Im Reichsicherheitshauptamt der SS hatte Walther Rauff die Aufgabe, eine Vergasungsmethode zu entwickeln, bei der die tödlichen Motorabgase während der Fahrt in die geschlossenen Kabinen von Lastwagen eingelassen wurden. In den Kabinen waren Jüd*innen und andere KZ-Insass*innen. Zum Kriegsende 1945 nahmen die Alliierten Rauff gefangen, doch nur ein Jahr später gelang ihm die Flucht aus einem Lager für Kriegsgefangene in Italien. Von dort ging er laut den BND-Dokumenten mit Hilfe eines katholischen Priesters „mit einem Vertrag des syrischen Staates“ nach Syrien. „R. war maßgeblich an dem syrischen Umsturz (1946, Anm. des Autors) beteiligt und wurde von dem neuen Regierungschef mit dem höchsten syrischen Orden ausgezeichnet“. Nach einem weiteren Putsch in Syrien 1948 wurde Rauff des Landes verwiesen und kehrte nach Italien zurück. Während dieses kurzen Italienaufenthaltes arbeitete er für den israelischen Mossad. Wahrscheinlich hatte er keinen Agentenstatus, sondern gab lediglich Informationen weiter.
Über Ecuador nach Chile
Im Jahr 1949 ging der NS-Verbrecher mit seiner Familie nach Ecuador. Dort freundete er sich mit Augusto Pinochet an, dem späteren chilenischen Diktator, der damals Mitglied der chilenischen Militärmission in Quito war. 1958 siedelte Rauff nach Chile über, wo seine Söhne Alf und Walter die Offizierslaufbahn begonnen hatten. Ein Team des US-Senders NBC-TV fand ihn 1966. Er habe im Zweiten Weltkrieg seine Pflicht getan, sagte er damals im Interview. Vielleicht helfe der Vietnamkrieg dem amerikanischen Volk zu verstehen, was damals in Deutschland geschehen sei. „Sind Sie schuldig?“, fragte ein Reporter. „Nein“, sagte Rauff. Im Krieg erhalte man Befehle und müsse sie ausführen. Die Wörter „morden“, „massakrieren“, „töten“ bedeuteten alle dasselbe. Es gebe keine Zeit für Gefühle.
Der BND wusste von Anfang an, mit wem er es zu tun hatte
In der Zwischenzeit, von 1958 bis 1962, beschäftigte der Bundesnachrichtendienst (BND) Rauff in Chile. Der Dienst wusste von Anfang an, mit wem er es zu tun hatte. „Einsatzleiter der Vergasungswagen“ stand auf einer Karte aus der Zeit der Organisation Gehlen, eine Vorgängerorganisation des BND. In den BND-Dokumenten sind zahlreiche Stellen von kaum verhüllter NS-Sprache geprägt. Rauff unterzeichnet „Mit kameradschaftlichem Gruß“ und schreibt über angebotene oder tatsächliche Quellen in Bolivien: „Hat Mein Kampf ins Spanische übersetzt und ist heute noch HITLER-Anhänger.“ In Ecuador rekrutiert Rauff außerdem seine beiden Söhne sowie seinen Stiefsohn Hans Knacke für den BND. Sie dachten wie ihr Vater. Einer von ihnen bekommt wegen „Druckarbeit der Juden“ (BND-Dokumente) keine Arbeit.
Währenddessen forderte die bundesdeutsche Justiz Rauffs Auslieferung. 1962 wurde er schließlich in Chile verhaftet, der BND schaltete ihn ab. In einem dem BND vorliegenden Brief aus dem Gefängnis schrieb er an seine Söhne: „Wenn alle Rauffs Chilenen würden, würde der chil. Volkskörper um einige gute Elemente wesentlich bereichert werden.“ Rauff meint die Verbesserung der chilenischen Rasse (die es nicht gibt) durch nordisches Blut (das es nicht gibt). Der Oberste Gerichtshof lehnte 1963 Rauffs Auslieferung ab und hob die Haft auf.
