ORTEGAS ENGSTE FREUNDE SETZEN SICH AB

Unabhängige Kommission Die GIEI stellt einen Bericht zu Nicaragua vor (Juan Manuel Herrera, OAS, ICC BY-NC-ND 2.0)

Solís begründet seinen Schritt damit, dass die Regierung ihre Position gegenüber der Opposition immer weiter verhärtet habe, sodass er „nicht mehr die geringste Möglichkeit“ sehe, im Jahr 2019 in einen nationalen Dialog einzutreten, durch den „der Frieden, die Gerechtigkeit und die Versöhnung in Nicaragua“ wiederhergestellt werden könnte.Er hält die Angaben verschiedener Menschenrechtsinstitutionen über 300 Todesopfer für glaubwürdig und bestätigt, dass es mehr als 500 politische Gefangene gibt, die unter den absurdesten Anschuldigungen verhaftet wurden. Solís spricht von einem „wahrhaften Terrorstaat, der sich durch den exzessiven Einsatz parapolizeilicher Einheiten und der sogar mit Kriegswaffen ausgerüsteten Polizei“ auszeichne. „Es gibt keinerlei Recht mehr, das heute respektiert wird.“ Nicaragua sei zu einer Diktatur geworden, die die Form einer „absoluten Monarchie“ angenommen habe, in der „zwei Könige sämtliche Staatsgewalten abgeschafft haben“.

Nicaragua sei zu einer Diktatur geworden, die die Form einer „absoluten Monarchie“ angenommen habe.

Anstatt sich um interne oder externe Vermittler*innen zu bemühen, hätten sie „beschlossen, die Proteste der Menschen durch den völlig unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt und durch die verantwortungslose Bewaffnung von Jugendlichen und einigen Sandinist*innen im Ruhestand, die an den Repressionsmaßnahmen der Polizei teilgenommen hatten, im Blut zu ertränken.“ Zu der Behauptung Ortegas, dass es sich bei der Protestwelle, die im April 2018 begann, um einen von außen gesteuerten Putschversuch gegen die Regierung Nicaraguas gehandelt haben soll, stellt Solís fest: „Es gab weder einen Staatsstreich noch eine Aggression von außen, sondern einzig und allein einen irrationalen Ausbruch von Gewalt, bei dem ihr [Ortega und seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo] euch darauf festgelegt habt, dieses Land in einen Bürgerkrieg zu führen, an dem ich in keiner Weise teilnehmen möchte, und schon gar nicht an eurer Seite.“

Solís bestätigt auch, dass es in Nicaragua keinerlei unabhängige Gerichtsbarkeit mehr gibt. Die Richter, die in den vergangenen Wochen harte Urteile gegen angebliche Terroristen gefällt haben, hätten nur die Anweisungen des Präsidentenpaares ausgeführt: „Sie hatten keine Alternative dazu, Carmen [Amts- und Wohnsitz von Ortega und Murillo] zu gehorchen.“ Seine Einschätzung, dass bis zum 18. April 2018 in Nicaragua ein „Rechtsstaat herrschte und die Verfassung respektiert wurde“, während die Ereignisse danach „all dies zerstört haben und eine große Enttäuschung für mich bedeuteten“, muss wohl in erster Linie als Versuch gewertet werden, seine langjährige Beteiligung am System Ortega zu rechtfertigen.Die Stellungnahme von Rafael Solís hat zwei wichtige Aspekte: Erstens ist er bisher die höchstrangige und Ortega-Murillo am nächsten stehende Persönlichkeit, die sich dem Präsidentenpaar offen und mit einer unmissverständlichen politischen Botschaft entgegenstellt. Er drückt damit die Gefühle und Meinungen vieler Sandinist*innen aus, die eigentlich seit vielen Jahren treue Anhänger*innen Ortegas sind, aber die brutalen Repressionsmaßnahmen des vergangenen Jahres nicht gutheißen. Es wird daher in nächster Zeit sicherlich zu weiteren Rücktritten und Absetzbewegungen kommen. Von den noch lebenden ehemaligen neun Comandantes der Revoluction der FSLN gibt es inzwischen keinen einzigen mehr, der Ortega unterstützt. Der Rücktritt von Rafael Solís ist das bisher deutlichste Indiz, dass der innere Zerfallsprozess des Regimes voranschreitet. Er ist unumkehrbar und kann nur einen Ausgang haben: das Ende der Präsidentschaft und der Herrschaft von Ortega, Murillo und ihrer letzten Getreuen.

Diese Verbrechen können nicht verjähren.

Die zweite bedeutende Aussage des Offenen Briefes besteht darin, dass Solís – Oberster Richter und seit vielen Jahren die graue Eminenz aller juristischen Maßnahmen und Tricksereien Ortegas – die zentralen Feststellungen des Berichtes der Unabhängigen Untersuchungskommission GIEI (Unabhängige interdisziplinäre Expertengruppe) über die Ereignisse vom April und Mai 2018 bestätigt. Danach sind die Massenproteste überwiegend friedlich verlaufen, während die Staatsmacht mit unverhältnismäßiger Gewalt, mit Kriegswaffen und zusammen mit illegalen Paramilitärs gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen ist.Insbesondere wird die Analyse von GIEI bestätigt, dass es sich bei der Repression des vergangenen Jahres um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, was vor allem eine Bedeutung hat: Diese Verbrechen können nicht verjähren. Es ist nicht möglich, durch Amnestien oder andere Maßnahmen die Strafverfolgung auszusetzen. Es gilt der Rechtsgrundsatz der „universellen Gerichtsbarkeit“, das heißt, wenn diese Verbrechen in dem Land, wo sie begangen wurden, nicht juristisch verfolgt werden, können Gerichte in anderen Ländern sich für zuständig erklären und ein entsprechendes Strafverfahren durchführen. Es ist also möglich, diese Verbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen.

Auf welche Weise auch immer das Regime Ortega-Murillo zugrunde gehen sollte, es wird ein juristisches Nachspiel für diejenigen haben, die an den Repressionsmaßnahmen beteiligt waren, sei es mit der Waffe in der Hand oder als Befehlsgeber. Die erste Forderung der demokratischen Protestbewegung ist die nach „Gerechtigkeit“ und das bedeutet, dass die Täter ermittelt und bestraft werden und die Opfer entschädigt werden müssen. Die internationale Solidaritätsbewegung sollte dies unterstützen, indem sie in ihren Ländern darauf dringt, die in Nicaragua begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zu verfolgen.

 


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NICARAGUA IST EIN RIESIGES HAUS

Te quiero mucho Essen für den inhaftierten Ehemann (Foto: Fred Ramos/Elfaro.net)

„Siehst du, Reisender, seine Tür ist offen, das ganze Land ist ein riesiges Haus. Nein, du hast nicht den falschen Flughafen erwischt: Steig einfach ein, du bist in Nicaragua.“
Julio Cortázar, 1980.

Im Haus der Familie Valle steht seit dem 14. Juli ein Stuhl leer. Und es ist nicht immer derselbe. Das Haus der Familie Valle in Managua ist ein Gefängnis, in dem eine Mutter, ihre beiden Töchter und ihr Sohn auf die Polizei warten, die eines Tages die Tür aufbrechen und sie verschleppen könnte, wie sie es bereits mit Hunderten getan hat. Sie wollen nicht weg. Das können sie nicht. Nicht, solange der Vater noch im Gefängnis El Chipote eingesperrt ist. Jemand muss ihm Essen bringen und ihn am Dienstag daran erinnern, dass er nicht allein ist, auch wenn es nur eine halbe Stunde ist. Dass sie immer noch da sind. Gemeinsam im Kampf gegen die Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Rebeca Montenegro, die Mutter, steht immer zuerst auf. Nachdem sie sich gewaschen und ihren Kaffee getrunken hat, legt sie Holzkohle auf den Herd. Das Rindfleisch wird solange gekocht, bis es schwarz wird, ein wenig hart. Rebeca kocht für ihren Mann, Carlos Valle, der seit mehr als hundert Tagen im Gefängnis sitzt, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben worden ist.

Zum Mittagessen bereitet sie das Fleisch, den Reis, die Bohnen und Bananenchips und eine Flasche gefrorenes Wasser zu. Carlos wird etwas Gerste hinzufügen, um daraus Limonade zu machen. Die beiden Durapax-Schalen sind zum Platzen gefüllt. Sie schreibt den Namen ihres Mannes mit einem schwarzen Marker darauf. Unter dem Namen, drei Buchstaben: T.Q.M. – Te quiero mucho, auf Deutsch: Ich liebe dich sehr.
Rebeca ist bereit für ihre tägliche Pilgerreise in das dunkelste Gefängnis des Landes. Mit ihren 44 Jahren ist sie eine markante Erscheinung. Sie ist groß und stark. Aufrechte Haltung. Sie verabschiedet sich von ihrem Sohn David, 22 Jahre alt, bedächtig und langsam, groß und bärtig, und von ihren Töchtern: von der robusten Elsa, 19 Jahre alt und von der 16-jährigen Rebeca, schwarz gekleidet und schweigsam.

Rebeca kocht für ihren Mann, Carlos Valle, der seit mehr als hundert Tagen im Gefängnis sitzt 

Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr Mann für eine Weile ohne Essen bleibt. Das bescheidene, aber gut organisierte Haus strahlt Festigkeit und Entschlossenheit aus, aber auch Traurigkeit, Erschöpfung, anhaltende Spannung und beständigen Konsum von Fernsehserien auf dem Sofa. Gerade ist das zehnte Kapitel der fünften Staffel von den Wikingern dran.Das Taxi, klapprig und von mehreren zugleich benutzt, weil es billiger ist. Keiner redet während der Fahrt. Jeder weiß es. Als sie ihren Kopf durch das Fenster schiebt und nach dem Preis fragt, sagt sie, wohin sie fahren wolle. Um nach El Chipote zu gelangen, muss man Luft holen und Mut haben. Das Gefängnis so mancher Diktaturen in Nicaragua wirft seit fast 90 Jahren seinen Schatten auf das an der Loma de Tiscapa gelegene Land, nahe dem Zentrum von Managua. Es befindet sich am Ende eines steilen Abhangs. Durchflutet von einem Wärmestrahl. Ein Dutzend Männer sitzt auf einer kleinen Mauer. In den Händen halten sie Holz- und Metallstangen. Als Rebeca an ihnen vorbeigeht, beladen und erschöpft, schlagen sie mit den Stangen auf den Boden. Klopf, klopf, klopf, klopf. Sie starren sie an – Verfolger. Vor dem Tor, Stille und Unbehagen.

Während des Wartens nähern sich die Frauen nacheinander und klammern sich an Taschen und Ordner voller Papiere. Ohne auf die Gitter und die Polizisten zu blicken, murmeln sie den Namen ihres Familienmitglieds und die Dauer seiner Inhaftierung. Ein Monat, drei Monate, sieben Monate. Diejenigen, die hier in dem Loch der willkürlichen Inhaftierung eingesperrt sind, wissen nicht, wessen sie beschuldigt werden. Es gibt keine Anklage gegen sie, sagen sie, noch wurden sie in vielen Fällen einem Richter vorgeführt. Die Polizei öffnet das Tor. Ohne ein Wort zu wechseln, fast ohne aufzublicken, nennt Rebeca den Namen des Gefangenen, Carlos Valle, übergibt die Taschen, zeigt ihren Ausweis, unterschreibt und muss wieder gehen. Wie alle anderen auch.

Alle drei Kinder waren alle schon in demselben Gefängnis inhaftiert wie ihr Vater

Von innen kommt ein offener Pick-Up mit quietschenden Reifen. Drei vermummte Polizisten, die sich an ihre Waffen klammern, nehmen einen Mann in Handschellen mit. Eine der Frauen erkennt ihre Mutter in der Kabine. Sie wird aufgeregt. Sie weint. Sie ruft: „Mama! Wo bringt ihr sie hin?“ Die anderen antworten. „Lauf, lauf, geh ein Taxi rufen, geh zum Gericht, da kannst du sie sicher sehen.“ Sie läuft allein bergab. Später werden wir erfahren, dass das Treffen mit einem Gefangenen im Gerichtsgebäude dazu führen kann, dass die ganze Familie in El Chipote landet. Auch für Rebecas Leben hat die Inhaftierung ihres Mannes Konsequenzen. Als Anwältin und Notarin wurde sie von ihrem Job in der Verwaltung entlassen, nachdem sie 16 Jahre lang auf dem Gebiet der technischen Ausbildung von Studenten gearbeitet hatte. Sie wurde geschlagen.

Die Familie Valle zahlt so ihr Leidensgeld für die Teilnahme am blau-weißen Aufstand gegen das Regime von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Seit Beginn der Rebellion am 18. April 2018 gab es mehr als 300 Tote und mehr als 600 politische Gefangene. Tausende von Menschen sind ins Exil ins Ausland geflohen oder haben sich überall im Land in sicheren Häusern versteckt. Eine Zeitung, Confidencial, und zwei Fernsehsender, Esta Semana und 100% Noticias wurden verboten. Die übrigen kritischen Medien und ihre Journalist*innen sind bereit, den gleichen Weg zu gehen – Gefängnis oder Exil. Fast alle nicaraguanischen Nichtregierungsorganisationen, die gekämpft haben, wurden geschlossen; internationale Menschenrechtsorganisationen, die angeprangert haben, was in Nicaragua geschieht, wurden aus dem Land ausgewiesen. Familie Valle ist ein Opfer dessen, was die von der Organisation Amerikanischer Staaten eingesetzte Gruppe unabhängiger Expert*innen in ihrem Bericht über die Ereignisse in Nicaragua als von der Regierung begangene „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet hat. Menschen wurden ermordet, verfolgt, willkürlich inhaftiert, beschuldigt, geschlagen, in irgendeiner Weise gefoltert, gedemütigt, bedroht und mit Entlassung von ihren Arbeitsplätzen für ihr politisches Engagement bestraft. Wie fast alle nicaraguanischen Geschichten ist die politische Geschichte von Carlos Valle ein Kreislauf des Kampfes gegen die Diktatur, der sich in sich schließt. Sie beginnt während der Diktatur von Anastasio Somoza in den 1970er Jahren und setzt sich während der Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo, fast ein halbes Jahrhundert später, fort. Das Gefängnis El Chipote ist der rote Faden, der Nicaragua während seiner Diktaturen verbindet. Die Zeit vergeht und die Unterdrückung wiederholt sich. In Nicaragua gibt es heute mehr politische Gefangene als am Ende der Somoza-Diktatur.

Nicht vollständig Ein leerer Stuhl am Tisch der Familie Valle (Foto: Fred Ramos, Elfaro.net)
Das Leben ihres Mannes Carlos und die Politik seien eins, sagt Rebeca. Als er 16 Jahre alt war, sei er von zu Hause weggelaufen. Er war Mitglied der sandinistischen Guerilla. Er hat immer noch seinen rechten Arm voller Scharniere. Nach dem Sieg der Revolution arbeitete er im Bereich der Grundnahrungsmittel und der Lebensmittelverteilung. Er sei enttäuscht gewesen, erzählt Rebeca, von der Kluft zwischen dem Sozialismus in Worten und dem in Taten. Irgendwann ging er ins Exil und kehrte als Mitglied der Konstitutionalistischen Liberalen Partei, deren Stadtrat er von 2001 bis 2007 in Managua war, nach Nicaragua zurück. Dann arbeitete er als Baseball-Reporter für den Radiosender Corporación und fuhr sogar Taxi. Das Autowrack liegt noch im Innenhof des Hauses. „Mein Vater hat uns immer beigebracht, für das zu kämpfen, woran wir glauben“, sagt David. „So sind wir mit klarer Entschlossenheit zum Protest gekommen. Das nimmt einem die Angst nicht, aber man fühlt sich dem Kampf verbunden.“ Carlos Valle wurde am 15. September 2018 auf der Straße verhaftet. Er kehrte nach einem Protestmarsch mit seiner Frau, seiner jüngsten Tochter und dem Sohn nach Hause zurück. Sie trugen ein Banner, auf dem sie die Freilassung der 19-jährigen Elsa forderten, der mittleren Tochter. Seit zwei Monaten war sie da schon im Gefängnis.In der Nähe des Marktes Roberto Huembes seien sie von einem Mann auf einem Motorrad angesprochen worden, erzählt Rebeca. „Danke Gott, dass deine Tochter nicht getötet oder in einem Kanal vergewaltigt wurde“, habe der Mann auf dem Motorrad gesagt. „Wir Nicaraguaner haben Blut in den Adern und kein Gelee“, erklärt Rebeca, also versetzte Carlos ihm einen Schlag auf den Helm. Rückblickend glaubt Rebeca, dass es eine Falle war: Jemand sollte Carlos provozieren, um somit einen Grund zur Verhaftung zu schaffen.

Einige Blocks später sei eine Patrouille aufgetaucht: Ein halbes Dutzend Polizist*innen und ein paar Männer in Zivil. Carlos habe das Telefon und die Brieftasche weggeworfen und versucht zu fliehen, erzählt Rebeca, schaffte es aber nicht. Die 16-jährige gleichnamige Tochter Rebeca erzählt, dass sie einzugreifen versuchte. „Ich begann, die Polizisten zu schlagen, und sie schlugen mir gnadenlos ins Gesicht und schoben mich weg“, sagt sie. Mutter und Vater wurden mitgenommen, sie selbst blieb zurück, den Bruder David hatte sie aus den Augen verloren. Carlos wurde auf die Ladefläche des Trucks geworfen. „Ich habe mit den Polizisten gerangelt, bis ich nicht mehr konnte“, sagt Rebeca, die Mutter. „Ich bin hochgestiegen. Ein Polizist, der über meinem Mann war, richtete die AK (Maschinengewehr) auf ihn. ‚Erschieß ihn‘, sage ich, ‚ich werde dich bis in die Ewigkeit verfolgen.‘“ Als sie an der Polizeistation 5 ankamen, wurde Rebeca getreten und weggezerrt. „Der Mund meines Mannes war voller Blut.” Während der Verhaftung, erzählt David, habe er sich eine Nummer auf dem Fahrzeug gemerkt, mit dem seine Eltern weggebracht wurden: Distrikt Fünf. Da sei er hingegangen. Und dann ebenfalls verhaftet worden. Vater und Sohn wurden dann nach El Chipote geschickt. Sie wurden beide auf der Ladefläche eines Lieferwagens abgelegt. Acht Stunden habe ein kollektives Verhör gedauert, erzählt David. Man habe sie beleidigt, Dinge gesagt wie: „Ihr Hunde werdet sterben.“ Am Ende konnte David nichts angelastet werden. Sein Vater, Carlos, blieb in El Chipote.

