Party neu zu erfinden. Dazu habe ich das Wort lateinamerikanisiert. Weltweit gewinnt die Rechte an Macht, dennoch entstehen viele neue Kollektive, die Partys mit politischen Inhalten veranstalten und versuchen, sich mit ihrer Kunst dem Rechtsruck entgegenzustellen. Persönlich versuche ich, Poesie zu machen und gleichzeitig eine politische Meinung zu vertreten. So entstand das Konzept der Politicalpari. Auf die Idee zu dem Titel kam ich vergangenes Jahr auf dem Fusion-Festival, als dort eine Person zu einer anderen meinte: This is a political party! Da sagte ich mir: Ja, politicalparty. Das ist, was ich machen möchte.

Sie sprechen auf Ihrem neuen Album viele verschiedene, sehr aktuelle Themen an. Welche Geschichten versuchen Sie mit Politicalpari zu erzählen? Wofür möchten Sie sensibilisieren?
Einige der Geschichten die ich erzähle, habe ich selbst erlebt. Andere habe ich zwar nicht am eigenen Leib erfahren, aber sie bewegen mich trotzdem. Es gibt manchmal „hater“, die kritisieren, dass ich über bestimmte Themen gar nicht sprechen kann. Natürlich weiß ich nicht, wie es ist, in der Haut einer Geflüchteten zu stecken. Aber die Berichte, die ich lese, bewegen mich, und darum schreibe ich darüber. Ich versuche lediglich, Lieder zu schreiben, die mir gefallen und mich einer Poesie zu nähern, die ich mag. Ich lese große Dichter, höre große Rapperinnen und versuche, Geschichten von diesem Moment in der Welt zu erzählen, der nicht der allerschlimmste ist, aber ziemlich abgefuckt.

Vor kurzem haben Sie das Video zu Ihrem Song :·: A.C.A.B veröffentlicht…
Ja, das Lied heißt :·: A.C.A.B (Cinco Puntos). Die fünf Punkte sind ein Symbol aus den Gefängnissen Lateinamerikas, der Punkt in der Mitte steht für einen Polizisten, der eingekreist ist. Die Geschichte, die das Lied erzählt, habe ich selber erlebt, als ich vor einigen Jahren auf einem Solidaritätskonzert für politische Gefangene in Galizien auftrat. Als ich dort ankam, kontrollierte mich ein Guardia Civil (spanische Militärpolizei Anm. d. Red). Er beleidigte mich und behandelte mich sehr schlecht, das habe ich in :·: A.C.A.B verarbeitet. Das Lied habe ich gemeinsam mit Sasha Satyha aufgenommen, einer großartigen argentinischen Musikerin und lesbischen trans Frau, die ich sehr bewundere. Sasha Satyha erzählt davon, was trans Personen und Migrant*innen erleben. Das Video haben wir in Constitución gedreht, wo viele Prostituierte, Trans* und Manteras (illegalisierte Straßenverkäufer*innen Anm. d. Red.) aus dem Senegal arbeiten. Wir haben uns dort viel mit deren Sprecherin, Yahaira Falcón, einer Transaktivistin, ausgetauscht. Natürlich können wir einfach nach Hause gehen, nachdem der Dreh vorbei ist, aber wir versuchen trotzdem irgendwie vor Ort zu sein und mit den Betroffenen zusammenzuarbeiten. Das Lied wurde recht bekannt in Argentinien, denn Aussagen wie „Ich würde eher abtreiben, als dass mein Kind Polizist wird“ sind ein bisschen hart (lacht). Die Zeile „los cuerpos hablan, no flotan rio arriba“ (Körper sprechen, sie treiben nicht flussaufwärts) bezieht sich auf Santiago Maldonado, der von der argentinischen Militärpolizei ermordet wurde. Der argentinische Staat versucht diese Geschichte zu vertuschen. Santiago Maldonado hat den Kampf der Indigenen in Argentinien, der Mapuche, unterstützt. Die Mapuche versuchen in Patagonien ihre Gebiete gegen Benetton und andere Firmen zu erhalten, um dort weiterhin ihre Kultur und Sprache leben zu können. Und Santiago Maldonado war dort, deswegen haben sie ihn umgebracht.

Ein weiteres Lied von Politicalpari, La Noche, ist ein Reggaetón. Oft wird dieser Musikstil ja als sehr sexistisch oder musikalisch nicht anspruchsvoll wahrgenommen und auch von links kritisiert. Diese Abwertung wiederum wird auch als klassistisch wahrgenommen – wie stehen Sie zu dieser Debatte?
Ja, es gibt viele Vorurteile, vor allem in antifaschistischen und linken Zusammenhängen. Dort wird der Reggaetón als sexistisch abgestempelt. Und der Rock? Natürlich gibt es ultra-sexistische Texte im Reggaetón, aber die gibt es auch im Rock. Im Reggaetón findet langsam ein Paradigmenwechsel statt, mittlerweile gibt es viele Frauen und trans Personen, die Reggaetón oder Trap machen, mit anderen Inhalten. Der Rock ist elitärer und kommt nicht aus den Armenvierteln und von den Rändern der Gesellschaft.

Ein großer Teil Ihrer Arbeit ist selbstverwaltet. Wie gestaltet sich das, wenn man bedenkt, dass Sie viel Musik produzieren und um die Welt touren?
Als ich begann, Musik zu machen, war das noch wesentlich leichter, weil ich nicht so viel in der Welt umhergereist bin wie heute. Da kamen Anfragen von kleinen Festivals per E-Mail oder Facebook. Heute arbeiten wir aber mit Produzentinnen in verschiedenen Ländern zusammen, weil die Anfragen sonst nicht mehr zu bewältigen wären. Zumindest in Argentinien versuche ich, das Prinzip der Selbstverwaltung aufrecht zu erhalten und so viel Arbeit wie möglich selbst zu erledigen, denn Unabhängigkeit ist für mich unbezahlbar. Wenn ich Hilfe von außen brauche, versuche ich immer mit Freundinnen und Freunden zusammenzuarbeiten, die auch politisch aktiv sind, und keine großen Unternehmen an der Produktion meiner Musik zu beteiligen. Die kennen mich aber schon und sind in der Regel eh nicht an mir interessiert! Einmal aber hat mir Nike geschrieben und angefangen, mir Schuhe zu schicken, damit ich mich auf Instagram bei ihnen bedanke. Selbstverständlich habe ich das nicht gemacht, niemals würde ich mich bei Nike öffentlich bedanken. Sie haben mir trotzdem weiter Schuhe zugeschickt, bis ich sie gebeten habe, endlich damit aufzuhören. Die großen Marken werden immer versuchen, das Widerständige aufzusaugen und zu banalisieren, so funktioniert der Kapitalismus. Trotzdem bin ich mir bewusst, dass es nichts bringt, große Unternehmen zu dämonisieren. Die nordargentinische Sängerin Suzy Qiú, die Folklore macht und eine trans Frau ist, hat etwas gesagt, was heute mein Motto ist: “Wer kann sich selbst schon außerhalb des Kapitalismus denken?” Niemand! Wir sollten aufhören, so schnell zu verurteilen, weil wir alle in diesem System stecken und uns lieber gegenseitig unterstützen.

In diesem Sinne unterstützen Sie ja auch viele soziale Bewegungen in Argentinien. Vernetzen Sie sich mit den politischen Kämpfen der Menschen an den Orten, an denen Sie Konzerte spielen?
Genau, ich singe ja nun schon seit zehn Jahren und mit der Zeit haben Menschen an immer mehr Orten meine Musik kennengelernt. Deshalb kommt es vor, dass ich auch gezielt gefragt werde, ob ich mich mit Projekten solidarisieren möchte. Im Baskenland zum Beispiel werde ich demnächst in einem von feministischen Separatistinnen besetzten Haus, das geräumt werden soll, auf einer Soliparty singen. Die Musik ist nicht nur das, wovon ich lebe, sondern auch meine Art, mich mit politischen Kämpfen zu solidarisieren. Meine Lieder bekommen ein Eigenleben, sobald sie auf die Straße treffen oder bei Demonstrationen gespielt werden. Sie bekommen einen Körper und eine Seele, und obwohl ich selbst nicht überall präsent sein kann, sind sie es.

Meinen Sie, dass Ihre eigene Identität dabei auch eine Rolle spielt, zum Beispiel in Form von Grenzen der Repräsentation bestimmter Gruppen?
Das ist eine sehr komplizierte Angelegenheit, weil jeder einzelne Mensch ja auch ein Individuum mit tausend Fehlern und Eigenheiten ist. Oft werde ich als Referenzpunkt der feministischen Musik gelesen und ich weiß nicht, was ich davon halten soll, weil ich selbst noch so viel lerne. Viele junge Menschen, Mädchen, trans Personen schreiben und produzieren Inhalte und suchen dafür Referenzpunkte. In dieser Tradition der politischen Referenzpunkte sehe ich auch meine Arbeit, weshalb es mir sehr wichtig ist, viele Lieder selbst zu produzieren und den zukünftigen Generationen politische Nachrichten mitzugeben.

Trotz der rechten Regierung Macris wird in Argentinien ein Gesetzesentwurf angenommen, der eine Frauenquote für Musikfestivals vorsieht. Inwiefern sehen Sie darin ein Beispiel dafür, dass die feministische Emanzipation nun auch die sonst so männerdominierte Musikszene erreicht?
Ich bin mir sicher, dass dieses Gesetz verabschiedet wird, weil die feministische Welle nicht mehr zu stoppen ist. Auch der Mainstream wird sich ihr beugen müssen. Durch die Abtreibungsdebatte, die noch immer intensiv geführt und aktiv vorangetrieben wird, haben die Feminismen – hier muss eigentlich immer im Plural gesprochen werden – in Argentinien viel Rückenwind bekommen. Auch Ni Una Menos und andere feministische Bewegungen sind die treibenden politischen und vor allem antifaschistischen Kräfte der Stunde. Wir brauchen sie, denn die Angriffe auf unsere Rechte und auch konkret auf homo- und transsexuelle Menschen häufen sich, nicht nur in Argentinien, sondern auch hier in Deutschland und überall sonst auf der Welt.

Was wünschen Sie sich für die politische Zukunft Argentiniens, vor allem mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen Ende dieses Jahres?
Macris Regierung mit all ihren Technokraten und Millionären ist die schlimmste Regierung seit mehr als zwanzig Jahren. Aber ich setze viel Hoffnung in die Jugend und darauf, dass sie sich nicht nur in Argentinien, sondern in ganz Lateinamerika in die Politik einmischt. Ofelia Fernández (könnte bei diesen Wahlen mit 19 Jahren die jüngste Abgeordnete der Stadt Buenos Aires werden, Anm. d. Red.) ist mit ihren politischen Diskursen und ihrem Engagement in den Schulbesetzungen in Argentinien ein gutes Beispiel dafür, denn sie setzt sich dafür ein, dass die Bildung in Argentinien nicht privatisiert wird, so wie es die Regierung gerne hätte. Ich wünsche mir für die Zukunft mehr Menschen wie Ofelia Fernández, die ihre Überzeugungen vertreten und auch in die Politik gehen, damit all die Alten, die sich an ihre Macht klammern, endlich verschwinden.

 

„MEINE MUSIK HAT KEINEN SINN AUF EINEM TOTEN PLANETEN“

Sie sind zum zweiten Mal in Europa auf Tour und geben heute Ihr erstes Konzert in Deutschland. Wie waren Ihre Erfahrungen bisher?
Bisher haben wir nur gute Erfahrungen gemacht, vor allem in Spanien, wo wir den Menschen sprachlich verbunden sind. In Ländern zu spielen, in denen kein Spanisch gesprochen wird, ist eine Herausforderung, da der Text die Hälfte des Liedes ausmacht. Dann denkst du, okay, niemand versteht, was ich hier gerade singe, aber im Endeffekt ist Musik Musik, in jeder Sprache.

Loli Molina Es bewegt sich was in der Musikszene (Foto: Marcelo Quiñones)

Können Sie etwas über Ihren musikalischen Werdegang und Ihre Einflüsse erzählen?
Ich habe sehr früh damit angefangen, Instrumente zu lernen. Die Musik war etwas, das mich schon immer in meinem Leben begleitet hat, es ist etwas Gigantisches für mich. Ich bin eine Person, die alles wie ein Schwamm absorbiert: Alles, was ich gehört und gelernt habe, hinterlässt Spuren auf meiner inneren Festplatte und wenn ich meine eigene Musik mache, kommt diese Information auf mysteriöse Weise zu mir zurück.

