„DIE REGIERUNG WILL EINE SIMULIERTE DEMOKRATIE“

GONZÁLO GÓMEZ ist Mitglied bei Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Im Jahr 2002 gehörte er zu den Mitbegründern der chavistischen Informations- und Debattenplattform Aporrea.org. (Foto: privat)

Herr Gómez, seit Anfang April erlebt Venezuela fast täglich Proteste. Droht eine weitere Eskalation?
Sowohl Regierung als auch Opposition setzen auf Konfrontation, aber niemand kümmert sich um die Probleme des Landes und der Bevölkerung. Die Politiker glauben anscheinend, dass ihnen dieser Faustkampf am Ende Vorteile für eine mögliche Verhandlungslösung verschafft. Dies könnte zu einer sozialen Explosion führen, die weit über die oppositionsnahen Sektoren hinaus geht.

Marea Socialista hat sich bereits 2014 von der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) abgespalten. Warum haben Sie mit der Regierung gebrochen?
Man muss die Regierung vor allem aufgrund ihrer konkreten Politik und nicht aufgrund des Diskurses oder ihrer Herkunft einordnen. In der Praxis betreibt Maduro eine konterrevolutionäre Politik, die durch eine linke, antiimperialistische und gegen die Bourgeoisie gerichtete Sprache verschleiert wird. Die Regierung zieht die Repression dem Dialog vor, wird immer autoritärer und will die partizipative und protagonistische Demokratie durch eine simulierte Demokratie ersetzen.

Was meinen Sie mit simulierter Demokratie?
Die Kunst besteht darin, eine breite Partizipation vorzugaukeln, obwohl die Regierungspartei PSUV alle Fäden in der Hand hält. Während Referenden behindert und die Regionalwahlen verschoben werden, will Maduro eine Verfassunggebende Versammlung gegen die offensichtliche Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen (siehe Kasten). Aber es geht ihm nicht darum, mit der Revolution voranzukommen und die Rechte der Bevölkerung auszuweiten. Vielmehr soll die Verfassung von Chávez demontiert werden. Denn obwohl die Regierung ständig dagegen verstößt, stellt diese eine gewisse Bremse auf dem Weg in den Autoritarismus dar. Die vom Nationalen Wahlrat beschlossenen Regeln für die Wahl der Verfassunggebenden Versammlung verschaffen der Regierung einen klaren Vorteil und die Bevölkerung darf nicht einmal in einem Referendum darüber entscheiden, ob sie überhaupt eine neue Verfassung will. All dies nimmt dem Vorhaben die Legitimität.

Die rechte Opposition lehnt die Verfassunggebende Versammlung mit ähnlichen Argumenten ab …
… aber sie war es, die während des Putsches 2002 die aktuelle Verfassung abgeschafft hat! Erst der Autoritarismus der Regierung hat sie dazu gebracht, auf die demokratische Karte zu setzen, das ist opportunistisch und verlogen. Wir haben heute eine klassische Rechte, die sich im „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) organisiert und eine neue Rechte, die in der Regierung sitzt. Natürlich sind sie nicht identisch, aber beide konkurrieren um Geschäfte und die Macht, manchmal überlagern und kreuzen sich die Interessen dabei. Die Regierung setzt längst eine Strukturanpassung durch, aber mit chavistischen Symbolen und sozialer Kontrolle.

Wie äußert sich dies?
Maduro führt die Versorgungskrise auf einen Wirtschaftskrieg zurück. Ich bestreite nicht, dass es diesen gibt. Aber es ist eine freiwillig getroffene Entscheidung der PSUV-Regierung, die Importe, auch von Lebensmitteln und Medizin, extrem zu beschränken, und gleichzeitig illegitime Schulden zu bedienen, die vermutlich zu einem großen Teil durch Korruption entstanden sind. Dies über die Bedürfnisse der Bevölkerung zu stellen, hat nichts mit Sozialismus zu tun. Viele Leute aus dem Umfeld der Regierung besitzen prall gefüllte Bankkonten, Luxusanwesen und Landgüter in den USA. Transnationalen Bergbaukonzernen stellt Maduro im Süden Venezuelas ein Gebiet von der Größe Portugals zur Verfügung. Wirtschaftliche Ansätze, von denen Chávez gesprochen hat, wie „endogene Entwicklung“ oder „Ernährungssouveränität“ wurden hingegen größtenteils zerstört.

Trägt dafür denn alleine die aktuelle Regierung die Verantwortung?
Sowohl den Privatunternehmern als auch den Bürokraten der Regierung geht es in erster Linie darum, schnelle Profite zu machen, zum Beispiel, indem sie das System der unterschiedlichen Wechselkurse auf betrügerische Art und Weise ausnutzen. Die Regierung Maduro tut nichts dagegen. Die Ansätze der Arbeiterkontrolle, die Chávez in einigen verstaatlichten Unternehmen eingeführt hat, sind verkümmert, Funktionäre und Militärs führen die Unternehmen, als seien sie ihr Privatbesitz.
Chávez hat diese bürokratisierenden Prozesse zwar bekämpft, aber nicht ausreichend. Kurz vor seinem Tod forderte er in einer programmatischen Rede, „das Steuer herumzureißen“, das heißt, den Beginn eines neuen Zyklus der Revolution einzuleiten. Maduro hat sich davon abgewendet.

Wie ließe sich die schwere Wirtschaftskrise lösen?
Das ist in diesem Stadium alles andere als einfach, da die Krise eine gewisse Eigendynamik angenommen hat, die im völligen Chaos zu enden droht. Aber es gibt ein paar Elemente: Zuallererst brauchen wir einen Dialog. Dieser darf sich aber nicht auf die Parteiführungen von PSUV und MUD beschränken, da diese einen Großteil der Bevölkerung nicht repräsentieren. In diesem Rahmen muss die Gewalt beendet werden und zwar sowohl seitens der Opposition, als auch der Sicherheitskräfte und regierungsnaher Gruppen. Das Recht auf freie Wahlen und die Einhaltung der Verfassung von 1999 müssen garantiert und die Verfassunggebende Versammlung zurückgenommen werden, es sei denn, die Bevölkerung entscheidet über deren Einberufung per Referendum.
Und die Regierung muss dringend Notfallmaßnahmen ergreifen, um die tragische Unterversorgung bei Lebensmitteln und Medikamenten abzumildern. Dazu sollte sie die Zahlung illegitimer Schulden einstellen und die Vermögen, die durch Korruption entstanden sind, konfiszieren, so wie es unsere Verfassung ermöglicht. Das alles muss umgehend geschehen, aber was wir dann brauchen, ist ein politisches Projekt. Wir müssen aus dem extraktivistischen Erdöl- und Bergbaumodell ausbrechen, die Landwirtschaft stärken und die Lebensmittelproduktion erhöhen.