Die Kinder von Carlos Valle dürfen ihn nicht besuchen

Eine ungeschriebene, aber praktizierte Regel besagt: Niemand, der jemals Gefangene*r in El Chipote war, darf einen Gefangenen in El Chipote besuchen. Alle drei Kinder von Carlos Valle waren bereits in El Chipote. Zuerst Elsa, als Verantwortliche der Lebensmittelversorgung der Studierendenproteste. Sie war beim Mittagessen im Haus einer Freundin. „Die Polizei öffnete gewaltsam das Tor. Wir wurden von den Spitzeln in der Nachbarschaft denunziert, die uns hereinkommen gesehen hatten. Nach einer Fehlgeburt im Gefängnis und einer Inhaftierung unter üblen Bedingungen ist Elsa Ende September schließlich frei gekommen. Im November machen die Schwestern Elsa und Rebeca den Fehler, an ein Gerücht zu glauben. Jemand sagte ihnen, dass ihr Vater vor Gericht kommen würde. Sie zögerten keine Sekunde. Sie nahmen im Gerichtssaal Platz. Allein. Mit einem Plakat. Sie gaben mehrere Interviews, während sie auf das Fahrzeug warteten, das ihren Vater bringen würde. Es kam nie. Stattdessen kamen zwei Patrouillen mit einem Dutzend Polizist*innen darin. Sie nahmen sie fest wegen der Interviews. Die Journalist*innen entfernten sich. Elsa hat darüber nachgedacht, das Land zu verlassen.

Tausende sind nach Costa Rica geflohen. Fast alle ihre Compañerxs aus der UPOLI-Besetzung sind dort. Sie hat es einmal versucht. Sie hatte Angst, heimlich über die Grenze zu gehen. Wieder ins Gefängnis zu kommen, wenn sie verhaftet würde. Sie zieht das Haus vor, auch wenn es irgendwie auch ein Gefängnis ist.„Ich bin zu allem bereit. Wenn du zu den Waffen greifen musst, mach ich das“, sagt die Mutter. David widerspricht ihr. „Wir haben in so kurzer Zeit so viel erreicht, dass wir mit Waffen nicht weiter kommen werden. Du musst standhaft bleiben und warten“, sagt er. Er spielt mit seinem Handy. Auf der Hülle ist eine Pistole abgebildet. „Wenn wir Waffen hätten, würde diese Regierung nicht einmal zwei Wochen weiter bestehen”, sagt die Mutter hartnäckig, und bringt eine Tatsache zur Sprache, auf die David nicht besonders stolz ist. Das Taxi im Innenhof. Das kaputte Taxi. David hat es zertrümmert. Die Spannung, eingeschlossen zu sein. Die Erinnerung an die toten Compañerxs. Der Groll. Der Stress. Die allseits gegenwärtige Gewalt berührt jeden und gibt einem Monster Gestalt, das jeder zähmt und so handhabt, wie er kann.

 


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ZWISCHEN PUTSCH UND DIALOG

Wimmelbild: Wer ist Präsident? Juan Guaidó jedenfalls ist der zweite von links (Foto: OEA-OAS (CC BY-NC-ND 2.0)

Der 23. Januar ist für Venezuela ein geschichtsträchtiges Datum. An diesem Tag im Jahr 1958 stürzte ein Massenaufstand die Militärdiktatur unter Marcos Pérez Jiménez. Die rechte Opposition würde das Datum nun gerne für ihre ganz eigenen Zwecke vereinnahmen: Als den Tag, an dem sie nach 20 Jahren Chavismus wieder die Macht übernommen hat. Bisher gilt dies jedoch nur theoretisch. Praktisch sind die Dinge komplizierter. Noch Ende Dezember schien der venezolanische Präsident Nicolás Maduro angesichts einer intern zerstrittenen Opposition relativ fest im Sattel zu sitzen. Doch am 23. Januar mobilisierten die Regierungsgegner*innen erstmals seit anderthalb Jahren wieder erfolgreich auf die Straße.
Der Mann, der die Opposition binnen weniger Wochen in Hoffnung versetzt hat, ist Parlamentspräsident Juan Guaidó. Bis vor kurzem war der 35-jährige Ingenieur auch in Venezuela kaum jemandem ein Begriff. Mittlerweile halten ihn viele jedoch für den neuen Staatspräsidenten, weil er sich in Caracas selbst vereidigt hat. „Am heutigen 23. Januar schwöre ich, als ausführender Präsident formell die Kompetenzen der Nationalen Exekutive zu übernehmen, um die Usurpation zu beenden“, rief Guaidó auf der oppositionellen Großdemonstration tausenden jubelnden Anhängern im wohlhabenden Osten der Hauptstadt zu.

Guaidó hat auch im Ausland Unterstützer. Kurz nach seiner Proklamation teilte US-Präsident Donald Trump per Twitter mit, Guaidó offiziell als Interimspräsidenten anzuerkennen. US-Vizepräsident Mike Pence hatte den Anhänger*innen der Opposition im Vorfeld der Demonstration bereits die Unterstützung der USA gegen den als „Diktator“ bezeichneten Maduro zugesichert. Rasch erhielt Guaidó die Anerkennung weiterer lateinamerikanischer Länder, darunter Venezuelas rechts regierte Nachbarstaaten Brasilien und Kolumbien sowie unter anderem Argentinien, Chile, Ecuador, Peru und Paraguay. Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erkannte in Person ihres Generalsekretärs Luís Almagro Guaidó umgehend an. Die Europäische Union vollzog diesen formellen Schritt zwar bisher nicht, stärkt dem selbst ernannten Interimspräsidenten aber den Rücken und fordert Neuwahlen. Bundesaußenminister Heiko Maas etwa positionierte sich gegenüber der Deutschen Welle eindeutig: „Wir sind nicht neutral in dieser Frage, wir stehen auf der Seite von Guaidó“. Für die Regierungen Kubas, Nicaraguas, El Salvadors, Mexikos, der Türkei, Irans, Russlands und Chinas heißt der legitime venezolanische Präsident hingegen weiterhin Nicolás Maduro.

Heiko Maas ist auf der Seite von Guaidó

Bei seiner Selbstvereidigung bezog sich Guaidó neben den Artikeln 333 und 350, die das Recht auf Widerstand gegen verfassungswidrige Handlungen und undemokratische Regime festschreiben, auf Artikel 233 der Verfassung. Dieser behandelt die dauerhafte Abwesenheit des Staatspräsidenten in Fällen wie Tod, Krankheit oder Abberufung durch ein Referendum. Auf den vorliegenden Fall lässt sich der Artikel somit nur mit viel Fantasie anwenden.

(Foto: David Hernández (CC BY-SA 2.0))

Auf der zeitgleich stattfindenden Demonstration von Regierungsanhänger*innen im Westen von Caracas, gab sich Diosdado Cabello, Vorsitzender der regierungstreuen Verfassunggebenden Versammlung (ANC) kämpferisch: „Wer Präsident sein will, soll uns in (dem Präsidentenpalast, Anm. d. Red.) Miraflores suchen, denn dort wird die Bevölkerung Nicolás Maduro verteidigen.“ Daraufhin zogen die Chavisten vor den Präsidentenpalast. „Hier ergibt sich niemand“, rief Präsident Maduro seinen Anhänger*innen vom „Balkon des Volkes“ aus zu. Der US-Regierung warf er vor, eine „Marionettenregierung“ installieren zu wollen und brach die diplomatischen Beziehungen zu den USA ab. Den in Caracas ansässigen US-Diplomaten gab er 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen.

Guaidó reagierte umgehend und bat darum, sich den Anweisungen zu widersetzen. Die US-Regierung zog in den folgenden Tagen zwar einen Teil des Botschaftspersonals ab, kündigte jedoch an, sich dem Ultimatum, nicht beugen zu wollen. Die Maduro-Regierung rückte daraufhin von ihrem 72-Stunden-Ultimatum ab. Stattdessen solle nun über – wie es hieß – Interessenvertretungen in den jeweiligen Hauptstädten verhandelt werden, teilte das Außenministerium in Caracas mit. Sollte es darüber jedoch binnen 30 Tagen keine Einigung geben, müssten die verbliebenen US-amerikanischen Diplomaten das Land verlassen.

Mit der Installierung eines Parallelpräsidenten eskaliert der Konflikt zwischen der Regierung Maduro und der rechten Opposition auf gefährliche Weise. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines Machtkampfes, der seit dem oppositionellen Wahlsieg bei den Parlamentswahlen Ende 2015 mit harten Bandagen geführt wird. Die Opposition setzte von da an alles auf einen Sturz Maduros und schürte bei ihren Anhänger*innen unrealistische Erwartungen auf einen zeitnahen Machtwechsel.

Die Regierung hingegen griff bei der Ernennung von Verfassungsrichter*innen und der Festlegung von Wahlterminen tief in die juristische Trickkiste, um sich an der Macht zu halten. Maduros Wahl im Mai vergangenen Jahres betrachten Opposition und zahlreiche Staaten als illegitim, unter anderem weil potenzielle Kandidat*innen nicht antreten durften. Die meisten Parteien hatte damals zum Boykott aufgerufen. Bei einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von 46 Prozent blieben die drei Gegenkandidaten dann auch chancenlos. Glaubhafte Hinweise auf Wahlbetrug gab es zwar nicht, die Umstände spielten jedoch eindeutig Maduro in die Hände. Die umstrittene Verfassunggebende Versammlung, die seit Mitte 2017 praktisch die Funktionen des Parlamentes übernahm, hatte den Wahltermin in einer Schwächephase der Opposition von Dezember auf Mai vorgezogen.

Nach Maduros erneuter Amtseinführung am 10. Januar kochte der Konflikt erneut hoch und die zuvor notorisch zerstrittene Opposition versammelte sich hinter Guaidó. Der frühere Studierendenaktivist sitzt seit 2011 als Hinterbänkler in der Nationalversammlung und wurde am 5. Januar allein aus Mangel an Alternativen zum Präsidenten der juristisch kalt gestellten Nationalversammlung gewählt. Laut Absprache der vier größten Oppositionsparteien steht das Amt dieses Jahr der rechten Partei Voluntad Popular zu. Weil deren erste Garde um Leopoldo López, Freddy Guevara und Carlos Vecchio entweder unter Hausarrest steht oder sich im Exil befindet, kam Guaidó zum Zug. Bereits auf einer öffentlichen Versammlung in Caracas am 11. Januar deutete er an, als Interimspräsident bereit zu stehen, sofern er die Unterstützung der Bevölkerung, des Militärs und der internationalen Gemeinschaft hätte. Eine kurzzeitige Festnahme Guaidós durch die Geheimdienstpolizei Sebin am 13. Januar verschaffte diesem zusätzlichen Rückenwind. Die Regierung Maduro gab anschließend kein gutes Bild ab, als sie erklärte, die Agenten seien angeblich auf eigene Faust tätig geworden. Dass Guaidó bisher kaum jemand kannte, scheint dabei eine seiner größten Stärken zu sein. Denn er wirkt jung und frisch, obwohl er politisch überhaupt nichts Neues zu bieten hat. Jenseits der radikalen Ablehnung des Chavismus und einer Rückkehr der alten Eliten an die Erdöltöpfe, verfügen weder Guaidó noch der Rest der rechten Opposition über ein überzeugendes Programm.

Schulterschluss zwischen Opposition und USA könnte Maduro helfen

Der Schulterschluss zwischen Opposition und US-Regierung könnte Maduro helfen, die eigenen Reihen zu schließen. Viele Chavisten sind von der Regierung zwar enttäuscht, würden jedoch keinesfalls tatenlos einen rechten Putsch mit US-Unterstützung akzeptieren. Bei dem kurzzeitigen Staatsstreich gegen Hugo Chávez im April 2002 hatte der Druck der Bevölkerung dazu geführt, dass der überwiegende Teil der Soldaten den Putschisten die Gefolgschaft verweigerte.

Sicher ist, dass Guaidó für eine tatsächliche Machtübernahme auf die Unterstützung des Militärs angewiesen ist. In den vergangenen Wochen hatte er die Streitkräfte wiederholt dazu aufgerufen, „die verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen und ihnen für diesen Fall eine Amnestie zugesichert, die er mittlerweile auch Maduro selbst im Falle eines Rücktritts in Aussicht stellte. Außer einer kurzzeitigen Erhebung einiger Nationalgardisten am frühen Morgen des 21. Januars verhallten die Aufrufe bisher jedoch ungehört. Verteidigungsminister Vladimir Padrino López stellte sich seit dem 23. Januar mehrmals demonstrativ hinter die Regierung Maduro.

Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass sich die Militärführung auf Guaidós Seite schlägt. Denn sie profitiert von einer engen politischen und wirtschaftlichen Verflechtung mit der Regierung. Doch es ist unklar, wie es in den unteren Rängen aussieht und welche Auswirkungen weitere Proteste oder eine Eskalation der Gewalt haben könnten. Seit der kurzzeitigen Erhebung der Nationalgardisten kam es täglich zu lokalen Anti-Maduro-Protesten in verschiedenen Städten. Davon betroffen waren in Caracas auch Stadtteile, die bisher als sichere Bank für die Chavisten galten. Dabei sollen nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen landesweit bereits 29 Menschen ums Leben gekommen und hunderte festgenommen worden sein. Dennoch blieb der befürchtete große Gewaltausbruch bisher aus und Guaidó befindet sich nach wie vor auf freiem Fuß.

Unabhängig vom Ausgang des Machtkampfes verfügt keines der beiden großen politischen Lager über wirkliche Lösungen, um die politische und wirtschaftliche Krise zu überwinden. Insbesondere der Bevölkerung in den Armenvierteln, die sich kulturell überwiegend dem Chavismus zugehörig fühlt, hat die Opposition wenig anzubieten. Die Regierung Maduro hingegen zeigt in den barrios durch Lebensmittelkisten und unregelmäßige Bonuszahlungen nach wie vor Präsenz. Doch ihre seit Mitte vergangenen Jahres umgesetzten Wirtschaftsreformen hatten kaum einen Effekt, jede Erhöhung des Mindestlohnes wird umgehend von der Hyperinflation aufgefressen.

Klar ist, dass eine Überwindung der tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht durch ein Beharren auf einzelne Verfassungsartikel beigelegt werden kann, die beide Seiten für ihre Zwecke instrumentalisieren. Eine Lösung kann nur im Dialog erreicht werden. Dafür müssten beide Seiten jedoch zu ernsthaften Kompromissen bereit sein. Als Vermittler boten sich bereits die Regierungen Mexikos und Uruguays an. Während sich Maduro offen für Gespräche zeigte, erteilte Guaidó dem „falschen Dialog“ eine Absage. Stattdessen kündigte er weitere Proteste an.

 


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DIE NEUE KLASSENÜBERGREIFENDE ALLIANZ?

Können Sie uns ein bisschen über die drei Bündnisse erzählen, bei denen Sie mitarbeiten? Wie sind sie entstanden, wer sind ihre Mitglieder und worin unterscheiden sie sich?

Die Studierendenbewegungen, die in den Prozess des Nationalen Dialogs involviert waren, sind im Aprilaufstand entstanden. Man muss bedenken, dass bis dahin der Nationale Studierendenverband von Nicaragua (UNEN) der einzig rechtlich gebildete Studierendenverband war. Dieser Verband verfolgte eine der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) oder allgemein dem Regierungsapparat treue Linie.
Die neuen Bewegungen sind unter ganz unterschiedlichen Bedingungen entstanden. Es sind fünf verschiedene Gruppen: die Studierendenbewegung 19. April, die in der Polytechnischen Universität (UPOLI) entstanden ist, die Universitätsbewegung 19. April, die ebenfalls in der UPOLI entstanden ist, das Komitee der Nationalen Agraruniversität (UNA), die Universitätskoordination für Demokratie und Gerechtigkeit (CUDJ), die hauptsächlich von Studierenden der Zentralamerikanischen Universität (UCA) gebildet wurde und zuletzt die Nicaraguanische Allianz der Universitäten (AUN), die Bewegung zu der ich gehöre und die hauptsächlich von jungen Menschen gebildet wurde, die am 19. April in der Kathedrale von Managua gefangen waren sowie zahlreiche andere Aktivist*innen, die bereits über eine längere Zeit im politischen Widerstand sind.
Aus diesen fünf Gruppen wurde am 5. Mai die Universitätskoalition (Coalición Universitaria) gebildet, was dringend nötig war um sich rasch zu organisieren und am Prozess des Nationaldialogs teilnehmen zu können. Es war ein Schritt um eine gewisse Einigung unter den Studierenden zu finden, die dann von der Bischofskonferenz zur Teilnahme am Nationaldialog aufgerufen wurden und innerhalb des Dialogs der Zivilallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (ACJD) angehören.

 

Worin unterscheiden sich diese fünf Studierendenbewegungen, die Sie genannt haben?

Hauptsächlich unterscheiden sie sich im Ort oder Kontext, in dem sie entstanden sind. Einige haben sich in der Verschanzung an den Universitäten entwickelt (s. LN 531/532), andere hatten einen organisierteren Entstehungsprozess außerhalb des Gewaltkontextes der Besetzung der Universitäten. Es gibt Bewegungen, die eher eine Vision der Gestaltung des Studierendenlebens haben und Fakultäten mitgestalten wollen. Andere haben eine viel politischere Vorstellung der Studierendenschaft als politische Akteurin, die sich nicht ausschließlich auf das Leben an den Universitäten beschränkt.

 

Welche anderen Gruppen sind in der Zivilallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (ACJD) vertreten?

Die Zivilallianz ist ein sehr einzigartiger Fall in Nicaragua. Als der Nationaldialog einberufen wurde, um eine Lösung für die gesellschaftspolitische Krise zu finden, hat die Bischofskonferenz auf Wunsch von Ortega unterschiedliche Bevölkerungsgruppen eingeladen. Politische Parteien waren nicht darunter, weil sie offensichtlich aus unterschiedlichen Gründen völlig delegitimiert und am Boden waren. Die Bischofskonferenz hat also unterschiedliche Sektoren eingeladen, u.a. Gewerkschaften, Studierende, Akademiker*innen, Vertreter*innen von indigenen und afrikanischstämmigen Völkern der Karibikküste und von Bäuer*innen, die Zivilgesellschaft, feministische Bewegungen sowie den Privatsektor.
Diese Bewegungen wurden zwar separat eingeladen, aber innerhalb des Dialogs haben sie entschieden eine gemeinsame Agenda zu übernehmen: Demokratisierung und Gerechtigkeit. Wahrscheinlich war dies einer der politischen Fehler Ortegas, zu denken, dass diese unterschiedlichen Sektoren mit eigenen Forderungen auftreten würden und dass es so kommen würde wie so oft zuvor in Nicaragua, nämlich zu einem Disput zwischen entgegengesetzten Gruppen innerhalb der Opposition.