Sie interpretieren einige klassische Lieder südamerikanischer Folklore sowie Lieder von bekannten Interpreten wie Luis Alberto Spinetta oder Fernando Cabrera. Waren dies auch Lieder, die Ihren musikalischen Werdegang begleitet haben?
Ja, es gibt Lieder, die sozusagen Teil der Enzyklopädie großer Musik sind und um die keine Person, die Lieder schreiben möchte, herumkommt. Sie zu lernen und zu interpretieren, um tiefgreifend zu verstehen, wie sie gemacht worden sind, ist wie zur Schule zu gehen.

Sie kommen aus Buenos Aires, wohnen aber seit einigen Jahren in Mexiko Stadt. Wie ist denn die Situation der unabhängigen Musikerinnen in Argentinien und Mexiko?
In Mexiko gibt es eine sehr große Szene, denn allein in Mexiko Stadt leben 25 Millionen Menschen, in Buenos Aires „nur“ 10 Millionen. Zudem ist Mexiko Treffpunkt vieler Immigranten aus Argentinien, Chile, Venezuela, Kolumbien, der Dominikanischen Republik… Es gibt also eine große Liedermacher-Szene aus all diesen Ländern, und die Sprache ist immer ein bisschen unterschiedlich: die Lieder von den Inseln sind tropischer, die aus dem Süden nostalgischer und kryptischer, die Mexikaner spielen eher Pop oder Folklore. Das ist sehr interessant, aber die Szene ist auch etwas übersättigt. In Buenos Aires ist die Szene viel kleiner und die Strömungen sind sich ähnlicher. In den Süden kommen nicht so viele Leute von außerhalb, die Szene nährt sich eher von sich selbst.

Ihre ersten beiden Alben wurden von einem großen Label veröffentlicht. Das dritte Album Rubí haben Sie selbst veröffentlicht. Wie kam es dazu?
Nach meinen ersten beiden Alben habe ich das Label verlassen. Ich war 25 oder 26 Jahre alt und dachte, es gäbe keine andere Möglichkeit. Danach begann ein langer Weg, in dem ich lernte, alles selbst zu machen, meine eigene Managerin zu sein, meine eigenen Videos zu machen und zu verstehen, wie die Musikindustrie funktioniert. Die Industrie verändert sich ständig, zum Beispiel durch Spotify. Es geht viel darum, wie viele Aufrufe und Likes ein Song hat. Das erzeugt einen sehr unfairen Konkurrenzkampf. Ein unabhängiger Künstler hat keine Chancen gegen jemanden, der Millionen von Aufrufen für sein Video kauft. Diese großen Strukturen sind nichts für mich.

Wie hat sich die Musikszene verändert? In einem anderen Interview meinten Sie, dass es wieder mehr vielversprechende Liedermacher*innen gibt, vor allem Frauen.
Da bewegt sich etwas, auf vielen Ebenen. Es gibt eine Art Aufstand der Frauen mit vielen feministischen Bewegungen. Der Diskurs hat sich verändert und es wird gefordert, Frauen mehr Raum zu geben. Das gab es noch nicht so sehr, als ich damit begann, Musik zu machen. Außerdem gibt es ja diese schon erwähnte Übersättigung: Jeder kann Musik aufnehmen und veröffentlichen. Es scheint mir, als gäbe es deswegen wenig wirklich besondere Projekte. Ich weiß selbst nicht, ob ich zu den Besonderen oder zu den Normalen gehöre.

In Argentinien hat der Senat vor kurzem das Ley del cupo femenino (zur Frauenquote auf Musikfestivals) verabschiedet, welches noch von der Abgeordnetenkammer beschlossen werden muss. Glauben Sie, dass das erwas ändern wird? Haben Sie sich auch schon von der „historischen Ungleichbehandlung und Diskriminierung, die Frauen auf den Bühnen der Festivals erleben“, wie es im Text heißt, betroffen gefühlt?
Ja, definitiv! Zudem komme ich aus einem Land, in dem die Figur des Gitarristen zutiefst männlich konnotiert ist. Die Gitarre, ein prägendes Instrument des Rocks und der Folklore, war immer in den Händen von Männern. In den letzten Jahren sind viele Gitarristinnen aufgetaucht, auch ich zähle mich dazu. Das ist sehr gut, denn es zeigt, dass Frauen nicht nur Sängerinnen sind, sie spielen auch Instrumente. Es ist sehr traurig, dass das nun per Gesetzt geregelt werden muss. Aber wie beginnen, wenn nicht so? Es gibt noch viel Widerstand in einigen rückständigen Sektoren, von alten Produzenten, alten Konzertorganisatoren oder alten Rockern, die sehr machistisch sind und nun sagen: „Jetzt müssen wir Frauen eine Bühne geben, nur weil sie Frauen sind.“ Nein: Sie müssen Frauen eine Bühne geben, weil sie genauso talentiert sind und weil wir den Raum verdienen!

Erstmals auf Europatournee Loli Molina live in Berlin (Foto: Jara Frey-Schaaber)

Auf Ihren Accounts in den sozialen Netzwerken unterstützen Sie soziale und feministische Bewegungen und zeigen Ihre Besorgnis für die Umwelt. Wie fühlen Sie sich mit diesen Kämpfen verbunden?
Ich glaube, das Rockigste und das Revolutionärste, was man in diesem Moment auf der Welt machen kann ist, mit seinem eigenen Beutel einkaufen zu gehen, den Müll zu trennen, und darum zu bitten, keine Plastiktüten zu bekommen. Ich glaube wirklich, dass das etwas Kritisches ist und genauso geht es mir bei sozialen Themen, ob sie Gewalt betreffen oder Frauenrechte. Es gibt viele Menschen, die mir folgen und mir zuhören, also versuche ich, von diesen Dingen zu sprechen. Ich sehe das als ein Werkzeug, um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Wenn es nur eine Person gibt, die dank dem, was ich geschrieben habe, anders denkt und andere Möglichkeiten erwägt, ist das schon unglaublich. Das ist viel wichtiger, als nur von mir und meiner Musik zu reden oder Selfies zu veröffentlichen, um Likes zu bekommen. Meine Musik hat keinen Sinn auf einem toten Planeten, meine Musik hat keinen Sinn in einer Welt, in der meine Freundinnen auf der Straße geschlagen werden, das steht wirklich an erster Stelle.

Können Sie etwas zur politischen Situation in Mexiko sagen, wo seit über einem halben Jahr ein neuer Präsident an der Macht ist, und zu Argentinien, wo bald Wahlen anstehen?
Im Moment ist es auf politischer Ebene sehr aufgewühlt, überall auf der Welt. In fast allen Ländern gibt es eine Tendenz zum Rechtsruck, es werden Rechte beschnitten und Subventionen für Kultur zusammengestrichen. Ich bin nicht so gut über die politischen Hintergründe in Mexiko informiert, aber es gab fast 70 Jahre, die von ständiger Korruption geprägt waren, und auch wenn eine neue Person an die Macht kommt, ist es schwer, wieder neu zu beginnen. Die Macht müsste neu konstruiert werden, aber wir sollten Mexiko die Möglichkeit zugestehen, sich zum Besseren zu verändern. Was Argentinien betrifft: Das Land ist unter der Regierung von Macri in den letzten vier Jahren kollabiert. Es sieht schlecht aus, was die Bildung, die Kultur und die Wirtschaft betrifft. Ich hoffe, dass die Leute bei dieser Wahl eine gute Entscheidung treffen und nicht aus Wut wählen.

Was kommt nach dieser Tour? Sie haben von Alben gesprochen, die dieses Jahr herauskommen werden?
Ja, am Ende des Monats kehren wir nach Mexiko zurück und stellen zwei Alben fertig, eines kommt Ende des Jahres heraus und das andere im Februar. Also werde ich viel mit der Vorbereitung zu tun haben und nicht viele Konzerte geben können. Dazu kommt die persönliche Suche, wie wir eigentlich in dieser Welt leben wollen, die jeden Tag eine Herausforderung darstellt. Das ist der Plan, Musik machen, die Alben fertigstellen, alles ein bisschen ordnen… Das wird schon!

VON DEM DER GING, OHNE DARAN GEDACHT ZU HABEN


Martín Sued // Foto: Gentileza Antonella Casanova

Martín, wo leben Sie jetzt?
Vor vier Monaten bin ich zum ersten Mal aus Argentinien weggezogen. Jetzt wohne ich in Paris.

Mit welchem Status sind Sie nach Paris gekommen? Mit einem Arbeitsvisum, mit einer Aufenthaltserlaubnis für Künstler*innen…?
Ich habe ein Visum, welches ich über ein Musikkonservatorium in Frankreich erhielt. Es gilt bis Ende des Jahres und ist erneuerbar.

Wie steht es in Argentinien um die Erteilung von Zuschüssen für Künstler*innen? Sind Sie darüber auf dem Laufenden? Hatten Sie dazu Zugang?
In den letzten Jahren, vor allem während der Kirchner-Regierung und der Entstehung des Kulturministeriums (Anm. d. Red.: 2018 stufte Macri das von Cristina Kirchner 2014 gegründete Kulturministerium als Geschäftsbereich des Bildungsministeriums ein), gab es einen Moment, in dem sehr viel verrückte Dinge geschahen. Es gab das Projekt Ibermúsicas (Anm. d. Red.: Ein Fonds zur Förderung iberoamerikanischer Musik), den Nationalen Kunstfonds, Mobilitätsstipendien. Unterstützt vom Staat konnte ich mit Projekten nach Europa, in andere lateinamerikanische Länder und ins Landesinnere reisen. Danach nahm die Unterstützung ab. Ein bisschen gibt es noch, aber es hat sich alles verschlechtert.

Denken Sie, dass dieses „fern von zu Hause sein“ auch einen Einfluss auf Ihre Kompositionen hat?
Ja, offen gestanden, ich komponiere nicht viel, seitdem ich fortging, denn ich muss mich noch in meinem neuen Leben in Paris zurechtzufinden. Ich bin dabei, das Netz der musikalischen Familie in Europa zu vergrößern. Darum bin ich mehr damit beschäftigt, zu spielen und an den Dingen zu arbeiten, die ich schon habe, als zu komponieren. Auf jeden Fall hat das, was man erlebt einen großen Einfluss auf das, was man schreibt. Darum kommt man nicht herum… Ich habe sehr viel Lust, im Juni mit dem Schreiben anzufangen. Dann habe ich ein bisschen mehr Zeit, mich hinzusetzten und zu arbeiten. Das fehlt mir sehr, seit vier Monaten toure ich herum und spiele, aber schreibe nicht.

Sie haben einmal in einem Interview zugegeben, dass Sie versuchen, sich vom Tango zu entfernen, zumindest in seiner traditionellen Form. Aber während Ihrer momentanen Tour geben Sie einige Konzerte mit einem Tango Repertoire. Woher kommt das?
Sieh mal, einerseits hat es was mit dem Lebensunterhalt zu tun. Ich bin vor kurzem in Paris angekommen und habe dort schon ein Arbeitsumfeld rund um den Tango. Anderseits ist es auch etwas, was ich sehr gerne tue. Dieses Gefühl, mich davon distanzieren zu müssen, liegt schon ein paar Jahre zurück. Damals ging es mir darum, Wiederholungen zu vermeiden. Rückblickend kommt es mir wie eine ein bisschen infantile Einstellung vor. Wenn mir nun Ideen kommen, die mit dem Tango oder der Folklore zusammenhängen, nehme ich sie auf. Alles andere hieße, etwas zu verleugnen, was mir eigen ist. Ich genieße es, das zu tun, und da ich weit weg bin, hat es auch etwas mit der nostalgia porteña zu tun, der für die Einwohner*innen von Buenos Aires so typischen Nostalgie. Ich mag es wirklich sehr, traditionelles Repertoire zu spielen. Aber darauf liegt momentan nicht mein Fokus. Es ist eine Möglichkeit zu arbeiten und dabei unsere Musik nie vollkommen aus den Augen zu verlieren. Was ich jedoch niemals getan habe, denn parallel zu meinen Projekten, auch mit meiner eigenen Musik, ist sie immer präsent. In Buenos Aires hatte ich ein Duo mit dem Gitarristen Leandro Nikitoff, mit dem ich Tango spielte. Also, ich habe damit nie wirklich aufgehört.

