Neuanfang Feier nach dem Wahlsieg von Gustavo Petro (Foto: Fredy Henao)
Der Regierungsplan stellte eine lange Liste an Verbesserungen mit Schwerpunkt auf der Stärkung des staatliche Renten- und Gesundheitssystems, der Einleitung der Energiewende und der Umsetzung der Agrarreform vor. Allesamt Pläne, die eine umfangreiche Finanzierung benötigen. Deshalb war es für die Regierung oberste Priorität, mit der Steuerreform durchzustarten. Anfang November wurden die Hauptinhalte der Reform diskutiert: die Einführung von Steuern auf gesundheitsschädliche Lebensmittel mit hohem Zuckergehalt, auf den Export von Öl und Kohle, die Steuer auf Renten und auf die Kirche. Die Reform zielte zunächst darauf ab, 25 Milliarden kolumbianische Pesos zu sammeln.
„Die zentrale Philosophie der Steuerreform als solche besteht aus zwei Aspekten: erstens, die Zahlungsfähigkeit des Landes zu erhöhen und zweitens, die soziale Gerechtigkeit in Kolumbien zu steigern “, teilte Präsident Gustavo Petro CNN mit, nachdem über die Reform in der Senatskammer abgestimmt wurde. Dafür soll in die Beseitigung von Armut und Ungleichheit investiert werden – beginnend mit einer Umverteilung der steuerlichen Last. Im Unterschied zur Politik unter der vorherigen Regierung sollen diejenigen mit einem höheren Einkommen nun auch mehr Steuern zahlen. Des Weiteren sollen Steuervergünstigungen für Unternehmen abgeschafft und Steuerhinterziehung stärker bekämpft werden.
In zwei parallelen Plenarsitzungen verabschiedete der Kongress die meisten der Artikel, die eine Steuererhöhung ausmachen. Die Regierung rechnet damit, ab 2023 mit rund 20 Milliarden Pesos etwa 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zusätzlich an Steuern einzunehmen. Kolumbien ist eines der Länder, das unter den mittleren und großen Volkswirtschaften Lateinamerikas am wenigsten Steuern erhebt: laut OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, erhält der Staat Kolumbien auf diesem Weg 13 Prozent des BIP, während der Durchschnitt in Lateinamerika bei 16 Prozent liegt.
Dennoch traf die Reform bereits während der Verhandlungen auf Kritik von der Opposition, besonders in Bezug auf die zunehmende Versteuerung von Einwegplastik beim Verkauf von Nahrungsmitteln. Die Parteien Centro Democrático und Liga Anticorrupción sehen die Steuer als eine unnötige und weitere finanzielle Last für Kolumbianer*innen, die bereits durch die Inflation von hohen Lebensmittelpreisen betroffen sind.
Die Agrarreform und der „allumfassende Frieden“
Unter anderem soll die neue Steuerreform die Finanzierung von einem der wichtigsten Projekte der Regierung sichern: die Agrarreform. Petro setzt dafür auf den Kauf von ungenutzten Ländereien von Großgrundbesitzer*innen. Das erworbene Land ist für Bauern und Bäuerinnen ohne eigenen Grundbesitz vorgesehen und soll den Landfonds, der im Rahmen des Friedensabkommens geschaffen wurde, teilweise aufstocken. So soll die Reform der Steigerung der Agrarproduktion dienen und gleichzeitig den Friedensprozess fördern.