 

In Deutschland, vor allem in der deutschen Linken, fragt man sich oft, ob es eine linke Alternative in Nicaragua geben könnte, wenn Ortega morgen zurücktreten würde. Gibt es innerhalb der Zivilallianz Gruppen, die einen linken Diskurs und linke politische Ziele verfolgen? Welche Rolle spielen emanzipatorische Bewegungen wie die feministische, LGTBI* oder Bäuer*innenbewegungen innerhalb dieser Zivilallianz?

Innerhalb der Zivilallianz gibt es Gruppen, die sich klar in einem linken Spektrum positionieren und zugleich seit April an den Protesten beteiligt waren. Viele davon sind Gruppen, die sich vom Sandinismus abgespaltet haben. In Nicaragua gibt es die Besonderheit, dass „die Linke” immer sehr eng mit der Figur von Sandino verbunden ist. Und in diesem konkreten Fall haben wir Gruppen, die linke ideologische Werte teilen und trotzdem eine wichtige Rolle in den politischen Aufständen gespielt haben. Bewegungen, von denen ich denke, dass das auf sie zutrifft, sind die Artikulation der Sozialen Bewegungen (Articulación de Movimientos Sociales) und die Zivilgesellschaft sowie andere politische Alternativen, die eine gute Beziehung zur Zivilallianz haben. Wir sind in ständiger Kommunikation und in einem Prozess der gemeinsamen Mitgestaltung, der sich bislang als sehr effektiv erwiesen hat. Aber auch innerhalb der Zivilallianz haben Studierende und viele der Studierendenbewegungen ein linkes Profil, andere nicht, aber das ist normal. Wir kämpfen derzeit um die Demokratisierung eines Landes, in dem die Probleme, die ideologischen oder Interessenkonflikte nach demokratischen Regeln zu lösen sind. Es gibt auch emanzipatorische Bewegungen innerhalb der Zivilallianz. Es gibt feministische Bewegungen, die eine wichtige Rolle innerhalb der Allianz übernommen haben. Die LGTBI*-Community spielt auch eine wichtige Rolle und ihre Interessen spiegeln sich in der Zivilallianz wider. Sie haben sich bereit erklärt, den Abgang Ortegas als Priorität zu setzen. Nach Ortega, so sagen wir oft, werden wir die Konflikte im Dialog zwischen uns lösen, aber unter neuen Bedingungen.

 

Aus den dogmatischen Sektoren der internationalen Linken gibt es große Skepsis gegenüber den oppositionellen Gruppen, die aus den Aprilprotesten und der darauf folgenden Repression entstanden sind. Einige bezeichnen sie sogar als „Putschist*innen”. Dass Mitglieder einer der Studierendenbewegungen der Universitätskoalition sich mit Abgeordneten der reaktionären Rechten aus den USA und El Salvador getroffen haben, verstärkt diese Skepsis. Wie hat sich AUN zu diesen Treffen positioniert und was ist eure Antwort auf die Vorwürfe, eine putschistische Bewegung zu sein?

Wir haben die Putschvorwürfe, die auch von Daniel Ortega oft vorgebracht wurden, zurückgewiesen. Wie wir schon am ersten Tag des Nationaldialogs betont haben, den eigentlichen Putsch hat Ortega gegen die Institutionen des Landes ausgeübt.
Hinsichtlich der Beziehung zur reaktionären Rechten und ihren Implikationen muss ich sagen, dass die Universitätskoalition, wie bereits erwähnt, in ihren Interessen nicht homogen ist. Einige Mitglieder haben sich öffentlich der extremen Rechten angenährt und wir haben klargestellt, dass sie zwar das Recht haben diese Kontakte zu knüpfen, aber auch, dass sie keinesfalls die Universitätskoalition als Ganzes vertreten. In dieser Koalition geht es viel mehr um unterschiedliche Bewegungen und Perspektiven. Jede Bewegung hat eigene Formen der Vernetzung. Im Fall von AUN haben wir die besagten Treffen mit der reaktionären Rechten mit großer Besorgnis verfolgt. Das ist nicht produktiv für unsere Ziele, sondern hat im Gegenteil für Kritik gesorgt und dem Diskurs Ortegas, dass die internationale Rechte einen Putsch gegen die nicaraguanische Revolution ausübt, Vorschub geleistet. Das gehört aber dazu, wenn man Teil einer so breiten Koalition ist. Jede Bewegung kann sich den Gruppen annähern, die sie für geeignet hält.

 

Einer der Sektoren, die in der Zivilallianz vertreten sind, ist der Private, allen voran vertreten durch den Unternehmerverband (COSEP), der bis zum 18. April einer der engsten Alliierten von Daniel Ortega war. Wie schafft man es, Gruppen, die zum Teil sehr widersprüchliche Interessen vertreten, wie z.B. COSEP und die Bäuer*innenbewegung oder die Kirche und feministische Bewegungen, in einer Allianz zu verbinden?

Die Position des Unternehmerverbands wurde sehr skeptisch gesehen. Sie waren Teil des sogenannten „Dialog und Konsens” zwischen Regierung und Privatsektor, von denen beide Seiten in den letzten elf Jahren erheblich profitiert haben. Dieses Verhältnis hatte sich schon verschlechtert und erlitt einen definitiven Bruch durch die Sozialreform, die Ortega einseitig entschied. Mit dem ersten Todesopfer wurde dieser Bruch unumkehrbar. Heute wird der Privatsektor als ein strategischer Alliierter innerhalb der Zivilallianz betrachtet und genauso wie alle Teil dieser Allianz hat auch er eigene Interessen. Es ist eine Frage des Willens und der politischen Reife, den Herausforderungen zu begegnen und uns darauf zu einigen, dass Ortega definitiv die Regierung verlassen muss.

 

Die Zivilallianz hat sich auf die Demokratisierung und die Gerechtigkeit Nicaraguas sowie auf den Rücktritt der Regierung Ortega-Murillo als gemeinsames Ziel geeinigt. Was bedeutet die Demokratisierung des Landes für AUN? Wie würdet ihr sie gestalten?

Diese Begriffe, die sehr allgemein klingen mögen, haben unterschiedliche Bedeutungen für die verschiedenen Gruppen, die in der Zivilallianz vertreten sind. Im Fall von AUN sind wir uns bewusst, dass es nicht nur kleiner Reformen oder Wahlprozesse bedarf, sondern dass tiefgreifende Transformationen notwendig sind. Wirtschaftlich heißt das, dass ein gewisser Wohlstand gewährleistet werden muss, der es erlaubt, sich auch mit dem politischen Leben auseinanderzusetzen. Eine Bevölkerung, die um ihre Existenz kämpfen muss, hat wenig Zeit dafür. In Nicaragua herrschte bisher ein Modell des Klientelismus. Wir wollen hin zu einem Modell, das es den Bürger*innen ermöglicht, am politischen Leben im Land teilzuhaben. Solch ein Modell sowie die vollkommene Unabhängigkeit der Justiz von politischen Parteien sind unerlässliche Veränderungen für die Zukunft.


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GANZ NORMALE REPRESSION?

Proteste in Managua im Juli (Foto Flickr.com // Jorge Mejía Peralta // CC BY 2.0)

Über Managua braut sich ein Unwetter zusammen. Während sich der Abendhimmel zusehends verdunkelt, hasten vereinzelte Hauptstädter*innen in einen Supermarkt, um letzte Besorgungen vor dem Wolkenbruch zu tätigen. Vor dessen Toren grüßt sie ein mit abgeschnittener Schrotflinte ausgerüsteter Wachmann. Unter seinem weißen Arbeitshemd schimmern die knalligen Lettern einer Wahlkampagne der Sandinistischen Partei durch. „Heute haben wir wieder länger geöffnet“, grüßt er grinsend. „Der comandante hat’s gesagt, im August kehren wir zur Normalität zurück.“ Der comandante ist Präsident Daniel Ortega.

Soweit die offizielle Losung der Regierung. In den vergangenen Wochen setzte der ansonsten kamerascheue Präsident zu einem medialen Rundumschlag an. In gleich fünf Interviews – eine Rarität in seiner 11-jährigen Amtszeit – zeigte er sich darum bemüht, den mittelamerikanischen Staat als befriedet darzustellen. Seine Gattin Rosario Murillo, zugleich Vizepräsidentin, verleiht dieser Deutung in ihren allmittäglichen, religiös-esoterisch eingefärbten Ansprachen Nachdruck: „Wie die Normalität und Ruhe diejenigen stört, die Angst und Terror gesät haben. Sie stört sie wie das Licht die Monster der Nacht. Gott sei Dank konnten sie nichts ausrichten gegen das Licht des großartigen Geistes der Nicaraguaner, das Licht unserer kollektiven Seele, unseres Glaubens, unseres christlichen, sozialistischen und solidarischen Engagements.”

Die Menschen in Masaya erklärten ihre Stadt zum „Freien Territorium“

Neben dem Supermarkt steht ein kleiner Früchtestand. Hinter dessen improvisierten Tresen hockt el doctor, wie ihn seine Mitkämpfer nennen. Er hat eine andere Auffassung der Lage. „Die Menschen sollen erfahren, was sich wirklich in Nicaragua zuträgt“, beginnt er, nervös auf einer Holzkiste hin und her rutschend. Er trägt ein weißes T-Shirt, kurze Hosen und abgetretene Sportschuhe. „Das ist das erste Mal, dass ich das Haus verlasse. Ich war einer der Anführer der Rebellion in meiner Stadt.“ Seit zwei Wochen hält sich der 28-jährige Krankenpfleger in einem sicheren Unterschlupf in Managua versteckt. „Sie haben jetzt einen Haftbefehl erlassen und ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt.“ Mit ‚sie‘ meint er die Regierung.

El doctor stammt aus dem indigenen Viertel Monimbó der Stadt Masaya. Spätestens seit der Revolution von 1979 gilt Masaya – und allen voran Monimbó – als für den Widerstand ikonisch. Der im Südwesten des Landes gelegene Verkehrsknotenpunkt zwischen Managua und Granada wurde damals zum Zentrum des Aufbegehrens gegen die 43 Jahre andauernde Familiendiktatur der Somozas. Die Bewohner*innen bauten Barrikaden, um sich gegen die Nationalgarde zu verteidigen. Anastasio Somoza Debayle ließ Masaya bombardieren. Seine Truppen zogen von Tür zu Tür, auf der Suche nach vermeintlichen „Terroristen“. Etliche Oppositionelle kamen dabei ums Leben. So auch Camilo Ortega, der kleine Bruder des heutigen Präsidenten Daniel Ortega, der damals zur Galionsfigur der sandinistischen nationalen Befreiungsfront (FSLN) aufstieg.

Hochburg des Protestes Auch in Managua fielen die Konfrontationen heftig aus (Foto: Simón Terz)

Knapp vier Jahrzehnte danach wird der Ex-Guerillakämpfer seinerseits als Diktator charakterisiert. Das jüngste Aufbegehren gegen die Regierung entzündete sich Anfang April 2018 an einer allzu zögerlichen Reaktion auf einen Großbrand im Biosphärenreservat Indio Maíz. Unmittelbar darauf folgte die per Dekret verordnete Reform des Sozialsystems mit allen inzwischen bekannten Konsequenzen: Friedliche Demonstrationen wurden von Anhänger*innen der Sandinis­tischen Jugendorganisation (JS) und der Polizei blutig niedergeschlagen. Wachsende Proteste mündeten rasch in eine Massenbewegung, die seitdem den Rücktritt des autokratisch regierenden Ehepaars fordert. Anfang Juni hatten Regierungsgegner*innen 70 Prozent der Haupt­trans­port­­wege des Landes mit Straßensperren lahm­gelegt. In Masaya, wo die Konfrontationen mitunter am heftigsten ausfielen, erklärten dessen Bewohner*innen ihre Stadt zum „Freien Territorium“.

Als die Menschen Zeugen des unglei­chen Kampfes wurden, warf bald das halbe Dorf mit Steinen

„Als in Indio Maíz die Flammen loderten, arbeitete ich dort als Teil des militärischen Rettungsdienstes“, schildert el doctor. „Die Tage vergingen und unsere Einheit unternahm nichts. Wir hätten dieser Katastrophe ein Ende setzen können. Ohne präsidialen Befehl rührt niemand einen Finger, hieß es. Frustriert reichte ich umgehend meine Kündigung ein. Mit einer eigens aufgestellten Brigade aus Mitgliedern der freiwilligen Feuerwehr, dem Roten Kreuz und Pfadfindern sind wir dann noch vor den Truppen da reingegangen. Ich habe eine Ausbildung in Waldbrandbekämpfung. Wir konnten insgesamt 14 Punkte ausmachen, an denen Feuer gelegt wurde. Außerdem fanden wir Benzinfässer. Das Militär beschuldigt einen Bauern, der seinen Lebtag lang dort das Land bearbeitet hat. Ich bin jedoch sicher, dass die wollten, dass das Reservat Schaden nimmt und somit seinen Status als Schutzgebiet verliert. Das kommt der Abholz-Politik des Regimes gerade gelegen.“

El doctor war auch vor Ort, als in Masaya die ersten Schüsse fielen. Vernarbte Schusswunden an seiner linken Schläfe und am rechten Oberschenkel zeugen von diesen ersten Gefechten. „Am 18. April ging mein Großvater mit einem Plakat ‚bewaffnet‘ gegen die umstrittene Rentenreform demonstrieren. Mit blutüberströmtem Kopf kam er zurück nach Hause“, erinnert er sich. „Am nächsten Morgen wurden aus einer Handvoll Protestierender rasch 200. Erneut ließ die Polizei nicht auf sich warten. Zuerst griffen sie mit Tränengas und Gummigeschossen an. Beamte droschen zügellos auf die Demonstrierenden ein. Wir zerbrachen Gullideckel und verteidigten uns mit den Brocken. Bald darauf kämpfte die Polizei Seite an Seite mit JS-Mitgliedern und nun schossen sie mit Feuerwaffen. Ich rief zum Rückzug nach Monimbó auf. Als die Menschen dort Zeugen des ungleichen Kampfes wurden, strömten sie auf die Straßen und bald warf das halbe Dorf mit Steinen.“

Die Auseinandersetzungen verebbten erst in den frühen Morgenstunden. „Das war einer der längsten Tage meines Lebens“, erklärt el doctor mit Nachdruck. Noch in der gleichen Nacht wird sein Cousin durch Schüsse in Kopf und Brust getötet. Er selbst fand sich zu Sonnenaufgang im Krankenhaus wieder. „Als ich sah, wie ein Junge inmitten des Tränengases nach Luft rang, hastete ich zu ihm und in die Schusslinie hinein. Eine Kugel erwischte mich dabei am Kopf und ich ging zu Boden. Meine Kameraden lasen mich auf. Sie sahen die Wunde, das ganze Blut und glaubten, ich sei tot. Aber ich hatte ein Riesenglück, die Kugel steckte in einer Art Tasche zwischen Kopfhaut und Schädelknochen. Wieder bei Bewusstsein bastelte ich mir einen Verband und begann, mich so gut es ging um andere Verletzte zu kümmern. Stunden später traf mich eine 9mm-Patrone ins Bein. Im Krankenhaus verweigerten sie uns die Behandlung. Befreundete Ärzte und Krankenschwestern eilten zu Hilfe. Ein Kollege aus Granada, der Labore und Praxen in der Gegend beliefert, brachte uns kistenweise Material. So wurden die ersten medizinischen Einheiten, die ‚Brigaden des 19. April’, geboren.“

Drei Monate lang bot die Oppositionshochburg Masaya den unablässigen Angriffen seitens der Polizei und regimetreuen paramilitärischen Gruppen die Stirn. Erst als die Regierung im Rahmen einer landesweiten „Säuberungsoperation“ jeglichen Ausdruck des Protests von der Straße zu verbannen suchte, wurde die Stadt durch eine mehr als 1500 Polizist*innen starke Offensive zurückerobert. Er habe vom Präsidentenehepaar den Befehl erhalten, so Ramón Avellán, Generalkommissar der örtlichen Polizei, die Stadt „zu säubern, koste es, was es wolle“. Am 23. August wurde der als Symbol der Repression geltende Avellán zum Vizechef der Polizei befördert.

„Allein nach der ersten Nacht zählte ich zehn Leichen am Strand.“

Dem sonst besonnenen doctor zittert die Stimme, als er diese Ereignisse wieder aufleben lässt. „An diesem Tag floss das Blut auf den Straßen. Meine Schwester fand ich vor unserem Haus, wo sie in eigener Regie eine Krankenstation eingerichtet hatte. Sie lag dort tot auf dem Asphalt, mit zwei Kugeln in der Brust.“ Tränen treten ihm in die wachen Augen. „Ich schulterte ihren leblosen Körper und rannte damit zur nächsten Kirche. Ich sah die Jungs hinter den Barrikaden, als ihnen weder Munition für die selbst gebauten Granatwerfer noch Steine zum Werfen blieben. Sie standen mit erhobenen Armen auf und bildeten eine Menschenkette. Ihre Bitte, das Feuer einzustellen, erwiderten die Schergen mit einer Salve. Mehrere starben noch an Ort und Stelle. Einer stadtbekannten Frau, sie hat 18 Kinder zur Welt gebracht, schossen Paramilitärs in den Bauch und schnitten ihr die Kehle durch. Sie hatte sich geweigert, den Verbleib zweier ihrer Jungs preiszugeben.“
Das regierungsnahe Nachrichtenportal El 19 Digital proklamierte am Folgetag: „Heute feiert dieses historische Viertel der Stadt Masaya seine Freiheit, nachdem es von Terroristen zur Geisel genommen wurde, die von rechten Putschisten finanziert wurden. Die Freudentränen der Familien waren voll Glück und Dankbarkeit.“

Hunderte Bewohner Masayas und der umliegenden Dörfer suchten an den üppig bewachsenen Ufern des nahen Kratersees laguna de apoyo Schutz. Immer noch halten sich unzählige Personen dort versteckt. „Die Polizei kämmt die Gegend mit ihren Hunden durch, kennt sie aber nicht so gut wie wir“, erklärt el doctor. „Dennoch, allein nach der ersten Nacht dort zählte ich zehn Leichen am Strand. Die offiziellen Medien berichten von zwei Todesopfern. Aber bis heute hat niemand wirklich Klarheit über das ganze Ausmaß des Massakers. Die Stadt ist von Paramilitärs belagert.“ Er schätzt die Zahl auf rund 60 Tote. Als die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) im Mai nach Monimbó kam, hätten die Leute dankbar Auskunft gegeben. „Heute wäre das anders. Die Angst ist zu groß.“

Die Mütter haben sichmit Mut bewaffnet Protest-Wandbild in Managua (Foto: Simón Terz)

Auch in weiteren Städten des Landes wie Léon, Jinotega, Diriamba und Jinotepe sind nach wie vor paramilitärische Gruppen präsent. Ortega nennt sie „freiwillige Polizei“. Neue Ausdrucksformen des Protests sollen im Keim erstickt werden. Wie bereits in den Jahren der Somoza-Diktatur schüchtern diese Einheiten in Zusammenarbeit mit der Polizei die Bevölkerung ein und ziehen mit Namenslisten von zu verhaftenden „Putschisten“ ausgerüstet durch die Nachbarschaften. „Diese Männer haben mein Haus geplündert, Kameras installiert und benutzen es als ihr Quartier“, fährt el doctor fort.