Wie gelingt es Maduro in dieser schwierigen Situation sich weiterhin an der Macht zu halten?
Zu einem guten Teil hat das mit der Chávez-Nostalgie zu tun und der Hoffnung, die bolivarianische Revolution wiederzubeleben. Die Regierung macht sich die in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete Angst vor der klassischen Rechten und den Wunsch zunutze, die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära zu erhalten. Die Sozialprogramme etwa sind zwar deutlich weniger ausgeprägt als früher, dienen aber noch immer als Stoßdämpfer gegenüber der katastrophalen Lage.
Ein weiterer Grund ist das klientelistische Netz von Staatsangestellten und anderen Personen, die direkt von der Regierung abhängen. Dies betrifft auch die Führung vieler Organisationen und Bewegungen sowie das Militär. Und das Gespenst des Putsches von 2002 und der Erdölsabotage 2003/2004 führt dazu, dass viele Venezolaner und Venezolanerinnen, die mit der Regierung brechen, sich nicht der rechten Opposition anschließen. Laut Umfragen und Analysen verortet sich die Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile in keinem der großen Lager mehr.

Dennoch erscheint die politische Landschaft noch immer stark polarisiert. Warum hat sich bisher keine politische Alternative herausgebildet?
Das hat zum einen mit der geringen Sichtbarkeit der Personen zu tun, die diese Alternative verkörpern könnten, mit dem langwierigen Prozess, eigene Organisationsstrukturen aufzubauen und den Hindernissen seitens des Autoritarismus. Unsere Partei Marea Socialista hat zum Beispiel keine Zulassung bekommen. Viele Bewegungen sind von der Regierung kooptiert und die Leute verbringen viel Zeit damit, ihr Überleben zu sichern und in Schlangen für Lebensmittel anzustehen. Die Bevölkerung wartet ab und könnte früher oder später auf den Plan treten, sofern Regierung und Opposition uns nicht vorher erdrücken.

Welche Rolle spielt in diesem Kontext der so genannte kritische Chavismus, dem sich auch Marea Socialista zugehörig fühlt?
Es geht uns zunächst vor allem darum, die Demokratie zu verteidigen und zu verhindern, dass die Gewalt überhand nimmt. Wir haben zum Beispiel schon im vergangenen Jahr eine Plattform zur Verteidigung der Verfassung und eine weitere zur Aufhebung des Bergbaudekretes gegründet. Obwohl wir uns weder an den Demonstrationen für noch gegen die Regierung beteiligen, erkennen wir an, dass es auf beiden Seiten Sektoren gibt, mit denen wir ins Gespräch kommen können. Wir wollen eine demokratische, antibürokratische und antikapitalistische Alternative aufbauen, die das Positive der Revolution rettet und die Fehler über Bord wirft. Daran arbeiten wir bei Marea Socialista gemeinsam mit einer Reihe chavistischer Ex-Ministerinnen und Ministern, Aktivistinnen und Aktivisten, Intellektuellen und Militärs im Ruhestand, die an Chávez’ Putschversuch 1992 teilgenommen haben.

Anhänger*innen der Regierung werfen Marea Socialista und anderen kritischen Chavist*innen häufig vor, der Rechten in die Hände zu spielen. Wie reagieren Sie auf solche Kritik?
Es kommt darauf an, wer so etwas äußert. Ich kann nachvollziehen, dass einige chavistische Sektoren eine Machtübernahme der Rechten fürchten. Wir debattieren darüber, wie man verhindern kann, dass die Oligarchie die Überbleibsel der Revolution zerstört. Aber was sollen wir schon jenen sagen, die uns als Agenten der CIA bezeichnen, weil wir innerhalb der Revolution Kritik üben, die sich aber gleichzeitig gemeinsam mit kapitalistischen Sektoren illegal bereichern?
So etwas anzuprangern ist notwendig und positiv für die Revolution. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dass wir Autoritarismus und Korruption akzeptieren, um uns gegen den Imperialismus zu verteidigen. Nicht die Kritik, sondern die schlechte Regierung gibt der Rechten Auftrieb. Darüber sollte auch ein Teil der internationalen Linken einmal nachdenken.

Im Jahr 2002 haben Sie das chavistische Internetportal Aporrea.org mitbegründet. Heute fällt auf, dass dort sowohl Befürworter*innen als auch Gegner*innen der Regierung publizieren. Welche Rolle kann Aporrea künftig spielen?
Man könnte meinen, Aporrea habe sich verändert, aber tatsächlich haben sich das Land, der Chavismus und die Haltung der Bevölkerung verändert. Als wir uns in Verteidigung der legitimen Regierung von Chávez 2002 gründeten, war unser Slogan: „¡Rompiendo el cerco mediático!“ – „Die mediale Belagerung durchbrechen“. Heute verwenden wir den Plural und sprechen von „Belagerungen“. Denn zusätzlich zur privat-kapitalistischen medialen Hegemonie gibt es eine bürokratisch-staatliche. Die staatlichen Sender haben nicht mehr die Durchlässigkeit, die sie für die sozialen Bewegungen zu Chávez’ Zeiten hatten. Daher ist unsere Rolle nun mehr denn je, Meinungen und Debatten Raum zu geben, die in den privaten wie staatlichen Sender kaum vorkommen. Wir bilden die Widersprüche des Chavismus und der bolivarianischen Revolution ab.

„DIE REPRESSIVEN MASSNAHMEN WERDEN IMMER EXTREMER“

Ihre Organisation gründete sich 2014 im Zuge der damaligen Protestwelle gegen den Präsidenten Nicolás Maduro. Was hat Sie dazu bewogen, aktiv zu werden?
Vor drei Jahren erlebte Venezuela eine sehr ähnliche Situation wie heute. Im Zuge der damaligen Proteste wurden viele Menschen willkürlich festgenommen. Niemand dokumentierte oder verfolgte diese Fälle. Die meisten Venezolaner können sich die Unterstützung eines Anwalts nicht leisten. So erhielt die Mehrheit der Festgenommenen keinerlei juristische Unterstützung. Ich wollte etwas gegen diese Situation tun und gründete gemeinsam mit vier weiteren Anwälten CODHEZ. Wir wollten den Festgenommenen kostenfreie juristische Unterstützung bieten. Unsere Arbeit konzentriert sich auf Zulia, den bevölkerungsreichsten Bundesstaat Venezuelas, und dessen Hauptstadt Maracaibo.

Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Wir haben in den letzten drei Jahren über 100 Personen vertreten, die bei politischen Protesten willkürlich festgenommen wurden. Zudem betreuen wir Fälle extralegaler Hinrichtungen, in die Vertreter des Staates direkt oder indirekt verwickelt sind. Dazu gehören hauptsächlich Fälle, die mit den sog. Operationen zur Befreiung des Volkes (OLP) zusammenhängen.

