KOLLEKTIVITÄT ALS SCHUTZ GEGEN TERROR

Weiblicher Widerstand Feminist*innen kämpfen gegen die Regierung (Foto: Flickr.com Jorge Mejía Peralta CC BY 2.0)

Eine Gruppe von Frauen spielt Theater. Ein Mann tritt mit einem Gewehr ein. Die Frauen spielen weiter, der Mann geht nach einiger Zeit. Der Mann gehörte jedoch nicht zum Stück. Der Mann ist Teil des Terrors, den die Menschen in Nicaragua im Alltag spüren. Immer wieder treten Anhänger Ortegas wie er an solchen Orten auf, um mit Waffengewalt Angst einzuflößen. Feminist*innen erhalten Drohungen, werden beschimpft, in den sozialen Medien verleumdet und ein feministisches Zentrum wurde beschossen. Bei der Theaterprobe ließen sie sich nicht einschüchtern, doch die Bedrohung und Angst ist überall greifbar.

„Es ist eine humanitäre Krise“, sagt Edith* aus Matagalpa. Die Diktatur Ortega-Murillo durchdränge mit dem Terror die ganze Gesellschaft. „Die Regierung hat bei den Menschen immer weniger Rückhalt, aber sie hat Macht. Die Macht der Waffen!“, sagt Edith, die Feministin. Die letzten Barrikaden, welche die Protestierenden im ganzen Land errichtet hatten, und die Besetzungen der Universitäten beseitigte die Regierung Mitte Juli gewaltsam im Rahmen der „Operation Säuberung“. Zeitgleich verabschiedete das Parlament das „Gesetz gegen Geldwäsche, die Finanzierung von Terrorismus und die Verbreitung von Waffen“. Auf der Grundlage dieses „Anti-Terrorgesetzes“ werden nun zahlreiche Protestierende verurteilt und kritische Organisationen gefährdet. Präsident Ortega startete eine Medienkampagne, um auf internationaler Ebene zu verkünden, dass das Land wieder zur Normalität zurückgekehrt sei (siehe Artikel S.38). María*, eine Feministin aus der Hauptstadt Managua, beschreibt hingegen, dass die Verfolgung, Einschüchterung und Angst im August ein neues Niveau erreichte: „Dieser Zustand ist schlimmer! Wenn du an den Barrikaden oder bei Demonstrationen warst, wusstest du, was du riskierst. Jetzt bist du zu Hause und weißt nicht, ob und wann sie kommen und dich nach El Chipote verschleppen.“ Das Gefängnis El Chipote war das berüchtigste Folter-Zentrum der Somoza-Diktatur.

 

Feminist*innen sind seit Beginn der Proteste zentrale Akteur*innen des Widerstands

 

Feminist*innen sind seit Beginn der Proteste Mitte April zentrale Akteur*innen des Widerstands. Die Gruppen kämpfen schon seit Jahren gegen die Regierung und für ihre Rechte und sind deshalb landesweit organisiert und vernetzt. Sie beschreiben, dass Diskriminierungen aufgrund von Homophobie und Sexismus in den letzten Wochen zunahmen. Viele der Kollektive haben aus ihrer Arbeit zu sexualisierter Gewalt Erfahrung mit Gewaltsituationen, der Schikanierung der Opfer und falschen Anschuldigungen durch die Täter. Dadurch schaffen sie es auch, angesichts der aktuellen Situation gegenseitig auf sich zu achten und handlungsfähig zu bleiben. „Kollektivität ist der stärkste Schutz gegen die Vereinzelung und Spaltung durch den Terror“, sagt Edith. „Sie kämpfen für das Leben und wollen den Terror nicht gewinnen lassen”, kündigt sie kämpferisch an.

Viele Menschen können sich vor ihrer Angst, dem zunehmenden ökonomischen Druck (insbesondere für informelle Arbeiter*innen) oder vor politischer Verfolgung nicht schützen und fliehen vor der Gewalt. Insbesondere in Costa Rica, aber auch in Panama, Mexiko und den USA stieg die Anzahl der Anträge auf politisches Asyl enorm an. In Deutschland und Spanien suchen Nicaraguaner*innen ebenfalls Schutz vor politischer Verfolgung. Nach Angaben der Regierung Costa Ricas beantragten 23.000 Nicaraguaner*innen seit Ausbruch der Proteste Asyl. Die offiziellen Zahlen geben aber nur einen Teil der tatsächlich Geflüchteten an.

