Proteste in Managua im Juli (Foto Flickr.com // Jorge Mejía Peralta // CC BY 2.0)
Über Managua braut sich ein Unwetter zusammen. Während sich der Abendhimmel zusehends verdunkelt, hasten vereinzelte Hauptstädter*innen in einen Supermarkt, um letzte Besorgungen vor dem Wolkenbruch zu tätigen. Vor dessen Toren grüßt sie ein mit abgeschnittener Schrotflinte ausgerüsteter Wachmann. Unter seinem weißen Arbeitshemd schimmern die knalligen Lettern einer Wahlkampagne der Sandinistischen Partei durch. „Heute haben wir wieder länger geöffnet“, grüßt er grinsend. „Der comandante hat’s gesagt, im August kehren wir zur Normalität zurück.“ Der comandante ist Präsident Daniel Ortega.
Soweit die offizielle Losung der Regierung. In den vergangenen Wochen setzte der ansonsten kamerascheue Präsident zu einem medialen Rundumschlag an. In gleich fünf Interviews – eine Rarität in seiner 11-jährigen Amtszeit – zeigte er sich darum bemüht, den mittelamerikanischen Staat als befriedet darzustellen. Seine Gattin Rosario Murillo, zugleich Vizepräsidentin, verleiht dieser Deutung in ihren allmittäglichen, religiös-esoterisch eingefärbten Ansprachen Nachdruck: „Wie die Normalität und Ruhe diejenigen stört, die Angst und Terror gesät haben. Sie stört sie wie das Licht die Monster der Nacht. Gott sei Dank konnten sie nichts ausrichten gegen das Licht des großartigen Geistes der Nicaraguaner, das Licht unserer kollektiven Seele, unseres Glaubens, unseres christlichen, sozialistischen und solidarischen Engagements.”
Die Menschen in Masaya erklärten ihre Stadt zum „Freien Territorium“
El doctor stammt aus dem indigenen Viertel Monimbó der Stadt Masaya. Spätestens seit der Revolution von 1979 gilt Masaya – und allen voran Monimbó – als für den Widerstand ikonisch. Der im Südwesten des Landes gelegene Verkehrsknotenpunkt zwischen Managua und Granada wurde damals zum Zentrum des Aufbegehrens gegen die 43 Jahre andauernde Familiendiktatur der Somozas. Die Bewohner*innen bauten Barrikaden, um sich gegen die Nationalgarde zu verteidigen. Anastasio Somoza Debayle ließ Masaya bombardieren. Seine Truppen zogen von Tür zu Tür, auf der Suche nach vermeintlichen „Terroristen“. Etliche Oppositionelle kamen dabei ums Leben. So auch Camilo Ortega, der kleine Bruder des heutigen Präsidenten Daniel Ortega, der damals zur Galionsfigur der sandinistischen nationalen Befreiungsfront (FSLN) aufstieg.
Hochburg des Protestes Auch in Managua fielen die Konfrontationen heftig aus (Foto: Simón Terz)
Knapp vier Jahrzehnte danach wird der Ex-Guerillakämpfer seinerseits als Diktator charakterisiert. Das jüngste Aufbegehren gegen die Regierung entzündete sich Anfang April 2018 an einer allzu zögerlichen Reaktion auf einen Großbrand im Biosphärenreservat Indio Maíz. Unmittelbar darauf folgte die per Dekret verordnete Reform des Sozialsystems mit allen inzwischen bekannten Konsequenzen: Friedliche Demonstrationen wurden von Anhänger*innen der Sandinistischen Jugendorganisation (JS) und der Polizei blutig niedergeschlagen. Wachsende Proteste mündeten rasch in eine Massenbewegung, die seitdem den Rücktritt des autokratisch regierenden Ehepaars fordert. Anfang Juni hatten Regierungsgegner*innen 70 Prozent der Haupttransportwege des Landes mit Straßensperren lahmgelegt. In Masaya, wo die Konfrontationen mitunter am heftigsten ausfielen, erklärten dessen Bewohner*innen ihre Stadt zum „Freien Territorium“.