Nach einer Studie des Wohlfahrtsverbands Oxfam besitzt in Kolumbien derzeit ein Prozent der Bevölkerung über 80 Prozent der privaten Agrarflächen. Die Notwendigkeit einer Agrarreform, die eine gerechte Umverteilung des Landbesitzes wurde bereits im Friedensabkommen im Jahr 2016 festgehalten. Hinzu kommt das 2011 verabschiedete Gesetz für Opfer und Landrückgabe, welches die Rückgabe der Ländereien an Bauern und Bäuerinnen vorsieht, die von Landraub und gewaltsamer Vertreibung betroffen sind. Die Landrückgabe schreitet jedoch nur langsam und keineswegs konfliktfrei voran. Unter anderem wurden mehrere Grundstücksbesitzende, die ihr Land einforderten, bedroht, erneut vertrieben oder gar ermordet. So bleibt die Reform auch in Hinsicht auf den bewaffneten Konflikt und die dadurch verursachte Enteignung von Kleingrundbesitzer*innen ein aufgeladenes Thema, das über reine Wirtschaftsbedenken hinausgeht.
Bereits in der letzten Ausgabe (LN 580/581) berichteten LN über die gelungene Kooperation mit der Föderation von Viehzüchtern Fedegán. Die Föderation erklärte sich bereit, drei Millionen Hektar Weideland an die Regierung zu verkaufen. Hierfür wurden drei Milliarden kolumbianische Pesos (645 Millionen Euro) bereitgestellt. An sich verheißt dieses Abkommen den Auftakt einer lang erwarteten Reform. Diana Salinas, Mitgründerin des Onlinemediums Cuestión Pública, betrachtet im Interview mit der Heinrich-Böll-Stiftung diesen historische Pakt jedoch mit Skepsis. Fedegán sei eine der wichtigsten Lobbyorganisationen Kolumbiens, die sich weigerte an den Friedensgesprächen von 2013 teilzunehmen. Die Zusammenarbeit könne sich daher als eine für alle Seiten pragmatische, vorteilhafte Strategie erweisen. Dennoch bleibe sie problematisch, da Fedegáns Rolle in der Fortsetzung des Konflikts umstritten ist. „Das kann sich als sehr intelligente Strategie erweisen, aber auch zum Bumerang einer Amnestie durch die Hintertür werden“. Nun stellt sich die Frage, wie sich die Regierung dahingehend positionieren wird. In einem Bericht von amerika21 hat sich Landwirtschaftsministerin Cecilia López dazu geäußert: Viehzüchter*innen von Fedegán müssen vor der Übergabe ihrer Grundstücke beweisen, dass sie die legitimen Besitzer der Ländereien seien. Das soll verhindern, dass enteignete Grundstücke zum Verkauf gestellt werden.
Es bleibt also abzuwarten, was für Entwicklungen die Agrarreform wirklich mit sich bringen wird. Doch laut Salinas könnte die Zusammenarbeit mit Fedegán mehr Bewegung in die Verhandlungen mit paramilitärischen Akteuren bringen – ein Vorteil zugunsten des Friedensprozesses. Denn im Rahmen des Gesetzes „Ley de Paz Total“ möchte die Regierung den Kontakt mit allen noch aktiven bewaffneten Gruppen und mögliche Friedensverhandlungen mit diesen (wieder-)aufnehmen.
Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit den FARC im Jahr 2016 war die Gewalt im Rahmen des Konflikts drastisch zurückgegangen. Nach Angaben des Instituts für Entwicklungs- und Friedensstudien Indepaz ging die Zahl der Morde von 12.665 im Jahr 2012 auf 1.238 im Jahr 2016 zurück – eine fragile Entwicklung, die für viele kein Ende der Gewalt verheißt: „Die ging auch nach dem Friedensabkommen mit der FARC weiter“, erklärte Aktivist José Roviro López Rivera im Interview mit LN. Die Situation hat sich seitdem nur verschlimmert. Denn seit zwei Jahren haben paramilitärische Gruppen und kriminelle Organisationen ihre Präsenz in verschiedenen Regionen Kolumbiens ausgebaut. Dem UN-Bericht von 2022 zu Folge seien diese häufig in illegale Aktivitäten wie Drogenhandel und illegalen Bergbau verwickelt. Mord, sexuelle Gewalt, Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen und Erpressung sind einige der Mechanismen, die sie nutzen, um die Bevölkerung zu unterdrücken. Hinzu kommen die Vertreibungen und die Enteignungen, die weiterhin in den ländlichen Gebieten stattfinden. Indigene und afrokolumbianische Gemeinden machen nach Einschätzungen des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten UNOCHA 57 Prozent der vertriebenen Bevölkerung aus.