Mittlerweile gießt es in Strömen. Die Kundschaft des Supermarktes hat sich in alle Richtungen verstreut. El doctor spricht jetzt gelassener, jedoch nicht ohne dabei immer wieder prüfend über den Tresen zu spähen. „Meinen Onkel und meinen 82-jährigen Großvater haben sie kürzlich aus dem Gefängnis entlassen. Dort hat man ihnen sämtliche Nägel gezogen. Die wollten wissen, wo meine Schwester und ich sind. Dass sie selbst sie kaltblütig ermordeten, haben sie scheinbar bereits vergessen.“ Seit August hat die Repression neue Formen angenommen. Die zunehmende Bedrohung durch den Staatsapparat und die Kriminalisierung oppositioneller Sektoren bestimmen die aktuelle Phase der Krise. Diese Umstände haben mitunter zur vorübergehenden Schließung des Sitzes der nicaraguanischen Vereinigung für Menschenrechte (ANPDH) und zur Flucht ihres Leiters, Álvaro Leiva, nach Costa Rica geführt. „Meine Frau und meine dreijährige Tochter sind Teil des Exodus“, legt el doctor dar. „Ich hab’ sie Ende April in den Bus gesetzt. Seitdem kann ich sie kaum sprechen. Es ist zu gefährlich.“

Angestellte aus dem öffentlichen Sektor verloren im Zuge der vergangenen Wochen reihenweise ihre Jobs. Entweder, weil sie an Demonstrationen teilnahmen oder auf andere Weise den zivilen Protest unterstützen. Eine weitere Einschüchterungstaktik gilt der Privatwirtschaft. Sogenannte toma tierras (Landräuber), zumeist Menschen aus Armenvierteln, werden unter Begleitschutz von Regierungsmitgliedern oder schwer bewaffneten Paramilitärs zu Grundstücken verfrachtet. Dort errichten sie mit Stäben, Plastikplanen und Zink prekäre, nicht selten mit der sandinistischen Flagge geschmückte Unterkünfte. Man verspricht ihnen, dass diese angeblich zeitnah legalisiert werden sollen. Zahlreiche dieser Grundstücke gehören Mitgliedern des Unternehmerverbandes COSEP – bis vor der Krise noch Hauptverbündeter und größter Nutznießer der Regierung. Heute bildet der COSEP Teil der „zivilen Allianz für Gerechtigkeit und Demokratie“ gegen die Ortega-Regierung. Ein Mitte Mai aufgenommener nationaler Dialog unter der Leitung der katholischen Bischofskonferenz zwischen Allianz und Regierung wurde wegen der nicht verebbenden Gewalt und einem Mangel an Konsens unterbrochen.

Weiterhin finden, der „Normalität“ zum Trotz, Märsche statt – zumeist beschattet von Polizei und Paramilitärs. Willkürliche Verhaftungen von Demonstrierenden gehören in Folge dessen zur Tagesordnung. Die Protestzüge fordern die Befreiung der politischen Gefangenen und eine Wiederaufnahme des Friedensdialogs. „Ich hoffe, die Welt hört uns“, beschließt el doctor energisch. „Wir brauchen dringend Hilfe. Und es muss Gerechtigkeit geben. All die Verbrechen dürfen nicht ungestraft bleiben. Denn ohne Gerechtigkeit gibt es kein Vergeben.“


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KURSKORREKTUR IN KOLUMBIEN

Nur eine Stunde nach Schließung der Wahllokale am 17. Juni stand fest: Der Rechtsaußenkandidat Iván Duque wird der neue Präsident Kolumbiens. Mit rund 54 Prozent der Stimmen setzte der 41-jährige Anwalt sich gegen seinen Kontrahenten Gustavo Petro durch. Der 58-jährige Ökonom Petro konnte mit rund 42 Prozent der Stimmen allerdings ein historisches Ergebnis erzielen: Zum ersten Mal in der kolumbianischen Geschichte erreichte ein linker Kandidat lebend die Stichwahlen und konnte auf Anhieb mehr als acht Millionen Kolumbianer*innen hinter sich vereinen.

Petro, der sich als Mann des Volkes inszeniert, wurde in den vergangenen Wochen zu einer Art Messias der kolumbianischen Linken. Und so verkündete der Präsidentschaftskandidat, dass „der Kampf für ein besseres und menschlicheres Kolumbien“ weitergehen müsse. Das Wahlergebnis sei keine Niederlage, sondern im Gegenteil der Beweis für eine lebendige Opposition. Fortan wolle er die „Opposition der alternativen Kräfte“ als Abgeordneter im Kongress anführen – vor allem aber auf der Straße. Gemeinsam mit Politiker*innen anderer Parteien und einer breiten gesellschaftlichen Basis wolle er nun die Kampagnen für das im August geplante Referendum gegen die Korruption und die Kommunalwahlen im kommenden Jahr angehen. „Ich heiße Gustavo Petro, und ich will euer Anführer sein!“ schreit Petro den jubelnden Massen zu.

Besondere Kopfschmerzen bereiten der Opposition mögliche Änderungen am Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla. Duque revidierte zwar seine Aussage, wonach er das 2016 unterzeichnete Abkommen „zerreißen“ wolle. Er will jedoch signifikante „Korrekturen“ an dem Vertrag vornehmen. Insbesondere die Übergangsjustiz, die der Mehrheit der ehemaligen Rebell*innen eine Amnestie garantiert, und die politische Beteiligung der mittlerweile gegründeten FARC-Partei sind Duque ein Dorn im Auge. Bereits kurz nach der Wahl setzte Duques konservative Partei Centro Democratico (PCD) durch, dass das Gesetz für die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) nur mit Änderungen umgesetzt wird. Auch die Friedensverhandlungen mit der kleineren ELN-Guerilla will er aussetzen, sofern die Rebell*innen nicht eine Vielzahl unrealistischer Bedingungen erfüllen.

Dabei muss Duque sich mit der gut organisierten Opposition auseinandersetzen. Bereits während seiner Wahlkampagne hatte Petro eine breite gesellschaftliche Basis um sich geschart. Vorwiegend junge Menschen warben mit Fahrradtouren, Flyern und Ampel-Flashmobs für sein „Menschliches Kolumbien“. Die Kollektive setzen nun ihre Arbeit fort – und haben schon einmal die Kommunalwahlen im kommenden Jahr im Blick.

„Wir wurden unser ganzes Leben lang von Politiker*innen regiert, die unsere politischen Werte nicht teilten“, sagt Esteban Guerrero von der Initiative Ojo a la Paz (Augenmerk auf den Frieden). Im Grunde sei die Situation nun die gleiche wie immer. „Es ist sogar möglich, dass Duques Wahl die sozialen Bewegungen stärkt, die seit Beginn des Friedensprozesses schwächer geworden sind“, sagt Guerrero. Die Angst vor einer Rückkehr des Uribismus, der Politik des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, könnte weitere Teile der Bevölkerung vereinen.

Auch María Fernanda Carrascal, Gründerin der Basisinitiative #ElPaisPrimero, betont: „Wir geben nicht auf, wir leisten Widerstand und wir träumen weiter.“ Der Aufstieg Petros habe gezeigt, dass eine andere Politik möglich sei, sagt die Aktivistin. Noch nie war ein Kandidat, der nicht von der traditionellen Politikmaschinerie gestützt wurde, der Präsidentschaft so nah.

Duque hingegen gilt seinen Kritiker*innen als Rückkehr in dunkle Zeiten: Er sei die Marionette des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, dem zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und umfangreiche Verbindungen zu paramilitärischen Vereinigungen vorgeworfen werden. Fakt ist: Ohne die Unterstützung Uribes hätte es der politisch unerfahrene Anwalt Iván Duque niemals zur Präsidentschaft geschafft. Dementsprechend hoch ist die Sorge vieler Aktivist*innen vor einer Rückkehr des Uribismus. „Duque hat so viele Schulden bei der politischen und wirtschaftlichen Elite dieses Landes, dass sie ihn nicht unabhängig regieren lassen werden“, sagt Carrascal. Viele Aktivist*innen hätten Angst, dass die unter Uribe übliche Stigmatisierung und Verfolgung Oppositioneller wieder alltäglich werden könnte. In den vergangenen Monaten häuften sich Morde an Menschenrechtsaktivist*innen, auch Unterstützer*innen der Kampagne Petros erhielten wiederholt Drohungen. Wenige Wochen nach der Wahl wurde Frank Dairo Rincón, Leiter der Kampagne Petros in der südkolumbianischen Stadt Pitalito, ermordet. Der Sieg Duques könnte das Klima der Angst und Gewalt noch verstärken. Ein mögliches Scheitern des Friedens­prozesses mit den beiden Guerillagruppen könnte dazu führen, dass diese wieder in die Illegalität abtauchen.

Auch Humberto de la Calle, Chef-Unterhändler im Friedensprozess mit den FARC und unterlegener Präsidentschaftskandidat, warnte in einem offenen Brief, dass die Positionen Duques „ein enormes Risiko für das Land bedeuten“ würden. „Es wäre ein gravierender Fehler, das Abkommen aufzukündigen oder zu verändern“, schrieb er vor der Wahl. Die Ankündigung Duques, zu den „erfolgreichen“ militärischen Strategien seines politischen Ziehvaters Uribe zurückkehren zu wollen, besorgt viele. Die Auswirkungen der militärischen Strategien Uribes sind noch lebendig. „Die Täter haben gewonnen, wir, die Mütter aus Soacha, haben verloren“, verkündete etwa die Organisation der Mütter der im falsos positivos Skandal getöteten Jugendlichen (Fälle, in denen Zivilist*innen wahllos von staatlichen Sicherheitskräften getötet und im Nachhinein als Gueriller@s ausgegeben wurden). Die Bewegung der Opfer staatlicher Verbrechen, Movice, hatte bereits einige Tage zuvor ihre Sorge vor einer Rückkehr des Uribismus erklärt. In einer feierlichen Zeremonie im Herzen Bogotás verteilten die Menschen Bilder getöteter und verschwundener Angehöriger auf Treppenstufen und forderten eine Politik, die sich für die Opfer des Konfliktes einsetzt.

Duque verspricht hingegen, das Land zu einen: „Wir müssen alle gemeinsam zum Wohle Kolumbiens arbeiten“, forderte er in seiner Antrittsrede und betonte: „Ich habe keinen einzigen Kolumbianer zum Feind.“ Er sprach sich gegen einen aggressiven Tonfall und die Polarisierung der Gesellschaft aus – delegitimierte jedoch zugleich oppositionelle Stimmen als Versuch, das Land zu spalten. Die Aktivistin Carrascal kündigte jedoch an, dass die Opposition „sich nicht als Brandstifter stigmatisieren” lassen würde.
Dabei ignoriert Duque, dass ein bedeutender Anteil der Stimmen für ihn wohl eine Stimme gegen Petro war. Die Kampagne Duques beruhte wesentlich auf der Angst vor der Angst, der Ex-Guerillero Petro würde Kolumbien in eine Art zweites Venezuela oder Kuba verwandeln.

Auch in der Drogenpolitik bleibt Duque der Linie Uribes treu: Kokaplantagen sollen radikal vernichtet, Drogenhandel härter bestraft und der Konsum selbst kleiner Mengen sanktioniert werden. Die Militarisierung der betroffenen Gebiete soll parallel für Sicherheit sorgen.

Ein besonderes Anliegen ist Duque laut eigener Aussage zudem der Kampf gegen die Korruption. In den Reihen seiner Unterstützer*innen befinden sich allerdings viele ehemalige Politiker*innen, die wegen verschiedener Korruptionsdelikte vor Gericht stehen.

Bei seinen Reformplänen hat Duque künftig leichtes Spiel: Bei den Kongresswahlen im März konnte seine Partei die Mehrheit der Sitze erringen. Die Opposition wird dennoch versuchen, ihm die Reformen zu erschweren – und dabei die öffentliche Meinung womöglich noch stärker polarisieren. Eine gespaltene Gesellschaft in den Frieden zu führen wird daher die eigentliche Herausforderung für Duque sein.

Der Wandel sei nicht mehr aufzuhalten, sagt der Aktivist Guerrero. „Wir haben keine Angst vor der Angst – und sind noch viel zu jung, um die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel zu verlieren.“ Das soll heißen: Dann gewinnen wir eben in vier Jahren.


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NOCH KEIN ENDE IN SICHT

Fast drei Monate sind seit dem Anfang der massiven Proteste gegen Daniel Ortega und seine Frau und Vizepräsidentin, Rosario Murillo, vergangen. Drei Monate, die vielen Nicaraguaner*innen wie Jahre vorkommen dürften. Nahezu täglich überstürzen sich die Ereignisse, viele von ihnen sind blutig. Mittlerweile hat die Gewalt die barrios orientales, Managuas Arbeiterviertel, erreicht. Paramilitärs fahren dort mit Pick-Ups durch die Straßen, sie tragen Kriegswaffen, sie durchsuchen die Menschen und schüchtern sie ein. Es wird von Schießereien berichtet, die Opferzahl steigt fast täglich. Im kollektiven Gedächtnis der Nicaraguaner*innen wird der Mord an einer ganzen Familie bleiben, die in ihrem Haus verbrannte. Ebenso der Fall eines Kleinkindes, das auf der Straße von einer Kugel getroffen wurde und ums Leben kam.

Nicaragua im Spiegel der LN Titelseiten der Lateinamerika Nachrichten der letzten 40 Jahre 1978-2018

Täglich überstürzen sich die Ereignisse, viele sind blutig.

Während Ortega sich Zeit zu kaufen scheint, spielen internationale Organe wie die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH), der UN-Menschenrechtsrat und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eine zunehmend wichtige Rolle für die Auswertung der Gewalt und zur Ermittlung der Schuldigen.

Mit der anhaltenden Gewalt und der wachsenden Zahl der Opfer steigt auch der Druck auf den OAS-Generalsekretär Luis Almagro, eine klare Stellungnahme gegen die Repression abzugeben. Almagro hat sich zuletzt für vorgezogene Wahlen ausgesprochen, eine Variante, der wiederum von der Bürger*innenallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (Alianza Cívica por la Justicia y la Democracia) mit Skepsis begegnet wird. Die zahlreichen Wahlbetrugsvorwürfe und die Befangenheit des Obersten Wahlrats sind dabei ihr Hauptargument. Dazu gehört auch die absolute Delegitimation, die Ortega sich nach fast drei Monaten des Blutvergießens erworben hat.

Die Nicaraguaner*innen befinden sich in einer gefühlten Sackgasse.

Man mag sich wundern, warum Almagro im Fall Ortega relativ gemäßigt agiert. In Bezug auf Venezuela hat er sich hingegen von Anfang an ganz klar für ein Ende der Maduro-Regierung eingesetzt. Die Antwort liegt wohl in der (eigentlich bekannten) Tatsache, dass man diplomatische Verbündete zwar vergleichen, aber doch nicht gleichsetzen darf. Letztendlich haben die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Nicaragua, die zu den Protesten führten, mit denjenigen in Venezuela eher wenig zu tun. Als zwei Beispiele für diese Unterschiede stechen die Rolle des Erdöls in Politik und Wirtschaft und die Beziehung zwischen Regierung und Unternehmer*innenschicht hervor. In diesem Sinne scheint Ortega für Almagro eindeutig erträglicher als Maduro zu sein.
„Eine politische Antwort wird benötigt, im Grunde eine politische Antwort vonseiten der Macht (…) Der Volkswille muss sich durchsetzen, das muss durch Wahlen geschehen, mit der Auszählung der Stimmen“, erklärte Luis Almagro am 22. Juni. In diesem Zusammenhang führte ein beachtenswertes Ereignis zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Bei der OAS-Generalversammlung im Juni 2018 wurde über eine Resolution abgestimmt, die einen zukünftigen Ausschluss Venezuelas aus der kontinentalen Organisation einleitete und zugleich den letzten präsidialen Wahlprozess im bolivarischen Land als illegitim bezeichnete. Die Resolution wurde mit neunzehn Stimmen angenommen, nur vier Länder (darunter Venezuela und Bolivien) stimmten dagegen. Unter den Enthaltungen war auch Nicaragua, das sonst immer an der Seite Maduros gestimmt hatte. Diese diplomatische Haltung der Ortega-Regierung scheint eine Annäherung an Almagro zu sein, sie begünstigt die „sanfte Opposition“ des OAS-Generalsekretärs.

In den 1970er und 1980er Jahren erlebte das Land eine Welle der Solidarität

Die Nicaraguaner*innen befinden sich derzeit in einer gefühlten Sackgasse. Für Ortega und seine Regierung bedeutet das die Weiterführung der gewalttätigen Repression. Für die Protestierenden führt es bei manchen zu einem Hilfeschrei nach außen. Doch welche internationalen Organisationen können und sollten die Konfliktlösung Nicaraguas unterstützen und in welcher Form?