Als die Menschen Zeugen des ungleichen Kampfes wurden, warf bald das halbe Dorf mit Steinen
El doctor war auch vor Ort, als in Masaya die ersten Schüsse fielen. Vernarbte Schusswunden an seiner linken Schläfe und am rechten Oberschenkel zeugen von diesen ersten Gefechten. „Am 18. April ging mein Großvater mit einem Plakat ‚bewaffnet‘ gegen die umstrittene Rentenreform demonstrieren. Mit blutüberströmtem Kopf kam er zurück nach Hause“, erinnert er sich. „Am nächsten Morgen wurden aus einer Handvoll Protestierender rasch 200. Erneut ließ die Polizei nicht auf sich warten. Zuerst griffen sie mit Tränengas und Gummigeschossen an. Beamte droschen zügellos auf die Demonstrierenden ein. Wir zerbrachen Gullideckel und verteidigten uns mit den Brocken. Bald darauf kämpfte die Polizei Seite an Seite mit JS-Mitgliedern und nun schossen sie mit Feuerwaffen. Ich rief zum Rückzug nach Monimbó auf. Als die Menschen dort Zeugen des ungleichen Kampfes wurden, strömten sie auf die Straßen und bald warf das halbe Dorf mit Steinen.“
Die Auseinandersetzungen verebbten erst in den frühen Morgenstunden. „Das war einer der längsten Tage meines Lebens“, erklärt el doctor mit Nachdruck. Noch in der gleichen Nacht wird sein Cousin durch Schüsse in Kopf und Brust getötet. Er selbst fand sich zu Sonnenaufgang im Krankenhaus wieder. „Als ich sah, wie ein Junge inmitten des Tränengases nach Luft rang, hastete ich zu ihm und in die Schusslinie hinein. Eine Kugel erwischte mich dabei am Kopf und ich ging zu Boden. Meine Kameraden lasen mich auf. Sie sahen die Wunde, das ganze Blut und glaubten, ich sei tot. Aber ich hatte ein Riesenglück, die Kugel steckte in einer Art Tasche zwischen Kopfhaut und Schädelknochen. Wieder bei Bewusstsein bastelte ich mir einen Verband und begann, mich so gut es ging um andere Verletzte zu kümmern. Stunden später traf mich eine 9mm-Patrone ins Bein. Im Krankenhaus verweigerten sie uns die Behandlung. Befreundete Ärzte und Krankenschwestern eilten zu Hilfe. Ein Kollege aus Granada, der Labore und Praxen in der Gegend beliefert, brachte uns kistenweise Material. So wurden die ersten medizinischen Einheiten, die ‚Brigaden des 19. April’, geboren.“
Drei Monate lang bot die Oppositionshochburg Masaya den unablässigen Angriffen seitens der Polizei und regimetreuen paramilitärischen Gruppen die Stirn. Erst als die Regierung im Rahmen einer landesweiten „Säuberungsoperation“ jeglichen Ausdruck des Protests von der Straße zu verbannen suchte, wurde die Stadt durch eine mehr als 1500 Polizist*innen starke Offensive zurückerobert. Er habe vom Präsidentenehepaar den Befehl erhalten, so Ramón Avellán, Generalkommissar der örtlichen Polizei, die Stadt „zu säubern, koste es, was es wolle“. Am 23. August wurde der als Symbol der Repression geltende Avellán zum Vizechef der Polizei befördert.
„Allein nach der ersten Nacht zählte ich zehn Leichen am Strand.“
Das regierungsnahe Nachrichtenportal El 19 Digital proklamierte am Folgetag: „Heute feiert dieses historische Viertel der Stadt Masaya seine Freiheit, nachdem es von Terroristen zur Geisel genommen wurde, die von rechten Putschisten finanziert wurden. Die Freudentränen der Familien waren voll Glück und Dankbarkeit.“
Hunderte Bewohner Masayas und der umliegenden Dörfer suchten an den üppig bewachsenen Ufern des nahen Kratersees laguna de apoyo Schutz. Immer noch halten sich unzählige Personen dort versteckt. „Die Polizei kämmt die Gegend mit ihren Hunden durch, kennt sie aber nicht so gut wie wir“, erklärt el doctor. „Dennoch, allein nach der ersten Nacht dort zählte ich zehn Leichen am Strand. Die offiziellen Medien berichten von zwei Todesopfern. Aber bis heute hat niemand wirklich Klarheit über das ganze Ausmaß des Massakers. Die Stadt ist von Paramilitärs belagert.“ Er schätzt die Zahl auf rund 60 Tote. Als die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) im Mai nach Monimbó kam, hätten die Leute dankbar Auskunft gegeben. „Heute wäre das anders. Die Angst ist zu groß.“
Die Mütter haben sichmit Mut bewaffnet Protest-Wandbild in Managua (Foto: Simón Terz)
Auch in weiteren Städten des Landes wie Léon, Jinotega, Diriamba und Jinotepe sind nach wie vor paramilitärische Gruppen präsent. Ortega nennt sie „freiwillige Polizei“. Neue Ausdrucksformen des Protests sollen im Keim erstickt werden. Wie bereits in den Jahren der Somoza-Diktatur schüchtern diese Einheiten in Zusammenarbeit mit der Polizei die Bevölkerung ein und ziehen mit Namenslisten von zu verhaftenden „Putschisten“ ausgerüstet durch die Nachbarschaften. „Diese Männer haben mein Haus geplündert, Kameras installiert und benutzen es als ihr Quartier“, fährt el doctor fort.