Jetzt wo Sie von Arbeit reden…neben Ihrem Schaffen als Musiker, was haben Sie für andere Dinge gemacht?
Ich gab Unterricht, in dem Projekt Orquestas del Bicentenario, dass, wie wir alle wissen, vor die Hunde ging. Dies war nur eines der vielen Projekte, welches sie zerstörten und ich verlor damit eine feste Arbeit. Außerdem nahm auch die Zahl meiner Schüler*innen ab…Darüber hinaus war ich in Brasilien sehr aktiv und gab dort jährlich viele Konzerte. Aber die Lage in Brasilien ist grauenhaft und somit fiel auch diese Möglichkeit weg. Das ging alles sehr schnell, es war sehr hart. Ich hätte also wieder versuchen müssen, mir eine Arbeitsstruktur an einem Ort aufzubauen, an dem alles den Bach runter geht.

Neben Ihrer Suche nach Kontakten und Ihrer beruflichen Entwicklung, hatte es etwas mit der politischen Situation zu tun, die Argentinien in diesem Moment durchläuft?
Ja, auf jeden Fall. Wegzugehen war etwas, was ich nie zu tun gedacht hätte. Ich war schon oft in Europa und bin in die USA gereist, aber ich hatte nie den Wunsch, dort länger zu leben. Aber die letzte Zeit in Argentinien wurde aus ökonomischer Sicht unerträglich, sehr hart. Und nicht nur ökonomisch, auch was sich dort sozial erleben lässt, ist sehr traurig. Davon ausgehend sah ich die Möglichkeit, das Land zu verlassen und andere Erfahrungen zu machen. Ich habe vor, zurückzugehen, aber möchte versuchen, in dieser Zeit eine bessere Lebensqualität zu haben, etwas, was mir dort schwer fiel. Ich arbeitete dort sehr viel, ohne zufriedenstellende Ergebnisse zu erlangen. Alles hat sich sehr zum Schlechten verändert. In Europa ist die Lage auch nicht ideal, bietet mir aber die Perspektive, auf persönlicher und professioneller Ebene zu wachsen. Neben anderen Dingen, natürlich. Meine Liebe zum Jazz gehört auch dazu. Anders gesagt: die Situation in meinem Land war nicht der einzige Grund wegen dem ich gegangen bin, aber hatte damit viel zu tun.

 

„DIE FRAUEN LASSEN SICH NICHT MEHR ZUM SCHWEIGEN BRINGEN“

Mariana Yegros: Die argentinische Sängerin befindet sich gerade auf Europatournee // Foto: Guilhem Canal

Im März haben Sie Ihr neues Album Suelta herausgebracht. Können Sie uns etwas zu Ihrem neuen Album erzählen und zu dem Prozess, aus dem heraus es entstanden ist?
Ich habe zwei Jahre lang an dem Album gearbeitet, gemeinsam mit unserem gewohnten Produzenten King Coya. Unterstützt wurden wir dabei von Jori Collignon von der niederländischen Band Skip & Die sowie von Eduardo Cabra von Calle 13. Cabra ist ein großartiger Musiker, ich bewundere ihn sehr und hatte große Lust, mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Lieder komponiere ich gemeinsam mit Daniel Martin und King Coya. Diesmal gibt es auch mehr von mir komponierte Lieder.

Ihr Stil ist als Digital Cumbia bekannt. Repräsentiert diese Bezeichnung die Vielfalt Ihrer Musik?
Digital Cumbia? Nein, überhaupt nicht! Das bringt mich immer zum Lachen. Ich werde auch die Königin des Nu Cumbia genannt. Ich erwidere darauf immer, dass es in meiner ganzen Discographie nur eine Cumbia gibt, nämlich „Viene de mi“. Meine Musik basiert auf anderen lateinamerikanischen Rhythmen, dem Chamamé, dem Carnavalito, der Saya, dem Rap. Es gibt gibt vielfältige Einflüsse in jedem Lied. Die Cumbia ist eine davon, aber nicht alles. Das neue Album enthält nicht eine Cumbia, es ist verrückt, dass mich die Leute darüber definieren. Wahrscheinlich, da „Viene de mi“ mein bekanntestes Lied ist. Nicht einmal „Linda la Cumbia“ ist eine Cumbia, ich habe es so genannt, um zu sehen, wer wirklich zuhört und wer Ahnung von Cumbia hat.

Manche bezeichnen Sie als Repräsentantin der weiblichen Cumbia und nennen Sie Königin der Cumbia, weil Sie eine Frau sind, der es gelang, in einer überwiegend von Männern dominierten Musikszene erfolgreich zu sein. Wie fühlen Sie sich in dieser Rolle? Glauben Sie, dass diese Betonung von Ihrer Musik ablenkt?
Nein, ich empfinde das nicht so. Es stimmt, dass vor allem in Argentinien, wo 2013 mein erstes Album erschien, nicht viele Sängerinnen bekannt waren. Dennoch habe ich das Gefühl, dass der Kern dieser Bezeichung eher mit der Cumbia selbst zu tun hat und weniger damit, dass ich eine Frau bin. Ich sage dazu, dass ich die Königin der NO Cumbia und nicht die der Nu Cumbia bin. Dass sie mich Königin nennen, finde ich ganz lustig.

Können Sie kurz erklären, woher die Idee kam, Folklore und elektronische Musik zu verbinden?
Meine Verbindung zur Folklore kommt von meinen Eltern. Mein Vater hörte viel Chamamé, meine Mutter Cumbia. Ich wuchs mit dieser Art von Musik auf, sie lief in den Barrios, wo die Arbeiter diese Lieder hörten. Meine Eltern kommen aus Misiones, an der Grenze zu Brasilien und Paraguay, und sind mit zwanzig Jahren auf der Suche nach Arbeit nach Buenos Aires gezogen. Dort wurde ich geboren, hatte also schon immer Kontakt mit den Traditionen, den Wurzeln meiner Eltern. In der Hauptstadt kam ich später in Kontakt zu modernen Klängen, daraus ergab sich die Frage, wie meine Wurzeln, die Folklore, mit diesen urbanen Klängen verknüpft werden können. King Coya ist da ein Spezialist und wichtiger Referent in Argentinien. Seit 30 Jahren mischt er elektronische Musik mit Folklore, er war einer der ersten, der das gemacht hat. Es ist ein großes Glück, mit ihm zusammenzuarbeiten. King Coya kümmert sich jetzt um die musikalische Produktion, er begleitet uns auch auf der Tour und hört von außen zu. Daraus entsteht eine Homogenität, eine natürliche Harmonie zwischen der Folklore und der elektronischen Musik.

Was möchten Sie mit dieser Mischung vermitteln?
Eine der wichtigsten Botschaften ist, unsere Musik zu unterstützen, sie aus unserem Land zu tragen, damit die Leute sie kennenlernen. Der Chamamé ist zum Beispiel ein wenig bekannter Rhythmus. Ich erkläre manchmal, wie man ihn tanzt, wie er klingt, wovon er handelt. Es ist sehr melancholische Musik, es geht um die verstorbene Mutter, um die verlorene Liebe, sehr traurig und gleichzeitig sehr tanzbar. Das hat auch mit meinen Wurzeln zu tun, mein Vater zum Beispiel ist sehr melancholisch. Wir haben diese Wesensart in Argentinien, der Tango zum Beispiel zeugt von totaler Zerrissenheit, damit identifizieren wir uns sehr. Mir ist wichtig, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass auch junge Leute ihren Zugang zur Folklore finden, sie tanzen und als etwas eigenes empfinden können. Wenn du nur einen Chamamé hörst, sagst du, ach nein, das ist Musik, die mein Großvater mag, aber wenn es mit für jungen Menschen vertrauten Klängen gemischt ist, führt es dazu, dass unsere Musik erhalten bleibt, und damit unsere Tradition.

Sie haben damit begonnen, musikalische Einflüsse aus dem Nordwesten Argentiniens und andiner Musik in der Provinz Buenos Aires zu singen. Jetzt tragen Sie diese musikalischen Traditionen auf andere Kontinente, wo das Publikum sie in einer vollkommen anderen Umgebung hört. Bemerken Sie einen unterschiedlichen Effekt, den Ihre Musik an den verschiedenen Orten, an denen Sie auftreten, auslöst?
Für mich ist sogar jede Stadt eine eigene Welt. Jedes Mal, wenn wir spielen, bemerken wir einen Unterschied. In Frankreich zum Beispiel, wo wir sehr oft auftreten, erkennen wir die Unterschiede im Publikum: In der Bretagne etwa sind die Leute sehr leidenschaftlich und wenn sie dich mögen, drehen sie durch. In Deutschland haben wir eines unserer ersten Konzerte 2013 in einem kleinen Ort gespielt. Wir waren das erste Mal in Europa, niemand kannte unsere Lieder, und Deutschland hat mit unserer Musik nicht viel zu tun. Aber die Leute sind durchgedreht und haben zu getanzt, und uns zum Tanzen aufgefordert. Es passieren manchmal so verrückte Dinge an unerwarteten Orten. Es sind immer wieder Überraschungen. Man kann nicht sagen, dass es dieses eine Land gibt, was dieses und jenes vermittelt, es hängt vom Moment ab, von der Situation.

In Ihrem Lied „Sube la presión“ singen Sie „Me enteré que el arte no sólo es belleza” („Ich habe gelernt, dass Kunst nicht nur Schönheit ist“). Was kann Kunst sonst noch alles sein?
Das Lied ist von Daniel Martín, er hat es geschrieben und dabei an mich gedacht. In allen Liedern, die er für mich macht, versetzt er sich in mich und in meine Geschichte hinein. Deswegen beginnt das Lied mit den Zeilen „Yo soy mujer, hijita de la calle“ („Ich bin eine Frau, eine Tochter der Straße“). Es handelt davon, aus einer Gegend zu sein, in der man Kinder barfuß die Straßen entlanglaufen sehen kann, die nichts zu essen haben. Und plötzlich fliegt man um die Welt und kann überall Sushi essen gehen. Ich hatte das Glück, zu reisen und viele unterschiedliche Orte kennenlernen zu dürfen. So bekommt man einen globalen Blick auf die Welt und merkt, dass einige Menschen Hunger haben, während es anderen gut geht. In dem Vers „Ich habe gemerkt, dass Kunst nicht nur Schönheit ist“ findet sich das wieder, einerseits das Glück, durch meine Musik reisen zu dürfen und Orte außerhalb Argentiniens kennenzulernen. Andererseits bedeutet es, seine Koffer zu verlieren, mal zu spät zu kommen, wenig zu schlafen… Man muss viel arbeiten und opfern, um eine Show von neunzig Minuten zu ermöglichen, selbst wenn man darauf mal keine Lust hat. Diese Seite des Künstlerseins ist eben nicht nur schön.

Auf deinem Album findet sich auch das Lied „Tenemos voz“, eine feministische Hymne, die von der Stärke der Frauen handelt. Die feministische Bewegung in Argentinien hat jüngst viel Sichtbarkeit erlangt, und immer mehr Fälle von sexuellem Missbrauch und sogar Vergewaltigungen durch zahlreiche argentinische Musiker kommen plötzlich ans Licht. Auch ein ehemaliger Musiker von Ihnen ist angeschuldigt worden, missbräuchlich und gewalttätig gewesen zu sein. Wir sind uns bewusst, dass Sie als Sängerin nicht die Verantwortung für die Taten der Männer tragen, die mit Ihnen zusammenarbeiten. Wie gehen Sie mit dieser Entwicklung um?
Dieses Thema ist für mich, so wie für die meisten anderen Frauen wahrscheinlich auch, sehr wichtig. In Argentinien und Lateinamerika insgesamt gab es in letzter Zeit plötzlich eine große Revolution, würde ich sagen. Die Frauen lassen sich jetzt nicht mehr zum Schweigen bringen. In Argentinien stirbt jeden Tag eine Frau durch Übergriffe, Missbrauch oder Vergewaltigung, und das macht mich sehr betroffen. Natürlich bin ich mit so etwas nicht einverstanden. Wenn ich zum Beispiel vom Ausland aus sehe, dass es am 8. März in Argentinien Demonstrationen gibt, wäre ich sehr gerne dabei. „Tenemos voz“ ist meine Art und Weise, zu der Bewegung aus der Distanz etwas beizutragen. Deswegen habe ich mit Soom T zusammengearbeitet, einer schottischen Sängerin mit indischem Ursprung, einer sehr starken Stimme, die außerdem politisch und sozial sehr aktiv ist. Es war mir wichtig, dass sie dabei ist. „Tenemos voz“ ist eine Hymne, die die Nachricht verbreiten soll, dass wir nicht mehr schweigen werden und eine Stimme haben. In Bezug auf die Anschuldigung gegen einen meiner ehemaligen Musiker: Leider kann man nicht mit Sicherheit feststellen, ob diese wahr sind oder nicht. Es wurde ein rechtliches Verfahren mit Anwälten begonnen, die sich dem Thema angenommen haben. Weil mein Name in diesem Zusammenhang gefallen ist, habe ich beschlossen, nicht weiter mit dem angeschuldigten Musiker zu arbeiten, bis der Fall geklärt ist und es Beweise für seine Unschuld gibt. Oft beschuldigen Menschen andere und können dann nicht beweisen, dass wahr ist, was sie sagen.