23.000 Menschen haben in Costa Rica Asyl beantragt

Auch innerhalb Nicaraguas gibt es viele Menschen, die sich in anderen Landesteilen verstecken. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR ruft zu internationaler Solidarität mit den Staaten auf, die seit April 2018 Geflüchtete aus Nicaragua aufnehmen. Inzwischen ist es für politisch Verfolgte jedoch fast unmöglich, nach Costa Rica oder Honduras zu fliehen, da schon der Weg zur Grenze gefährlich ist. Der Student und LGBT-Aktivist Bayardo Siles aus Matagalpa wurde beispielsweise am 9. August auf dem Weg zur Grenze zu Costa Rica verschleppt. Feministische Gruppen forderten Ortega auf, seine physische und psychische Integrität zu wahren und ihn sofort freizulassen. Die Polizei hielt Siles für zehn Tage in drei verschiedenen Gefängnissen, darunter El Chipote, gefangen. Nach seiner Entlassung gelang es Siles nun Ende August aus dem Land zu fliehen.

„Die Situation ist so schwerwiegend, dass wir uns verbünden müssen, um der grausamen Diktatur zu entgegnen“, sagt María. Das breite Bündnis der Zivilgesellschaft mit der Unternehmer*innenschaft und der Kirche zieht immer wieder Kritik auf sich. Ortegas Unterstützer*innen im In- und Ausland sehen darin den Beweis für die Steuerung oder Vereinnahmung des Protests durch die nationale Bourgeoisie, das internationale Kapital und den Imperialismus. Es wäre allerdings ignorant, nicht anzuerkennen, dass die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen ihrerseits ebenfalls strategisch und überlegt mit den Bündnissen umgehen. Sie entscheiden bewusst, welche Allianzen sie zu welchem Zweck (nicht) eingehen.

Edith macht sich keine Illusion, wer aus den Protesten gestärkt hervor gehen wird. „Die Katholische Kirche wird ihre Agenda hervor holen. Das wird ein Rückschlag für die ganze feministische Bewegung“, sagt sie. Auch María weiß, dass die Kirche gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen wird, da sie angesichts der Regierungsgewalt von der Bevölkerung als Schutzmacht wahrgenommen wird.
Die katholische Kirche wird gestärkt aus den Protesten hervorgehen
Aus jahrelangem linken, anti-kapitalistischen und feministischen Kampf wissen die feministischen Gruppen sehr genau, dass sie sich mit der Rechten nicht verbünden dürfen. Deren ökonomische Interesse gehen immer auf Kosten des weiblichen Körpers. Die Feminist*innen lassen sich nicht leicht täuschen und vereinnahmen. Aufgrund ihrer herrschaftskritischen Analysen kritisierten sie bereits vor dem 18. April Ortega-Murillo, Unternehmer*innen und die Kirche aufs Schärfste. María findet es allerdings makaber, wenn Linke Ortegas Regierung immer noch für links halten und meinen, die Diktatur Ortegas sei weniger schlimm als eine rein neoliberale Regierung.

Ende August verkündete das zivilgesellschaftliche Bündnis Alianza Cívica por la Justicia y Democracia, dass es den nationalen Dialog wieder aufnehmen wolle. Das Bündnis, in dem Organisationen von Studierenden, Bäuer*innen, Unternehmen und Kirche zusammenkommen, hatte sich im vergangenen Mai angesichts der Krise gegründet. Liberale und rechte Parteien versuchen Teil dieser Gespräche zu werden, wogegen es Widerstand gibt. Azahálea Solis, Feministin und Mitglied der Allianz, kommentierte gegenüber der Presse, die politischen Parteien sollten nicht davon ausgehen, ihre alte Politik fortführen zu können.
Bei allen Diskussionen darum, wie es weitergeht, wiederholen verschiedene Nicaraguaner*innen immer wieder, dass das Wichtigste sei, zunächst Ortega-Murillo und die verheerende Gewalt zu stoppen. Danach könne erst richtig begonnen werden sich neu zu organisieren. María und Edith wissen, dass die Herausforderungen für den Feminismus groß sind.

* Namen der Personen und Gruppen wurden aus Sicherheitsgründen geändert bzw. nicht genannt.

DAS MÄDCHEN AUS PERNAMBUCO

Das Wohnviertel heißt Lomas de Monserrat und bis vor Kurzem wimmelte es da von maskierten Paramilitärs. Nicht weit von dort befindet sich die Nationale Autonome Universität, die die Studierenden seit dem Anfang der Proteste, die das Land erschüttern, besetzt hielten. Ein Angriff, um sie zu vertreiben, war seitdem immer zu erwarten.

Dieser Angriff fand schließlich am Nachmittag des 13. Juli statt. Die Studierenden suchten Zuflucht in der nahestehenden Kirche La Divina Misericordia. Das unaufhörliche Feuer aus Waffen verschiedener Kaliber dauerte bis zum Morgengrauen des 14. Juli an. Dann wurde es auf die Kirche gerichtet, in die ein bereits lebloser junger Mann gebracht worden war und in der ein weiterer, den die Schüsse drinnen trafen, ebenfalls starb. Die zahlreichen Einschüsse kann man noch in den Mauern der Kirche sehen.