Vor allem einzelnen Mitgliedern der Studierendenallianz ist die Antwort auf diese Frage offensichtlich noch nicht ganz klar. Denn bestimmte Treffen mit Politiker*innen aus dem rechtskonservativen Lager aus den USA oder El Salvador beispielsweise begünstigen nur jene Vorwürfe, die eine externe Konspiration der Rechten unterstellen. Fast drei Monate nach dem Beginn der Krise ist das breite Bündnis der Opposition immer noch nicht in der Lage, sich politisch und ideologisch zu definieren. Feministinnen, linke Studierende, Bäuerinnen und Bauern ebenso wie Unternehmer*innen sind unter anderen in dem Bündnis vertreten, mit zum Teil widersprüchlichen Weltanschauungen, Motiven und Interessen. Schienen am Anfang eher die progressiven Flügel dieser Allianz zu dominieren, treten jetzt zunehmend die konservativen und USA-nahen Mitglieder um die wirtschaftliche Elite des Arbeitgeberverbandes COSEP (bis vor kurzem Ortegas wichtigster Partner) in den Vordergrund. Womöglich werden verzweifelt wichtige Verbündete im Ausland gesucht, damit das Thema Nicaragua in den internationalen Fokus rückt – das wäre die optimistische Variante.
Denn Nicaragua ist der internationalen Solidarität nicht fremd. Besonders in den 1970er und 1980er Jahren erlebte das Land vor allem aus Deutschland eine Welle an Solidaritätsbekundungen, allen voran aus dem linken Spektrum, das noch heute eine enge Beziehung zu Nicaragua unterhält. Nichtsdestotrotz lässt sich die Konstellation des aktuellen Machtkampfs nicht so eindeutig zwischen rechts und links verorten wie früher. Genau deswegen sollte die Studierendenallianz internationale Unterstützung nicht unkritisch auswählen. Vor allem aber sollte vermieden werden, sich mit jenen Akteur*innen zu verbünden, die in Nicaragua eine Gelegenheit sehen, alte und vereinfachte Machtkämpfe zwischen links und rechts und somit die Dämonisierung sozialistisch orientierter Regierungen zu reproduzieren.Vielmehr geht es derzeit darum, die drängenden Probleme auf humanitärer Ebene zu lösen, erst dann sollte man in eine tiefergreifende politische Debatte eintreten. Für die neu entstandenen Bewegungen, allen voran der Studierenden­bewegung, gilt es ungeachtet dessen weiterhin politische Inhalte zu erarbeiten. Parallel muss sie auf das Ende der polizeilichen Repression und auf die Aufklärung der Morde während der Proteste sowie der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen willkürlicher Verhaf­tungen dringen.

Das Ende von Präsident Daniel Ortega ist immer noch möglich.

Für Nicaragua gilt ebenso, was Carlos Beristain von der in Nicaragua aktiven Interdisziplinären Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) einmal über die Arbeitsweise der Organisation mit Opfer-Angehörigen im Rahmen der Untersuchung der Entführung und Ermordung der 43 Student*innen in Ayotzinapa, Mexiko, geäußert hat: „Was die Angehörigen brauchen ist Wahrheit. Was sie uns sagten, als wir am ersten Tag in die Schule kamen, bei dem ersten Treffen, war: ‚Sagt immer die Wahrheit zu uns, das ist das wichtigste für uns.‘ Was sie brauchen ist direkte Kommunikation, nicht angelogen zu werden; nicht, dass ihnen eine Sache erzählt wird und dann erweist sich eine andere; dass sie früher informiert werden über jedes für die Untersuchung relevante oder bezüglich des Verbleibes ihrer Kinder wichtige Element, dass ihnen alles erklärt wird, bevor die Information an die Medien kommt, und das ist eine Schlüsselangelegenheit, um eine Untersuchung durchführen zu können. Man kann eine Untersuchung nicht machen, ohne die Opfer zu berücksichtigen, und diese beiden Faktoren müssen Hand in Hand gehen.“

Hierbei könnten Organisationen wie die CIDH, GIEI und der Sonderfolgemechanismus für Nicaragua (MESENI) eine wichtige Rolle spielen. In den Nachbarländern wurden bereits Sondermechanismen für die Bekämpfung von Straflosigkeit, insbesondere in den Bereichen Korruptions­bekämpfung und Bekämpfung krimineller Strukturen gegründet. Die Ergebnisse solcher Mechanismen sind begrenzt, aber nicht zu vernachlässigen. Sie hängen sehr vom politischen Willen der jeweiligen Regierung, aber auch vom zivilgesellschaftlichen Druck in den jeweiligen Ländern ab. In Nicaragua hat dieser Druck nun möglicherweise seinen Höhepunkt erreicht. Die Aufklärung und Dokumentierung von Menschenrechtsverletzungen ist auch bei fehlenden Strafverfahren eine Legitimation der Opfer, was einen der wertvollsten Beiträge solcher Mechanismen darstellt. Letztlich geht es um den Kampf um die Wahrheit, der bei defizitärer Pressefreiheit und einem nicht funktionierenden Justizsystem für die Repressionsopfer sehr schwierig ist. Es geht um die Wahrheit, es geht aber auch darum, dass die Opfer Vertrauen in irgendeine Instanz zurückgewinnen können. Um die Spirale der Straflosigkeit und Gewalt zu durchbrechen, ist letzteres entscheidend. Genauso wichtig ist eine glaubwürdige Dokumentierung der Ereignisse, um weitere internationale Zustimmung zu gewinnen.

Ortegas Ende ist immer noch möglich. Der Autoritarismus, die Korruption und die staatliche Repression der letzten Monate haben ihn für viele Nicaraguaner*innen beinah regierungsunfähig gemacht. Ob nach ihm eine demokratischere, gerechtere und sozialere Regierung an die Macht kommen wird, ist immer noch offen. Bis dahin sollte man jedoch mit internationaler Solidarität vorsichtig umgehen: internationale Solidarität ja, aber nicht um jeden Preis!


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DER COMANDANTE IN SEINEM LABYRINTH

Die Bilder in den Medien vermittelten ein Horrorszenario: Eine weinende hochschwangere Frau bettelt an einer Tankstelle um Benzin für ihr Auto, „weil die Ambulanzen nicht fahren“. Kein Insulin für Diabetes-Patient*innen in den Krankenhäusern, leergefegte Regale in den Supermärkten. Komplett überfüllte Autobusse, kilometerlange Schlangen an den Tankstellen, Streichung von Inlandsflügen an 14 Flughäfen, weil kein Kerosin geliefert werden kann. Und der Präsident setzt nach den ersten gescheiterten Verhandlungen das Militär ein, um die Blockaden der Lkw-Fahrer*innen auf den Fernstraßen aufzulösen. Grundlage dafür ist das Gesetz zur „Garantie von Gesetz und Ordnung“, das zum ersten Mal für das gesamte Land galt.

Doch am Abend des zweiten Tages nach dem Ende des landesweiten Streiks der selbstständigen Fuhrunternehmer*innen ist in der Millionenstadt Recife im Nordosten des Landes die Versorgungslage weitestgehend normal. Die langen Schlangen an den Tankstellen haben sich auf fünf bis zehn Autos reduziert. In den großen Supermärkten gibt es vereinzelte Lücken bei den Frischwaren wie Fleisch oder Gemüse, aber von einer Krise kann keine Rede sein. Und die – jährlich von starken Überschwemmungen der Straßen geprüften – Recifenses nehmen den Streik denkbar gelassen. „Wir machen sowieso einmal im Monat einen Großeinkauf, Obst und Gemüse kaufen wir alle vierzehn Tage“, sagt Kilsa Oliveira, die in einem Friseursalon arbeitet. „Da hat es uns an nichts gefehlt. Und mein Bus ist immer voll, das war nichts Neues.“ So oder so ähnlich klingt das bei fast allen, die den Streik beschreiben. Stärker als die Privatleute haben die Blockaden allerdings das Gewerbe getroffen, auch Restaurants sind auf tägliche Lieferungen angewiesen. Aber auch hier galt: Im Ernstfall wurde einfach die Speisekarte umgeschrieben. Am schwierigsten war die Versorgung mit Benzin, drei bis vier Stunden zu warten und dann nicht einmal volltanken zu können – eine echte Geduldsprobe. Andere stiegen auf Öffentliche um, deren Verkehr in vielen Städten eingeschränkt weiter funktionierte. So fuhr in São Paulo immerhin jeder zweite Bus. Da viele Taxis Hybridmotoren haben, konnten sie Gas oder Alkohol als alternativen Treibstoff nutzen. Deshalb empört sich Taxifahrer Sandro Manga auch eher über diejenigen, die versuchten, aus dem Streik Geld zu schlagen, als über die Lkw-Fahrer*innen: „Das Benzin für neun Reai und 90 Centavos (2,27 Euro) zu verkaufen, das ist unverschämt. Die versuchten, auf unsere Kosten reich zu werden. Aber sie werden eine sehr hohe Strafe von 150.000 Reais erhalten, was ich ihnen wirklich gönne!“

Betroffen waren auch Universitäten und Schulen. „Wir mussten unsere Kurse für zehn Tage aussetzen“, erzählt Fatima Silva, die in Recife als Dozentin an einer Fakultät für Mode und Design arbeitet: „In den Außenbezirken fuhren kaum Busse, so dass viele Studierende gar nicht kommen konnten. Erst am vierten Juni konnten wir den Unterricht wieder aufnehmen.“

Doch auch wenn das Katastrophenszenario eher medial erzeugt war: Die selbständigen Fuhrunternehmer*innen haben mit ihrer zehntägigen Blockade-Aktion der Regierung Temer ihre erste große innenpolitische Niederlage beschert. Neben einer Senkung des Preises für Diesel – dieser ist in den vergangenen zwölf Monaten um fast 20 Prozent gestiegen – forderten sie eine Steuerbefreiung des Treibstoffs sowie eine festgelegte Untergrenze für Frachtgebühren. Und sie hatten Erfolg, denn nach nur wenigen Verhandlungstagen ist die Regierung eingeknickt, um die Straßen wieder frei zu bekommen und eine Ausweitung der Proteste zu verhindern.
Auch erhielten die Lkw-Fahrer*innen für ihre Blockaden durchaus Unterstützung von der Bevölkerung, selbst in armen ländlichen Gebieten im Sertão wurden sie tagelang mit Essen und Getränken versorgt. Schwerer tat sich die traditionelle Linke mit der Unterstützung. Da die meisten der streikenden Fahrer*innen zumindest offiziell selbständig sind, gehören sie nach Einschätzung der Linken eher zu den zu bekämpfenden Unternehmer*innen denn zur arbeitenden Klasse. Hinzu kommt, dass Teile der Fuhrunternehmer*innen nach dem Streik auf einer Demonstration in São Paulo den Eingriff der Militärs („Intervenção Militar“) in die brasilianische Innenpolitik forderten. Doch die Blockierenden sind nicht mehrheitlich den Rechten zuzuordnen; die vielen aus den Blockaden in den sozialen Medien veröffentlichen Videos und Interviews zeigen deutlich mehr Stellungnahmen zugunsten der Freilassung des ehemaligen Präsidenten Lula und mit Zuspruch für dessen Arbeiterpartei PT.

Aufgegriffen wurden die Proteste von der Gewerkschaft der Raffinerie-Arbeiter*innen, FUP. Diese erklärte einen Warnstreik von 72 Stunden ab dem 30. Mai und forderte eine erneute staatliche Regulierung der Preise für Benzin, Diesel und Gas sowie das Ende der täglichen Anpassungen an den Weltmarktpreis – was die große Mehrheit der Bevölkerung sicher aufs Wärmste begrüßen würde. Weiter ein Ende der Privatisierung des halbstaatlichen Mineralölunternehmens Petrobras und eine erneute Erhöhung der Produktion in den Raffinerien, um den auf 20 Prozent gestiegenen Marktanteil an internationalen Erdölderivaten wieder zu senken. Außerdem forderten sie den sofortigen Rücktritt des Direktors der Petrobras, Pedro Parente, der im Auftrag der Regierung Temer die Preisregelungen außer Kraft gesetzt hatte. Zumindest die letzte Forderung wurde schnell erfüllt, Pedro Parente ist bereits zurückgetreten. Bis zum Ende des Monats will die FUP entscheiden, ob weitere Streiks folgen sollen.

Ein weiteres Zugeständnis der Regierung ist die Senkung des Preises für den Liter Diesel um 0,46 Centavos, allerdings verkaufen bisher nur wenige Tankstellen Diesel zu diesem Preis. Denn, wie es die Folha de São Paulo formuliert, „das Dekret des Präsidenten verfügt den Preisnachlass durch die Raffinerien. Von den Raffinerien bis zu den Tankstellen bestimmen freie Verhandlungen den Preis. Es stellt sich die Frage, ob die Aktionen der Regierung an den Zapfsäulen verfassungsgemäß sind.“ Die teilweise Steuerbefreiung des Treibstoffs – insgesamt werden fünf verschiedene Formen von Steuern für Union und Bundesstaaten erhoben, die u.a. für den Straßenbau eingesetzt werden – sorgen für Unmut bei den Landesregierungen. Und die neuen Untergrenzen für Frachtgut rufen die Unternehmerverbände auf den Plan. Der Unternehmerverband von São Paulo, FIESP, hat bereits mit einer Klagewelle gedroht. So wird seit dem Ende des Streiks nachverhandelt und jeden Tag eine neue Lösung für die Einhaltung der Zusagen diskutiert.

Bereits am 30. Mai veröffentlichte die Regierung Temer das Präsidialdekret 839, eine 35 Seiten lange Liste mit Streichungen von finanziellen Mitteln in Regierungsprogrammen und Subventionen. Mehr als 1,2 Milliarden Reais (270 Millionen Euro) werden u.a. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Förderung von Frauen und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gestrichen. Der größere Teil der Budgetkürzungen, 12,1 Milliarden Reais, betrifft allerdings bisherige Subventionen, darunter in der Getränkeindustrie. Die Liste mit Kürzungen war bereits seit längerem erwartet worden, denn seit dem Oktober 2016 sind die Ausgaben für staatliche Sozialprogramme für 20 Jahre „eingefroren“. Die versprochene Preissenkung für Diesel muss daher durch weitere Kürzungen finanziert werden – oder wie es der Blogger Leonardo Sakamoto formulierte: „Und die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Würde werden zu Diesel.“


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SYSTEMATISCHE VERFOLGUNG DER OPPOSITION

Bei den Präsidentschaftswahlen in Honduras Ende November war das oppositionelle Parteienbündnis Allianz gegen die Diktatur mit dem politischen Neuling Salvador Nasralla gegen den amtierenden Präsidenten Juan Orlando Hernández von der Nationalen Partei (PN) angetreten. Einen Tag nach der Wahl, nach Auszählung von 60 Prozent der Stimmen, wurde von einem Wahlsieg für Nasralla mit einer deutlichen Stimmenmehrheit von fünf Prozent ausgegangen. Doch das Ergebnis änderte sich nach einem Ausfall der Computersysteme der Wahlbehörde (TSE). Nach wochenlangen Nachzählungen und ohne Zwischenergebnisse zu veröffentlichen, erklärte das oberste Wahlgericht am 17. Dezember, Hernández habe mit 42,95 Prozent der Stimmen gegenüber 41,24 Prozent der Stimmen für Nasralla gesiegt.

Fotoquelle: Luis Méndez

Kurz vor der Erklärung hatte der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro, deutliche Zweifel an Wahlverlauf und Stimmauszählung geäußert. Er riet Honduras, Neuwahlen abzuhalten. Die USA erkannten das Wahlergebnis jedoch am 22. Dezember an. Zuvor hatte Außenminister Rex Tillerson der honduranischen Regierung Erfolge im Kampf gegen Korruption und für die Menschenrechte bescheinigt, was den Weg frei macht für weitere Millionenhilfen für die honduranischen Sicher­­heitskräfte, die derzeit gewaltsam gegen die Bevölkerung vorgehen.

Die Proteste gegen einen möglichen Wahlbetrug begannen wenige Tage nach dem Urnengang, als das TSE keine neuen Daten mehr veröffentlichte. Die Vermutung lag nahe, dass die Wahlbehörde, die von der Regierungspartei PN kontrolliert wird, nun die Ergebnisse manipulieren würde. Dass der Ministerrat am 1. Dezember für zehn Tage den Ausnahmezustand verhängte, trug zum weiteren Misstrauen gegen die noch amtierende Regierung bei. In allen Landesteilen gingen die Menschen demonstrieren und errichteten Straßenblockaden. Über tausend politische Kundgebungen gab es allein im Dezember. Die Menschenrechtsorganisation Komitee der Angehörigen von verschwundenen Verhafteten in Honduras (COFADEH), aber auch die staatliche Menschenrechtskommission CONADEH, zählten von der Wahl bis zum Ende des Jahres 30 Todesopfer. Laut COFADEH starben die meisten von ihnen durch Kugeln der Militärpolizei, die mit scharfer Munition auf die Menschen auf der Straße schoss. Mitte Dezember rief der Menschenrechtsbeauftragte Roberto Herrera Cáceres die staatlichen Sicherheitskräfte auf, nicht länger mit tödlichen Waffen gegen Demonstrierende vorzugehen. Doch das Militär schießt weiterhin auf Protestrierende. Im Januar wurden mindestens zwei Menschen bei Demonstrationen erschossen, zwei weitere wurden tot aufgefunden, nachdem sie von Uniformierten mitgenommen worden waren. Das Hochkommissariat für Menschenrechte nennt das Ausmaß der von den Sicherheitskräften ausgeübten Gewalt besorgniserregend. Genannt werden Stein­­würfe, Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken sowie Gewalt gegen Pressevertreter*innen. Die Gewalt sei unvermittelt angewendet worden, ohne vorherige Kommunikation mit den Demonstrierenden.

Das Militär schießt weiterhin auf Protestierende.

