KOSMOPOLIT PAR EXCELLENCE

Kurioserweise lernte ich ihn zunächst als Übersetzer kennen. Ich kann wohl behaupten, dass von allen Wörtern, die ich in Joseph Conrads Herz der Finsternis las, kein einziges von Conrad, sondern alle von Pitol stammten, mit Ausnahme der Eigennamen. Auch Tschechow und Andrzejewski lernte ich durch seine Stimme kennen. Jahre später sollte die Universität von Veracruz eine Reihe mit Sergio Pitols Übersetzungen von Autoren wie Witold Gombrowicz, Kazimierz Brandys oder Tibor Déry herausgeben. Dass ihre Werke in Mexiko gelesen wurden, ist Pitol zu verdanken – dem Kosmopoliten par excellence: Geboren in Puebla und aufgewachsen in Veracruz, zog er zum Studium der Rechtswissenschaften nach Mexiko-Stadt. Doch da es ihn drängte, in den Städten seiner Lieblingsschriftsteller zu leben, ließ er sich in verschiedenen Ländern nieder, arbeitete als freier Übersetzer, Kulturattaché und Botschafter. In seinen immer kurzweiligen Seminaren zur russischen und zentraleuropäischen Literatur war eine tiefe Leidenschaft für die erzählerischen Ausdrucksformen zu spüren, für meisterlich gesponnene Handlungsstränge.

An der Universität las ich viele seiner Essays und Erzählungen. Mich jetzt in Lob darüber zu ergehen, wäre ein Verstoß gegen die Ehrlichkeit: Manchmal spielt mein Gedächtnis gegen mich. Was jedoch die zehn Jahre überstanden hat, seit ich aus Xalapa weggezogen bin, ist eine Datei mit El mago de Viena („Der Zauberer aus Wien“, nicht ins Deutsche übersetzt; Anm. der Red.). Dank einer mit Pitol befreundeten Dozentin lasen wir das unveröffentlichte Buch wie eine Exklusiv-Nachricht. Im Gegensatz zur üblichen Universitätslektüre – Literaturklassiker und Standardwerke der Hispanistik – saß ich zum ersten Mal vor einem lebendigen, einem genialen Text, der in den Nullerjahren in eben der Stadt geschrieben worden war, in der ich wohnte, und der sich direkt an mich richtete. Ein schwindelerregender Erzählfluss in meiner eigenen Sprache, eine Kritik der „dummen Literatur“, die Verlage als gut anpreisen, die aber eigentlich platte Unterhaltung ist. Mit diesem Werk beschloss Pit ol seine autobiographische Trilogie, zu der auch Die Kunst der Flucht und Die Reise gehören. Ein Jahr später wurde ihm der Premio Cervantes verliehen.
Als ich von seinem Tod erfuhr, rief ich mir die Zeit an der Universität in Erinnerung: Warum hatte ich, anstelle meine Scheu zu überwinden, den merkwürdigen Plan einer zufälligen Begegnung im Morgengrauen ausgeheckt? Da ich nicht in die Vergangenheit zurückkehren konnte, kehrte ich zu seiner Literatur zurück. Ich las Die göttliche Schnepfe und vergewisserte mich seines einzigartigen Humors. Seine Sprach- und Erzählkunst wird nicht nur mein schlechtes Gedächtnis und die „dumme Literatur“ überleben, sondern einen Teil des weltliterarischen Schatzes bilden.


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VON UND MIT AMAZONIEN LERNEN

„Zu welchem Ende betreiben wir Kapitalismuskritik?“, fragte Elmar Altvater in seiner Abschlussvorlesung am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. „Wir betreiben sie in praktischer Absicht, weil wir die Welt verändern müssen, wenn wir wollen, dass sie bleibt. Die Geschichte ist nicht am Ende. Es gibt Alternativen.“ Das ist jetzt über 14 Jahre her. Und man kann es wie das Motto eines ganzen Lebens lesen.

Mit Elmar Altvater ist einer der großen kritischen Marxist*innen Europas gestorben. Sein Werk wurde in vielen Nachrufen gewürdigt, wenig beachtet blieb aber die Rolle, die Brasilien in seinem Werk und die er für Brasilien spielte. Insbesondere die Amazonasregion war für die Entwicklung seines globalisierungskritischen Ansatzes von großer Bedeutung.

Altvater hat viele Monate seines Lebens in Brasilien verbracht, zunächst als Gastprofessor in Belém, dann durch zahlreiche Einladungen zu Vorträgen und Symposien. Er sprach gut Portugiesisch. Gerne wird von denen, die während seines ersten Brasilienaufenthalts mit ihm zusammentrafen, folgende Anekdote kolportiert: Nachdem er am Vorabend seines ersten Vortrags darauf hingewiesen wurde, dass er seine Rede doch besser auf Portugiesisch halten solle, wurde er kurz bleich, verabschiedete sich höflich in den frühen Abend – und hielt am nächsten Tag seinen Vortrag in durchaus verständlichem Portugiesisch.