Es ist auch oft der Fall, dass Frauen nicht geglaubt wird, obwohl die Beweislage erdrückend ist, oder dass es eine Zumutung oder manchmal sogar unmöglich ist, Beweise vorzulegen.
Ja natürlich, das stimmt. Weil ich ja nicht dabei war, kann ich es nicht wissen und mir keine Meinung bilden. Er soll sein Problem lösen, und solange die Anschuldigung besteht, möchte ich nicht, dass er mit der Band in Verbindung gebracht wird. Wenn es wirklich stimmt, was gegen diesen Musiker gesagt wird, bin ich selbstverständlich nicht damit einverstanden. Sollte die Frau irgendwann aussagen, dass sie gelogen hat, ändere ich meine Meinung, aber sonst nicht.

 

DEN SCHMERZ WEG TANZEN

Schon die ersten Takte des neuen Albums von La Yegros laden mit einem fetten, basslastigen Beat zum Tanzen ein. Beinahe 40 Minuten dauert dieses Fest namens Suelta, eine explosive Mischung aus südamerikanischer Folklore, angereichert mit Elementen elektronischer Musik. Suelta el dolor, den Schmerz loslassen, darum geht es.

La Yegros ist vor allem Mariana Yegros, aufgewachsen in Morón, einem Vorort von Buenos Aires und nun im südfranzösischen Montpellier wohnhaft. Ihre Eltern stammen aus der an Paraguay und Brasilien grenzenden argentinischen Provinz Misiones und brachten sie früh mit der dort typischen Folklore in Kontakt. Wohl auch deshalb ist die Sängerin, die gerne als Königin des digitalen Cumbias bezeichnet wird, nicht nur auf diesen Stil limitiert. Auch andere Varianten der nordargentinischen Folklore, wie Chamamé, Carnavalito, Huayno und Chacarera sind in ihrer Musik präsent. Der von treibender Percussion, Charango, Akkorden und andinden Flöten getragene Sound wird von den elektronischen Klängen gelungen ergänzt. Zwischendurch klingen auch rockige Töne durch, wie im kämpferischen Sube la Presión. Cuando, ein Lied, welches in zwei verschiedenen Arrangements vertreten ist, erinnert in der von Streichern dominierten, das Album abschließenden Version ein wenig an einen französischen Chanson.

La Yegros singt von klassischen Themen der Folklore, wie der Schönheit der Natur, von den Anden bis in die Selva, dem Tanzen oder der Liebe. Manchmal ist die Stimmung melancholisch, aber nie verzweifelt, eher kämpferisch. Dabei sticht besonders das feministische Tenemos Voz hervor, welches die schottische Musikerin Soom T. durch einen ungewöhnlichen, da englischsprachigen, Rap-Part bereichert. Unterstützt wird La Yegros von ihrem argentinischen Produzenten Gaby Kerpel, unter dem Namen King Coya als Urgestein der elektronischen Folklore bekannt. An Suelta wirken darüber hinaus Eduardo Cabra, besser bekannt als Visitante vom puerto-ricanischen Duo Calle 13, und Jori Collignon von der südafrikanisch-niederländischen Band Skip&Die als Gastproduzenten mit. Auch Daniel Martín, Komponist von La Yegros’ bekanntestem Lied Viene de mi, steuert wieder einige Songs bei. Das Album erscheint auf ihrem eigenen Label Canta la Selva. Sehenswert sind übrigens auch die aufwendig gestalteten Musikvideos, im Besonderen das zu Tenemos Voz, in dem ein reales Wandgemälde trickfilmmäßig zum Leben erweckt wird.

Vor allem aber ist La Yegros eine Liveband, die in den sechs Jahren ihres Bestehens bereits unzählige Konzerte in über zwanzig verschiedenen Ländern gespielt hat. Ihre ausgedehnte Tour, die sie erst quer durch Europa und dann Südkorea führt, hat bereits begonnen. In Deutschland gibt La Yegros drei Konzerte. Am 27. April in Kassel, am 7. Mai in Berlin und am 25. Juli in Würzburg. Wer ein bisschen loslassen möchte, dem sei ein Besuch empfohlen.

 

La Yegros´ Konzerte in Deutschland im Sommer 2019:

07.05. Berlin @ Gretchen, Support: Louie Prima, Event: https://www.facebook.com/events/313326652647004/

25.07. Würzburg @ Hafensommer Würzburg, Link: https://www.hafensommer-wuerzburg.de/programm/programm-details/latina-beatz-somos-guerreras-la-yegros.html

16.07. Stuttgart @ Sommerfestival der Kulturen, Link: https://sommerfestival-der-kulturen.de/

 

MUSIKLEGENDE UND MEISTER DES VERSCHWINDENS

Suchend fährt die Kamera durch ein Hotel. Entlang an verwaisten Fluren, geschlossenen Türen . Lebt hinter einer von ihnen, vor der Öffentlichkeit verborgen, der Erfinder des Bossa Nova, João Gilberto? Oder bleibt die Suche wie so oft vergeblich? Der Regisseur Georges Gachot begibt sich in seinem Dokumentarfilm Wo bist du, João Gilberto? auf die Suche nach dieser brasilianischen Musiklegende.

Sein Film basiert auf dem Buch Hobálálá, geschrieben von Marc Fischer, einem deutschen Journalisten, dessen Leidenschaft für den Bossa Nova dieses literarische Kunstwerk hervorgebracht hat, betitelt nach dem gleichnamigen Song von Gilbertos erster Platte Chega de Saudade. Auch Fischer war ein Suchender, auch er von der Idee besessen, den Meister zu finden, der 1958 nur mit seiner Gitarre und seiner Stimme einen neuen Musikstil erschuf. Fischers Buch dient dem Filmemacher gewissermaßen als Drehbuch. Es beschreibt die vergebliche Suche nach João Gilberto, einem lebend Verschollenen, der sich allen Versuchen, ihm nahe zu kommen, mit Finesse entzieht. Diese Suche, von Fischer begonnen, nimmt Georges Gachot in seinem Film wieder auf. Dabei dienen ihm Aufzeichnungen, Tagebucheinträge, Fotos, sowie Bild- und Tonmaterial aus dessen Nachlass, denn Marc Fischer hat sich mit gerade 40 Jahren das Leben genommen. Unterstützung für sein Vorhaben findet er bei Rachel Balassiano, die seinerzeit schon Fischers Gehilfin bei der Suche nach João Gilberto war. Gemeinsam gehen sie den in Fischers Buch gelegten Spuren nach. Gachot kontaktiert einstige Weggefährten, Musiker und Komponisten, die ihn zwar zu den Ursprüngen und Wegbereitern des Bossa Nova führen, jedoch nicht zu João Gilberto, denn seine Gesprächspartner*innen haben ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Regisseur und Buchautor verbindet die Sehnsucht nach dem Erlebnis eines schwer zu fassenden, traurigen Verlangens, das in den sanften Klängen, dem schwebenden, fast geflüsterten, poetischen Gesang ihres Idols seinen Ausdruck findet und den Zauber des Bossa Nova ausmacht. Sehnsucht ist im Film ein Schlüsselbegriff, der die Suche nach jenem Unsichtbaren antreibt, der der Welt diese einfühlsame, melancholische Musik geschenkt hat.

Am Ende des Buches fragt Sherlock (das literarische Alter Ego Marc Fischers) seine Gehilfin Dr. Watson (Rachel Balassiano): „Warum haben wir ihn nicht gefasst, Watson? Wir haben doch alles versucht.“ Watson: „Weil die Sehnsucht nicht zu fassen ist. Von niemandem, Sherlock.“ Am Ende des Films ein letzter Versuch des Filmemachers ihn doch noch zu fassen und Gilberto wenigstens ein einziges Mal live spielen zu hören: Vermittelt durch dessen Agenten lauscht Georges Gachot in einer der letzten Einstellungen andächtig seiner Musik durch eine Tür. Bleibt Joao auch diesmal ein Phantom? Das Archivmaterial diverser Konzerte Gilbertos, filmische Streifzüge durch Rio de Janeiro und die allgegenwärtige Präsenz der Bossa Nova-Rhythmen, lassen die Zuschauer*innen die Schönheit dieser Musik erleben. Nebenbei erfährt man, dass der Bossa Nova in der Toilette entstand, da João Gilberto diesen fünf Quadratmeter großen Ort als idealen Resonanzraum erkannte, wo die Akustik am besten war. Der Film ist gleichzeitig eine Art Entdeckungsreise in die Welt der brasilianischen Musik und der brasilianischen Musikszene des Bossa Nova.

ONDA VAGA, WAS NUN?

Das Ende vom Lied Für Onda Vaga hört es sich schlecht an (Foto: flickr.com, CC-BY-SA 2.0, Secretaría de Cultura de la Nación, no changes made)

Nun also Onda Vaga. Die Mitglieder der international bekannten Indie-Rock-Band sehen sich Vorwürfen ausgesetzt, die es in sich haben. Die Rede ist von sexuellen Übergriffen und Missbrauch, Vergewaltigung und Psychoterror. Kurz: von wiederholtem, abstoßendem Machogehabe.

Onda Vaga, das sind fünf Typen zwischen Mitte und Ende 30. Fünf Musiker, deren Lieder sich meistens darum drehen, dass sie doch nur liebe Jungs sind, die sich in schöne Frauen vergucken. Ihre tanzbaren Rumba-Rhythmen verhalfen der Gruppe in den vergangenen zehn Jahren zu relativem Erfolg. Sie haben fünf Alben veröffentlicht, und bereisten allein acht mal Europa.
Onda Vaga steht dabei für ein bestimmtes Lebensgefühl. Den Wunsch nach Freiheit, gepaart mit entspanntem Laissez-faire und Easy Going: buena onda, wie es in Argentinien einfach heißt. Das ist, was Menschen suchen, und auch finden, wenn sie zu den Konzerten kommen. So auch am 27. September im Festsaal Kreuzberg in Berlin. Die Stimmung ist ausgelassen, es wird getanzt. Ein Großteil des Publikums kennt die Songs auswendig und singt lauthals mit. Bald wird es schwitzig im Saal, klebrig vom wilden Herumspringen. Die Musiker auf der Bühne geben sich betont lässig, albern und turnen herum, kiffen, trinken und feiern sich selbst. Die Band hat auch in Deutschland eine feste Fancrowd. Teile der Berliner Latinx-Community sind darunter, genauso wie Menschen die mindestens einen Backpacking-Urlaub in Lateinamerika hinter sich haben. Der Sound ist hervorragend, das muss man den Männern lassen. Weder auf oder hinter der Bühne noch in der Organisation oder in der Technik findet sich eine einzige Frau.

Kurz vor dem Konzert trafen sich LN mit den beiden Bandmitgliedern Germán Cohen und Marcelo Blanco zum Interview. Wir sprachen über die aktuelle Tour, das neue Album. Ein bisschen Smalltalk darüber, wie wunderbar Berlin und wie schlecht die aktuelle ökonomische Situation in Argentinien doch sei. Auch der Feminismus als politische Kraft und die Kampagne für ein legales und kostenfreies Recht auf Abtreibung kamen dabei zur Sprache. Dinge, die sie, so Germán und Marcelo, im Herzen tragen. Insgesamt also nichts Brisantes, und doch etwas, woraus wir ein nettes Interview hätten basteln können.

Die Berichte lassen vermuten, dass sexuelle Übergriffe im Umfeld der Band zur Normalität gehörten

Nur wenige Tage später, Anfang Oktober geht die Seite Denuncias Onda Vaga online. Darauf zu finden sind zu Beginn zehn, bald darauf 20, und nach einigen Tagen bereits über 40 Berichte, in welchen Frauen von ihren unangenehmen Erfahrungen mit den verschiedenen Bandmitgliedern berichten. Die Erfahrungsberichte sind anonym, aber äußerst detailliert. Auch die beiden Musiker Germán Cohen und Marcelo Blanco werden explizit genannt. Es folgen Hunderte Tweets und Diskussionen in den sozialen Medien. Die ausstehenden Konzerte in Brüssel und Madrid werden von den Veranstalter*innen abgesagt, mit dem Verweis darauf dem Publikum keinen sicheren Raum gewährleisten zu können. Presseanfragen bleiben unbeantwortet. Verantwortlich für die Veröffentlichungen sind die Aktivist*innen des Kollektivs Ya no nos callamos más, welches Frauen ermutigt ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen zu teilen und versucht, das Mittel der escraches, also der öffentlichen Denunziation, auch auf den digitalen Raum auszuweiten.