Worum handelt es sich bei diesen OLP?
Nicolas Maduro rief die OLP als Sicherheitsoperationen ins Leben, um „organisierte Banden und ihre Hintermänner innerhalb der Zivilbevölkerung zu eliminieren“. Aber entgegen der offiziellen Verlautbarungen bestehen diese OLPs hauptsächlich darin, dass Vertreter der Polizei oder der Streitkräfte in marginalisierte Stadtviertel fahren und dort Menschen töten, die angeblich irgendeine Art von Straftat begangen haben. Sie dringen einfach in ihre Häuser ein und töten sie, ohne jegliche Art von Gerichtsverfahren. Von diesen extralegalen Hinrichtungen sind besonders indigene Gruppen betroffen. In der Region La Guajira betreuen wir aktuell 23 Fälle, bei denen Angehörige der indigenen Gruppe Wayú augenscheinlich von Soldaten hingerichtet wurden.

Zielen diese Operationen hauptsächlich auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen?
Nein. Hier in Maracaibo gibt es ein berühmtes Gebäudeensemble, die Torres del Saladillo. Der Komplex besteht aus vier Hochhäusern im Zentrum der Stadt, über 2.000 Menschen wohnen dort. Seit 2014 wurden die Torres del Saladillo immer wieder von der Polizei angegriffen, weil das Gebiet ein traditionelles Zentrum der Protestbewegung ist. Die staatliche Repression ist völlig unverhältnismäßig. Seit April haben wir eine Vielzahl absurder Vorfälle dokumentiert. Fast jede Nacht verschießt die Polizei dort Tränengasbomben. Mehrere Wohnungen brannten durch den massiven Beschuss komplett aus. Ende Mai wurde ein 24-Jähriger bei gewalttätigen Auseinandersetzungen durch ein Bleigeschoss getötet. Das Dezernat für fundamentale Rechte der Staatsanwaltschaft ermittelt in dem Fall – das heißt, dass selbst die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die Bleikugel von einem Vertreter des Staates abgeschossen wurde. Die Menschen leben dort in konstanter Angst.

In welchem Zusammenhang stehen diese repressiven Maßnahmen mit den willkürlichen Festnahmen?
Um beim Beispiel der Torres del Saladillo zu bleiben: Viele der Hinweise auf beispielsweise oppositionelle Aktivisten gehen von den sogenannten patriotas cooperantes aus. Bei diesen kooperierenden Patrioten handelt es sich um ein Spitzelsystem mit anonymen Informanten, das Nicolás Maduro aufgebaut hat, um „destabilisierende Aktionen“ zu verhindern. Mit diesen „destabilisierenden Aktionen“ meint die Regierung im Grunde alles, was irgendwie mit der Opposition zusammenhängt. Deswegen werden die Personen, die bei den Protesten festgenommen werden, in offiziellen Verlautbarungen auch immer als „Störer“, als „Terroristen“ bezeichnet, die die „gesellschaftliche Ordnung und den Frieden destabilisieren“ möchten. In den Torres del Saladillo kam es wiederholt vor, dass Personen, die als Aktivisten der Opposition bekannt waren, unter völlig absurden Anschuldigungen festgenommen wurden, weil sie von diesen kooperierenden Patrioten verraten wurden.

Was sind das für Anschuldigungen?
Wir als Organisation betreuen einen Fall aus dem letzten Jahr, bei dem elf Personen in einem der Torres del Saladillo im Zusammenhang mit einer Einbruchserie in einem Kaufhaus festgenommen wurden. Neun von diesen elf Personen waren als hochrangige Delegierte oppositioneller Gruppen bekannt – keiner dieser Personen konnte irgendeine Verbindung zu den Einbrüchen nachgewiesen werden.

Was passiert, wenn diese Personen anschließend vor Gericht gestellt werden?
Wir haben in den vergangenen Tagen beobachtet, dass die Staatsanwaltschaft nicht mehr alle Entscheidungen der Regierung mitträgt. Mittlerweile ermitteln die Staatsanwälte auf nationaler Ebene in mehreren Fällen, die politisch sehr riskant sind. Leider mussten wir jedoch auch beobachten, dass die Richter den Forderungen der Staatsanwaltschaft oft nicht entsprechen. Wir haben beispielsweise vor kurzem einen Fall begleitet, bei dem die Staatsanwaltschaft die Freisprechung der Angeklagten forderte. Dennoch verhängte der Richter eine Freiheitsstrafe. Es ist eigentlich juristisch gar nicht möglich, dass die Richter ein höheres Strafmaß verhängen, als die Staatsanwaltschaft fordert. Wir sprechen also davon, dass selbst die Richter sich nicht an die Verfassung halten.

Seit einigen Wochen werden Personen, die bei den Protesten festgenommen werden, vor Militärgerichte gestellt. Wie erklären Sie sich dieses Vorgehen?
Ich denke, dass das eine direkt mit dem anderen zusammenhängt. Die Staatsanwaltschaft macht ihre Arbeit und ermittelt auch in politisch brisanten Fällen – und das gefällt den Behörden und der Regierung nicht. Deswegen entziehen sie die Fälle der Gerichtsbarkeit der normalen Staatsanwaltschaft und klagen die Protestierenden vor Militärgerichten an. Um das zu ermöglichen, müssen sie jedoch auch die Anklagepunkte ändern.

Was bedeutet das?
Normalerweise werden Personen, die im Rahmen von Protesten festgenommen werden, wegen Tatbeständen wie „krimineller Vereinigung“, „öffentlicher Einschüchterung“, „Aufruf zum Hass“ oder wegen Sachbeschädigung angeklagt. Diese Delikte fallen jedoch nicht unter die Militärgerichtsbarkeit. Deswegen werden die Protestierenden jetzt der „Rebellion“ bezichtigt oder ihnen werden „Angriffe auf das Militär“ unterstellt. Diese Tatbestände können Zivilpersonen eigentlich juristisch gar nicht erfüllen, ganz abgesehen davon, dass sie mit den realen Vergehen bei den Protesten nichts zu tun haben.

Können Sie dies an einem Beispiel erläutern?
Ein gutes Beispiel ist der Fall von Villa del Rosario, wo Protestierende am 5. Mai eine Chávez-Statue umstürzten. Außerdem plünderten sie mehrere Gebäude und brannten diese teilweise nieder, darunter unter anderem das Rathaus der Stadt. Es steht außer Frage, dass diese Akte bestraft gehören, denn sie haben mit friedlichem Protest – also unserem verfassungsgegebenem Recht – nichts zu tun. Aber wir reden hierbei von Sachbeschädigung, von Brandstiftung, von Plünderung. Das sind alles Tatbestände aus dem Zivilrecht. Dennoch wurden 16 Personen, die an diesem Tag festgenommen wurden, vor Militärgerichte gestellt. Gegen sie wird jetzt unter anderem wegen „Rebellion“ und „Landesverrat“ ermittelt. Sieben der 16 Angeklagten wurden im Militärgefängnis Santa Ana im Nachbarstaat Táchira inhaftiert, obwohl das Verfahren noch nicht einmal abgeschlossen ist.