Wie so oft widmete er sich dabei Amazonien. Dabei stellte er die Kategorie der „Inwertsetzung“ in den Mittelpunkt seiner Analyse. Er verließ damit die traditionelle Perspektive auf „Entwicklung“, um dergestalt einen kritischen Blick auf das Verhältnis von Weltmarkt und einer peripheren Region zu werfen. Wichtig ist, dass sich Altvater nicht auf den abstrakten Sachzwang Weltmarkt – so der Titel seines Buches mit der Fallstudie zu Amazonien – beschränkte, sondern die konkreten Auswirkungen auf die Region Grande Carajás in den Blick nahm. Dort wurde 1967 das weltgrößte Eisenerzvorkommen entdeckt, dessen generalstabsmäßige Ausbeutung ab den 1980ern in die Wege geleitet wurde – mit allen sozialen und ökologischen Konsequenzen. Altvaters Verbindung von territorialer Analyse mit den Mechanismen des Weltmarkts macht das Buch noch heute lesenswert, vor allem in Zeiten, in denen sich die Debatte um Amazonien oftmals auf das Problem Entwaldung reduziert.

Altvater stellte die Frage nach den „gesellschaftlichen Naturverhältnissen“ neu: Die stoffliche Basis und das Energiemodell des Kapita­lismus waren für sein Werk zentral. Er sah damit die Grenzen des Kapitalismus nicht nur in der krisenhaften Kapitalakkumulation, sondern in dessen Verhältnis zur Natur. Aber als Marxist ging er viel weiter, als nur die Naturzerstörung zu beklagen, vielmehr insistierte er auf der Analyse der ökonomischen Logik, die dieser Zerstörung zugrunde liegt. Und er hörte auch nie damit auf, den Kapitalismus zu kritisieren und diesen als Ursache für die Zerstörung der natürlichen Grundlagen zu benennen – und nicht etwa verkürzt nur den Fleischkonsum oder die Rinderzucht.

Ebenso kritisierte er die extraktivistische Illusion, die Inwertsetzung durch Ausbeutung und Export von Rohstoffen betreibt. Dies produziere nur eine periphere Integration in den Weltmarkt und erzeuge Elend und Ausgrenzung. In den aktuellen Debatten in Lateinamerika bleiben Altvaters Analysen hochaktuell und in ihrem integrierten Blick auf ökonomische, soziale und territoriale Entwicklungen beispielhaft. Elmar Altvater ist am 1. Mai 79-jährig in Berlin verstorben. Ein großer Verlust, auch und nicht zuletzt für Amazonien.


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LANGJÄHRIGES ENGAGEMENT FÜR CHILE


Es war eine traurige Nachricht, die die Redaktion der Lateinamerika Nachrichten Anfang März erreichte. Elfriede Irrall, die bei den LN und bei deren Schwesterorganisation, dem FDCL, den meisten noch unter dem Namen Elfriede Kohut bekannt war, war am 26. Februar dieses Jahres im Alter von 80 Jahren in Wien verstorben.

Der Öffentlichkeit war sie vor allem als Schauspielerin bekannt. Sie trat auf vielen Bühnen auf, vor allem in Wien im Theater in der Josefstadt und im Wiener Volkstheater und in Berlin im Renaissance-Theater, in der Freien Volksbühne und in der Schaubühne in Berlin unter der Leitung Peter Steins. Dazu kamen zahlreiche Auftritte in Rundfunk, Film und Fernsehen.

Elfriede gehörte aber auch zur allerersten Generation der in der Chile-Solidarität Aktiven. Noch vor dem Putsch trafen sich diejenigen, die in Chile gewesen waren und die Volkseinheit (Unidad Popular) von hier aus unterstützen wollten, in Hessen, und organisierten diese Unterstützung – die kurz danach wegen des Putsches ganz andere Aufgaben bekam. Elfriede übernahm die Aufgabe, das „Chile-Solidaritätskonto“ zu führen. Das hat sie lange Jahre mit viel Engagement getan. Auf diese Weise war es möglich, den chilenischen Widerstand gegen die Pinochet-Diktatur über Mittelsmänner und –frauen mit wesentlichen finanziellen Mitteln zu unterstützen.

Elfriede gehörte auch zu der ersten Lateinamerika-Nachrichten-Redaktion, die sich zuerst seit Mai 1973 noch vor dem Putsch gegen die Unidad Popular 14-tägig in Berlin traf, damals noch unter dem Namen Chile Nachrichten.

Menschen wie Elfriede gehören, wie Bertolt Brecht einst schrieb, zu den Unentbehrlichen. Auch im Namen derjenigen, denen ihre solidarische Arbeit in Chile geholfen hat, denken wir mit Respekt und Zuneigung an sie.


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