Die Erfahrungsberichte lassen vermuten, dass sexuelle Übergriffe im Umfeld der Band eine gewisse Normalität hatten, über Jahre hinweg und unter verschiedensten Umständen. Ob nach Konzerten oder im Privatleben, ob unter Einfluss von Alkohol oder nüchtern: despektierliches Verhalten, Objektifizierung von Frauen und ein Verständnis von Sexualität, was nicht weitergeht als über die eigene Befriedigung hinaus, waren wohl mehr Normalzustand als Ausnahme. Es scheint, als hätten Onda Vaga ihre Position als Stars der Musikszene systematisch ausgenutzt, um ihre sexuellen Fantasien an jungen und manchmal sogar minderjährigen Frauen auszuleben.
Erste Konzerte wurden bereits abgesagt Die Vorwürfe gegen Onda Vaga sind leider nur ein weiterer Fall von sexuellen Übergriffen in der argentinischen Musikbranche. Ähnliche Vorwürfe gibt es gegen weitere Größen der alternativen Musikszene, wie etwa den Sänger von El Otro Yo, Christian Aldana, den ehemaligen Gitarristen von La Yegros, David Martínez oder Guillermo Ruiz Diaz, den Gitarristen der Band El mató a un policía motorizado. Wie nicht anders zu erwarten, wird die Anonymität der Berichte zum Einfallstor für Vorwürfe des Rufmords und Verschwörungsfantasien. So ließ beispielsweise Sänger Christian Aldana, gegen den seit Mai 2018 ein Prozess wegen sexuellem Missbrauch von Minderjährigen läuft, auf seiner Facebook-Seite verlauten, er sehe Onda Vaga als Opfer einer anonymen Verleumdungskampagne, hinter welcher er eine Verschwörung der kommerziellen/Mayor-Musikbranche gegen die Indie-Szene vermutet. Dass allerdings als erste Reaktion auf die Vorwürfe über die Anonymität der Berichte diskutiert wird, ist ein bekanntes Muster. Denn, wenn von Übergriffen berichtet wird, sind es meistens zuerst die Opfer, die sich Fragen gefallen lassen müssen und nicht die (vermeintlichen) Täter. Wie es mit der Band weitergehen wird, ist unklar. Anstatt die Vorwürfe zur Diskussion zu stellen und eine öffentliche Stellungnahme von Seiten der Bandmitglieder einzufordern, wird zuallererst die Glaubwürdigkeit der berichtenden Frauen angezweifelt. Onda Vaga schweigt. Wie es mit der Band in der nächsten Zukunft weitergehen wird, ist unklar. Erste Konzerte in Argentinien wurden bereits abgesagt. Dass sich weder die Band noch ihre einzelnen Mitglieder bisher zu den Vorwürfen geäußert haben, ist nicht nur schwach, sondern auch für die tausenden von Fans weltweit enttäuschend.
Ein entschiedenes Dementi sieht anders aus.

“EINE ANDERE ENGERGUE KREIEREN”

Ihr kommt in diesem Jahr zum dritten Mal nach Berlin. Wie waren eure bisherigen Erlebnisse mit der Stadt und den Menschen?

Dolores: Auf jeden Fall haben wir hier bisher immer positive Erfahrungen gemacht.
Julia: Ja, unsere Erlebnisse in Berlin waren schon immer sehr prägend und vor allem sehr inspirierend. Wenn wir durch die Straßen laufen und die verschiedenen Leute beobachten, wie sie sich kleiden und bewegen, dann hat das etwas Anarchistisches. Und das unterscheidet sich sehr von Buenos Aires, wo wir herkommen. Als Band sind wir früher viel durch die Natur gereist oder an Orte, die eng mit ihr verbunden sind. Als wir dann nach Berlin kamen, haben wir eine urbane Seite unserer Band kennengelernt, die wir vorher nie so gesehen hatten. Auf einmal dachten wir: „Wir sind nicht nur Land, wir sind auch Stadt!“. Und die Stadt ist gut und voller Inspirationen.

 

Buenos Aires ist riesig, trotzdem reflektiert sich diese Urbanität, aus der ihr stammt, nie in eurer Musik. Wie kommt das?

Julia: Eigentlich kommen wir ja aus den Vororten von Buenos Aires.
Dolores: Aber ich weiß, was ihr meint. Wir kommen zwar aus dem städtischen Raum und sind irgendwie urbane Menschen, aber wir hatten schon immer eine starke Neigung zum Ländlichen. Wenn wir Urlaub machen, dann fahren wir nicht in die Stadt. Der Rhythmus dort zieht uns nicht so an wie jener der Natur. Trotzdem sind wir natürlich von der Stadt beeinflusst, schließlich sind wir dort aufgewachsen. Wir mögen die Reize und die Inspirationen, die das städtische Leben uns bietet und können viel vom kulturellen Angebot lernen. Dauerhaft so leben wollen wir aber nicht.

 

Macht es denn einen Unterschied, wo ihr spielt? Was verändert sich beispielsweise, wenn ihr in einer europäischen Stadt spielt statt in einer lateinamerikanischen?

Dolores: Heute beim Konzert habe ich gesehen, dass der Großteil des Publikums aus Lateinamerika kam oder einen starken Bezug dazu hatte. Das hat man sofort gespürt. Ich denke, unsere Konzerte sind für die Leute auch eine Art der Verbindung dorthin.
Julia: Genau. Es gibt sehr vieles hier, das lateinamerikanisch ist. Das ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Heute haben mich die vielen europäischen Gesichter überrascht, denn vor ein paar Tagen standen wir in Amsterdam vor einem fast ausschließlich lateinamerikanischen Publikum. Heute habe ich zum Beispiel mehr Leute gesehen, die die Texte nicht konnten, die aber trotzdem eine starke Verbindung zu unserer Musik gezeigt haben. Genau das mag ich sehr: Auch für Leute zu spielen, die mich gar nicht verstehen. Besonders eindrücklich war das in Schweden. In Malmö waren fast nur Schweden bei unserem Konzert. Sie standen viel weiter weg von der Bühne und nur die wenigsten sprachen wahrscheinlich Spanisch. Trotzdem habe ich in ihren Gesichtern gesehen, dass sie etwas Grundlegendes an unserer Musik verstehen. Etwas, das über Sprache und Text hinausgeht. Das ist die Sprache der Musik, die Grenzen überschreiten kann.

 

Meint ihr, dass ihr auch ein Stückchen lateinamerikanischer Spiritualität hierherbringt?

Julia: Ich denke schon. Vor allem die Verbundenheit zur Erde und Natur und ihre Wertschätzung: Pachamama. Ich würde sagen, das haben wir im Blut. Das ist keine direkte Nachricht, die wir überbringen wollen, sondern etwas, das einfach da ist. Hier spüren wir das weniger.

 

In eurer Musik gibt es viele Elemente der lateinamerikanischen Folklore. Wie ist es dann, hier für Menschen zu spielen, die gar nicht mit so etwas aufgewachsen sind? Oft denken wir, dass es hier kaum noch Folklore gibt…

Dolores: Ich finde, es ist genau andersherum. Es gibt Orte, wo die Folklore herkommt, aber das heißt nicht, dass man sie an anderen Orten nicht spielen kann oder dass es sie dort nicht gibt. Du kannst zum Beispiel einen Samba spielen, ohne in Brasilien zu sein.

 

Eignet man sich damit nicht ein Stück weit die Tradition der Folklore an?

Dolores: Vielleicht. Aber letztendlich zählt nicht wirklich, ob beispielsweise ein Rhythmus aus der Folklore ist oder nicht, weil wir ohnehin damit arbeiten und ihn verändern. Wir sind keine echten folkloristas, wir brechen auch selbst oft mit der Folklore. Wir bedienen uns bei verschiedensten Musiktraditionen aus der ganzen Welt. Von der Folklore sagt man, sie sei etwas sehr Natürliches: Ein Kind wird geboren, es wächst mit einem Rhythmus auf, sieht sein Leben lang einen Tanz und wenn es groß ist, beginnt es selbst auf natürliche Weise, diesen Rhythmus zu spielen. Unsere Verwendung folkloristischer Elemente ist vielleicht nicht so natürlich, sondern eher spielerisch eingesetzt und bewusster auf den speziellen Rhythmus bedacht.

 

In den letzten Jahren hat Perotá Chingó als Band eine große Veränderung durchgemacht. Ihr spielt nicht mehr in Wohnzimmern, sondern in Konzerträumen. Eure Musik wird nicht mehr nur auf der Straße gefilmt, sondern im Studio aufgenommen. Habt ihr selbst Veränderungen in eurer Art und Weise, Musik zu machen, bemerkt?

Julia: Ja. Wir machen jetzt schon sieben Jahre zusammen Musik. So ein Projekt wächst und verändert sich und will sich weiterentwickeln. Wir sind aus einfacher root music entstanden: Lola und ich, die Gitarre und unsere Stimmen. Das hat sich zu etwas Professionellerem und Größerem entwickelt. Im neuen Album Aguas hört man mehr musikalische Anpassungen, mehr Stimmen und kleine elektronische Elemente. Also ja, es gibt einen Wandel in unserer Musik und der ist wichtig und gewollt. Weil wir immer weitermachen wollen.

 

Ihr seid als Duo unabhängiger Musikerinnen bekannt geworden und es gibt viele Frauen, die sich für eure Musik begeistern. Seht ihr euch als Feministinnen?

Dolores: Ich weiß nicht, ob wir uns unbedingt einen Namen geben oder eine bestimmte Flagge zeigen müssen. Wir sind Frauen, wir respektieren uns und wir lieben, was wir tun. Uns gefällt es, eine Inspiration für andere Frauen und Menschen zu sein, damit sie sich trauen, sie selbst zu sein und daraus Kraft zu schöpfen.
Julia: Wir sind Teil einer Generation, die viele Dinge aus einer femininen Perspektive verändert. Dem kann man sich nicht verweigern. Wir mögen es nicht, dass uns ein feministisches Label aufgedrückt wird, denn das beinhaltet auch viele Dinge, mit denen wir nicht unbedingt einverstanden sind. Aber es stimmt, dass wir Teil einer globalen Bewegung sind, allein dadurch, dass wir Frauen sind. Auf unseren Konzerten wird mir oft klar, dass wir der sichtbare Teil dieser Bewegung sind, die überall stattfindet, aber nicht immer sichtbar wird. Wir geben ihr ein Gesicht.

 

Das Element Wasser war eure Inspirationsquelle für euer neues Album Aguas. Heutzutage ist der freie Zugang zum Trinkwasser in vielen Regionen Lateinamerikas gefährdet. Wie nehmt ihr diesen Konflikt wahr?

Julia: Im Album geht es mehr um das Wasser als Element, aus dem wir alle geschaffen sind. Die verschiedenen Formen des Wassers symbolisieren die verschiedenen Emotionen, die wir als Menschen durchmachen. Wir nehmen das nicht so wortwörtlich, da wir nicht so sehr in ökologische Konflikte verwickelt sind. In unserem Album geht es mehr darum, sich wieder mit dem Wasser als Element zu verbinden, mit dem Fluss des Lebens, den sich verändernden Emotionen.

 

Es ist also nicht politisch? Pure Emotionen?

Dolores: Genau. In Argentinien und in Lateinamerika im Allgemeinen gibt es zurzeit so viele Krisensituationen, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll… Es passieren tausend Dinge.
Julia: Wir versuchen, mit unserer Musik eine andere Energie zu kreieren und eine Botschaft zu übermitteln, die den Menschen hilft, ihre eigene Kraft zu finden und damit ihre Realität zu verändern, anstatt die Politiker um Erlaubnis zu fragen. Es geht um Empowerment: „Los, wir alle schaffen das!“. Natürlich wissen wir, dass diese Veränderung nicht von einem Tag auf den anderen stattfinden wird. Anstatt uns mit einer Flagge zu identifizieren, liegt unsere politische Haltung eher darin, die Kraft in uns selbst zu suchen und andere zu inspirieren, das auch zu tun.
Dolores: Dafür ist es notwendig, dass wir uns zusammentun, um Dinge zu verändern. Das generiert eine große Kraft, wie beim Feminismus zum Beispiel.