Mittlerweile gießt es in Strömen. Die Kundschaft des Supermarktes hat sich in alle Richtungen verstreut. El doctor spricht jetzt gelassener, jedoch nicht ohne dabei immer wieder prüfend über den Tresen zu spähen. „Meinen Onkel und meinen 82-jährigen Großvater haben sie kürzlich aus dem Gefängnis entlassen. Dort hat man ihnen sämtliche Nägel gezogen. Die wollten wissen, wo meine Schwester und ich sind. Dass sie selbst sie kaltblütig ermordeten, haben sie scheinbar bereits vergessen.“ Seit August hat die Repression neue Formen angenommen. Die zunehmende Bedrohung durch den Staatsapparat und die Kriminalisierung oppositioneller Sektoren bestimmen die aktuelle Phase der Krise. Diese Umstände haben mitunter zur vorübergehenden Schließung des Sitzes der nicaraguanischen Vereinigung für Menschenrechte (ANPDH) und zur Flucht ihres Leiters, Álvaro Leiva, nach Costa Rica geführt. „Meine Frau und meine dreijährige Tochter sind Teil des Exodus“, legt el doctor dar. „Ich hab’ sie Ende April in den Bus gesetzt. Seitdem kann ich sie kaum sprechen. Es ist zu gefährlich.“
Angestellte aus dem öffentlichen Sektor verloren im Zuge der vergangenen Wochen reihenweise ihre Jobs. Entweder, weil sie an Demonstrationen teilnahmen oder auf andere Weise den zivilen Protest unterstützen. Eine weitere Einschüchterungstaktik gilt der Privatwirtschaft. Sogenannte toma tierras (Landräuber), zumeist Menschen aus Armenvierteln, werden unter Begleitschutz von Regierungsmitgliedern oder schwer bewaffneten Paramilitärs zu Grundstücken verfrachtet. Dort errichten sie mit Stäben, Plastikplanen und Zink prekäre, nicht selten mit der sandinistischen Flagge geschmückte Unterkünfte. Man verspricht ihnen, dass diese angeblich zeitnah legalisiert werden sollen. Zahlreiche dieser Grundstücke gehören Mitgliedern des Unternehmerverbandes COSEP – bis vor der Krise noch Hauptverbündeter und größter Nutznießer der Regierung. Heute bildet der COSEP Teil der „zivilen Allianz für Gerechtigkeit und Demokratie“ gegen die Ortega-Regierung. Ein Mitte Mai aufgenommener nationaler Dialog unter der Leitung der katholischen Bischofskonferenz zwischen Allianz und Regierung wurde wegen der nicht verebbenden Gewalt und einem Mangel an Konsens unterbrochen.
Weiterhin finden, der „Normalität“ zum Trotz, Märsche statt – zumeist beschattet von Polizei und Paramilitärs. Willkürliche Verhaftungen von Demonstrierenden gehören in Folge dessen zur Tagesordnung. Die Protestzüge fordern die Befreiung der politischen Gefangenen und eine Wiederaufnahme des Friedensdialogs. „Ich hoffe, die Welt hört uns“, beschließt el doctor energisch. „Wir brauchen dringend Hilfe. Und es muss Gerechtigkeit geben. All die Verbrechen dürfen nicht ungestraft bleiben. Denn ohne Gerechtigkeit gibt es kein Vergeben.“