DER FEMINISTISCHE KAMPF FORDERT EINEN ECHTEN WANDEL

Am Montag den 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, sind wir von Victoria Alada aus zum Zócalo im Zentrum von Mexiko-Stadt marschiert. Als wir ankamen, hörten wir die Kundgebung der gemeinsamen Erklärung der Autonomen Feministischen Versammlung und der Hauptstädtischen Feministischen Versammlung: „Wir leben in Zeiten des Krieges, Schwestern, compañeras. Zeiten der Krisen und Notfälle. Sie töten uns, sie vergewaltigen uns, sie zwingen uns, zu gebären, sie verurteilen uns zum Tode, weil wir nicht gehorchen. Sie wollen uns hungrig, sie wollen uns ängstlich, traurig, müde, fügsam. Sie wollen uns spalten, Schwestern, compañeras.“

„Das ist die feministische Welle“

Das ist unsere Antriebskraft und ein Zurück gibt es nicht mehr. Das ist die feministische Welle. Sie speist sich aus kleinteiliger Arbeit: aus Sitzungen, organisatorischer Praxis, Wissensaustausch und verschiedenen Blickpunkten. Sich in den Versammlungen sehen, sich mit anderen treffen, die Entrüstung miteinander teilen, aber auch Unterschiede ertasten.

Sie kam plötzlich. Wie vulkanisches Magma, das die Straßen im Protest einnimmt, das uns mit einem Regen aus Gesängen, Parolen und Performances durchnässt. Aus Schreien, Trommeln und Forderungen. Sie verpasst den Straßen einen neuen Anstrich, sie will die nicht erzählten Geschichten und nicht erhörten Schreie furchtlos auf den Denkmalen verewigen. Jetzt, da wir vereint sind, jetzt, wo sie uns endlich sehen.
Dieses Jahr war ein bewegtes. Sein Zeitstrahl zeigt eindeutig auf, dass sich die Geschlechtergewalt in Mexiko-Stadt verschärft hat.

Im Januar waren es die Entführungsversuche in U-Bahn Stationen, bekannt unter dem Namen „Cálmate mi amor“ („Beruhige dich, meine Liebe“). Diese hatten zum Ziel, unter den Umstehenden Misstrauen gegenüber den Hilferufen der Frauen auszulösen. Diese beteuerten, dass ein Unbekannter, der behauptete, ihr Partner zu sein, versuchen würde, sie zu entführen. Feministische Aktivistinnen konnten durch partizipatives Mapping 31 Stationen identifizieren, an denen dies in den letzten zwei Jahren passiert war.

Kurze Zeit später schlug Ana Miriam Ferráez, lokale Abgeordnete aus Veracruz, im Angesicht des Anstiegs von Femiziden in ihrem Bundesstaat vor, ab 22 Uhr eine Ausgangssperre für Frauen einzuführen. Unter dem Hashtag #LaNocheEsNuestra („Die Nacht gehört uns“) versammelten sich daraufhin Frauen im ganzen Land zu Fahrraddemonstrationen.

Glitzer als Symbol einer neuen feministischen Bewegung

Im März erreichte die #MeToo-Welle Mexiko, ausgehend von Anklagen im Literaturbereich, die unter dem Hashtag #MeTooEscritores („MeToo Schriftsteller“) gesammelt wurden. Kurz darauf sind weitere gleichnamige Kanäle für die Bereiche Journalismus, Musikindustrie, Kino, Wissenschaft und soziale Organisationen aufgetaucht. Mehr als 130 Schriftsteller und etwa 300 im journalistischen Bereich Tätige wurden angezeigt. Das Anzweifeln der Legitimität der Anschuldigungen in sozialen Netzwerken war nicht nur im öffentlichen, machistischen Diskurs präsent, sondern auch innerhalb von Sektoren des Feminismus der „alten Schule“.

Am 3. August löste die Anzeige der Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen durch Polizisten im Bezirk Azcapotzalco Empörung in den Medien und sozialen Netzwerken aus. Die Besetzung des öffentlichen Raumes, die Monate zuvor mit #MeToo im Internet stattfand, verlagerte sich nun auf die Straßen.

Die „Brillantinada“, („Glitzerschlacht“), eine Reihe von Protesten im August (siehe LN 543/544), wurde auf Twitter unter dem Slogan #NoMeCuidanMeViolan („Sie schützen mich nicht, sie vergewaltigen mich“) bekannt, allerdings erst, als Demonstrantinnen die Glastür des hauptstädtischen Verwaltungsgebäudes zerschlugen und den Staatssekretär für Sicherheit von Mexiko-Stadt, Jesús Orta, mit pinkem Glitzer bewarfen. Dieser Glitzer wurde zum Symbol einer neuen feministischen Welle im Land.

„Sie hassen uns, weil wir Frauen sind“

Das Ausmaß der Empörung über Konfetti in der Luft ist lächerlich, aber repräsentativ für eine Debatte, die die schwere Krise der Gewalt gegen Frauen immer wieder aus dem Mittelpunkt des Gesprächs verdrängt. Genauso repräsentativ für diese Debatte ist, dass der eigentlich so festliche Glitzer, der im Kampf gegen männliche Gewalt ein Symbol der Einforderung eines genussvollen und freudigen Lebens ist, zu einem destabilisierenden Element gemacht wurde.

Die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, bezeichnete die Zerstörungen als „Provokation“, wodurch die feindliche und aggressive Haltung den feministischen Bewegungen gegenüber verschärft wurde und letztendlich in den sozialen Medien dominierte. Einmal mehr wurden Feministinnen im Netz attackiert. „Wir alle waren es“, war die Antwort auf Kriminalisierung und Drohungen.

Eine überwältigende Mehrheit der Frauen in Mexiko hat im Laufe ihres Lebens irgendeine Form von Gewalt erlebt: 66 Prozent laut dem Nationalen Institut für Statistik und Geographie. Die Angriffe auf Frauen haben eine tödliche Absicht. Ein Hassverbrechen, für das wir einen Namen schaffen mussten, um das Unverständliche zu verstehen: Femizid.

Sie hassen uns, weil wir Frauen sind. Sie hassen uns, weil wir nicht bereit sind, zu gehorchen.

Die Malereien und Graffitis bilden das ab, was zum Schweigen gebracht wurde, die Anklagen, die keinen Weg durch die Rohre einer ineffizienten Justiz fanden. Laut der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik der Vereinten Nationen war Mexiko 2018 das Land der Region mit der zweithöchsten Anzahl von Femiziden. 898. Laut UNO neun pro Tag. Die Wände werden gereinigt. Die Getöteten kommen nicht zurück.
Nun hat Sheinbaum wegen der Gewalt gegen Frauen für Mexiko-Stadt den Notstand ausgerufen. Die Wendung in ihrem zuvor bestrafenden Duktus wurde vielfach kritisiert. Es ist allerdings unwiderlegbar, dass diese die Folge eines unaufhaltsamen und entschlossenen feministischen Kampfes ist, der dieses Jahr geprägt hat. Sie töten uns und wir verteidigen uns. Es wird fallen. Und wir werden es zum Fallen bringen.

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