Zehn Jahre später, am 11. September 1973, putschte das chilenische Militär. Diktator Pinochet ließ Menschen, die er für besonders gefährlich hielt, spurlos verschwinden. Das chilenische Militär hatte keine Erfahrung mit der Entsorgung einer großen Menge von Leichen. Rauff hatte sie. Er hatte miterlebt, wie das ständige Vergraben an seine Grenzen kam, wie deutsche Wachmannschaften psychisch überfordert waren und dass Beweise der Massenmorde im Boden blieben. Deshalb wurden in NS-Deutschland die LKWs als mobile Gaskammern durch stationäre in den KZs ersetzt. Nach dem Putsch wurde Rauff auch in Chile zum Architekten der „industriellen Vernichtung von Regimegegnern“, wie es der Investigativjournalist Wilfried Huismann ausdrückt.
Rauff war enger Vertrauensmann des Diktatur-Geheimdienstes DINA
Das Schicksal der „verschwundenen“ politischen Gefangenen Chiles ist bis heute nur zum Teil geklärt. Über 100 von ihnen, vielleicht einige Hundert, endeten in der deutschen Foltersiedlung Colonia Dignidad in Südchile. Walther Rauff, der bald „der Schakal“ genannt wurde, war am „Verschwinden“ hunderter politischer Gefangener organisatorisch beteiligt. Huismanns Recherche, die in Chile kontrovers aufgenommen wurde, hat dies 2023 enthüllt. Laut Huismann wurden die Gefangenen in Kühlwagen von Folterzentren in Santiago aus zum staatlichen Fischereiunternehmen Pesquea Arauco in San Antonio gebracht, ihre Leichen wurden geschreddert und zu Fischmehl verarbeitet. Rauff war vor Ort: „Er wurde von Agenten der DINA begleitet. Sie sagten mir (einem DINA-Mann, Anm. des Autors): Wir haben sie da hineingeworfen und sie wurden zu Fischmehl verarbeitet. Da sie wussten, dass ich Mamo Contreras Liebling war, haben sie mir nichts vorenthalten.“ Manuel Contreras war der Direktor des Diktatur-Geheimdienstes Dirección de Inteligencia Nacional (DINA).
Leichen von Gefangenen wurden in einem Krematorium für streunende Hunde in Santiago (La Berrera) verbrannt. Ein Zeuge spricht von „mehr als 300“ Fällen. „Während der Diktatur kamen nachts immer wieder fremde Fahrzeuge auf das Gelände. Wir durften nicht in der Nähe bleiben. Die Fremden warfen schwere Säcke in die Öfen“, so der Zeuge, der in dem Hundekrematorium gearbeitet hatte. Dieses letzte Glied in der Kette Verhaftung-Folter-Ermordung-Beseitigung der Leichen war eine eigene Abteilung der DINA, von der ein weiterer Zeuge sagt, sie habe sección para solución final („Sektion für die Endlösung“) geheißen.
Rauff war ein Vertrauensmann von Contreras. Ein früherer DINA-Mann berichtet: „Der Schakal gehörte zur oberen Führungsriege, denn er hatte direkten Zutritt zum Geheimdienstdirektor, meistens kam er in Begleitung von Leibwächtern der DINA. Im Hauptquartier habe ich ihn zusammen mit Willeke gesehen, dem Direktor der Geheimdienstschule“. Christoph Georg Willecke Floel war ein hoher DINA-Offizier. Er und Rauff besuchten die Colonia Dignidad. Willeke war für die Kontakte der DINA mit dem BND zuständig und fuhr nach Aussagen seines damaligen Fahrers regelmäßig zur Deutschen Botschaft. Zweck der Zusammenarbeit war der gemeinsame Kampf gegen chilenische „Extremisten“, die im europäischen Exil lebten. Sein Kontakt in der Botschaft war Militärattaché Oberst Franz Loyo, der überzeugter Pinochet-Anhänger war. Loyo und Rauff spielten zusammen Tennis im deutschen Tennisclub. 1984 starb Rauff in Santiago. An seinem Grab schrie der Chilene Miguel Serrano, Begründer des esoterischen Hitlerismus, lauthals „Heil Hitler“ und reckte den Arm zum Hitlergruß.