Die Maskierten, jetzt offiziell „freiwillige Polizisten“ genannt, verharrten in Lomas de Monserrat, nachdem die „Operation Säuberung“ in der Universität beendet war. Am 23. Juli waren sie immer noch da.

An diesem Abend, nachdem sie ihre Schicht als Praktikantin im Krankenhaus Carlos Roberto Huembes beendet hatte, ging Raynéia da Costa Lima – Brasilianerin, 31 Jahre alt, Medizinstudentin an der Universidad Americana (UAM) – gemeinsam mit ihrem Freund Harnet Lara Moraga in dieses Wohnviertel zu der Abschiedsparty einer Freundin. Das Mädchen – schön wie ein Model aus einer Modezeitschrift, wie man auf den Fotos ihrer Facebook-Seite sehen kann, sympathisch und voller Anmut, wie ihre Freunde sie in Erinnerung haben – war sechs Jahre zuvor nach Managua gekommen, frisch verheiratet mit einem Nicaraguaner, von dem sie sich später trennte. Sie blieb aber in dem Land und beschloss, dass sie Ärztin werden wollte. Um ihren Unterhalt zu bestreiten, machte sie brigadeiros, Pralinen aus Schokolade und Kokosnuss, und wenn ihre Kommiliton*innen sie auf sich zukommen sahen – lächelnd ihr Tablett voller Süßigkeiten anbietend – pfiffen sie ihr zu Ehren die Melodie des Liedes Garota de Ipanema (Das Mädchen aus Ipanema).

Nach 23 Uhr, als die Feier vorbei war, verließen Raynéia und Harnet das Wohnviertel. Sie fuhr voran am Steuer ihres Autos, eines kleinen Suzuki. Er hinterher am Steuer des eigenen. Als er Schüsse hörte, beschleunigte er und sah sie dann blutüberströmt auf der Straße sitzen. Bereits verwundet hatte sie es geschafft, sich aus dem Auto zu schleppen. Als er drei vermummte, immer noch schussbereite Paramilitärs bemerkte, näherte er sich mit erhobenen Händen. Er trug sie auf seinen Armen in sein Auto, ohne dass die Maskierten ihn daran hinderten, um sie ins nächstgelegene Militärkrankenhaus zu bringen. Das war es, was er den Ärzt*innen erzählte, die sie in der Notaufnahme empfingen – einige von ihnen Studienkamerad*innen von Raynéia. Alles war vergebens. Ein Schuss großen Kalibers hatte sie auf der Höhe der Rippen getroffen und ihr Herz, ihr Zwerchfell und einen Teil ihrer Leber verletzt.
Nach dem Tod des Mädchens fand sich die Polizei im Krankenhaus ein, die den Freund suchte. Er sollte mit ihnen zum Tatort zurückkehren, um die „Tat zu rekonstruieren“. Doch die Ärzt*innen ließen es nicht zu – wegen des Schockzustandes, in dem er sich befand. Sie brachten seinen Blutdruck wieder in Ordnung, verabreichten ihm ein Beruhigungsmittel und er wurde erst am nächsten Tag um 11:40 Uhr entlassen.

Die Nationalpolizei gab einen ersten Bericht ab, in dem sie einen privaten Wächter der Tat beschuldigte, ohne seine Identität zu nennen. Doch in einem neuen Bericht vom 27. Juli wurde schließlich Pierson Gutiérrez Solís beschuldigt, 42 Jahre alt, aktives Mitglied der Nationalarmee bis 2009 und Taekwondo-Lehrer, bei dem ein M4-Karabiner beschlagnahmt wurde, ein Sturmgewehr, dessen Gebrauch ausschließlich der Armee vorbehalten ist.

Gutiérrez Solís ist aktives Mitglied der Regierungspartei und befindet sich auf der Lohnliste von Petronic, einer Firma, die unter der Schirmherrschaft von Albanisa agiert, dem Unternehmen, das das Geschäft mit dem venezolanischen Erdöl verwaltet. Albanisa hat seinen Hauptsitz ausgerechnet in Lomas de Monserrat!

Seit er das Krankenhaus verließ, weiß man nichts über den Verbleib von Harnet, dem Freund Raynéias. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Das Auto des Opfers ist vom Ort des Verbrechens verschwunden. Auch die Paramilitärs von Lomas de Monserrat sind verschwunden, als ob sie nie dagewesen wären. Die Überwachungskameras des Wohnviertels sind abgebaut worden. Der Angeklagte wurde heimlich vor Gericht gebracht – am 1. August, einem offiziellen Feiertag. Die Anhörung fand hinter verschlossenen Türen statt.
Schlechte Romane stellen sich stets als widersprüchlich heraus und als schlecht erzählt. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft beginnt mit der Beschuldigung des Opfers: Raynéia wird die Schuld am eigenen Tod gegeben, weil sie in unkontrollierter und verdächtiger Weise fuhr. Über den Täter wird erklärt, dass dieser um jene Uhrzeit auf der Suche nach einem geeigneten Ort war, um eine Taekwondo-Schule zu eröffnen. Unterwegs fiel ihm ein, dass er ein paar Wächter kannte, die gerade in Lomas de Monserrat Wache standen, und so ging er zu ihnen, um ihnen eine Ausbildung in Selbstverteidigung und Anwendung von Feuerwaffen anzubieten. Das war 10:40 Uhr am Abend.