Das brutale Zerschlagen von Straßenprotesten ist jedoch nur ein Teil der Repression durch die staatlichen Institutionen. Gegenüber COFADEH berichteten zahlreiche Festgenommene von Folter und degradierender Behandlung durch Polizei und Militär. „Die ganze Nacht vom 1. Dezember wurden wir von den Militärs geschlagen. Sie brachten uns auf einen Fußballplatz, wir mussten uns mit erhobenen Händen niederknien und dann schlugen sie uns mit einem Kabel auf den Rücken“, heißt es in einer Zeugenaussage gegenüber dem regierungskritischen Radio Progreso. Vollkommen unangemessen war auch der Umgang mit elf Männern, die bei Razzien in Pimienta im Department Cortés verhaftet wurden. Sie wurden kahl rasiert und in das Hochsicherheitsgefängnis „El Pozo“ gebracht, außerdem bedroht, dass man sie verschwinden lassen würde. Sie sind nicht die Einzigen, die bei Razzien verhaftet wurden. Ziel der, oft ohne Durchsuchungs- und Haftbefehle stattfindenden, Durchsuchungen in Wohngebieten ist es scheinbar, die Organisator*innen von Protesten auszuschalten.

Über tausend politische Kundgebungen allein im Dezember.

Während der Staat mit aller Härte gegen die Protestbewegung vorgeht, ist von Ermittlungen gegen die Mörder von Demonstrant*innen aus den Reihen von Militär und Polizei nichts bekannt, auf eine Anfrage von Radio Progreso wurde nicht geantwortet. „Die Staatsanwaltschaft zeigt eine Haltung der Komplizenschaft und einen fehlenden politischen Willen zu ermitteln“, sagte Guillermo López Lone von der Vereinigung der Richter für die Demokratie. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Todesschützen und diejenigen, die den Befehl zum Schießen gaben, straflos bleiben. Wie das Zentrum für Demokratiestudien (CESPAD) feststellt, ist die Militärpolizei eine wesentliche Stütze der Macht von Juan Orlando Hernández; ihren Aufbau hat Hernández als Parlamentspräsident unterstützt. Das Büro des UN-Hochkommissariats für Menschen­rechte in Honduras fordert von der Regierung nach wie vor, das Militär nicht gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, insbesondere nicht für Aufgaben, die eigentlich in den Bereich der Polizei fallen.

Ein weiterer Aspekt der Repression sind Schmutzkampagnen gegen die Protestierenden und führende Personen sozialer Bewegungen. Am 21. Dezember erklärte Sicherheitsminister Julián Pacheco Tinoco: „Es gibt nicht eine Demonstration, die friedlich sein könnte, da Banden von Räubern, Mördern und Drogenhändlern die Macht über die Proteste an der Nordküste übernommen haben.“ Aus dem Norden des Landes kam auch Wilmer Paredes, der am 1. Januar mit 13 Schüssen aus einem Auto heraus ermordet wurde. Paredes hatte sich an Straßenblockaden beteiligt und mit der Breiten Bewegung für Würde und Gerechtigkeit (MADJ) kooperiert. Am 29. Dezember hatte er sich hilfesuchend an den Koordinator des MADJ, Martín Fernández, gewandt, da er ständig von einem Auto verfolgt wurde. Fernández hatte daraufhin die Polizei sowie den Schutzmechanismus für Menschenrechtsverteidiger*innen alarmiert, ohne dass diese aktiv wurden. Mitte Januar tauchte ein Flugblatt auf, in dem Martín und Victor Fernández vom MADJ beschuldigt werden, den Mord von Wilmer Paredes in Auftrag gegeben zu haben, da dieser einen ihrer Mordaufträge nicht ausgeführt hätte. „Diese Publikation in sozialen Netzwerken bestätigt, dass das Verbrechen auf die kriminellen Strukturen der Diktatur zurückgeht und sie weiter der Strategie folgen, Verwirrung und Angst zu säen, mit denen sie den Kampf der Bevölkerung gegen die Diktatur demobilisieren wollen“, kommentiert Victor Fernández. Drei der unlängst Getöteten waren beim MADJ engagiert.

Auch andere Oppositionelle wurden zum Opfer von Diffamierungskampagnen, darunter der Jesuitenpater und Direktor von Radio Progreso, Ismael Moreno. In der letzten Dezemberwoche war ein Steckbrief von neun Personen im Umlauf, die als „Achse des Bösen“ für Proteste, Plünderungen und Zerstörung verantwortlich gemacht wurden. „Wir sehen dies als gravierend und äußerst riskant für die, die wie wir das Recht auf freie Meinungsäußerung gegen die Diktatur wahrnehmen“, erklärt Moreno. Hinter der Hasskampagne steckten dieselben Strukturen, die schon für die Todesschwadronen der 80er Jahre verantwortlich gewesen seien.

In der Woche des „landesweiten Streiks“ (Paro Nacional) vor der offiziellen Amtseinführung von Juan Orlando Hernández am 27. Januar hat sich die Taktik der allgemeinen Einschüchterung, Verhaftung von führenden Personen des Protests und gezielten Exekutionen fortgesetzt. Die Allianz der Opposition hat angekündigt, die Antrittsfeier von Hernández zu blockieren.


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„AN DIE MACHT KOMMEN, UM MACHT ABZUGEBEN“

Glückwunsch zum fantastischen Wahlergebnis!

Vielen Dank! Das war wirklich ein sehr gutes Ergebnis. Auch angesichts der Wahlumfragen. Es ist sehr interessant, dass die Gesellschaft sich so weit abseits der Diskussion in den Medien befindet. Es scheint, dass auf der Straße die Dinge anders gesehen werden als von der Elite der Journalisten oder Kolumnisten.

Wie denken Sie, haben Sie und die FA dieses Wahlergebnis erreicht?

Ich denke, das ist eine gute Frage, aber ich weiß nicht, ob man sie anhand der Wahlen erklären kann. Es gibt in Chile einen relevanten Teil der Bevölkerung, der Alternativen zu den beiden großen Koalitionen sucht. Die denken, dass Chile grundlegende strukturelle Veränderungen braucht. Vor allem seit der Studierendenbewegung 2011 wird der offizielle Diskurs hinterfragt. Nicht nur die Frage, warum Bildung so teuer ist, sondern auch: Warum muss ich mich verschulden? Warum ist die Rente meiner Eltern so niedrig? Dass Wirtschaftswachstum das wichtigste sei. Dass wir die Jaguare Lateinamerikas seien. Die FA taucht als Antwort dieser Entwicklungen in Chile auf. Wir haben es geschafft, aufzunehmen, was in Chile passiert und diesen Gedanken Ausdruck zu geben.

Die FA strebt an, Politik anders zu machen, weder links noch rechts. Dieser Diskurs klingt fast schon nach europäischem Rechtspopulismus.

Wir beschreiben uns selber nicht als weder links noch rechts. Weil ich denke, es ist überall so, dass Leute, die behaupten sie seien weder links noch rechts, eher rechts sind (lacht). Wir sagen, dass die Logik von rechts und links ein bisschen überwunden ist, wobei ich mich als Kandidatin immer als linke Demokratin positioniert habe. Wir von der FA wollten uns für Organisationen öffnen, deren politische Repräsentation diverser ist. Wir haben uns auf Punkte geeinigt, die unabdingbar sind: Die Trennung zwischen Geschäft und Politik, eine Verfassunggebende Versammlung, die Menschenrechte. Wir wollen die Logik von links und rechts nicht überwinden, sondern mit den Leuten darüber reden, wie ihre Rechte respektiert werden und uns öffnen. Jede Gruppe definiert klar, wofür sie steht.

Bei der Wahl waren die Nichtwähler*innen die größte Fraktion, sowohl aus Desinteresse, als auch wegen des Gedankens, dass innerhalb dieses Systems wenig zu erreichen ist. Gleichzeitig gibt es die Erfahrung, dass Parteien, trotz bester Absichten, einmal an der Macht ihre Ideale über Bord werfen. Hat die FA Strategien, um solchen Prozessen entgegenzuwirken?

Wir wollen, dass Chile partizipativer wird. Das ist ein Teufelskreis. Je kleiner die Räume für Partizipation, desto weniger nehmen Leute Teil. Wenn man Räume dafür öffnet, muss man Partizipation aufbauen. Ich habe gelernt, dass die Leute ihre Entscheidungen selber treffen wollen. Man könnte sagen, wir wollen an die Macht kommen, um Macht abzugeben. Chile muss sich dezentralisieren. Wir wollen bindende Plebiszite und eine neue Verfassung, die Räume für diese Partizipation öffnet. Das ist ein Weg, nicht den Kontakt dazu zu verlieren, was außerhalb der Parlamente passiert.

Glauben Sie, dass dieser Wandel innerhalb der Institutionen, die ja von der Militärdiktatur geerbt wurden, erreicht werden kann?

Institutionen sind auch die Personen, die in ihnen vertreten sind. Eine grundlegende Institution, die geändert werden muss, ist die Verfassung. Wir werden in Chile hoffentlich eher früher als später eine Verfassunggebende Versammlung haben, sonst werden wir es bereuen. Um ein Beispiel zu geben: Das aktuelle Rentensystem ist kritisch. Denn in 20 Jahren wird es der Staat sein, der die Verantwortung für hunderttausende Senioren übernehmen muss, denen die Rente nicht zum Überleben reicht. Eine neue Verfassung, ein Wandel, ist also kein Fetisch, sondern etwas, das wir machen müssen!

Die FA hat für den zweiten Wahlgang am 17. Dezember keine Wahlempfehlung für Guillier, den Bewerber der Nueva Mayoría, abgegeben. Warum? Der rechte Piñera ist doch ein viel größeres Übel.

Ich glaube, dass die Leute wissen, was sie wollen. Das muss man kanalisieren und ihnen nicht aufzwingen, was man glaubt, was sie denken. Wir als FA werden niemals den Leuten sagen, was sie wählen sollen oder ihnen unsere Positionen aufdrängen. Die Wählerstimmen haben keinen Eigentümer. Die Wahl ist uns aber nicht egal. Mir ist es nicht egal ob Sebastián Piñera oder Alejandro Guillier gewinnt. Piñera wäre ein Unheil für das Land. Guillier hingegen war zweideutig. Er hat zwar gesagt, dass ihm bestimmte Ideen der FA gefallen würden, muss aber ein Signal senden. Nicht an mich, nicht an die FA, sondern an die Leute, die für uns gestimmt haben. Ich selber werde für Guillier stimmen, das heißt aber nicht, dass wir dazu aufrufen.

Wie wird die politische Arbeit der FA in den nächsten vier Jahren aussehen?

Wir werden so oder so Oppositionsarbeit machen. Wir sind ja auch nicht Teil der Nueva Mayoría. Unser Programm grenzt ein, was die Parlamentarier machen werden. Wenn Guillier gewählt werden und in eine bestimmte Richtung gehen sollte, hat er 21 Abgeordnete die ihn unterstützen werden. Das bringt die Nueva Mayoría in eine andere Position. Wenn sie wirklich was ändern will, hat sie hier ihre Stimmen. Wir werden unserem Programm treu bleiben.

Sebastián Piñera hat ja behauptet, es habe im ersten Wahlgang Wahlfälschung gegeben

Das ist indiskutabel. Die Rechte ist verzweifelt wie noch nie. Indem er die Legalität des Wahlprozesses in Frage gestellt hat, hat er eine Grenze überschritten, die er nicht hätte überschreiten dürfen. Und das, nur um gewählt zu werden! Ein Präsident wie er wäre ein Risiko für Chile!

Sie haben angekündigt, eine feministische Regierung machen zu würden. Was bedeutet das?

Die Hierarchien, die es in Chile, wie in anderen Ländern auch gibt, abzuschaffen. Wir Chileninnen sind Bürgerinnen zweiter Klasse. Als Frau in Chile zu leben ist sehr schwierig, weil wir in eine Rolle gezwängt werden. Ich habe das auch als Kandidatin gemerkt. Was wir sagen können, wie wir es sagen, wie wir aussehen müssen, wie lang unsere Haare sein sollen, was wir studieren, das alles ist fast vorgeschrieben. Und Männern passiert fast das Gleiche. Das ist eine Rebellion gegen diese klar definierten Rollen. Wenn man sich als Feministin erklärt, ist das auch im Interesse der Männer. Ich glaube nicht an diese Rollen.
Wenn ich von einer feministischen Regierung spreche, dann heißt das, mit diesen Hierarchien Schluss zu machen. Und auch Gesetze anzuwenden, die es schon gibt; Frauen vor Gewalt, vor sexueller Belästigung auf dem Arbeitsplatz zu beschützen, weil die bereits vorhandenen Gesetze in dieser Form nichts bringen. Das abgrundtiefe Lohngefälle zu bekämpfen. All das ist eine Form von permanenter Gewalt gegen uns. Eine feministische Regierung macht Politik, die die Verantwortung übernimmt, diese Formen von Hierarchien zu verhindern. Heute wird fast jede Woche eine Frau durch machistische Gewalt umgebracht. Das ist nur wegen dieser alltäglichen Gewalt möglich, die wir mit all ihren Facetten überwinden müssen – auch um ein demokratischeres Land zu werden. Das wäre eine feministische Regierung.

 


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// GOLDENE HIMBEERE FÜR MENSCHENRECHTE

Nelson Mandela, Aung San Suu Kyi und sogar die Madres de la Plaza de Mayo haben ihn bereits erhalten. Seit 1988 verleiht das Europäische Parlament den mit 50.000 Euro dotierten „Sacharow-Preis für geistige Freiheit“ an Personen und Gruppen, die sich „weltweit in besonderer Weise für die Menschenrechte eingesetzt haben“.
Dieses Jahr darf sich die „demokratische venezolanische Opposition“ in eine Reihe mit vielen namhaften Menschenrechtler*innen stellen. Dass es sich bei „der“ Opposition um eine stark zersplitterte, politisch heterogene Gruppe handelt, scheint dabei ebenso nebensächlich, wie der implizite Hinweis auf deren undemokratische Akteure. Denn diese wollen freilich ausdrücklich nicht gemeint sein. Ebenso wenig wie die kleine linke, tatsächlich demokratische Opposition.

Ausgezeichnet werden vielmehr Parlamentspräsident Julio Borges stellvertretend für die Nationalversammlung sowie die von der Nichtregierungsorganisation Foro Penal Venezolano anerkannten politischen Gefangenen. In Venezuela handele es sich nicht nur um eine politische, sondern um eine grundlegende Konfrontation, „in der es um konkrete Werte geht“, wird Borges auf der Webseite des Europäischen Parlaments zitiert. Von welchen konkreten Werten er dabei spricht, bleibt ebenso nebulös wie die Frage, womit sich die Preisträger*innen eigentlich konkret für den Menschenrechtspreis qualifiziert haben. In Bezug auf die politischen Gefangenen heißt es lediglich, sie würden ihr Leben dem „friedlichen Kampf um die Menschenrechte widmen.“

Wie dehnbar die Begriffe „friedlich“ und „demokratisch“ für die EU sind, wird deutlich, wenn man sich die politischen Werdegänge einiger der namentlich Nominierten ansieht: Leopoldo López, unter Hausarrest stehender Oppositionsführer, war aktiv am gescheiterten Putsch im Jahr 2002 beteiligt und ist zumindest mitverantwortlich für gewaltsame Proteste im Jahr 2014, bei denen mehr als 40 Menschen starben. Daniel Ceballos, Ex-Bürgermeister von Sán Crístobal, soll sich bei den Protesten 2014 persönlich an Gewaltaktionen gegen die Regierung beteiligt haben. Und der „studentische Aktivist“ Lorent Saleh verfügt nachweislich über Kontakte in rechtsextreme und paramilitärische Kreise in Kolumbien.

Ohne Zweifel ist an dem heute autoritären Kurs der venezolanischen Regierung und auch bei deren Vorgehen gegen die rechte Opposition deutliche Kritik angebracht. Zu glauben, die nun geehrte „demokratische Opposition“ könne diese notwendige Kritik glaubhaft verkörpern, zeugt jedoch im besten Fall von Unkenntnis. Vielmehr ehrt das EU-Parlament eine zersplitterte Gruppe, die weder in der Tradition einer demokratischen Opposition steht, noch sich in der Vergangenheit groß um Menschenrechte und Meinungsfreiheit gekümmert hat. Es handelt sich um dieselbe Opposition, die seit der erstmaligen, demokratischen Wahl von Hugo Chávez lautstark die Verletzung ihrer „Menschenrechte“ beklagte, damit aber jahrzehntelang bestehende eigene Privilegien meinte. Der Ruf nach Menschenrechten der rechten Opposition Venezuelas ist ebenso heuchlerisch wie diese nun mit dem Sacharow-Preis auszuzeichnen.

Was legitimiert und qualifiziert die EU als moralische Instanz zur Verleihung von Menschenrechtspreisen? Kein Wunder, dass derartige Anti-Preise dann an Gruppen verliehen werden, die für die Verteidigung der gleichen unsozialen, neoliberalen Verhältnisse stehen, wie die EU selbst. Angesichts konkreter, kontinuierlicher und systematischer Verletzungen von grundlegenden Menschenrechten nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch „innerhalb der EU“, sollte sich die Europäische Union besser etwas zurückhalten. Und sich im nächsten Jahr vielleicht selbst die goldene Himbeere für Menschenrechte verleihen.


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UNERWARTETER RÜCKSCHLAG

Die Ergebnisse überraschten. Entgegen den Vorwahlprognosen gewann die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) bei den Regionalwahlen am 15. Oktober in 18 von 23 Staaten. Landesweit holte sie etwa 54 Prozent der Stimmen. Das rechte Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) errang mit fünf Gouverneursposten zwar zwei mehr als bei den vorangegangenen Wahlen 2012. Doch angesichts der tief greifenden Wirtschaftskrise und verbreiteten Unzufriedenheit in der Bevölkerung hatten sich die Regierungsgegner*innen deutlich mehr erhofft.

Laut Verfassung hätten die Regionalwahlen eigentlich bereits Ende 2016 stattfinden müssen. Mit fast einem Jahr Verspätung wurden nun zumindest die Gouverneur*innen, nicht aber die legislativen Vertretungen gewählt. Die Opposition konnte immerhin die beiden strategisch bedeutsamen Staaten Zulia und Táchira an der Grenze zu Kolumbien für sich entscheiden. Darüber hinaus gewannen MUD-Kandidat*innen im angrenzenden Mérida, dem zentralen Anzoátegui sowie dem Inselstaat Nueva Esparta. Der PSUV dagegen gelang eine symbolischer Erfolg im bisher oppositionell regierten Küstenstaat Miranda. Hier setzte sich der Nachwuchspolitiker Héctor Rodríguez durch.

Noch am Wahlabend sah es zunächst danach aus, als weise der MUD die Wahlergebnisse geschlossen zurück: „Zum jetzigen Zeitpunkt erkennen wir keines der Resultate an“, verkündete der Leiter der oppositionellen Wahlkampagne, Gerardo Blyde. Vereinzelt sprachen MUD-Vertreter*innen direkt von Betrug.