 

Das Internet war für euch von Anfang an ein wichtiges Medium. Das Video zu Rie Chinito hat inzwischen über 18 Millionen Klicks auf Youtube. Welche Möglichkeiten seht ihr für Musiker*innen im Internet und den sozialen Netzwerken?

Dolores: Wäre das Internet nicht, wären wir nie bekannt geworden. Das ist durch genau dieses Youtube-Video im Jahr 2011 passiert. Das Internet bietet uns eine Möglichkeit der Unabhängigkeit und der Freiheit, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die unsere Musik mögen. Dafür brauchen wir keine dritte Instanz. Wir haben so viele Möglichkeiten und immer erreichen wir mehr Menschen.

 

Bis hierhin nach Europa.

Julia: Ja, genau! Und wir freunden uns auch immer mehr damit an. Am Anfang war es eher eine lästige Pflicht für uns, ständig überall präsent zu sein. Aber es ist, wie es ist. Wir sind alle durch das Internet verbunden und ein Teil davon. Das Internet ist ein Medium und es ist uns selbst überlassen, wie wir es nutzen. Mittlerweile gefällt es uns, wie wir damit arbeiten können.
Dolores: Wir lernen auch stetig dazu, schließlich verändert sich alles so schnell. Als Menschen, die das Internet aufkommen gesehen haben, fühlt sich für uns alles immer noch so neu an und verändert sich ständig. Wohin das noch geht, weiß keiner.

 

Was sind eure Pläne für die Zukunft?

Julia: Wir machen gerade eine ziemlich starke Veränderung durch, einen Prozess der Beobachtung: Welche neuen Dinge fallen uns ein? Was möchten wir umsetzen? Wo wollen wir mit unserer Musik hin? Auch wenn wir das nicht genau wissen, wollen wir doch weiter versuchen, zu uns selbst zu finden und zu dem, was wir mit unserer Musik vermitteln möchten. Wir haben die Chingoneta (Name des Tour-Vans der Band, Anm. d. Red.) verkauft, die aus Europa und die aus Argentinien, es gab zwei. Unser Team ist größer geworden. Jetzt reisen wir mit Soundtechnikern, einer Lichttechnikerin, dazu kommt bald ein Coach, jemand, der uns in unserem kreativen Prozess begleitet. Wie eine Familie in einem Van zu reisen, ist eine romantische Idee. Das ist super, aber es ist für uns ein vergangener Lebensabschnitt. Jetzt fängt für uns eine neue Zeit an.

MUSIKALISCHER DIALOG

Pfeifendes Tongefäß Traditionelles Instrument neu erfunden (Foto: Krzysztof Zielinski)

Ausgangspunkt für eure künstlerische Arbeit ist die Beschäftigung mit indigenen Klangvorstellungen und Musikpraxis. Wie kommt das?
Carlos: Wir wohnen in La Paz, in unserer Geschichte und unserem Leben kommen westliche und indigene Einflüsse zusammen. La Paz ist eine Stadt, deren Dynamik stark von der indigenen Welt beeinflusst ist. Meistens wird das aber vergessen oder geleugnet. Die Leute streben eher danach, das Westliche zu betonen, vor allem hinsichtlich des Weißseins und den damit verbundenen Privilegien.
In unserem Orchester geht es darum, einen Dialog zwischen den beiden Einflüssen zu schaffen und mehr noch, um die Akzeptanz, dass beide Einflüsse in uns zusammenleben, ohne dass der eine den anderen notwendigerweise entkräftet.

Ist indigene Musik Teil der zeitgenössischen Musikkultur Boliviens?
Carlos: Wenn indigene Musikgruppen in die Stadt kommen, hat es eher etwas Anekdotisches. Die Medien und Machtstrukturen haben sich mehr der Idee der Modernität verschrieben und zu Gesellschaften, Musik und Ästhetik der ersten Welt aufzuschauen. Andere Musik hat da keinen Platz.

Hat sich an dieser Akzeptanz in den letzten Jahren nichts verändert?
Tatiana: Es hat eine Öffnung stattgefunden, auch wenn Dinge der indigenen Welt von der Regierung genutzt werden, um Wählerstimmen in den Dörfern zu bekommen. Auf bestimmte Art und Weise wurde das Indigene präsenter. Manchmal ist es sogar eine Art Modeerscheinung, nicht nur in der Musik. Es gibt enorme Einflüsse auch in der Mode, bei den gewebten Stoffen. Und allein, dass ein Indigener an der Macht ist, hat dazu geführt, dass Städter auf einmal über bestimmte Praktiken und Rituale sagen: ‚Hey, das ist cool.’ Ich glaube, diese Präsenz des Indigenen hat sich mit der Regierung von Evo Morales verändert.
Carlos: Mit Evo Morales macht Bolivien einen politischen Prozess durch, in dem die Symbolik und das Narrativ des Indigenen angeeignet und dafür genutzt wird, Menschen für sich zu gewinnen. Man kann nicht abstreiten, dass sich viele Menschen mit dem Präsidenten identifizieren und er immer noch große Unterstützung genießt. Aber ich bin auch sehr kritisch gegenüber dieser Aneignung von Symbolen und Ideologien, in denen diese verfälscht und für politische Ziele genutzt werden. Ausgehend von dieser Entwicklung haben viele Künstler und Autoren begonnen, das Indigene in einer vielleicht kommerzielleren Weise zu nutzen.

Wie geht ihr damit in eurer Arbeit um?
Carlos: Wir sagen nicht, dass wir die andine Welt repräsentieren. Wir sind Städter, Künstler. Wir präsentieren eine Soundinstallation, ausgehend von Prinzipien, die die Art, wie wir Musik verstehen, verändert hat. Das Wissen über indigene Musik hat diese Arbeit beeinflusst. Das ist unser ganz einfaches Angebot. Uns interessiert, dass die Arbeit auch ohne den ganzen Kontext erfahren werden kann. Es ist gut ihn zu kennen, aber die Installation soll genauso gesehen werden, wie die eines deutschen Künstlers zum Beispiel.
Was ist es, das sich an eurem Musikverständnis verändert hat?
Carlos: Ich habe Musik an der Uni studiert. Uns wird europäische Musikgeschichte und Komposition beigebracht, eine westliche Art, Musik zu machen. Mich über das Orchester der indigenen Musik zu nähern, hat mich dazu gebracht, zu verstehen, dass es andere Arten gibt, Musik zu machen, Musik zu hören, Musik zu komponieren und andere Arten der Beziehung zwischen den Musikern.

Welche sind diese „anderen Arten“?
Carlos: Es gibt ganz viele verschiedene Konzepte, zum Beispiel das waqui. Das ist nicht direkt ein musikalisches Konzept, sondern eines der Gemeinschaft. Die Gemeinden in Bolivien sind politisch über Logiken organisiert, in denen die ganze Gemeinschaft etwas zum Funktionieren und Fortbestehen beitragen muss: Du gibst die Erde, ich die Samen und sie die Arbeit. Und das Ergebnis ist ein Gemeinsames. Jeder gibt das, was er kann, und von dem Ergebnis profitieren alle gemeinsam, das ist waqui. Das gleiche Konzept wird in einem musikalischen Ensemble angewendet. Zum Beispiel spielen die Alten andere Instrumente, sie haben mehr Erfahrung, aber vielleicht nicht mehr die Lungenkraft, um die großen Instrumente zu spielen. Die werden von den Jüngeren gespielt, die die Energie haben, aber noch nicht die Technik. Es gibt eine soziale Ordnung in der tropa (musikalisches Ensemble, Anm. d. Red.), die der gleichen Logik folgt. Man spielt nicht die ganze Melodie, sondern nur Teile. Ganz wird sie erst über die einzelnen Fragmente.

Ist das nicht ein etwas ähnliches Konzept wie bei einem Orchester?
Carlos: Ja, aber es gibt einen großen Unterschied. In einer indigenen Kombo wird mit verschiedenen Instrumenten nur ein einziger Klang erzeugt, es gibt keinen Protagonismus. In einem Symphonieorchester gibt es zum Beispiel ein Konzert für Flöte von Mozart. Es gibt vorne einen Virtuosen und hinten ein Orchester, das ihn begleitet. Die Funktion des Orchesters ist es, ihm die Hauptbühne zu geben. Es gibt einen Dirigenten, der der Star ist.
Tatiana: In den indigenen Kombos gibt es einen Guide, der beibringt, der vielleicht mehr Erfahrung hat, der von der Gruppe anerkannt ist. Wir sind alle mit ihm einverstanden, er wird uns nicht aufgezwungen. Wir erkennen seine Erfahrung an, und damit bauen wir zusammen etwas auf.
Carlos: Diese musikalische Führung spielt aber keine größere Rolle, weil er genau wie die anderen spielt, nicht lauter, nicht länger. Er muss das gleiche beitragen, wie die anderen. Das ist so, als hättest du eine Einheit, die sich aus der Summe ergibt, aber eine einzige Stimme. Du hast keine verschiedenen Klänge, alle tragen zu dem einen Klang und ausgehend von diesem Klang bei.

Musikpraxis ist also mit der Ausübung von sozialen Konzepten verbunden.
Carlos: Die Musik ist sehr wichtig für die sozialen Interaktionen. Alle Feste, Rituale und Aktivitäten werden von Musik begleitet. Die Musik wird vom landwirtschaftlichen Kalender bestimmt – es gibt Musik, die in der Regenzeit gespielt wird und Musik für die Trockenzeit. Denn es gibt Klänge, die das Wetter beeinflussen. Es ist verboten, Instrumente der Trockenzeit in der Regenzeit zu spielen.
Der arka ira ist ein Konzept, das im siku (Panflöte) auftaucht. Dort gibt es eine einzige Melodie, die zwischen zwei Personen über verschiedene Töne gewebt wird. Wenn eine einzelne Person die siku spielt, ist das eine moderne, weiße Interpretation. Auf dem Dorf gibt es das nicht als einzelnes Instrument, das alle Töne hat. Das zeigt das Prinzip, dass man mindestens zwei Personen braucht, um die Melodie zu spielen. Und das wird auf die tropa übertragen.

Wie funktioniert das in eurem Orchester?
Carlos: Im Orchester machen wir mit dieser Musik musikalische Früherziehung. Sie hat ein enormes pädagogisches Potenzial. Du sagst dem Kind: ,Wir sprechen miteinander. Fang an zu spielen, ich folge dir und wir weben das Gespräch.’ Es ist wie ein Spiel.
Es ist nicht die Arbeit unseres Orchesters, eine indigene Ideologie vor uns herzutragen, sondern wir wollen Alternativen zum hegemonialen westlichen Modell finden: pädagogische, kreative und soziale.
Tatiana: Es ist sehr wichtig, dass die Kinder die anderen Gesichter der Musik kennenlernen. Wie lernen wir Dinge, die am Anfang vielleicht kompliziert klingen, aber ganz simpel sind und ganz wichtig? Nicht nur für die Musik, sondern auch für das Leben. Ich habe selbst in diesem Programm gelernt und dabei viel mehr als im Blockflötenunterricht in der Schule. Und nicht nur die Logiken, die mit den indigenen Instrumenten vermittelt werden. Das bedeutet auch zu lernen, zuzuhören. Wir machen auch Reisen in indigene Gemeinden. Dabei ist immer eines unserer wichtigsten Ziele, eine gegenwärtige Erinnerung zu erhalten.

Erzählt mal von diesen Reisen!
Carlos: Wir haben zu Musik der Kallawaya geforscht, die wandernde Ärzte sind. Dort haben wir eine besondere Musik gefunden, die tuaillu heißt. Die wurde schon mehr als 40 Jahre nicht mehr gespielt, aus verschiedenen Gründen, zum Beispiel die starke Präsenz evangelikaler Kirchen, die in die Region eingedrungen sind. Die waren sehr bemüht, jegliche bestehende heidnische Praxis zu deaktivieren, zu entwurzeln. Wir haben versucht, diese Musik zu finden. Es gab unter anderem einen französischen Ethnologen, der ein paar Aufnahmen von dieser Musik gemacht hatte. Aber diese Aufnahmen haben wir nicht in Bolivien gefunden, sondern in einem Archiv in Paris. Und wir konnten sie nicht mal bekommen, denn sie waren sehr teuer. Also haben wir Raubkopien gemacht. Wir sind reingegangen und haben sie aufgenommen. Nicht für uns, sondern für den Ort. Diese Aufnahmen müssen an dem Ort sein, wo die Musik gespielt wurde.