Seine zwei Bekannten waren für die Sicherheitsfirma Displuton S.A. im Dienst, die ebenfalls unter der Schirmherrschaft von Albanisa steht. Jeder von ihnen trug eine Flinte des Kalibers 12. So kommt es zu dem Paramilitär-Trio, das Harnet erwähnte.
Damit war Raynéias Schicksal besiegelt. „Wegen des Verhaltens und der unsicheren Bewegung des Fahrzeuges“ hatten die Wächter das Gefühl, „ihr Leben sei in Gefahr“, erklärt die Staatsanwaltschaft.

Pierson, sehr darauf bedacht, seine Freunde zu beschützen, holte den Karabiner M4 aus dem Kofferraum seines Autos, ging in Stellung hinter einem Strommasten und feuerte auf den fahrenden Suzuki.

Die Staatsanwaltschaft klagt den Täter des Totschlages an, worauf eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren steht – weniger, als wenn er des Mordes angeklagt wäre. Die Verteidigung plädiert für eine Minderung auf zehn Jahre. Damit wäre der Mörder bald wieder frei, beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen, so wie es in solchen manipulierten Gerichtsprozessen üblich ist.

Unterdessen ist die Leiche von Raynéia, der jungen Frau, die sich ihr Studium durch den Verkauf von brigadeiros finanzierte, zurück in ihre Heimat Pernambuco geschickt worden.

NOCH KEIN ENDE IN SICHT

Fast drei Monate sind seit dem Anfang der massiven Proteste gegen Daniel Ortega und seine Frau und Vizepräsidentin, Rosario Murillo, vergangen. Drei Monate, die vielen Nicaraguaner*innen wie Jahre vorkommen dürften. Nahezu täglich überstürzen sich die Ereignisse, viele von ihnen sind blutig. Mittlerweile hat die Gewalt die barrios orientales, Managuas Arbeiterviertel, erreicht. Paramilitärs fahren dort mit Pick-Ups durch die Straßen, sie tragen Kriegswaffen, sie durchsuchen die Menschen und schüchtern sie ein. Es wird von Schießereien berichtet, die Opferzahl steigt fast täglich. Im kollektiven Gedächtnis der Nicaraguaner*innen wird der Mord an einer ganzen Familie bleiben, die in ihrem Haus verbrannte. Ebenso der Fall eines Kleinkindes, das auf der Straße von einer Kugel getroffen wurde und ums Leben kam.

Nicaragua im Spiegel der LN Titelseiten der Lateinamerika Nachrichten der letzten 40 Jahre 1978-2018

Täglich überstürzen sich die Ereignisse, viele sind blutig.

Während Ortega sich Zeit zu kaufen scheint, spielen internationale Organe wie die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH), der UN-Menschenrechtsrat und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eine zunehmend wichtige Rolle für die Auswertung der Gewalt und zur Ermittlung der Schuldigen.

Mit der anhaltenden Gewalt und der wachsenden Zahl der Opfer steigt auch der Druck auf den OAS-Generalsekretär Luis Almagro, eine klare Stellungnahme gegen die Repression abzugeben. Almagro hat sich zuletzt für vorgezogene Wahlen ausgesprochen, eine Variante, der wiederum von der Bürger*innenallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (Alianza Cívica por la Justicia y la Democracia) mit Skepsis begegnet wird. Die zahlreichen Wahlbetrugsvorwürfe und die Befangenheit des Obersten Wahlrats sind dabei ihr Hauptargument. Dazu gehört auch die absolute Delegitimation, die Ortega sich nach fast drei Monaten des Blutvergießens erworben hat.

Die Nicaraguaner*innen befinden sich in einer gefühlten Sackgasse.