Vor allem sah sich die Opposition aber bereits im Vorfeld der Wahl benachteiligt. Dem Nationalen Wahlrat (CNE) warf sie vor, auf die Demobilisierung ihrer Wählerschaft hingearbeitet zu haben. Unter anderem hatte der CNE 212 Wahllokale (knapp 1,5 Prozent) „aus Sicherheitsgründen“ kurzfristig verlegt, häufig von Hochburgen der Opposition in chavistisch dominierte Viertel. Zudem durfte die Opposition ihre in internen Vorwahlen unterlegenen Kandidat*innen nicht löschen, so dass diese auf den Bildschirmen der Wahlcomputer erschienen, obwohl sie eigentlich gar nicht mehr zur Wahl standen.

Die Opposition sah sich im Vorfeld der Wahl benachteiligt.

Die Beteiligung stieg gegenüber den letzten Regionalwahlen zwar um sieben Prozentpunkte auf gut 61 Prozent, dass die Opposition im Vergleich zur Parlamentswahl Ende 2015 jedoch fast drei Millionen Stimmen verlor, liegt allerdings vor allem an eigenen Fehlern. Die von Anfang April bis Ende Juli andauernden Proteste, bei denen mindestens 120 Menschen ums Leben kamen, hatten dem MUD außer auf internationalem Pakett keinerlei Erfolg eingebracht. Eine unklare Strategie, interne Uneinigkeit und die offene Diskreditierung des Wahlsystems dürfte zudem viele Wähler*innen verprellt haben. Die beiden rechts außen stehenden kleineren Parteien Vente Venezuela und Alianza Bravo Pueblo hatten die Regionalwahlen außerdem von vornherein boykottiert und fühlen sich nun bestätigt.

Nach einem aus Sicht der Opposition völlig verkorksten Jahr zeigt sich, wie schwach der Zusammenhalt bei den Regierungsgegner*innen ist. Nur wenige Tage nach den verlorenen Regionalwahlen brach offener Streit über den Umgang mit der Regierung und die zukünftige Teilnahme an Wahlen aus. Auslöser war zunächst die Haltung der früheren sozialdemokratischen Regierungspartei Acción Democratica (AD), die vier der insgesamt fünf oppositionellen Gouverneursposten erringen konnte. Deren gewählte Gouverneur*innen Laidy Gómez (Táchira), Juan Barreto Sira (Mérida), Alfredo Díaz (Nueva Esparta) und Ramón Guevara (Anzoátegui) leisteten ihren Amtseid zwei Tage nach der Wahl vor der umstrittenen Verfassunggebenden Versammlung ab. Die Regierung hatte andernfalls mit Neuwahlen in den betroffenen Staaten gedroht. Der fünfte oppositionelle Gouverneur, Juan Pablo Guanipa von der Partei Primero Justicia (PJ, Zulia), weigerte sich hingegen und darf sein Amt nun nicht antreten.

Die Verfassungsgebende Versammlung wurde unter dem Boykott der Opposition gewählt.


Hintergrund ist, dass die Opposition die Verfassunggebende Versammlung nicht anerkennt. Diese war Ende Juli unter Boykott aller Oppositionsparteien gewählt worden und steht laut ihren Statuten über allen anderen staatlichen Gewalten. Die vier oppositionellen Gouverneur*innen brachen den bisherigen Konsens innerhalb des MUD, wonach die Verfassung-gebende Versammlung eine illegale Institution sei und gegen die bestehende Verfassung verstoße. Bereits bei deren Wahl, an der sich laut offiziellen Angaben gut 41 Prozent der Wähler*innen beteiligt hatten, gab es Betrugsvorwürfe. Im Gegensatz zu den Regionalwahlen waren Vertreter*innen der Opposition damals allerdings nicht in den Abstimmungslokalen präsent.

Henrique Capriles von der PJ (Foto: Wikimedia (CC BY-SA 3.0) )

Nach der Vereidigung der oppositionellen Gouverneur*innen traten die schon länger schwelenden internen Spannungen offen zu Tage. Der zweifache Ex-Präsident­schaftskandidat Henrique Capriles Radonski von Primero Justicia warf AD-Chef Henry Ramos Allup vor, seit dem oppositionellen Sieg bei den Parlamentswahlen Ende 2015 nur auf eine eigene Präsidentschaftskandidatur geschielt zu haben und sich bei der Regierung anzubiedern. „Ich spreche nur für mich und nicht meine Partei. So lange Herr Ramos Allup Teil des MUD ist, werde ich dort nicht weitermachen“, verkündete Capriles. Ramos Allup reagierte verschnupft. Für viele sei die Vereidigung der Gouverneur*innen nur ein willkommener Anlass, Acción Democrática anzugreifen, diesbezüglich werde er aber „mit niemandem diskutieren“. Doch eindeutig ist seine Position aber nicht: Hatte der AD-Chef den gewählten Gouverneur*innen kurz nach der Wahl noch frei gestellt, ob sie sich vor der Verfassunggebenden Versammlung vereidigen lassen würden, behauptet er nun, sie hätten gegen die Parteilinie gehandelt und sich daher „selbst ausgeschlossen“.

Der abgewählte Ex-Gouverneur des Staats Lara, Henri Falcón von der Regionalpartei Avanzada Progresista, bezichtigte derweil Primero Justicia und Voluntad Popular bei den Regionalwahlen „gegen ihn gespielt“ zu haben. Als einer der wenigen Oppositionspolitiker gestand er seine Wahlniederlage ein.

Die internen Streitigkeiten spielen der geschwächten Regierung unter Nicolás Maduro in die Hände, die nach einem langen Umfragetief wieder aufatmen kann. Hatte die Regierung die Regionalwahlen noch um fast ein Jahr verzögert, beschloss die Verfassunggebende Versammlung nun, dass die ebenfalls noch ausstehenden Kommunalwahlen bereits am 10. Dezember stattfinden sollen.

Die drei wichtigsten Oppositionsparteien Voluntad Popular, Primero Justicia und Acción Democrática kündigten daraufhin getrennt voneinander an, die anstehenden Wahlen zu boykottieren. Stattdessen wollen sie sich für eine transparente Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr einsetzen. Viele kleinere Parteien des MUD-Bündnisses nehmen an den Kommunalwahlen hingegen teil. Einzelne Mitglieder der größeren Parteien treten zudem auf dem Ticket kleinerer Parteien an.

Der prominenteste Fall ist Yon Goicoechea. Anfang November wurde der junge Politiker der rechten Partei Voluntad Popular überraschend aus der Haft entlassen. Im August vergangenen Jahres war bei ihm im Vorfeld einer geplanten Großdemonstration nach offiziellen Angaben Sprengstoff gefunden worden. Obwohl ein Gericht im darauf folgenden Oktober seine Freilassung angeordnet hatte, verbrachte er über ein Jahr inhaftiert im Hauptsitz des Geheimdienstes Sebin. Nun kündigte Goicoechea an, als Kandidat von Henri Falcons Partei Avanzada Progresista für das Bürgermeisteramt der oppositionellen Hochburg El Hatillo im Großraum von Caracas zu kandidieren. „Es ist ein großer Fehler, nicht an den Kommunalwahlen, dann aber an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen“, begründete er den Schritt. Seine Partei Voluntad Popular wolle er trotz der Diskrepanzen über das taktische Vorgehen jedoch nicht verlassen. Beinahe zeitgleich mit Goicoecheas Freilassung suchte dessen Parteifreund, der Parlamentsabgeordnete Freddy Guevara, Zuflucht in der chilenischen Botschaft. Zuvor hatte das Oberste Gericht seine Immunität aufgehoben, ihm soll wegen Aufrufen zu Gewalt der Prozess gemacht werden.

Goicoecheas Ankündigung sorgte für harsche Kritik seitens der großen Oppositionsparteien. Gleiches gilt für die Kandidatur Manuel Rosales‘ von der viertgrößten Oppositionspartei Un Nuevo Tiempo. Der Präsidentschaftskandidat von 2006 und ehemalige Gouverneur von Zulia will bei der ebenfalls am 10. Dezember stattfindenen Neu-wahl in dem westlichen Bundesstaat antreten. Aufgrund von Korruption dürfte er eigentlich zurzeit keine offiziellen Ämter bekleiden. Kurz nach den Regionalwahlen hob das Oberste Gericht (TSJ) den Beschluss allerdings auf. In einem gemeinsamen Kommunique wendeten sich Voluntad Popular und Primero Justicia gegen Politiker*innen der Opposition, die „die derzeitige Situation ausnutzen, um ihre persönlichen Projekte voranzutreiben“.

Streitigkeiten in der Opposition spielen der geschwächten Regierung in die Hände.

Doch auch der Chavismus tritt nicht überall geschlossen auf. Die kleineren Bündnispartner der PSUV bemängeln, dass die Regierungspartei vielerorts eigenmächtig ihre Leute durchsetze. In Libertador, dem größten Teilbezirk von Caracas, registrierten sich gleich mehrere chavistische Kandidat*innen. Zudem hat sich mit Nicmer Evans ein Vertreter des so genannten kritischen Chavismus eingeschrieben, der die Regierung Maduro ablehnt.

Sollte die Opposition ihre internen Probleme nicht bald in den Griff bekommen, hätte Maduro sogar bei den Präsidentschaftswahlen Ende 2018 reelle Siegchancen. Gefährlicher als der MUD dürfte für ihn vorerst die weitere wirtschaftliche Entwicklung sein. Nach weit verbreiteter Meinung steht Venezuela kurz vor der Staatspleite. Maduro kündigte Anfang November eine Neustrukturierung der Auslandsschulden an, die vor allem China und Russland, aber auch private Banken und Fonds, beträfe. Sollten sich einzelne Gläubiger widersetzen, droht ein sofortiger Zahlungsausfall. Die Ende August verhängten US-Sanktionen erschweren eine weitere Schuldenaufnahme Venezuelas. Auch die EU drängt derzeit auf die Verabschiebung von Sanktionen. Und wenige Tage nach den Kommunal-wahlen wird das Europäische Parlament die „demokratische Opposition“ Venezuelas mit dem diesjährigen Sacharow-Preis für geistige Freiheit ehren. Entgegennehmen soll die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung Parlamentspräsident Julio Borges von der Partei Primero Justicia. Ob dieser dann überhaupt die Mehrheit der rechten Opposition repräsentiert, darf nach der gerade ausgebrochenen internen Krise bezweifelt werden.

 


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“DER PRÄSIDENT STREBT DIE TOTALE KONTROLLE AN”

Der amtierende Präsident Juan Orlando Hernández gilt trotz zahlreicher Skandale mit seiner Nationalen Partei als Favorit bei den bevorstehenden Wahlen im November. Wie kommt das?
Zunächst ist die Möglichkeit zur Wiederwahl des Präsidenten komplett illegal. Es ist eine Paradoxie, denn Manuel Zelaya wurde 2009 ja abgesetzt, weil er den Artikel der Verfassung ändern wollte, der die Wiederwahl verbietet. Obwohl Juan Orlando Hernández als Kandidat zugelassen ist, ist er sehr unbeliebt. Aber er hat den gesamten Staatsapparat für seine Kampagne zur Verfügung, und nutzt Hilfsprogramme für sich aus. Wer zum Beispiel mit einem emissionsarmen Herd unterstützt werden will, muss die persönlichen Daten von zehn Personen liefern, die für die Nationale Partei stimmen wollen.

Im Jahr 2015 erschütterte ein massiver Korruptionsskandal die honduranische Regierung. Warum hat sie diesen weitgehend unbeschadet überstanden?
Weil sie den Justizsektor kontrolliert. Die Staatsanwaltschaft, die der Nationalen Partei zu Diensten ist, wird gegen kein Parteimitglied ermitteln oder es anklagen. Das führt zu hoher Straflosigkeit, sowohl in Bezug auf die Korruption als auch auf Menschenrechtsverletzungen. Die Staatsanwälte verfolgen nur die Delikte, die sie verfolgen wollen.

Im Zuge des Korruptionsskandals und der darauf folgenden Massenproteste wurde die Mission zur Unterstützung der Korruptionsbekämpfung (MACCIH) eingesetzt. Kann diese bereits Erfolge vorweisen?
Prinzipiell ist die MACCIH dadurch eingeschränkt, dass sie von der Organisation Amerikanischer Staaten abhängt. Die Mission hat nicht die Aufgabe, selbst zu ermitteln. Sie begleitet und berät nur die honduranischen Staatsanwälte. Ihr Mandat bezieht sich auf Korruptionsfälle, nicht auf Menschenrechtsverletzungen. Wir unterstützen sie als Zivilgesellschaft. Aber bis heute haben wir keine besonderen Resultate gesehen.

Derzeit befindet sich ein neues Strafgesetzbuch im Abstimmungsprozess. Sind bereits Teile in Kraft getreten?
Leider wurde bereits der Teil verabschiedet, der die Abtreibung erneut komplett unter Strafe stellt. Die feministischen und Frauenorganisationen hatten die Straffreiheit in drei Fällen gefordert: nach einer Vergewaltigung, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist und wenn der Fötus nach der Geburt nicht lebensfähig ist. Es waren Minimalforderungen, aber auch diese sind am Einfluss der Kirchen gescheitert.

Inwiefern könnte das Gesetzesprojekt auch der Kriminalisierung sozialer Bewegungen dienen, wie von Seiten der Zivilgesellschaft kritisiert wird?
Es ist ein antidemokratisches Strafgesetzbuch, das soziale Proteste, wie zum Beispiel die Meinungsfreiheit, unter Strafe stellt. Es gibt Rückschritte bei Delikten wie Diffamierung, Verleumdung und Beleidigung. Wenn eines dieser Delikte gegen einen staatlichen Funktionär begangen wird, dann wird dies von Amts wegen verfolgt. Statt dass sich Funktionäre der öffentlichen Kritik stellen, wird versucht, diese Kritik mundtot zu machen. Außerdem soll die „widerrechtliche Aneignung“ erneut hart bestraft werden, und dieser Straftatbestand wird beispiels-weise gegen Kleinbauern eingesetzt, die für ihre Landrechte kämpfen.

Es wird auch der Begriff des Terrorismus verwendet…
Es gibt ein Delikt, das Anstiftung zum Terrorismus heißt. Strafbar macht sich, wer die Bevölkerung mit irgendeiner Art von Aktion in Angst versetzt. Das kann beispielsweise perfekt auf einige Protestformen der sozialen und oppositionellen Bewegungen angewandt werden. Die Bevölkerung zu ängstigen, ist eine ausgesprochen subjektive Formulierung. Daher ist dieser Straftatbestand ziemlich besorgniserregend.
Wir bedauern besonders, dass dieses Strafgesetzbuch von der spanischen Entwicklungszusammenarbeit unterstützt wurde. In der Vergangenheit hat sie Gesetzesänderungen in Honduras begünstigt, die nicht schlecht waren, wie etwa die Strafprozessordnung aus dem Jahr 2000. Aber im jetzigen Fall hätten die Spanier zuhören müssen statt den Gesetzesentwurf gegen den Willen der Zivilgesellschaft durchzudrücken.

Ist das Gesetzesprojekt Teil einer autoritären Tendenz der Regierung Juan Orlando Hernández?
Absolut. Es gibt bereits einige Merkmale einer Diktatur, vor allem, wenn es ihm gelingt, wiedergewählt zu werden. Der Präsident steht nicht alleine da, er gehört zu einer starken Gruppe der Oligarchie und wird auch von den USA unterstützt.
Er ist dabei, sein Projekt der totalen Kontrolle umzusetzen. Es beginnt mit dem Nationalen Rat für Sicherheit und Verteidigung, der durch die Präsidenten der drei Staatsgewalten gebildet wird, alle wichtigen Entscheidungen trifft und vom Staatspräsidenten geleitet wird. Damit einher geht die Schaffung der Militärpolizei für die Öffentliche Ordnung, die so etwas wie der bewaffnete Arm des Präsidenten ist. Die Gesellschaft wird immer weiter militarisiert und die Militärpolizei als Lösung für alle Probleme angepriesen. Bei Problemen in Krankenhäusern, in Schulen oder in der Universität wird das Militär geschickt.
Die Kontrolle setzt sich im Justizapparat fort. Der Generalstaatsanwalt wurde vom Präsidenten ernannt, ebenso der Oberste Gerichtshof. Dessen Präsident wurde als Vorsitzender der honduranischen Delegation zum Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen nach Genf geschickt, um die honduranischen Fortschritte in Bezug auf die Menschenrechte zu verteidigen. Das ist vollkommen unangemessen, da er als Richter unparteiisch bleiben sollte und im gegebenen Moment über Menschenrechtsverletzungen durch die Exekutive urteilen muss.

Welche Chancen hat das Bündnis der Oppositionsparteien bei den bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen?
Dass sich die Oppositionspartei LIBRE (Partei Freiheit und Neugründung) und die Antikorruptionspartei PAC zu einem Bündnis zusammengeschlossen haben, stimmt mich optimistisch, dass dieser Mann mit seinen Verbindungen zur Oligarchie entmachtet werden kann. Dieser Teil der Oligarchie arbeitet mit transnationalen Unternehmen zusammen, die das Land ausplündern. Wenn er gewinnt, gibt es daher nur noch mehr Plünderung der Natur, mehr Angriffe auf und Morde an Umweltschützern, Menschenrechtsverteidigern und Oppositionellen. Aber ich glaube, die Opposition wird mindestens ihre Sitze im Parlament halten können, so dass die Parteien der Oligarchie keine Zweidrittelmehrheit erreichen und damit das Parlament nicht komplett kontrollieren können.


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ÜBER DEN STAATSGEWALTEN

Aus Sicht der venezolanischen Regierung scheint alles nach Plan gelaufen zu ein. „Die Verfassunggebende Versammlung hat den Frieden gebracht“, versicherte Präsident Nicolás Maduro im August. Tatsächlich sind die teils gewalttätigen Proteste, bei denen zwischen April und Juli mehr als 120 Menschen gestorben sind, praktisch zum Erliegen gekommen. Die Opposition muss akzeptieren, dass sie innenpolitisch kaum etwas erreicht hat. Maduro hingegen kann für sich in Anspruch nehmen, die am 1. Mai angekündigte Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung (ANC) gegen jegliche Widerstände durchgesetzt zu haben. Und doch hat die Regierung ein gewichtiges Problem: Um die politische Krise in Venezuela zu überwinden, besitzt die ANC kaum ausreichend Legitimität.