Ihre Organisation betreut diese und ähnliche Fälle seit 2014. Wie bewerten Sie die politische Entwicklung der letzten Monate vor diesem Hintergrund?
Wir beobachten einen stetigen Anstieg der Gewalt, die repressiven Maßnahmen werden immer extremer. Staatliche Kräfte nutzen jetzt nicht mehr nur Tränengasbomben, sondern auch illegale Waffen mit scharfer Munition. Damit schießen sie teilweise direkt auf die Protestierenden. Am 8. April dokumentierte eine lokale Zeitung, wie die Regionalpolizei von Maracaibo bei einer Demonstration auf die Menschen schoss. Selbst der Sicherheitschef der Polizei sah sich genötigt, auf diese Fotos zu reagieren und verurteilte den Einsatz der Waffen. Dennoch wurden die betroffenen Polizisten bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Und das sind nicht nur Einzelfälle – ständig erreichen uns neue Berichte von Augenzeugen. Das heißt, Teile der staatlichen Kräfte nutzen Waffen mit der eindeutigen Absicht zu töten. So lassen sich auch die unzähligen Todesfälle bei Demonstrationen erklären. Diese Entwicklung hängt aus meiner Sicht auch mit dem von Nicolás Maduro verabschiedeten „Plan Zamora“ zusammen.

Worum handelt es sich bei dem „Plan Zamora“?
Der „Plan Zamora“ ist eine Art Sicherheitsmaßnahme, der jedoch nach wie vor die legale Basis fehlt. Nicolás Maduro ruft mit dieser Operation die Zivilbevölkerung dazu auf, gegen jene Bevölkerungsgruppen vorzugehen, die aus Sicht der Regierung „Chaos verursachen und den Frieden gefährden“. Seit der „Plan Zamora“ verabschiedet wurde, beobachten wir im ganzen Land ein verstärktes Auftreten bewaffneter, gewaltbereiter Zivilisten, deren Aktionen von den Behörden gutgeheißen werden. Dazu zählen neben paramilitärischen Verbänden auch kriminelle Gruppen, die beispielsweise Geschäfte plündern oder Straßensperren errichten und dort Wegzoll verlangen. Ich wurde selbst wiederholt von diesen Banden abkassiert, teilweise in weniger als einhundert Meter Entfernung zur nächsten Polizeipatrouille. Es ist also absolut unwahrscheinlich, dass die Sicherheitskräfte nichts von diesen Aktionen wissen. Das Absurde ist, dass sie gegen die kriminellen Banden im Grunde nichts unternehmen, aber selbst friedliche Protestierende mit absurden Anklagen vor Gericht stellen.

Was müsste also aus Ihrer Sicht geschehen, um die Situation in Venezuela zu verbessern?
Das ist einfach: Alle Beteiligten müssten sich an das halten, was unsere Verfassung vorgibt. Die Regierung müsste endlich die Wahlen durchführen, die bereits 2016 hätten stattfinden müssen. Wenn die Bevölkerung ein Referendum zur Absetzung des Präsidenten durchführen will, muss dieses Referendum ermöglicht werden. Gleichzeitig müssen die Protestierenden ihre Aktionen jedoch auch auf die rechtlich legalen Möglichkeiten, das heißt, den friedlichen Protest ohne Einsatz jeglicher Art von Waffen, beschränken. Die Repression muss beendet werden, die unzähligen politischen Gefangenen müssen frei gelassen werden. Ich finde es außerdem essentiell, dass die Regierung endlich internationale humanitäre Hilfe akzeptiert – zwar kann diese den ökonomischen Notstand im Land nicht beenden, aber zumindest in Ansätzen dabei helfen, die schwere Hungerkrise, die wir gerade erleben, aufzulösen.

// ZUM SCHEITERN VERURTEILT

Die Idee an sich klingt gut. Mittels einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) will der venezolanische Präsident Nicolás Maduro den politischen Machtkampf in Venezuela beenden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte er bei der Übergabe des entsprechenden Dekretes an den Nationalen Wahlrat (CNE). Dass damit die nach Hugo Chávez’ Amtsantritt als Präsident erarbeitete „beste Verfassung der Welt“ von 1999 abgeschafft werden soll, sehen die Chavist*innen keineswegs als Widerspruch an. Vielmehr solle diese der gesellschaftlichen Realität angepasst werden, indem etwa die vielfältigen Sozialprogramme und Selbstverwaltungsstrukturen Verfassungsrang bekommen.
Doch hinterlässt Maduros Ankündigung jede Menge Fragezeichen. Sie erfolgt mitten in einer tief greifenden politischen und wirtschaftlichen Krise, in der die gesellschaftliche Polarisierung vollends in Gewalt umzuschlagen droht. Gewissheit gibt es nicht, doch spricht einiges dafür, dass die Regierung momentan kaum eine Chance hätte, eine demokratische Wahl zu gewinnen. Die Zusammensetzung einer VV kann in diesem Kontext nur zugunsten der chavistischen Kräfte ausfallen, wenn einzelne Gruppen Sonderrechte erhalten oder die Opposition den Prozess boykottiert. In beiden Fällen würde einer neuen Verfassung bereits vor ihrer Verabschiedung ein Makel anhaften. Denn eine Magna Charta braucht vor allem eines: Legitimität.
Die Krise, in der sich Venezuela befindet, lässt sich auf diese Art und Weise nicht lösen. Die rechte Opposition, für die demokratische Regeln immer schon eine allenfalls taktische Rolle gespielt haben, bezeichnet Maduro mittlerweile offen als Diktator. Sie will nur dann an den Verhandlungstisch treten, wenn sie zuvor die Zusage zu sofortigen Neuwahlen erhalten hat. Die venezolanische Regierung warnt ihrerseits vor Umsturzplänen, agiert immer autoritärer und interpretiert die bestehende Verfassung nach ihrem Gusto. Dass unter diesen Bedingungen ein fruchtbarer gesellschaftlicher Dialog erwächst, ist mehr als fraglich. Eher vertieft der Vorstoß die ohnehin schon kaum mehr zu kontrollierende Polarisierung.
Dass die Regierung derart diskreditiert ist, liegt nicht zuletzt an eigenen Fehlern. Die Schuld an der gravierenden Wirtschafts- und Versorgungskrise lastet Maduro einseitig dem niedrigen Erdölpreis und einer Sabotage seitens der Privatwirtschaft an, ohne jedoch die strukturellen Ursachen anzugehen. Kritik ist auch aus den eigenen Reihen unerwünscht, eine offene Debatte gibt es schon lange nicht mehr. Letztlich hat Maduros Regierungspolitik nur noch wenig mit mit dem unter Chávez begonnenen „bolivarianischen Prozess“ zu tun, in dem es vor allem um politische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit ging.
Es scheint kaum mehr möglich, dass die Regierung von innen heraus zu einer progressiven Ausrichtung des Chavismus zurückfindet. Eine Machtübernahme durch die rechte Opposition hätte für die politische Stabilität des Landes und die Situation der ärmeren Bevölkerungsmehrheit indes fatale Konsequenzen. Hoffnung böte alleine das Emporkommen einer linken Alternative, die in Verbindung mit sozialen Bewegungen als dritter politischer Akteur die lähmende Polarisierung aufbricht. Bisher gibt es dafür nur vereinzelte Ansätze wie etwa den so genannten kritischen Chavismus, zu dem sich die PSUV-Abspaltung Marea Socialista („Sozialistische Flut“), einige von Chávez’ Ex-Minister*innen und eine Reihe prominenter Intellektueller zählen. Obwohl sich laut Umfragen mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung keinem der beiden großen Lager mehr zurechnet, werden bisher jegliche Ansätze jenseits der beiden großen Blöcke durch die Polarisierung zerrieben. Kurzfristig scheint ein Bündnis aus kritischen Chavist*innen und konstruktiven Oppositionellen, die es durchaus auch gibt, unrealistisch. Mittelfristig ist dies die einzige Möglichkeit, die positiven Seiten des chavistischen Erbes zu retten.