Man mag sich wundern, warum Almagro im Fall Ortega relativ gemäßigt agiert. In Bezug auf Venezuela hat er sich hingegen von Anfang an ganz klar für ein Ende der Maduro-Regierung eingesetzt. Die Antwort liegt wohl in der (eigentlich bekannten) Tatsache, dass man diplomatische Verbündete zwar vergleichen, aber doch nicht gleichsetzen darf. Letztendlich haben die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Nicaragua, die zu den Protesten führten, mit denjenigen in Venezuela eher wenig zu tun. Als zwei Beispiele für diese Unterschiede stechen die Rolle des Erdöls in Politik und Wirtschaft und die Beziehung zwischen Regierung und Unternehmer*innenschicht hervor. In diesem Sinne scheint Ortega für Almagro eindeutig erträglicher als Maduro zu sein.
„Eine politische Antwort wird benötigt, im Grunde eine politische Antwort vonseiten der Macht (…) Der Volkswille muss sich durchsetzen, das muss durch Wahlen geschehen, mit der Auszählung der Stimmen“, erklärte Luis Almagro am 22. Juni. In diesem Zusammenhang führte ein beachtenswertes Ereignis zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Bei der OAS-Generalversammlung im Juni 2018 wurde über eine Resolution abgestimmt, die einen zukünftigen Ausschluss Venezuelas aus der kontinentalen Organisation einleitete und zugleich den letzten präsidialen Wahlprozess im bolivarischen Land als illegitim bezeichnete. Die Resolution wurde mit neunzehn Stimmen angenommen, nur vier Länder (darunter Venezuela und Bolivien) stimmten dagegen. Unter den Enthaltungen war auch Nicaragua, das sonst immer an der Seite Maduros gestimmt hatte. Diese diplomatische Haltung der Ortega-Regierung scheint eine Annäherung an Almagro zu sein, sie begünstigt die „sanfte Opposition“ des OAS-Generalsekretärs.

In den 1970er und 1980er Jahren erlebte das Land eine Welle der Solidarität

Die Nicaraguaner*innen befinden sich derzeit in einer gefühlten Sackgasse. Für Ortega und seine Regierung bedeutet das die Weiterführung der gewalttätigen Repression. Für die Protestierenden führt es bei manchen zu einem Hilfeschrei nach außen. Doch welche internationalen Organisationen können und sollten die Konfliktlösung Nicaraguas unterstützen und in welcher Form?

Vor allem einzelnen Mitgliedern der Studierendenallianz ist die Antwort auf diese Frage offensichtlich noch nicht ganz klar. Denn bestimmte Treffen mit Politiker*innen aus dem rechtskonservativen Lager aus den USA oder El Salvador beispielsweise begünstigen nur jene Vorwürfe, die eine externe Konspiration der Rechten unterstellen. Fast drei Monate nach dem Beginn der Krise ist das breite Bündnis der Opposition immer noch nicht in der Lage, sich politisch und ideologisch zu definieren. Feministinnen, linke Studierende, Bäuerinnen und Bauern ebenso wie Unternehmer*innen sind unter anderen in dem Bündnis vertreten, mit zum Teil widersprüchlichen Weltanschauungen, Motiven und Interessen. Schienen am Anfang eher die progressiven Flügel dieser Allianz zu dominieren, treten jetzt zunehmend die konservativen und USA-nahen Mitglieder um die wirtschaftliche Elite des Arbeitgeberverbandes COSEP (bis vor kurzem Ortegas wichtigster Partner) in den Vordergrund. Womöglich werden verzweifelt wichtige Verbündete im Ausland gesucht, damit das Thema Nicaragua in den internationalen Fokus rückt – das wäre die optimistische Variante.
Denn Nicaragua ist der internationalen Solidarität nicht fremd. Besonders in den 1970er und 1980er Jahren erlebte das Land vor allem aus Deutschland eine Welle an Solidaritätsbekundungen, allen voran aus dem linken Spektrum, das noch heute eine enge Beziehung zu Nicaragua unterhält. Nichtsdestotrotz lässt sich die Konstellation des aktuellen Machtkampfs nicht so eindeutig zwischen rechts und links verorten wie früher. Genau deswegen sollte die Studierendenallianz internationale Unterstützung nicht unkritisch auswählen. Vor allem aber sollte vermieden werden, sich mit jenen Akteur*innen zu verbünden, die in Nicaragua eine Gelegenheit sehen, alte und vereinfachte Machtkämpfe zwischen links und rechts und somit die Dämonisierung sozialistisch orientierter Regierungen zu reproduzieren.Vielmehr geht es derzeit darum, die drängenden Probleme auf humanitärer Ebene zu lösen, erst dann sollte man in eine tiefergreifende politische Debatte eintreten. Für die neu entstandenen Bewegungen, allen voran der Studierenden­bewegung, gilt es ungeachtet dessen weiterhin politische Inhalte zu erarbeiten. Parallel muss sie auf das Ende der polizeilichen Repression und auf die Aufklärung der Morde während der Proteste sowie der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen willkürlicher Verhaf­tungen dringen.

Das Ende von Präsident Daniel Ortega ist immer noch möglich.

