„Wozu solidarische Ökonomie?“

Portrait von André Ricardo de Souza
André Ricardo de Souza (Foto: privat)

Was sind die Prinzipien der solidarischen Ökonomie?
Die solidarische Ökonomie beruht auf gleichberechtigter und demokratischer wirtschaftlicher Praxis, sei es bei der Produktion, dem Konsum, dem Sparen oder dem Kreditwesen. Sie zielt darauf ab, die Gewinne wirtschaftlicher Aktivitäten so gerecht wie möglich zu verteilen und auch die Entscheidungen so demokratisch wie möglich zu treffen. Wir sagen, dass die Selbstverwaltung die Seele der solidarischen Ökonomie ist.

Welche Rolle spielt die solidarische Ökonomie in Krisenzeiten, wie zum Beispiel während der Corona-Pandemie?
In Krisenzeiten, wenn die Arbeitslosigkeit steigt, gewinnt die solidarische Ökonomie als Arbeitsalternative immer mehr an Bedeutung. Sie ist ein Weg, wie Menschen produzieren und überleben können. Und historisch gesehen war es immer so: In Krisenzeiten nehmen Initiativen dieser Art zu.
Es gab jedoch auch Zeiten, in denen das Land ein Wirtschaftswachstum erlebte und die Zahl der solidarischen Unternehmen ebenfalls zunahm. Das verdeutlicht, dass solidarische Initiativen auch in Zeiten ohne Krise relevant sind.

Welche Rolle spielt die solidarische Ökonomie heute in Brasilien?
Die solidarische Ökonomie in Brasilien ist eine soziale Bewegung, die in allen Bundesstaaten durch kommunale, regionale und bundesstaatliche Foren sowie das Brasilianische Forum der Solidarischen Ökonomie organisiert ist. Ein Bereich, der sich in den letzten Jahren herausgebildet hat, ist das solidarische Genossenschaftswesen. Dieser grenzt sich vom traditionellen Genossenschaftswesen ab, der in Brasilien beispielsweise durch die Agrarwirtschaft und konventionelle Unternehmen repräsentiert wird.
Im Bereich des solidarischen Genossenschaftswesen gibt es beispielsweise die_Nationale Vereinigung der Müll- und Recycling-Sammler*innen Brasiliens (Unicatadores), die Vereinigung der Arbeiter*innen der Familienlandwirtschaft und Solidarischen Ökonomie (Unicafes), die Vereinigung der Genossenschaften und Unternehmen der solidarischen Ökonomie (Unisol), sowie die Vereinigung der Genossenschaften der Agrarreform und der Bevölkerung Brasiliens (Unicrab), die mit der Bewegung der landlosen Landarbeiter*innen (MST) verbunden ist. Zusammen bilden diese Organisationen den Verband der Solidarischen Genossenschaftsorganisationen (Unicopas).

Können Sie konkrete Beispiele für die territoriale Umsetzung der solidarischen Ökonomie nennen?
Klar, die Entwicklungen im Bereich Gemeinschaftsbanken sind gute Beispiele dafür. Es gibt das brasilianische Netzwerk der Gemeinschaftsbanken, das sich über mehrere Standorte erstreckt, vor allem die Gemeinschaftsbank von Maricá, die Banco Mumbuca, im Bundesstaat Rio de Janeiro, und auch die Banco Palmas in Fortaleza, Ceará. Letztere war die erste Gemeinschaftsbank in Brasilien. Von dort aus weitete sich das Netzwerk aus, denn es gab einen starken Impuls für die Verwendung sozialer Währungen und Praktiken zur Unterstützung der Bildung von solidarisch wirtschaftenden Unternehmungen. Auch wurden pädagogische Aktivitäten aus der Perspektive der educação popular (dt.: Bildung an der Basis) nach Paulo Freire durchgeführt.

Und was sind die Ziele der solidarischen Ökonomie?
Paul Singer sah in der solidarischen Ökonomie einen zentralen Weg zum demokratischen Sozialismus. Sie ist nicht nur eine Alternative in Krisenzeiten, sondern Ausdruck eines mensch­licheren Wirtschaftens – mit dem Ziel einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation.
In Uma Utopia Militante: Repesando o Socialismo (dt.: Eine militante Utopie: Den Sozialismus neu denken) entwickelt Singer seine Theorie der solidarischen Ökonomie. Gemeinsam mit dem Paul-Singer-Institut, der Brasilianischen Vereinigung der Forschenden zur Solidarischen Ökonomie (ABPES) und Mitwirkenden wie Clarita Müller-Plantenberg bereiten wir zurzeit die Veröffentlichung des Buches in Deutschland vor. Es würdigt die Genossenschaftsbewegung und die oft vergessenen utopischen Sozialist*innen. Singer, fundierter Marx-Kenner, geht über dessen Kritik hinaus und fragt, wie eine Überwindung des Kapitalismus konkret aussehen kann. Schlüsselkonzept ist das der sozialistischen Implantate (Zusammenschlüsse von Genossenschaften und solidarischen Ökonomien, Anm. d. Red.). Gemeint sind damit sowohl Entwicklungen in sozialen Organisationen als auch im Überbau – Formen von Organisation und Widerstand, die über den Kapitalismus hinausgehen. Singer bezeichnet damit Projekte der solidarischen Ökonomie als Keimformen eines demokratischen Sozialismus innerhalb des Kapitalismus – aufgebaut von unten nach oben. Der Bürgerhaushalt, der 1989 in Porto Alegre eingeführt wurde, ist ein gutes Beispiel dafür. Bürger*innen diskutieren hier über die Verteilung öffentlicher Mittel. Auch Sozialversicherungssysteme und Agrarreformen sieht Singer als solche Implantate. Entscheidend ist, dass sie sich vermehren, vernetzen und an Stärke gewinnen. Wenn sie von progressiven Regierungen unterstützt werden, die partizipative Demokratie fördern, entsteht daraus eine reale Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung.
Die solidarische Ökonomie ist daher nicht nur Praxis, sondern auch Widerstand – sie muss sich mit anderen Fronten verbinden, damit die langsame soziale Revolution vom Kapitalismus hin zu einem demokratischen Sozialismus spürbar wird.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Newsletter abonnieren