RISKANTE FLUCHT NACH VORN

Er hielt Wort. Im Vorfeld des 1. Mai hatte Nicolás Maduro für den Tag der Arbeit „historische Ankündigungen“ versprochen. Daran gemessen, wie oft der venezolanische Präsident in seiner nunmehr vierjährigen Amtszeit unspektakuläre Ankündigungen gemacht hat, war abgesehen von einer erneuten Anhebung des Mindestlohns nicht unbedingt viel zu erwarten gewesen. Doch hatte er dieses Mal tatsächlich noch mehr im Gepäck. „Ich berufe eine Verfassunggebende Versammlung der Bürger ein“, rief Maduro seinen Anhänger*innen auf der chavistischen Maikundgebung im Zentrum von Caracas zu. Nicht Parteien oder Eliten, sondern verschiedene Sektoren, wie die Arbeiterklasse, Bäuerinnen und Bauern, Frauen, Studierende und Indigene, sollten eine neue Verfassung ausarbeiten, um die politische Krise zu überwinden, betonte der Staatschef. Er nannte die Zahl von 500 Delegierten, von denen bis zu 250 von sozialen Bewegungen und Basisorganisationen und die übrigen auf kommunaler Ebene gewählt werden sollten. Eine ausschließlich mit chavistischen Politiker*innen und Jurist*innen besetzte Präsidialkommission wird die nötigen Vorbereitungen treffen, bevor der Nationale Wahlrat (CNE) über das genaue Prozedere entscheidet.

Eine neue Magna Charta würde die bolivarianische Verfassung von 1999 ersetzen, die zu Beginn der Regierungszeit von Hugo Chávez als eines seiner zentralen Wahlversprechen verabschiedet worden war. In der Vergangenheit hatten Chávez und viele seiner Anhänger*innen die Verfassung immer wieder als „beste der Welt“ bezeichnet. Maduro sprach denn auch nicht davon, die bestehende Verfassung komplett zu verwerfen. Vielmehr solle sie „perfektioniert“ und „Chávez’ Traum vollendet“ werden. Im Jahr 2007 scheiterte dessen Versuch, Venezuela durch eine breite Verfassungsreform als sozialistischen Staat zu definieren, knapp an den Wahlurnen.

Am 3. Mai reichte Maduro das Dekret, mit dem die Verfassunggebende Versammlung (VV) einberufen wird, beim CNE ein. Darin schlägt er neun Bereiche vor, die überarbeitet werden sollen. Unter anderem sollen die Staatsgewalten neu geordnet werden, die Sozialprogramme sowie Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung Verfassungsrang bekommen und das Wirtschaftsmodell verbessert werden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte Maduro und stichelte in Richtung Opposition. „Ihr wolltet Wahlen, hier habt ihr Wahlen.“ Seinen Gegner*innen versicherte er, dass sie sich an der VV beteiligen können, sofern sie Kandidat*innen aufstellen. Darüber, wie die Wahl genau ablaufen wird, entscheidet nun der CNE.

Während Vertreter*innen der Regierung den Vorstoß als Lösungsansatz der politischen Krise Venezuelas feierten, übte die rechte Opposition vernichtende Kritik an dem Vorhaben. „Wir Venezolaner werden nicht akzeptieren, dass der maduristische Selbstputsch weiter geht“, schrieb der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Gouverneur des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, unmittelbar nach Maduros Ankündigung auf Twitter. Zudem bezeichnete er die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung als „Betrug vom Diktator“ und rief die Bevölkerung dazu auf, sich zu widersetzen. Parlamentspräsident Julio Borges sprach vom „schlimmsten Putsch in der venezolanischen Geschichte.“ Das Ziel Maduros sei es, freie Wahlen zu verhindern und die Demokratie zu zerstören. In den vergangenen Jahren hatten viele Oppositionspolitiker*innen die Einberufung einer VV immer wieder selbst als Lösung der Krise ins Gespräch gebracht. Dabei hatten sie allerdings eine gänzlich andere Zusammensetzung im Sinn, als sie Maduro nun vorschwebt.

Auch Vertreter*innen der marginalisierten linken Opposition äußerten sich ablehnend. „Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre permanente Verletzung?“, fragte Miguel Rodríguez Torres, Innenminister zwischen 2013 und 2014. Nicmer Evans von Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas PSUV, bezeichnete die Verfassunggebende Versammlung als „klaren Verrat an Chávez und der Bevölkerung“ und warf der Regierung vor, den „Tod des chavistischen Projektes“ zu befördern.

Unter Verfassungsrechtler*innen fällt die Beurteilung je nach politischer Sympathie ebenfalls unterschiedlich aus. Während der oppositionsnahe Jurist Juan Manuel Rafalli als Hauptziel den Wunsch der Regierung ausmacht, „jede Art von Wahl zu verhindern“, sieht der Chavist Jesús Silva in der VV den einzigen verfassungskonformen Weg, um zeitnah alle staatlichen Instanzen neu wählen zu lassen, wie es die Opposition fordere.