Konntet ihr die wiedergefundene Musik an diesem Ort spielen?
Carlos: Ja, die Leute konnten nicht glauben, woher wir diese – ihre – Erinnerungen hatten. Die Alten hatten versucht, sich zu erinnern, aber bis auf drei Melodien hatten sie alles vergessen. Es wurde ein Fest organisiert, einige Ältere haben dann mit uns zusammen Musik gemacht und angefangen, sich zu erinnern. Unglaublich.
Tatiana: Manche haben einfach dabeigesessen, überwältigt vom Hören. Dann haben sie gesagt: ‚Nein, ich glaube, das müsste anders sein.’ Sie haben angefangen, uns zu leiten, uns zu korrigieren. Diese Erfahrung hat auch uns sehr bewegt. Es war eine kleine Gemeinde, in der ein Teil der Erinnerung schon verschwunden ist. Es gibt so viele dieser Gemeinden, die zu vergessen zulassen.
Carlos: Es gibt immer noch sehr viele Transkripte und Aufnahmen, aber die Aufbewahrungsorte und Archive der Musik der ganzen Welt sind in den Museen Europas. Wir wollen versuchen, einen Dialog aufzubauen, um diese alte Musik zu reaktivieren, die aus verschiedenen Gründen verschwunden ist. Natürlich nur, wenn in den Gemeinden der Wille besteht. Vielleicht gibt es den nicht, dann können wir nichts tun.

Wie spiegelt sich nun all dies in eurer Installation wider?
Carlos: Wir haben uns entschieden, mit pfeifenden Tongefäßen zu arbeiten. Die finden sich in verschiedenen prähispanischen Kulturen in Peru, Ecuador, Mexiko und Zentralamerika. Zwei Tongefäße, verbunden mit einem Kanal, ergeben ein System von Pfeifen. Der Mechanismus arbeitet mit Wasser. Durch den Weg, den das Wasser von einem Gefäß zum nächsten nimmt, fangen sie an zu pfeifen. Das erzeugt zwei sehr ähnliche Pfeiffrequenzen, die im Gehör ein drittes, tiefes Geräusch erzeugen, einen Differenzton, der nur im Ohr gebildet wird. Dieses Konzept von zwei so nahen Frequenzen, die einen dritten Ton erzeugen, ist ein sehr charakteristisches Konzept der indigenen Welt, etwa der Aymara. Ihre Musik ist sehr stark mit diesen akustischen Konzepten verbunden. Mit dieser Art von Zusammenstoß von Geräuschen wollten wir arbeiten. Wir haben Gefäße mit bis zu zehn Tönen entwickelt, die einen ganzen Block von Klängen erzeugen, mit doppelten Köpfen und doppelten Pfeifen, die in beide Richtungen klingen. Die haben wir so aufgebaut, wie die choques in Bolivien. Das ist, wenn mehrere Ensembles zusammenkommen und ihre eigene Musik zur gleichen Zeit spielen. Es entsteht eine Musik mit einer unglaublichen Räumlichkeit. Du kannst entscheiden, welchen Klängen du folgen willst, von hier hinten nach vorne, hin und zurück. Das ist Wahnsinn.

Also könnten alle Besucher*innen ihre ganz eigene Erfahrung in der Ausstellung haben?
Carlos: Genau, je nachdem wann du durch die Galerie gehst und wie lange du bleibst. Mit anderen Künstlern aus Deutschland haben wir die Instrumente mit Motoren verbunden, die über verschiedene Reize aktiviert werden. Zu den Pfeifen haben wir noch ein neues Instrument aus Stacheln entwickelt, ein umgedachtes Konzept aus einem Resonanzsystem für Trommeln, das durch Stacheln zusätzlich zum Schlag auf der anderen Seite der Trommel nachhallt.
Tatiana: Wir haben also mit den Gefäßen und der Perkussion eine Tonweise erschaffen, die zugleich Teil zeitgenössischer Musik ist. Die Basis, ein grundlegender Pfeiler unserer Arbeit und des Orchesters, ist indigene Musik, also Konzepte von Räumlichkeit und dieses Ensemble von Klängen, aber wir machen daraus neue, experimentelle Musik.

„DIE KUNST IN DIE STRAßEN TRAGEN”

Karla Lara auf der Anarche am Rande des Fusion-Festivals 2018 (Foto: Erika Harzer)

In Ihren Liedern nehmen Sie immer wieder Stellung zu politischen Problemen und positionieren sich damit klar gegen die derzeitigen Machthaber*innen in Honduras. Wie können wir uns die kritische Kunstszene in Ihrem Land vorstellen?

Um von der heutigen Kunstszene zu sprechen, muss ich beim Putsch 2009 (gegen den linksorientierten Präsidenten Manuel Zelaya, Anm. d. Red.) anfangen. Viele waren schon vorher künstlerisch aktiv, der Putsch hat allerdings viele neue Künstler*innen hervorgebracht. Nach dem Putsch haben wir das Kollektiv „Künstler*innen im Widerstand“ gegründet. Es war ein Kollektiv, das verschiedene künstlerische Ausdrucksformen vereinte: Es gab Poet*innen, Bildhauer*innen, Sprayer*innen, Sänger*innen. Es waren vor allem Künstler*innen aus den urbanen Zentren. Politisch war es wichtig, vor allem in der Hauptstadt die Präsenz des Widerstands zu zeigen. Wir haben es geschafft, die Kunst in die Straßen zu tragen, um damit einen weiteren Beitrag bei den Mobilisierungen zu leisten.

Was passierte dann?

Mit der Widerstandsbewegung passierte dasselbe, was mit vielen anderen Bewegungen passiert, wenn die Unmittelbarkeit des Anlasses nachlässt: Sie hat sich demobilisiert. Die Gründe: Der Putsch war nicht mehr rückgängig zu machen, der außer Landes gebrachte ehemalige Präsident Manuel Zelaya konnte nach Honduras zurückkehren, aus einem Teil der Widerstandsbewegung entstand eine Partei (Partei Freiheit und Neugründung – Libre). Das alles führte zur Demobilisierung. Auch die „Künstler*innen im Widerstand“ hörten auf, sich kollektiv zu artikulieren.

Der Wahlbetrug Ende 2017 bei den Präsidentschaftswahlen hat zu massiven Protesten geführt, den größten seit dem Putsch. Welche Bedeutung hatte das für die Kunstschaffenden?

Mit dem Wahlbetrug im November 2017 haben sich viele Künstler*innen, die bereits gegen den Putsch aktiv waren, wieder zusammengetan. Wir haben künstlerische und politische Aktionen in den Vierteln der großen Städten organisiert. Die Regierung hatte zu dem Zeitpunkt eine Ausgangssperre verhängt und wir haben uns dem mit unseren Konzerten widersetzt: Sie fanden zwar in geschlossenen Räumen statt, die Leute aus den Vierteln kamen aber zusammen und wir haben sie live über die sozialen Netzwerke verbreitet und damit deutlich zum Ausdruck gebracht, dass wir nicht still zu Hause sitzen, sondern sehr geräuschvoll sind. Wir versuchen nun, unsere Zusammenarbeit auch über den aktuellen Anlass hinaus weiterzuführen.

Wie reagieren der Staat und die nationale Medien auf die kritischen Künstler*innen?

Künstler*innen gegenüber, die anspruchsvolle Kunst mit Inhalt machen, wird die Devise vertreten: Wenn man dich nicht sieht, existierst du nicht. Du kannst an anderen Orten der Welt bekannt sein, aber in Honduras wirst du ignoriert. In den nationalen Medien wirst du nicht auftauchen. Es herrscht regelrecht Zensur. Einige wichtige Medien weigern sich, Werbung für meine Auftritte zu machen, kommerzielle Radios spielen meine Musik nicht. Die Regierung subventioniert hingegen die Musik-Unterhaltungsindustrie. Damit versucht sich das Regime, ein gutes Image zu geben. Zum Beispiel gibt es große kommerzielle Festivals. Da werden Millionen reingesteckt. Die Qualität der Musik ist aber schrecklich, ohne künstlerischen Anspruch. Sie veranstalten Wettbewerbe, aber es geht nicht um Kreativität, sondern lediglich um Cover. Hier wird die Illusion kreiert, dass die Menschen tatsächlich teilhaben können. Doch es geht nur darum, das Geld auf verschiedene Taschen zu verteilen.

Was passiert in der jungen Generation von Künstler*innen?

Es gibt eine bunte Szene. Viele sind in der Studierendenbewegung politisiert worden. Ihre Musik ist vor allem von Ska, Cumbia oder Rock geprägt. Auch literarisch gibt es viel Interessantes. Sie sind die Generation, die noch sehr jung war, als der Putsch stattgefunden hat. Sie sind die Töchter und Söhne des Putsches und sie machen viele radikale und wichtige Dinge. Gerade junge Frauen sind dort sehr aktiv. Sie singen nicht nur, sondern spielen auch Instrumente, schreiben, machen Graffiti und Straßenkunst.

Welchen Herausforderungen müssen sich weibliche Künstlerinnen im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen stellen?

Ich habe die Band „Puras Mujeres“ mitgegründet, die vor allem aus jungen Frauen besteht. Hier habe ich die Erfahrung gemacht, dass es uns Frauen oft schwer fällt, an uns selbst zu glauben – sogar untereinander. Das ist eine schreckliche Altlast des Patriarchats, die wir verinnertlicht haben. Die Realität für die jungen Frauen in Honduras sieht oft so aus, dass sie, auch wenn sie erwachsen sind, noch zu Hause leben. Dort werden sie kontrolliert und die Eltern wollen nicht, dass sie nachts außer Haus sind oder reisen. Es gibt einen großen Unterschied in der Zusammenarbeit mit jungen Männern, sie haben alle Freiheiten. Ich musste noch nie mit den Eltern der Musiker sprechen, aber eigentlich immer mit den Eltern der Musikerinnen. Das sind zwar Anekdoten, zeigt für mich aber, was es in unserer Gesellschaft bedeutet Frau zu sein.

Viele der aktuellen Kämpfe finden auf dem Land statt. Gemeinden sind im Widerstand gegen Wasserkraftwerke, Bergbauprojekte oder Palmölplantagen. Gibt es eine Zusammenarbeit mit Künstler*innen aus den ländlichen und indigenen Gemeinden?

Eines der Probleme ist, dass wir, die wir in der Hauptstadt leben, eine sehr eingeschränkte Sicht auf unser Land haben. Wir denken, Honduras beginnt und endet in Tegucigalpa. Kulturell passiert eine Menge auf dem Land und wir bekommen es nicht mit. In allen Gemeinden gibt es eine lebendige Musik-Szene und landesweit eine Vielzahl verschiedener Musikstile. Die traditionelle Musik der Garífuna, der Nachfahr*innen afrikanischer Versklavter zum Beispiel, Cuerda-Gruppen, interessante Sängerinnen der indigenen Pech und Lenca. Wir Künstler*innen aus der Hauptstadt sollten uns klar darüber werden, dass wir nicht die einzigen sind, die Kunst machen. Wenn ich so darüber spreche fällt mir auf, wie viele wichtige Projekte noch auf mich warten und wie viel es noch zu tun gibt.

„DIE KLEINEN RÄUME DER FREIHEIT“


Sie werden international oft dafür gefeiert, als weibliche Rapperin in der männerdominierten Hiphop-Szene mitzuhalten. Doch eigentlich geht es in Ihrer Musik und Ihrem Aktivismus um viel mehr. Was sind die Themen, die Sie aktuell beschäftigen?
Feminismus und der Kampf um Frauenrechte sind für mich die zentralen Themen, einfach weil Frausein in Zentralamerika bedeutet, in einem permanenten Krieg zu leben. Ein wichtiges Thema ist aber auch die Aufarbeitung der Vergangenheit in Guatemala und ganz Zentralamerika. Nach all den Kriegen, die stattgefunden haben und immer noch stattfinden, muss immer wieder die Frage nach Gerechtigkeit gestellt werden. Noch immer existieren Diktaturen in Zentralamerika. Letztes Jahr kam in Honduras eine illegitime Regierung durch Wahlbetrug an die Macht und militarisiert weiterhin die Gesellschaft. In Guatemala weiß ich nicht mal, welche Bezeichnung ich für die Regierung wählen möchte. Auch hier handelt es sich um eine illegitime Regierung. Als junger Mensch in El Salvador zu leben, ist praktisch ein Todesurteil, vor allem wenn man zur Hiphop-Szene gehört. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden in El Salvador fünf compañeros aus der Hiphop-Szene ermordet. Mein Aktivismus hat viel damit zu tun, über diese Dinge zu sprechen. Über die Situation in Zentralamerika. Und auch über das Überleben. Wir müssen nämlich Tag für Tag sehen, wie wir überleben.

