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Angeregt durch die Filmaufnahmen seiner Mutter, die Salles 40 Jahre nach ihrer privaten Kulturreise nach China entdeckte, montiert er aus fremden, meist privaten Filmaufnahmen eine filmische Analyse der Veränderungsprozesse jener Jahre. Im ersten Kapitel des Films, „Vor den Fabriken“, beschreibt er die Entwicklungen im eher kulturrevolutionären Mai der Studenten in Paris, das Glück dieses Augenblicks, das bis zum Unwillen, zu schlafen, führt, und in sich die Hoffnung auf tatsächliche Veränderungen trägt. Besonders im Fokus ist Daniel Cohn-Bendit in seiner eher widersprüchliche Rolle als Leitfigur, die auf dem Höhepunkt der Ereignisse zu einer bezahlten und gut dokumentierten Reise nach Berlin aufbricht.


Foto: Berlinale

Die Filmrollen aus Prag, die Salles in den Archiven entdeckt hat, tragen nicht einmal die Namen derjenigen, die sie aufgenommen haben, sondern nur Nummern: Angesichts der anrollenden Panzer der Sowjetunion schien bereits die Dokumentation der Ereignisse gefährlich. Noch viel stärker als die Szenen in Paris zeigen die Bilder aus Prag bereits unübersehbar das Ende der Hoffnung auf Veränderung. Die Szenen aus Prag gehen unmittelbar in das zweite Kapitel des Films über („Nach den Fabriken“), das Salles den großen Beerdigungen von Mitgliedern der Bewegungen in jener Zeit widmet: Jan Palach verbrannte sich aus Protest gegen die allmähliche Gewöhnung an das Ende der revolutionären Hoffnungen selbst. Seine Beerdigung wurde Anfang 1969 zum Trauermarsch des Protests, an dem Tausende teilnahmen. Auch die Beerdigungen wenig bekannter Mitglieder der Studentenbewegungen in Paris und in Rio de Janeiro wurden zum politischen Akt mit massenhafter Beteiligung. Leider zeigt „No Intenso Agora“ sonst kaum Szenen aus Brasilien – schade, denn bei 127 Minuten Filmlänge wäre durchaus Platz für eine Auseinandersetzung mit der brasilianischen Studentenbewegung der 1960er Jahre gewesen.

„Jetztzeit“ nennt Walter Benjamin die historischen Phasen, in denen – wie während der französischen Revolution – entscheidende Umbrüche stattfinden. Der von Benjamin formulierte Gegensatz zur Jetztzeit ist die „homogene und leere Zeit“ des „Kontinuums der Geschichte“. Auch wenn Salles den Begriff „Jetztzeit“ weder in Interviews noch im Film erwähnt, scheint der Titel Im Intensiven Jetzt auf die Geschichtsdefinition von Benjamin zu verweisen. Doch Salles´ filmische Reflexion der Phasen des möglichen revolutionären „Tigersprungs“, eingesprochen in einem poetischen Portugiesisch, entdeckt vor allem die Trauer über das Ende der Hoffnung nach der kurzen Phase intensiven Glücks. Auch wenn dies historisch richtig sein mag, in der gegenwärtigen Phase der brasilianischen und internationalen Geschichte hätte man sich einen hoffnungsvolleren Film gewünscht.

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