Für Nicaragua gilt ebenso, was Carlos Beristain von der in Nicaragua aktiven Interdisziplinären Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) einmal über die Arbeitsweise der Organisation mit Opfer-Angehörigen im Rahmen der Untersuchung der Entführung und Ermordung der 43 Student*innen in Ayotzinapa, Mexiko, geäußert hat: „Was die Angehörigen brauchen ist Wahrheit. Was sie uns sagten, als wir am ersten Tag in die Schule kamen, bei dem ersten Treffen, war: ‚Sagt immer die Wahrheit zu uns, das ist das wichtigste für uns.‘ Was sie brauchen ist direkte Kommunikation, nicht angelogen zu werden; nicht, dass ihnen eine Sache erzählt wird und dann erweist sich eine andere; dass sie früher informiert werden über jedes für die Untersuchung relevante oder bezüglich des Verbleibes ihrer Kinder wichtige Element, dass ihnen alles erklärt wird, bevor die Information an die Medien kommt, und das ist eine Schlüsselangelegenheit, um eine Untersuchung durchführen zu können. Man kann eine Untersuchung nicht machen, ohne die Opfer zu berücksichtigen, und diese beiden Faktoren müssen Hand in Hand gehen.“

Hierbei könnten Organisationen wie die CIDH, GIEI und der Sonderfolgemechanismus für Nicaragua (MESENI) eine wichtige Rolle spielen. In den Nachbarländern wurden bereits Sondermechanismen für die Bekämpfung von Straflosigkeit, insbesondere in den Bereichen Korruptions­bekämpfung und Bekämpfung krimineller Strukturen gegründet. Die Ergebnisse solcher Mechanismen sind begrenzt, aber nicht zu vernachlässigen. Sie hängen sehr vom politischen Willen der jeweiligen Regierung, aber auch vom zivilgesellschaftlichen Druck in den jeweiligen Ländern ab. In Nicaragua hat dieser Druck nun möglicherweise seinen Höhepunkt erreicht. Die Aufklärung und Dokumentierung von Menschenrechtsverletzungen ist auch bei fehlenden Strafverfahren eine Legitimation der Opfer, was einen der wertvollsten Beiträge solcher Mechanismen darstellt. Letztlich geht es um den Kampf um die Wahrheit, der bei defizitärer Pressefreiheit und einem nicht funktionierenden Justizsystem für die Repressionsopfer sehr schwierig ist. Es geht um die Wahrheit, es geht aber auch darum, dass die Opfer Vertrauen in irgendeine Instanz zurückgewinnen können. Um die Spirale der Straflosigkeit und Gewalt zu durchbrechen, ist letzteres entscheidend. Genauso wichtig ist eine glaubwürdige Dokumentierung der Ereignisse, um weitere internationale Zustimmung zu gewinnen.

Ortegas Ende ist immer noch möglich. Der Autoritarismus, die Korruption und die staatliche Repression der letzten Monate haben ihn für viele Nicaraguaner*innen beinah regierungsunfähig gemacht. Ob nach ihm eine demokratischere, gerechtere und sozialere Regierung an die Macht kommen wird, ist immer noch offen. Bis dahin sollte man jedoch mit internationaler Solidarität vorsichtig umgehen: internationale Solidarität ja, aber nicht um jeden Preis!