Rein formal ist Maduro nichts vorzuwerfen. Laut Artikel 348 der Verfassung verfügt unter anderem der Präsident über die Kompetenz, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Gegen den Inhalt einer daraus erwachsenen Magna Charta können weder er noch andere staatliche Gewalten ein Veto einlegen. Über die Mechanismen zur Wahl der VV macht die derzeitige Verfassung jedoch keine konkreten Angaben, ein spezifisches Gesetz existiert nicht. Auch sind weder zur Einberufung der VV noch zur Verabschiedung einer neuen Verfassung Referenden vorgesehen. Verfassungsergänzungen und -reformen bedürfen hingegen ausdrücklich der Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit. Wenngleich Maduro mit seinem Vorstoß bei vielen chavistischen Basisbewegungen punkten könnte, die seit Langem eine Vertiefung der partizipativen Demokratie fordern, ist es fraglich, ob die politische Krise im Land dadurch beigelegt werden kann. Im Gegenteil, inmitten der größten Protestwelle seit 2014, könnte Maduros vermeintlicher Befreiungsschlag nach hinten losgehen.

„Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre Verletzung?“

Seit Anfang April tragen linke Regierung und rechte Opposition ihren Machtkampf teilweise gewalttätig auf der Straße aus. Die bisherige Bilanz: Mindestens 37 Todesopfer, hunderte Verletzte und mehr als 1.300 festgenommene Personen. Für die immer wieder aufflammende Gewalt machen sich beide Seiten gegenseitig verantwortlich. Tatsächlich sind sowohl staatliche Sicherheitskräfte, als auch oppositionelle Gruppen für Tote und Verletzte verantwortlich. Acht Menschen starben zudem durch Stromschläge, als sie eine Bäckerei in El Valle, im Südwesten von Caracas, plündern wollten und mit Starkstromkabeln in Berührung kamen. Aus den Reihen der Opposition gibt es immer wieder Vorwürfe, motorisierte chavistische Basisorganisationen aus den barrios, so genannte colectivos, würden gezielt oppositionelle Demonstrationen beschießen. Von den bisher aufgeklärten Todesfällen geht allerdings keiner auf die colectivos zurück.

Als Auslöser der derzeitigen Protestwelle gilt die vorübergehende Übertragung der legislativen Kompetenzen auf das Oberste Gericht (TSJ) Ende März, die dieses erst nach massiver Kritik wieder zurücknahm. Die von den USA und rechtsgerichteten Regierungen Lateinamerikas unterstützte Opposition bezichtigt Maduro, eine Diktatur errichten zu wollen und fordert zeitnahe Neuwahlen, die Neubesetzung des Obersten Gerichts, die Freilassung aller von ihr als politische Gefangene bezeichnete Personen sowie die Einrichtung eines humanitären Korridors, um die Bevölkerung mit Hilfsgütern zu versorgen. Die venezolanische Regierung warnt 15 Jahre nach dem gescheiterten Putsch gegen den damaligen Präsidenten Hugo Chávez hingegen vor neuen Umsturzplänen und einer angeblich geplanten US-Intervention. Als Reaktion kündigte Maduro eine weitere Militarisierung und Bewaffnung der regierungsnahen Milizen an, die das Land im Ernstfall mit verteidigen sollen. Die Militärführung, die nicht zuletzt wirtschaftlich zu den Nutznießer*innen der Regierung zählt, steht weiterhin demonstrativ hinter der Regierung – den wiederholten Aufforderungen oppositioneller Politiker*innen zum Trotz, sich auf die Seite der Regierungsgegner*innen zu stellen.

Beflügelt werden die Proteste nicht zuletzt durch die tief greifende Wirtschafts- und Versorgungskrise. Seit dem deutlichen Sieg des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen Ende 2015 schaukelt sich der Machtkampf kontinuierlich hoch. Auf der einen Seite steht eine immer autoritärer agierende Regierung, die sich die Verfassung für die eigenen Zwecke zurechtbiegt. Auf der anderen Seite stilisieren sich die rechten Regierungsgegner*innen als Verteidiger*innen jener Verfassung, die sie in der Vergangenheit stets abgelehnt haben. Weitgehend unstrittig ist indes, dass sich die staatlichen Gewalten häufig politisch instrumentalisieren lassen und der Machtkampf die Lösung der wirtschaftlichen Probleme blockiert. Während die oppositionelle Parlamentsmehrheit seit Beginn vergangenen Jahres offen auf einen Regierungswechsel hinarbeitet und den übrigen Gewalten die Anerkennung verwehrt, regiert Maduro per Dekret. Das TSJ blockiert derweil die parlamentarische Arbeit und nickt jede noch so abenteuerliche Interpretation der Verfassung ab. Auch der in Venezuela als eigene Gewalt fungierende CNE kommt seiner verfassungsmäßigen Rolle nur noch bedingt nach. Nicht nur stoppte er im vergangenen Oktober das von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum wegen vermeintlicher Betrugsdelikte bei der Unterschriftensammlung. Auch verschleppt der CNE die, laut Verfassung, für Ende vergangenen Jahres vorgesehenen Regionalwahlen und hat im Februar eine Neuregistrierung fast aller politischen Parteien angeordnet.

In diesem Kontext entschied das TSJ Ende März, die Kompetenzen der Nationalversammlung selbst zu übernehmen und hob die Immunität der Parlamentarier*innen auf. Als Anlass galt ein Urteil zu der Frage, wie der venezolanische Staat staatlich-private Mischunternehmen im Bergbaubereich gründen könne, wenn dafür doch eigentlich die Zustimmung der Nationalversammlung erforderlich ist. Nachdem die chavistische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega während einer Liveübertragung im Staatsfernsehen von einem „Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung“ gesprochen hatte und daraufhin Präsident Maduro intervenierte, nahm das Gericht die umstrittenen Beschlüsse zurück. Weiteres Öl ins Feuer goss der Rechnungshof, der gemeinsam mit der Generalstaatsanwältin und dem Ombudsmann für Menschenrechte, laut venezolanischer Verfassung, ebenfalls eine eigene Gewalt darstellt. Am 7. April erkannte er dem prominenten Oppositionsführer Henrique Capriles, unter anderem aufgrund von Korruptionsvorwürfen, für 15 Jahre das passive Wahlrecht ab. Neben dem wegen Anstachlung von Gewalt seit drei Jahren inhaftierten Leopoldo López galt Capriles bisher als aussichtsreichster Oppositionskandidat für die Präsidentschaftswahlen Ende 2018.

Der eskalierende Konflikt zwischen Regierung und Opposition hat auch international bereits Konsequenzen. Im April kündigte Venezuela an, als erstes Land in der Geschichte freiwillig aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) austreten zu wollen. Die Regierung wirft der US-dominierten Regionalorganisation und ihrem Generalsekretär, dem Uruguayer Luis Almagro, Einmischung in innere Angelegenheiten vor.