Paradigmenwechsel im Kabinett
Weitere Entscheidungen in der Besetzung des Kabinetts richteten sich nach den sozialen Aspekten des Regierungsplans. Schon im ersten Kapitel des Wahlprogramms kündigte Petro an, sich für die Rechte der kolumbianischen Frauen einzusetzen und ihre Teilhabe in politischen Prozessen zu erhöhen. Mit einem intersektionalen Fokus soll Diskriminierung sowohl auf der politischen, als auch der wirtschaftlichen Ebene bekämpft werden. Deshalb sollen bei der Repräsentation nicht nur Frauen, sondern auch andere ausgegrenzte Gruppen wie Jugendliche, indigene Gemeinschaften, Afrokolumbianer*innen, die LGBTIQ+ Community und die kleinbäuerliche Bevölkerung stärker miteinbezogen werden.
Der Grundstein dafür wurde mit der Besetzung seines Kabinetts gelegt. Zum ersten Mal sind indigene Frauen im Kabinett vertreten: Arhuaco-Aktivistin Leonor Zalabata Torres als Botschafterin bei den Vereinten Nationen und Anwältin Patricia Tobón Yagari als Direktorin der nationalen Opfereinrichtung sowie als Leiterin der Einrichtung für Landrückgabe. Ein weiteres Anliegen, das in Zukunft dem Schutz ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen dienen soll, ist die Schaffung eines Gleichberechtigungsministeriums. Der Gesetzentwurf dafür wurde am 18. Oktober vorgelegt und Vizepräsidentin Francia Márquez soll das neu zu schaffende Gleichberechtigungsministerium leiten. Das neue Ministerium soll unter anderem auch die Organisationstruktur der Regierung ändern. Der Frauen- und der Jugendrat, die bisher dem Präsidenten unterstanden, werden abgeschafft und gehen in die Zuständigkeit des neuen Ministeriums über. Während sich die Regierungsstruktur ändert, scheint die Opposition auf der Strecke zu bleiben. Momentan schafft sie es nicht, eine geschlossene Front zu bilden, berichtet El País. In der Senatskammer haben sich die Handlungen des Centro Democrático darauf begrenzt, den Vorschlägen der Regierung entgegenzuwirken. Dafür zeigt Gustavo Petro eine gewisse Kompromissbereitschaft mit der Opposition, und der Ex-Präsident Álvaro Uribe fungiert hierfür als Sprachrohr. Uribes Position ist durch seine Justizprobleme, den politischen Linksruck des Landes und seine von vielen Bürger*innen abgelehnte Nähe zur traditionellen politischen Klasse geschwächt. Sein positives Image erreicht laut der letzten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Invamer keine 25 Prozent. Im Kontrast dazu hat Petro nach seinen 100 Tagen im Amt bei den Kolumbianer*innen mit einem positiven Image von 61 Prozent in der letzten Umfrage vom Nationalen Beratungszentrum Uribe klar an Beliebtheit übertroffen.
Er war nicht in der Lage, seine Partei so zu organisieren, dass sie eine solide Opposition bildet, berichtete El Espectador. In gewisser Weise sei er für die Spaltung verantwortlich, indem er Miguel Uribe Turbay zum Listenführer des Senats wählte, anstelle langjähriger Persönlichkeiten der Partei Centro Democrático. „Es gibt immer noch keine klare Führung“, sagt Andrés Forero, Vertreter des Centro Democratico für die Zeitung El País „Und ich weiß nicht, ob es in den nächsten vier Jahren eine geben wird“. Und doch kann sich das in Zukunft ändern. Der wachsende Wirtschaftsdruck stellt die neue Regierung vor eine noch härtere Probe, aus der die Opposition neue Kraft ziehen könnte.