Am Abend des 30. Juli teilte der Nationale Wahlrat (CNE) mit, dass sich an der Wahl mehr als acht Millionen Menschen – 41,5 Prozent aller Wähler*innen – beteiligt hätten. Da rechte wie linke Opposition die Wahl zur ANC boykottiert und keine eigenen Kandidat*innen aufgestellt hatten, war die Höhe der Wahlbeteiligung tatsächlich entscheidend. Die Messlatte hatte das Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) zwei Wochen zuvor angelegt. An einer selbst organisierten Volksbefragung nahmen damals nach Oppositionsangaben gut 7,5 Millionen Menschen teil.

Dass Maduro inmitten der politischen und wirtschaftlichen Krise nun mehr Wähler*innen mobilisieren konnte als sein Vorgänger Hugo Chávez zu seinen besten Zeiten wirft zumindest einige Fragen auf. Ein Teil der Stimmen dürfte darauf zurückzuführen sein, dass es im Vorfeld sozialen und politischen Druck auf Staatsangestellte und Begünstigte der Sozialprogramme gegeben hat. Kurz nach der Wahl versicherte zudem das in London ansässige Unternehmen Smartmatic, das seit mehr als zehn Jahren die in Venezuela verwendeten Wahlcomputer betreibt, die Beteiligung sei um „mindestens eine Million Stimmen“ manipuliert worden. Belege blieb das Unternehmen allerdings schuldig. Die Vorwürfe fußen anscheinend vor allem darauf, dass im Gegensatz zu vorangegangenen Wahlen keine Oppositionsvertreter*innen in den Wahllokalen präsent waren. Die von der Opposition für ihre Volksbefragung am 16. Juli bekannt gegebenen Zahlen sind indes noch weniger nachprüfbar. Die dort gestellten Fragen zur Ablehnung der ANC, dem Eingreifen des Militärs und der Schaffung paralleler staatlicher Strukturen verstoßen zudem zum Teil gegen die bestehende Verfassung, die die Opposition zu verteidigen vorgibt (siehe LN 517/518).

Die Opposition befürchtet, dass die Regierung den Staat für ihre Zwecke reformieren und die Demokratie abschaffen wollen.

Unabhängig von der Höhe der Wahlbeteiligung lehnt der MUD die Verfassunggebende Versammlung unter anderem deshalb ab, weil es vorab kein Referendum zu ihrer Einberufung gab. Außerdem befürchtet die Opposition, dass die regierenden Chavist*innen den Staat für ihre Zwecke reformieren und die Demokratie abschaffen wollen. Die Regierung argumentiert hingegen, die von Chávez initiierte Verfassung von 1999 zu perfektionieren, indem beispielsweise basisdemokratische Strukturen und Sozialprogramme Verfassungsrang erhalten. Die ersten Amtshandlungen der ANC geben den Kritiker*innen Recht.

Die ANC könne „Maßnahmen treffen“, um „das Funktionieren des Staates“ zu garantieren, stellte deren frisch gewählte Präsidentin, die Ex-Außenministerin Delcy Rodríguez, umgehend klar. In ihrer ersten Sitzung setzte die Versammlung denn auch die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega ab, die seit Ende März deutlich auf Distanz zur Regierung gegangen war. Anschließend wählten die Delegierten den bisherigen, regierungsnahen Ombudsmann für Menschenrechte Tarek William Saab zu ihrem provisorischen Nachfolger. Ortega setzte sich daraufhin Mitte August gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem kritischen Abgeordneten der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), Germán Ferrer, über Aruba nach Kolumbien ab. Seither liefern sich die Regierung und Ortega eine wahre Schlammschlacht. Saab präsentierte vermeintliche Beweise, die belegen sollen, dass Ferrer von Ortegas Büro aus einen Erpressungsring geleitet haben soll. Ortega hingegen behauptet, dass hochrangige chavistische Funktionäre direkt in den lateinamerikaweiten Schmiergeldskandal des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht involviert seien. Unter anderem belastet sie direkt Maduro und Diosdado Cabello, der als Nummer zwei des Chavismus gilt.

Laut den Statuten, die sich die Verfassunggebende Versammlung selbst gegeben hat, steht sie über allen anderen staatlichen Gewalten. Zudem dehnten die 545 Teilnehmer*innen der Versammlung ihr Mandat von einem halben auf zwei Jahre aus und übertrugen sich einen Großteil der Kompetenzen des oppositionell dominierten Parlamentes. Auf Vorschlag Maduros will die ANC nun zunächst acht Gesetze verabschieden, um die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft auszubauen. Auch beschloss die ANC, gegen führende Oppositionspolitiker*innen, die sich für US-Sanktionen gegen Venezuela ausgesprochen hatten, Verfahren wegen Vaterlandsverrates zu eröffnen. Über den Inhalt einer neuen Verfassung debattiert hat die Versammlung bisher hingegen noch nicht.

Die vom Präsidenten formulierte Idee, die ANC solle nicht in erster Linie aus Parteivertreter*innen zusammengesetzt sein, scheint allenfalls formal zu gelten. Im öffentlichen Diskurs geben PSUV- Funktionär*innen,wie Diosdado Cabello, den Ton an. Dass die ANC bisher sämtliche Entscheidungen einstimmig beschlossen hat, spricht zudem nicht gerade für eine offene Debattenkultur, sondern zeigt vielmehr die politisch einseitige Zusammensetzung der Versammlung auf.

International ist Venezuela nun weitgehend isoliert.

International ist Venezuela nun weitgehend isoliert. Zwar unterstützen Russland und China sowie verbündete Länder in Lateinamerika wie Bolivien, Ecuador, Kuba und Nicaragua weiterhin die Regierung. Zwölf lateinamerikanische Staaten, die USA und die EU erkennen die Wahl zur ANC jedoch nicht an und sprechen mittlerweile mehr oder weniger offen von einer Diktatur in Venezuela.

Die USA reagierten auf die Wahl zunächst mit weiteren Sanktionen gegen eine Reihe chavistischer Funktionäre, darunter Maduro selbst. Ende August untersagte US-Präsident Donald Trump dann weitgehend den Handel mit venezolanischen Wertpapieren und Aktienkapital des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA. Auch drohte er, sein Land werde sich die Option eines militärischen Eingreifens offen halten. In den vergangenen Jahren haben die USA mehrfach einzelne Sanktionen gegen Venezuela verhängt, dieses Mal könnten die Auswirkungen allerdings beträchtlich sein, da sie es der venezolanischen Regierung verkomplizieren, neue Kredite aufzunehmen. Aufgrund des niedrigen Erdölpreises leidet Venezuela unter massiver Devisenknappheit, auch weil die Regierung bisher nicht an der Bedienung der Schulden rüttelt.

Venezuelas Außenminister Jorge Arreaza bezeichnete die neuen US-Sanktionen als „schlimmste Aggression gegen Venezuela in den vergangenen 200 Jahren“. Den USA wirft die venezolanische Regierung vor, eine „humanitäre Krise“ in dem Land herbeiführen zu wollen. Intern könnte die Haltung der US-Regierung Maduro allerdings dabei helfen, die Reihen zu schließen. Insbesondere die Androhung militärischer Gewalt weisen selbst viele Regierungsgegner*innen und sämtliche Staaten Latein-amerikas zurück.

Nachdem die Verfassunggebende Versammlung sich als zentrale Entscheidungsinstanz etabliert hat, richtet sich das Interesse auf die anstehenden Regionalwahlen. Auf Geheiß der ANC zog der Wahlrat diese vom 10. Dezember auf den 15.Oktober vor. Der laut Verfassung vorgesehene Termin wäre eigentlich Ende 2016 gewesen, doch der CNE hatte die Wahlen ohne triftigen Grund zunächst verschoben. Innerhalb der Opposition sorgt die jetzige Ansetzung für Unstimmigkeiten. Kleinere Parteien wie die rechts außen stehenden Vente Venezuela und Alianza Bravo Pueblo boykottieren die Wahl. Die übrigen Parteien des MUD ermittelten am 10. September in 19 von 23 Staaten gemeinsame Kandidat*innen in Vorwahlen, an denen laut Angaben des Oppositionsbündnisses knapp sieben Prozent der Wahlberechtigten teilnahmen. In den vier übrigen Staaten konnten sich die Parteien im Konsens einigen. „Wenn wir uns nicht zu den Wahlen einschreiben, würde der Chavismus 23 Gouverneursposten gewinnen“, begründete Ex-Parlamentspräsident Henry Ramos Allup die Teilnahme seiner Partei Acción Democrática. Nach den vorläufigen Endergebnissen stellt die frühere sozialdemokratische Regierungspartei gut die Hälfte der Gouverneurskandidat*innen. Die Frage ist, wie die regierenden Chavist*innen mit einer wahrscheinlich zu erwartenden Wahlniederlage umgehen werden. Beobachter*innen rechnen damit, dass die ANC in dem Fall die Befugnisse der Gouverneur*innen beschneiden könnte. Selbst eine Verschiebung der für Ende 2018 vorgesehenen Präsidentschaftswahlen ist unter den derzeitigen politischen Bedingungen kein Tabu mehr, wie Präsident Maduro Ende August andeutete. „Wenn sie [die ANC] einen neuen Termin oder einen neuen Monat festlegen muss, sind wir dazu bereit, den Kampf aufzunehmen die Wahlen zu gewinnen, wann immer sie angesetzt werden.“

Nach den Ende vergangenen Jahres gescheiterten Dialog zwischen Regierung und Opposition bahnt sich indes ein neuer Versuch an. Unter Vermittlung der dominikanischen Regierung und des ehemaligen spanischen Regierungschefs José Luis Rodríguez Zapatero, trafen sich Vertreter*innen von Regierung und Opposition in der Dominikanischen Republik am 14. und 15. September. Sie einigten sich zunächst auf ein weiteres Treffen am 27. September. Neben der Dominikanischen Republik sollen Mexiko, Chile, Bolivien und Nicaragua die Gespräche begleiten. Um die politische und wirtschaftliche Krise zu lösen, müssten beide politischen Lager allerdings von ihren unvereinbaren Maximalpositionen abrücken. Die Opposition nahm damals an den Gesprächen teil, um einen zeitnahen Regierungswechsel zu erreichen. Die Regierung verfolgte hingegen das Ziel, sich an der Macht zu halten.

 


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STUNDE NULL FÜR DEN PARALLELSTAAT

In den 14 Jahren, die Hugo Chávez bis zu seinem Tod 2013 regierte, gab es gefühlt zwei Venezuelas. Während Menschen in den informell erbauten barrios von sozialer Teilhabe, Demokratie und Revolution schwärmten, schimpften sie in den wohlhabenderen Vierteln über eine Castro-kommunistische Diktatur. Nachdem der politische Machtkampf Anfang April eskaliert ist und bei den beinahe täglichen Demonstrationen bereits etwa 100 Menschen getötet wurden, leben Regierung und Opposition nicht mehr nur gefühlt in zwei verschiedenen Welten. Sie stützen sich auch zunehmend auf unterschiedliche staatliche Strukturen.

Am 16. Juli organisierte das Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) eine landesweite Volksbefragung. Am selben Tag führte der Nationale Wahlrat (CNE) eine Testabstimmung für die am 30. Juli geplante Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung durch. Beide Lager betonten hinterher die hohe Beteiligung an den Urnengängen– an denen jeweils nur die eigenen Anhänger*innen teilnahmen.

„Rechnerisch ist Nicolás Maduro heute abberufen worden“

„Rechnerisch ist Nicolás Maduro heute abberufen worden“, frohlockte Parlamentspräsident Julio Borges am Abend des 16. Juli. Nach Angaben der Opposition hatten sich über 7,5 Millionen der insgesamt etwa 19 Millionen Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligt, davon fast 700.000 im Ausland. Gemessen daran, dass aus den eigenen Reihen zuvor mit Zielvorgaben zwischen acht und zehn Millionen hantiert worden war, blieb das Ergebnis hinter den Erwartungen zurück. Zumal der venezolanische Präsident Nicolás Maduro bei der Wahl 2013 etwas mehr Stimmen auf sich vereinen konnte, als die nun registrierten 7,5 Millionen. Rechtlich ist die Abstimmung ohnehin irrelevant. Laut Verfassung darf alleine der Nationale Wahlrat (CNE) verbindliche Wahlen und Abstimmungen ansetzen. Der MUD betrachtet die symbolische Befragung dennoch als Erfolg und leitet daraus ein politisches Mandat für eine pathetisch als „Stunde Null“ bezeichnete neue Phase des Protestes ab. Mehrere lateinamerikanische Länder, die EU sowie die USA stärkten dem MUD rhetorisch den Rücken. US-Präsident Donald Trump drohte der venezolanischen Regierung gar Sanktionen an, sollte sie nicht die geplante Verfassunggebende Versammlung stoppen.

Zur Abstimmung bei der Volksbefragung standen drei Fragen, die jeweils zwischen 98 und 99 Prozent Zustimmung erhielten: „1. Lehnen Sie die Durchführung der von Präsident Nicolás Maduro vorgeschlagenen Verfassunggebenden Versammlung ohne die vorherige Zustimmung der venezolanischen Bevölkerung ab und erkenne sie nicht an? 2. Verlangen Sie von den Streitkräften und allen staatlichen Funktionären, die Verfassung von 1999 zu verteidigen und die Entscheidungen der Nationalversammlung zu unterstützen? 3. Billigen Sie, dass die Staatsgewalten unter den von der gültigen Verfassung vorgegebenen Bedingungen erneuert werden und freie und transparente Wahlen durchgeführt werden, sowie eine Regierung der nationalen Einheit gebildet wird, um die verfassungsgemäße Ordnung wiederherzustellen?“

Nicmer Evans aus den Reihen des kritischen Chavismus, der sich aus unzufriedenen, ehemaligen Regierungsanhänger*innen zusammensetzt, hatte vorgeschlagen, lediglich eine einzige Frage nach der Verfassunggebenden Versammlung zu stellen. Dadurch hätte die Beteiligung nach seinen Vorstellungen auf über zehn Millionen gehoben werden können. Doch der MUD ging nicht darauf ein. Ansonsten sprachen sich die kritischen Chavist*innen deutlich sowohl gegen die Verfassunggebende Versammlung als auch die parallelen staatlichen Strukturen des MUD aus.

„Diese Initiative gehört nicht mehr mir, sie liegt nun in den Händen des Volkes“

Der venezolanische Präsident Maduro zeigte sich derweil unbeeindruckt und bekräftigte, an der Verfassunggebenden Versammlung festzuhalten. „Diese Initiative gehört nicht mehr mir, sie liegt nun in den Händen des Volkes“, sagte er und rief die Opposition zum Dialog auf.

Laut den vom CNE verabschiedeten Regelungen sollen am 30. Juli insgesamt 545 Teilnehmer*innen gewählt werden, davon 181 in festgelegten gesellschaftlichen Sektoren und 364 auf territorialer Ebene in Wahlkreisen. Die rechte wie linke Opposition befürchtet, die Regierung wolle den Staat für ihre Zwecke reformieren und die Demokratie abschaffen. Das von Maduro am 1. Mai angekündigte Vorhaben hat auch innerhalb des Chavismus eher die Spannungen verschärft, als dass es einen Ausweg aus der politischen Krise weisen würde.

Doch so symbolisch die oppositionelle Volksbefragung war, so symbolisch ist zunächst auch die ausgerufene „Stunde Null“. Die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung mag in Bezug auf die Wahlbeteiligung ein Flop werden, verhindern kann die Opposition sie kaum.

Der Aufruf an das Militär, die Seiten zu wechseln, wird zumindest so lange keinen Erfolg haben, wie die chavistisch geschulte Armeeführung wirtschaftlich von Maduros Regierung profitiert.
Und auch der vom MUD nach der Volksbefragung vorgestellte Plan für eine zukünftige „Regierung der nationalen Einheit“ und die Ernennung neuer Richter*innen des Obersten Gerichts (TSJ), die das bestehende TSJ umgehend als illegal zurückwies, sind zunächst reine Symbolpolitik.

Im venezolanischen Machtkampf stehen aktuell also die Regierung Maduro, das Oberste Gericht und der Wahlrat dem oppositionell dominierten, aber vom TSJ blockierten Parlament, einem parallelen TSJ und demnächst vielleicht einer Parallelregierung „der nationalen Einheit“ (ohne Chavist*innen) gegenüber. Die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega wiederum hat sich gegen die Regierung gestellt und erhält Unterstützung von der Opposition, könnte aber in einem politisch motivierten Verfahren durch das TSJ abgesetzt werden.

Bisher zeigen sich weder Regierung noch Opposition kompromissbereit, sieht man davon ab, dass der prominente Oppositionspolitiker Leopoldo López seine Strafe seit Anfang Juli zu Hause verbüßen darf. Wegen Anstachlung der Unruhen 2014 war er zu über 13 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die von beiden Seiten ausgehende Gewalt reißt derweil nicht ab. In den vergangenen Wochen häuften sich zudem Zwischenfälle, die darauf hindeuten könnten, dass sich der Konflikt gewissermaßen verselbständigt und den Führungen beider politischer Lager vollends zu entgleiten droht: So griff Ende Juni ein ehemaliger Kriminalpolizist von einem Hubschrauber aus in Rambo-Manier ein Gebäude des Obersten Gerichtes sowie des Innenministeriums an. Am 5. Juli, dem venezolanischen Nationalfeiertag, stürmten mutmaßlich organisierte Gruppen aus den Armenvierteln unter den Augen der Nationalgarde eine Sitzung des Parlaments und besetzten dieses stundenlang.

Sollte die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung wie geplant stattfinden, droht eine weitere Eskalation, die entweder in einer Art Verhandlungslösung oder schlimmstenfalls in einen Bürgerkrieg münden könnte. Die Opposition will den Druck auf die venezolanische Regierung jedenfalls zunächst weiter steigern. Am 20. Juli rief sie zu einem 24-stündigen Generalstreik auf. Auch über dessen Ausmaß gingen die Einschätzungen auseinander. Während Oppositionsführer Henrique Capriles Radonski sagte, der Tag „gleiche in einigen Städten einem 1. Januar“, betonte Maduro, dass „die 700 größten Unternehmen des Landes zu 100 Prozent arbeiten“. Beide bezogen sich dabei auf Venezuela, jeder auf das seine.


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