// NICARAGUA SCHMERZT

Die Bilder in Nicaragua gleichen sich auf den ersten Blick, und doch ist dieses Mal alles anders. Wer heute durch den indigen geprägten Bezirk Monimbó in der nicaraguanischen Stadt Masaya geht, fühlt sich zunächst an 1979 erinnert, als der Volksaufstand gegen die Somoza-Diktatur in vollem Gang war: Barrikaden aus Pflastersteinen, junge Menschen mit Gesichtsmasken und revolutionäre Parolen an den Wänden. Der entscheidende Unterschied: Heute weht die blau-weiß-blaue Nationalflagge über den Barrikaden. Das rot-schwarze Banner der Sandinist*innen ist zum Hassobjekt geworden. Immer öfter hört man den Spruch: „Daniel y Somoza – la misma cosa“.
Für alle, die die Sandinistische Revolution vor 40 Jahren sympathisierend begleitet, unterstützt oder nur via Medien beobachtet haben, ist es schmerzhaft zu sehen, wie der Nimbus der Revolutionär*innen verflogen ist. Längst wusste man auch in den treuesten Solidaritätszirkeln hierzulande, dass die Comandantxs nicht unfehlbar sind.
Aber nach mehr als elf Regierungsjahren von Daniel Ortega steht der Sandinismus für eine religiös verbrämte autoritäre Herrschaft, die spätestens seit Beginn der Demonstrationen im April von vielen als Mörder-Regime gesehen wird. Amnesty International hat bestätigt, was zahllose Augenzeug*innen und das medizinische Personal in den Krankenhäusern aufgezeigt hatten: Die Antiaufruhrpolizei schießt, um zu töten – in den Kopf, in den Hals oder in die Brust. Kritische Stimmen innerhalb des Sandinismus, die über diese Brutalität bestürzt sind, dringen nicht an die Öffentlichkeit.
Immer mehr Menschen, die die autoritäre Politik jahrelang schweigsam erduldet haben, weil sie vielleicht selbst profitiert hatten oder zumindest wirtschaftliche Stabilität erlebten, steigen aus Entrüstung buchstäblich auf die Barrikaden. Von offizieller Seite der „Regierung der Einheit und Versöhnung“ wird standhaft geleugnet, dass diese Verbrechen überhaupt stattfinden oder sie werden „von außen gesteuerten Vandalen“ zugeschrieben.
Aber dank der Revolution der sozialen Medien kann auch die weitgehende Kontrolle von Fernsehen und Rundfunk nicht mehr verschleiern, dass täglich Blut fließt. Es ist kein Zufall, dass der Aufstand von Student*innen angeführt wird, die ihr Smartphone zu nutzen wissen und imstande sind, sich ein unabhängiges Bild der Welt und ihres eigenen Landes zu verschaffen. Obwohl Vizepräsidentin und Ortega-Ehefrau Rosario Murillo als erste Reaktion auf die Protestbewegung die öffentlichen WLAN-Hotspots abstellen ließ, verbreiten sich Fotos und Videos von Repressionsakten oder Aufrufe zu Demonstrationen.
Das einzige handfeste Druckmittel der Demonstrierenden gegen den Ortega-Clan sind neben der moralischen Kraft einer wachsenden Aufstandsbewegung die errichteten Straßensperren. Sie führen inzwischen aber nicht mehr nur bei den Ortegas mit ihren zahlreichen Unternehmen zu wirtschaftlichen Einbußen. Der Tourismus, für viele Kleinstunternehmer*innen die wichtigste Lebensgrundlage, ist zum Erliegen gekommen. In abgelegenen Landesteilen herrscht bereits Hunger. Eine rasche Lösung ist daher unumgänglich, soll das Land nicht nachhaltigen Schaden erleiden.
Die heterogene Protestbewegung – die autoconvocados – hat weder eine rechte noch eine linke Agenda. Sie hat auch keine sichtbaren Anführer*innen, die Ortega an der Staatsspitze ablösen wollen. Sie will lediglich die bleierne Zeit beenden, in der kein Bürgermeister und keine Bürgermeisterin ohne Erlaubnis der Vizepräsidentin eine Unterschrift leisten darf und Staatsangestellte für Parteiveranstaltungen abkommandiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Ortegas, anders als damals Somoza, mit friedlichen Mitteln zum Rückzug bewegen lassen – sonst droht eine Militarisierung des Konflikts.
Spätestens bei Erreichen ihres unmittelbaren Ziels müsste sich die Bewegung dann einer nicht minder großen Herausforderung stellen: eine tragfähige, konstruktive politische Alternative zu entwickeln, die sich an einer solidarischen und gerechten Gesellschaft orientiert. So wie es vor langer Zeit einmal auch Ortegas Anspruch war.

DER COMANDANTE IN SEINEM LABYRINTH

Die Bilder in den Medien vermittelten ein Horrorszenario: Eine weinende hochschwangere Frau bettelt an einer Tankstelle um Benzin für ihr Auto, „weil die Ambulanzen nicht fahren“. Kein Insulin für Diabetes-Patient*innen in den Krankenhäusern, leergefegte Regale in den Supermärkten. Komplett überfüllte Autobusse, kilometerlange Schlangen an den Tankstellen, Streichung von Inlandsflügen an 14 Flughäfen, weil kein Kerosin geliefert werden kann. Und der Präsident setzt nach den ersten gescheiterten Verhandlungen das Militär ein, um die Blockaden der Lkw-Fahrer*innen auf den Fernstraßen aufzulösen. Grundlage dafür ist das Gesetz zur „Garantie von Gesetz und Ordnung“, das zum ersten Mal für das gesamte Land galt.