Inmitten verhärteter Fronten profiliert sich die venezolanische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega indes als unabhängige Stimme innerhalb der staatlichen Institutionen. Oppositionelle Beobachter*innen werten dies als „Riss“ innerhalb des chavistischen Machtapparates. Ortega verurteilte nicht nur den „Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung“, sondern fand Ende April auch klare Worte für die gewalttätigen Auseinandersetzungen. Eindringlich lehnte sie die Aktionen gewalttätiger Gruppen ab, nannte aber auch konkrete Beispiele, in denen der Staat die Rechte der Protestierenden etwa durch willkürliche Festnahmen verletzt habe. „Wir müssen endlich damit aufhören, uns als Feinde zu betrachten“, betonte sie. Sie sprach sich für die Wiederaufnahme des Ende vergangenen Jahres gescheiterten Dialoges aus. Niemand in Venezuela wolle einen Bürgerkrieg oder Einmischung von außen, für eine wirklich demokratische Gesellschaft seien Andersdenkende von fundamentaler Bedeutung. Anfang Mai legte sie in ihrer Kritik nochmal nach. „Wir können von den Bürgern nicht verlangen, sich friedlich und gesetzestreu zu verhalten, wenn der Staat Entscheidungen trifft, die gegen das Gesetz verstoßen“, sagte sie gegenüber der US-amerikanischen Tageszeitung The Wall Street Journal. An der aktuellen Verfassung sei nichts zu verbessern. „Es ist die Verfassung von Chávez.“ Venezuela wäre derzeit wohl am meisten geholfen, wenn sich sowohl Regierung als auch Opposition an diese Verfassung halten würden.

KONTINENTALES BEBEN

Leviathan – das biblische Monster aus den Tiefen des Meeres: Einen besseren Namen für die Untersuchungsoperation hätten sich die Ermittler*innen kaum ausdenken können. Am 18. Februar dieses Jahres begann die brasilianische Bundespolizei erneut, Büros und Privatwohnungen von Politiker*innen zu untersuchen. Diesmal ging es um Schmiergeldzahlungen des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht im Zusammenhang mit dem Bau des umstrittenen Projekts Belo Monte. Das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt am Xingu-Fluss mitten in Amazonien wird von Kritiker*innen als „Belo Monstro“ – „Schönes Monster“ – bezeichnet. Und tatsächlich liegt das Bauwerk im Flusslauf des Xingu wie ein gestrandetes Meeresungeheuer.

Nach Aussagen der Ermittler*innen sollen ein Prozent der etwa 8,5 Milliarden US-Dollar Gesamtkosten des Baus in die Kassen von Parteien geflossen sein. Um welche Parteien es sich handelte, wurde nicht erwähnt. Vermutlich handelt es sich aber um die rechtskonservative PMDB, der der aktuelle Präsident Michel Temer angehört, und um die linke Arbeiterpartei PT, an deren Vorgängerregierung Temer als Vizepräsident ebenfalls beteiligt war.

Leviathan ist die jüngste Ermittlung, die aus der Operation Lava Jato – deutsch für „Autowaschanlage“ – erwachsen ist. Lava Jato begann vor zwei Jahren und elf Monaten und brachte schon einigen Politiker*innen massive Probleme — wie im Fall des ehemaligen Gouverneurs des Bundesstaates Rio de Janeiro, Sérgio Cabral. Unter anderem weil er Bestechungsgelder von Odebrecht im Zusammenhang mit der Renovierung des Fußballstadiums Maracanã angenommen hat, sitzt Cabral derzeit im Gefängnis. Die öffentlichkeitswirksamen Ermittlungen trugen auch zur umstrittenen Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff bei, obwohl ihr bislang keine Beteiligung an den kriminellen Machenschaften nachgewiesen werden konnte. Zunächst ging es bei Lava Jato nur um die Veruntreuung von Geldern des staatlichen brasilianischen Erdölkonzerns Petrobras für die Wahlkampfkassen von brasilianische Parteien. Doch je weiter die Ermittler*innen bohrten, desto mehr kam zum Vorschein. Schnell ging es auch um den Baukonzern Odebrecht und der Skandal zog  internationale Kreise.
Da die Schmiergeldzahlungen unter anderem über die Schweiz und die USA liefen, klagten die beiden Länder vor einem New Yorker Gericht gegen Odebrecht. Im vergangenen Dezember stimmte das Unternehmen einer Strafe von 3,5 Milliarden Dollar zu, der höchsten Summe, die je in solch einem Fall gezahlt wurde. Odebrecht hatte vor  Gericht zugegeben, in den Jahren von 2001 bis 2014 etwa 788 Millionen US-Dollar Schmiergeld in zwölf Ländern Lateinamerikas und Afrikas gezahlt zu haben, um an öffentliche Aufträge zu kommen. Seitdem kommen die Ermittlungen nicht mehr zur Ruhe.

In der Dominikanischen Republik wurden die Büroräume von Odebrecht durchsucht. In Venezuela fror die Justiz Ende Februar die Konten des Unternehmens ein, auch hier hatten Militärs Büroräume durchsucht. Der Präsident Panamas, Juan Carlos Varela, soll ebenfalls Bestechungsgelder der Firma entgegengenommen haben. In Kolumbien wurde der ehemalige Vizeminister für Transportwesen, Gabriel García Morales, verhaftet, weil er gegen Schmiergelder den Auftrag für den Bau einer Überlandstraße an Odebrecht vergeben haben soll.
Viele Politiker*innen versuchen, die Odebrecht-Aussagen zu nutzen, um ihren politischen Gegner*innen zu schaden. In Ecuador, wo am 21. Februar die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfand, versuchte die Opposition die Anschuldigungen gegen die Regierung zu verwenden, um dem Kandidaten von Präsident Rafael Correa zu schaden. In Venezuela, wo die Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Regierung sich in den letzten Monaten massiv zugespitzt hatten, versucht die Regierung den Skandal für sich zu nutzen. Der sozialistische Präsident Nicolás Maduro hatte Mitte Februar erklärt: „Ein Gouverneur hat Geld von Odebrecht angenommen und dafür wird er ins Gefängnis gehen!“ Die Anschuldigungen gingen in Richtung des Oppositionsführers und Gouverneurs des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, der die Vorwürfe von sich wies.

Tatsächlich erstrecken sich die Vorwürfe über alle politischen Lager hinweg. Offenbar zahlte Odebrecht in die Wahlkampfkassen sowohl linker als auch rechter Politiker*innen, um danach eine Bevorzugung bei der Vergabe von Aufträgen zu erhalten. In Argentinien gibt es Hinweise, dass Odebrecht korrupte Verbindungen sowohl zu den linken Ex-Präsidenten Néstor und Cristina Kirchner als auch zum rechten Präsidenten Marcelo Macri unterhielt.
Der spektakulärste Fall des Odebrecht-Skandals ist sicher Peru. Praktisch alle Präsidenten, die das Land von 2001 bis 2016 regiert haben, sollen von Odebrecht bestochen worden sein. Gegen den Ex-Präsidenten Alejandro Toledo (2001-2006) ist ein internationaler Haftbefehl ausgesetzt, er soll 20 Millionen Dollar erhalten haben und dafür den Auftrag für den Bau der „Interozeanischen Straße Süd“ zwischen Peru und Brasilien an Odebrecht vergeben haben. Toledos derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt.