Am 1. April verstarb Ríos Montt, der guatemaltekische Ex-Diktator. Seine Verbrechen blieben damit ungestraft. Was bedeutet das für die guatemaltekische Gesellschaft?
Ich denke nicht, dass sich mit dem Tod von Ríos Montt viel verändert. Momentan stirbt jene politische Klasse, die die Korruption etabliert hat. In Guatemala gibt es ein Sprichwort, das besagt: „Wie traurig, dass der Tod vor der Gerechtigkeit kommt.“ Doch immer noch halten viele Menschen an der Vorstellung fest, dass diese Männer unsere Retter gewesen seien, weil sie Guatemala vor dem Kommunismus bewahrt hätten. Es gibt vor allem wegen des vergangenen Bürgerkrieges (1960-1996 zwischen der guatemaltekischen Regierung und vier linken Guerillaorganisationen, Anm.d.Red.) starke rechte, militärische und antikommunistische Kräfte in Guatemala. Und es ist besorgniserregend, dass wir nur eine kleine Minderheit sind, die sich für die Aufarbeitung der Vergangenheit, für Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit einsetzt.

Was sind in diesem Kontext die konkreten Herausforderungen der feministischen Bewegungen?
Die größte Herausforderung sind die Feminizide. Uns Frauen wird konstant und systematisch das Leben genommen. Außerdem ist es schockierend, wie viele Mädchen sexuellen Missbrauch erleben. Im Durchschnitt sind die Mädchen zwischen sieben und zwölf Jahre alt, wenn sie zum ersten Mal sexuell missbraucht werden. Und das Schlimmste daran ist, dass die meisten Vergewaltigungen im eigenen Zuhause stattfinden. Es ist der Vater, der Bruder, der Cousin, der Großvater und nicht irgendein Verrückter auf der Straße. Mädchen erleben mit sieben die ersten sexuellen Übergriffe und werden mit zehn schwanger. Alle diese Schwangerschaften sind das Resultat von Vergewaltigungen. Guatemala ist ein Land, in dem es keine Sexualerziehung gibt. Wenn man in Guatemala versucht, Aufklärungsmaterial zu verbreiten, hat man direkt mit juristischen Konsequenzen zu rechnen. So Selbstverständliches ist verboten, wie unsere Körper kennenzulernen und uns zu informieren, wie wir uns schützen können. Hier wird uns Frauen das Recht genommen, selbst über unsere Körper zu bestimmen. In El Salvador, Honduras und Nicaragua ist die Situation noch schlechter, es herrscht ein absolutes Abtreibungsverbot. Als Frau ist es schwierig, in einem solchen Umfeld zu überleben, weil ein Krieg gegen uns und unsere Körper geführt wird, von klein auf. In unserer Region Feministin zu sein, bedeutet, sich vielen Gefahren auszusetzen. Und für all diese strukturellen Probleme sind die Staaten verantwortlich.

Trotzdem setzen Sie dieser Gewalt etwas entgegen, indem Sie zum Beispiel Hiphop-Workshops für Frauen geben. Wie kann Hiphop zum Empowerment von Mädchen und Frauen beitragen?
Das Empowerment beginnt in dem Moment, wo du einer Frau einen Zettel und einen Stift in die Hand drückst und sagst: „Erzähl mir von dir.“ Dann entstehen diese kleinen Räume der Freiheit. Die Mädchen und Frauen erzählen ihre Geschichten, teilen ihre Trauer, aber auch ihre Kämpfe und Stärken. Ich gebe in meinen Workshops keinen „Feminismus-Unterricht“, sondern die Frauen empowern sich gegenseitig. Das ist ein Schlüssel des Hiphop. Viele Rapperinnen haben so angefangen, ihre Geschichten zu erzählen, aufzustehen und die Stimme zu erheben.

In Ihrem neuen Album Obsidiana setzen Sie sich unter anderem mit dem feminismo comunitario, dem kommunitären Feminismus, auseinander – ein Konzept, das hier in Europa kaum bekannt ist. Im Song Tzk’at sind Passagen von Lorena Cabnal, der bekannten indigene Feministin aus Guatemala, zu hören. Warum ist es Ihnen wichtig, mit diesem Konzept zu arbeiten?
Das Besondere am feminismo comunitario hier in Zentralamerika ist, dass die bestehenden Kämpfe um Territorien mit der Verteidigung des weiblichen Körpers verbunden werden. Dies ist indigenen Frauen zu verdanken, die seit Langem gemeinsam mit ihren männlichen compañeros im Kampf um Territorien, Land und Flüsse organisiert sind. Sie stießen eine Diskussion darüber an, dass auch die Körper von Frauen einer ständigen Gefahr ausgesetzt sind und ebenso als Territorium des Kampfes angesehen werden müssen. Und sie setzten sich mit der Rolle der Frau in den verschiedenen indigenen Kosmovisionen Zentralamerikas, der Maya, Lenca und Xinca auseinander.
Es wird oft so dargestellt, als sei der Machismo erst durch die Kolonialisierung nach Lateinamerika gebracht worden. Es stimmt zwar, dass Frauen vor der Kolonialisierung nicht das gleiche Ausmaß an Ausbeutung und Unterdrückung erlebten wie danach. Aber dennoch gab es auch in den früheren Gesellschaftsformen Ungleichheit und patriarchale Strukturen. Es ist unglaublich mutig und schwierig, diese Fragen aufzuwerfen, denn es bedeutet, jene Überzeugungen und Traditionen herauszufordern, um deren Erhalt gleichzeitig gekämpft wird. Der feminismo comunitario ist damit ganz anderen Fragen und Realitäten ausgesetzt als westliche Feminismen. Es geht nicht um individuelle Rechte und die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen, sondern ganz grundsätzlich um die Ablehnung kapitalistischer Ausbeutung und des Zwangs zur Entwicklung nach europäischem Vorbild. Die Gemeinden sind ständig mit dem strukturellen Rassismus von Seiten des Staates konfrontiert. Wie können Frauen in diesem Kontext Kritik üben und feministische Forderungen stellen, ohne dass es zur Spaltung der Gemeinschaft führt? Auch darin unterscheidet sich der feminismo comunitario von westlichen Feminismen, die Ziele können nämlich nur gemeinsam mit der ganzen Gemeinschaft erreicht werden.

Welche Verbindung haben Sie zu den Kämpfen dieser indigenen Frauen?
Ich bin selbst nicht Teil der Kämpfe des feminismo comunitario, da ich nicht auf indigenem Territorium lebe. Ich bin Ladina, so bezeichnet man Menschen, die nicht indigen sind, und komme aus der Stadt, wo ich mit vielen Privilegien aufgewachsen bin. Zum Beispiel hatte ich Zugang zur höheren Bildung und wurde in meinem eigenen Land nie diskriminiert. Meine Verbindung zu den indigenen Aktivistinnen ist, dass ich unglaublich viel von ihnen lernen kann. Es ist eine Herausforderung für uns Ladinas, die Kämpfe indigener Frauen sichtbar zu machen und sie zu unterstützen, ohne dabei das Wort an uns zu reißen, ohne unsere Bedürfnisse über ihre zu stellen. Die indigenen Frauen Guatemalas sind die Gruppe, die am stärksten diskriminiert wird. Daher versuche ich, die Plattformen zu nutzen, zu denen ich Zugang habe, um ihre Themen aufzugreifen.

Gibt es für Sie auch eine Verbindung zwischen den Kämpfen hier in Europa und Ihrem Aktivismus in Zentralamerika?
Nicht wirklich. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass unsere Realitäten sehr unterschiedlich sind. Hier in Europa geht es viel um Begriffe und politische Korrektheit und das erschwert manchmal das Verständnis für den Kontext, aus dem ich komme, der komplex und sehr konfliktiv ist. Ich erinnere mich an einen Vortrag, den ich in Spanien gehalten habe. In dem Moment, als es darum ging, dass der weiße Feminismus nicht den Bedürfnissen aller Frauen auf der Welt gerecht wird, rasteten die weißen Frauen total aus. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass alle Bücher, die sie gelesen hatten, nichts wert sein sollten. Aber darum geht es gar nicht. Natürlich haben diese Bücher ihren Wert in dem Kontext, in dem sie geschrieben wurden. Aber nicht alles steht in Büchern. Es ist sehr europäisch, dem rationalen Wissen mehr Bedeutung zuzuschreiben als den Alltagserfahrungen der Frauen um uns herum. Manchmal bringt es mehr, sich zusammenzusetzen, einander zuzuhören und Erfahrungen zu teilen. Auch das ist sehr feministisch.

KEINE POSTKARTE FÜR TOURIS


Als Rebeca Lane (siehe Interview) Anfang Mai in Berlin die Bühne der Kantine am Berghain betritt, jubelt die Menge. Fast alle sprechen Spanisch, sind textsicher und feiern die guatemaltekische Rapperin. Diesmal stellt Rebeca ihr neues Album Obsidiana vor, bereits ihr viertes als Solokünstlerin. Ihre Messages kommen auch in Deutschland an.

„Der Rap ist für mich ein Werkzeug, um über Dinge zu sprechen, die ‚man nicht sagt‘. Ich möchte die Dinge ans Licht bringen, über die meiner Meinung nach in der guatemaltekischen Gesellschaft gesprochen werden müsste.“ Rebeca Lane ist bekannt als Rapperin, politische Aktivistin und Feministin. Dies spiegelt sich in den Texten ihres neuen Albums wider, genauso wie in ihrer Auseinandersetzung mit den indigenen Traditionen Guatemalas: Der Obsidian, wie der titelgebende Song auf deutsch übersetzt heißt, ist ein Vulkangestein, das in der Kosmovision der Maya eine vielschichtige Bedeutung hat – als Werkzeug und in spiritueller Hinsicht. Der Obsidian hilft, verborgene Dinge ans Licht zu bringen.

Das Element Wasser taucht innerhalb des neuen Albums wiederholt auf – im Wortsinn, musikalisch und metaphorisch. Wasser ist für Lane die Verbindung zu vielen Kämpfen, „die aktuell in Zentralamerika geführt werden.“ In Llora el cielo („Der Himmel weint“) prangert die Rapperin die alltägliche Gewalt und den Machismo in ihrer Heimat Guatemala-Stadt an. Es fließen Tränen der Trauer und der Wut. Tzk’at thematisiert den Feminismo Comunitario (dt. komunitärer Feminismus, siehe Interview), wie er in den indigenen Gemeinden im guatemaltekischen Hochland entwickelt und praktiziert wird. Entstanden ist er nicht nur aus dem Kampf gegen den Machismo, er steht auch immer in Verbindung mit der Verteidigung des Territoriums und der Flüsse.

In Soy Centroamérica („Ich bin Zentralamerika“) dominieren Klänge der Karibik, es klingt nach dem Plätschern des türkisblauen Meeres, Palmen und Postkartenidyll. Unterstützt vom salvadorianischen Musiker Zaki rappt sie über diese existierenden Klischees, um ihnen gleichzeitig die andere Realität Zentralamerikas gegenüberzustellen. So heißt es im Song: „Unser Territorium ist umstritten // Unsere Gemeinden befinden sich im Kampf // Wir sind nicht passiv, wie in den Tourismusprospekten // Wir sind keine Postkarte, um in euren Zeitschriften zu erscheinen.“

Das neue Album verzichtet auf die für den Hiphop üblichen Samples, Musiker*innen spielten die Musik ein. Damit emanzipiert sich die Künstlerin von dem gängigen US-amerikanischen Sound des Rap und gibt ihren Songs einen eigenen Klang. Viele Lieder sind von traditioneller lateinamerikanischer Musik inspiriert, die Marimba aus Zentralamerika ist ebenso zu hören wie Rhythmen aus dem andinen Raum, die Produzent*innen des Albums kommen aus verschiedenen zentral- und südamerikanischen Ländern: Ihr Rap klingt nach Lateinamerika.
Daraus ist eine eklektische Mischung entstanden, die nicht nur durch ihre gelungene Verbindung von lateinamerikanischen Musikstilen und Hiphop überzeugt. Ihre politischen und feministischen Texte legen dort den Finger in die Wunde, wo die Regierungen Guatemalas und Zentralamerikas die Dinge lieber in den Mantel des Schweigens gehüllt lassen.

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