Um das ganze Ausmaß des Skandals zu erfassen, wollen die Staatsanwaltschaften der betroffenen Länder bei den Ermittlungen zusammenarbeiten. Am 18. und 19. Februar trafen sich in Brasília Generalstaatsanwält*innen aus 15 Ländern, mehrheitlich aus Lateinamerika und Afrika, um sich über ihren jeweiligen Untersuchungsstand auszutauschen. Zehn Staaten unterschrieben ein Abkommen, das unter anderem internationale Ermittler*innenteams vorsieht. Es ist die größte internationale juristische Kooperation, die je zu einem Korruptionsfall  in Lateinamerika stattfand.

Die Zusammenarbeit wird wohl auch nötig werden, denn das komplizierte Netz von Odebrechts Zahlungen zu entflechten, wird eine schwierige Aufgabe. Mehrere Briefkastenfirmen und Banken in Steuerparadiesen waren dabei involviert. Das Unternehmen ging so weit, eine Bank auf Antigua und Barbados aufzukaufen, um Zahlungen abzuwickeln. Die panamaischen Behörden ermitteln in diesem Zusammenhang auch gegen die Anwaltskanzlei Mossack Fonseca, die schon bei der Veröffentlichung der Panama Papers eine Hauptrolle spielte.
Als Hauptplaner dieses kriminellen Netzwerks wird der Firmenchef und Gründererbe, Marcelo Odebrecht selbst, angesehen. Im vergangenen Jahr ist er in Brasilien zu 19 Jahren Haft wegen Bestechung, Geldwäsche und anderer Delikte verurteilt worden. Durch seine Kooperation mit der Justiz wird er seine Strafe vermutlich halbieren können, zudem wird wohl ein Teil in offenen Vollzug umgewandelt. Insgesamt haben 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht im Rahmen von Kronzeug*innenregelungen ausgesagt. Mehrere Medien warnen davor, die Anschuldigungen der Ex-Odebrecht Manager*innen zu ernst zu nehmen: Schließlich beschuldigten da Kriminelle andere, um ihre eigene Haut zu retten.

Bislang unterliegen die Aussagen der Ex-Manager*innen noch der Geheimhaltung, da es um laufende Ermittlungen geht. Nur tröpfchenweise kommen Gerüchte zutage. Viele Politiker*innen – insbesondere die von den Anschuldigungen betroffenen – verlangen nun, dass die Geheimhaltung aufgehoben wird: Die kleinen Nadelstiche schaden mehr, als die Explosion einer großen Bombe. Vor allem können sie wohl besser an ihrer Verteidigung arbeiten, wenn sie wissen, was ihnen vorgeworfen wird.

Die Opposition in Brasilien glaubt, dass die Regierung nun bei ihrer Verteidigung gegen ein drohendes Odebrechtbeben ein gutes Stück vorangekommen ist. Am 22. Februar wurde Alexandre de Moraes als neues Mitglied des Obersten Gerichtshofs bestätigt. Michel Temer hat den ehemaligen Justizminister und Ex-Mitglied der PMDB als Nachfolger für den im Januar tödlich verunglückten obersten Richter Teori Zavasci bestimmt (siehe LN 512). Zavasci war für die Beurteilung der Aussagen der 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht zuständig. Nun glauben Regierungskritiker*innen, dass die Regierung mit Moraes einen Vertrauensmann in das Gericht gehievt hat, um der politischen Klasse die Schlinge aus dem Hals zu ziehen. Andererseits sind die Ermittlungen und Enthüllungen bereits so fortgeschritten, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass die alten Eliten so korrupt weiter regieren können wie bisher. In der Dominikanischen Republik gab es im Januar bereits Massenproteste, die ein Ende der Straflosigkeit in dem Korruptionsskandal verlangten.

Vielleicht hat der Fall des Bauriesen also positive Folgen für die Region. In einen Kommentar für die brasilianische Zeitung Estadão schrieb der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa ironisch, man müsse vielleicht in ein paar Jahren ein Denkmal für Odebrecht errichten: Schließlich hätten die Aussagen der Manager*innen das in Lateinamerika so virulente System Korruption zu Fall gebracht.
Noch ist es zu früh, um zu beurteilen, ob der Odebrecht-Skandal wirklich zu tiefgreifenden politischen Veränderungen führt. Aber der Skandal zeigt deutlich, wie die lateinamerikanischen Demokratien von finanziell potenten Privatinteressen untergraben werden.

Der peruanische Anthropologe und Amazonienexperte Alberto Chirif weist darauf hin, dass viele Bauprojekte, an denen Odebrecht und geschmierte Politiker*innen verdient haben, womöglich nur aufgrund der korrupten Machenschaften beschlossen wurden. Als Beispiel nennt er die erwähnte Interozeanische Straße-Süd in Peru. Als das Projekt 2005 beschlossen wurde, hieß es, es würde den Handel zwischen Brasilien und Peru beleben. Doch sechs Jahre nach der Eröffnung der Straße sieht die Realität anders aus: Kaum ein brasilianisches Unternehmen nutzt die relativ schmale Straße, die mehr als 5.000 Höhenmeter überwindet. Das Projekt war ein absoluter Fehlschlag. In einem Kommentar für das Nachrichtenportal SERVINDI schreibt Chirif, dass dies den politischen Entscheidungsträgern um Präsident Toledo schon vorher klar war. Sie hätten bewusst gelogen, weil sie von Odebrecht geschmiert wurden: „Das eigentliche Ziel, das mit der Straße erreicht werden sollte, war allein ihr Bau.“ Laut Chirif ging es von Anfang an nur darum, öffentliche Gelder zu privatisieren. Die beteiligten Politiker*innen machten sich zu Kompliz*innen, da ihre eigenen Wahlerfolge von den Schmiergeldzahlungen des Baukonzerns abhingen.

Und auch beim Bau des „Schönen Monsters“ Belo Monte mag eine ähnliche Motivation eine Rolle gespielt haben. Gegen den Bau sind insgesamt 25 Klagen anhängig, zahlreiche Gesetze zum Schutz von indigenen Gemeinschaften und der Umwelt wurden missachtet. Doch der Bau wurde immer wieder von der Exekutive mit dem Verweis auf „nationale Interessen“ gegen die Judikative durchgesetzt. Das Ausmaß der Schmiergeldzahlungen wirft nun die Frage in den Raum, in wessen Interesse die Regierung damals agierte: in dem der Bevölkerung oder in dem der beteiligten Konzerne?

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