Doch am Abend des zweiten Tages nach dem Ende des landesweiten Streiks der selbstständigen Fuhrunternehmer*innen ist in der Millionenstadt Recife im Nordosten des Landes die Versorgungslage weitestgehend normal. Die langen Schlangen an den Tankstellen haben sich auf fünf bis zehn Autos reduziert. In den großen Supermärkten gibt es vereinzelte Lücken bei den Frischwaren wie Fleisch oder Gemüse, aber von einer Krise kann keine Rede sein. Und die – jährlich von starken Überschwemmungen der Straßen geprüften – Recifenses nehmen den Streik denkbar gelassen. „Wir machen sowieso einmal im Monat einen Großeinkauf, Obst und Gemüse kaufen wir alle vierzehn Tage“, sagt Kilsa Oliveira, die in einem Friseursalon arbeitet. „Da hat es uns an nichts gefehlt. Und mein Bus ist immer voll, das war nichts Neues.“ So oder so ähnlich klingt das bei fast allen, die den Streik beschreiben. Stärker als die Privatleute haben die Blockaden allerdings das Gewerbe getroffen, auch Restaurants sind auf tägliche Lieferungen angewiesen. Aber auch hier galt: Im Ernstfall wurde einfach die Speisekarte umgeschrieben. Am schwierigsten war die Versorgung mit Benzin, drei bis vier Stunden zu warten und dann nicht einmal volltanken zu können – eine echte Geduldsprobe. Andere stiegen auf Öffentliche um, deren Verkehr in vielen Städten eingeschränkt weiter funktionierte. So fuhr in São Paulo immerhin jeder zweite Bus. Da viele Taxis Hybridmotoren haben, konnten sie Gas oder Alkohol als alternativen Treibstoff nutzen. Deshalb empört sich Taxifahrer Sandro Manga auch eher über diejenigen, die versuchten, aus dem Streik Geld zu schlagen, als über die Lkw-Fahrer*innen: „Das Benzin für neun Reai und 90 Centavos (2,27 Euro) zu verkaufen, das ist unverschämt. Die versuchten, auf unsere Kosten reich zu werden. Aber sie werden eine sehr hohe Strafe von 150.000 Reais erhalten, was ich ihnen wirklich gönne!“

Betroffen waren auch Universitäten und Schulen. „Wir mussten unsere Kurse für zehn Tage aussetzen“, erzählt Fatima Silva, die in Recife als Dozentin an einer Fakultät für Mode und Design arbeitet: „In den Außenbezirken fuhren kaum Busse, so dass viele Studierende gar nicht kommen konnten. Erst am vierten Juni konnten wir den Unterricht wieder aufnehmen.“

Doch auch wenn das Katastrophenszenario eher medial erzeugt war: Die selbständigen Fuhrunternehmer*innen haben mit ihrer zehntägigen Blockade-Aktion der Regierung Temer ihre erste große innenpolitische Niederlage beschert. Neben einer Senkung des Preises für Diesel – dieser ist in den vergangenen zwölf Monaten um fast 20 Prozent gestiegen – forderten sie eine Steuerbefreiung des Treibstoffs sowie eine festgelegte Untergrenze für Frachtgebühren. Und sie hatten Erfolg, denn nach nur wenigen Verhandlungstagen ist die Regierung eingeknickt, um die Straßen wieder frei zu bekommen und eine Ausweitung der Proteste zu verhindern.
Auch erhielten die Lkw-Fahrer*innen für ihre Blockaden durchaus Unterstützung von der Bevölkerung, selbst in armen ländlichen Gebieten im Sertão wurden sie tagelang mit Essen und Getränken versorgt. Schwerer tat sich die traditionelle Linke mit der Unterstützung. Da die meisten der streikenden Fahrer*innen zumindest offiziell selbständig sind, gehören sie nach Einschätzung der Linken eher zu den zu bekämpfenden Unternehmer*innen denn zur arbeitenden Klasse. Hinzu kommt, dass Teile der Fuhrunternehmer*innen nach dem Streik auf einer Demonstration in São Paulo den Eingriff der Militärs („Intervenção Militar“) in die brasilianische Innenpolitik forderten. Doch die Blockierenden sind nicht mehrheitlich den Rechten zuzuordnen; die vielen aus den Blockaden in den sozialen Medien veröffentlichen Videos und Interviews zeigen deutlich mehr Stellungnahmen zugunsten der Freilassung des ehemaligen Präsidenten Lula und mit Zuspruch für dessen Arbeiterpartei PT.

Aufgegriffen wurden die Proteste von der Gewerkschaft der Raffinerie-Arbeiter*innen, FUP. Diese erklärte einen Warnstreik von 72 Stunden ab dem 30. Mai und forderte eine erneute staatliche Regulierung der Preise für Benzin, Diesel und Gas sowie das Ende der täglichen Anpassungen an den Weltmarktpreis – was die große Mehrheit der Bevölkerung sicher aufs Wärmste begrüßen würde. Weiter ein Ende der Privatisierung des halbstaatlichen Mineralölunternehmens Petrobras und eine erneute Erhöhung der Produktion in den Raffinerien, um den auf 20 Prozent gestiegenen Marktanteil an internationalen Erdölderivaten wieder zu senken. Außerdem forderten sie den sofortigen Rücktritt des Direktors der Petrobras, Pedro Parente, der im Auftrag der Regierung Temer die Preisregelungen außer Kraft gesetzt hatte. Zumindest die letzte Forderung wurde schnell erfüllt, Pedro Parente ist bereits zurückgetreten. Bis zum Ende des Monats will die FUP entscheiden, ob weitere Streiks folgen sollen.

Ein weiteres Zugeständnis der Regierung ist die Senkung des Preises für den Liter Diesel um 0,46 Centavos, allerdings verkaufen bisher nur wenige Tankstellen Diesel zu diesem Preis. Denn, wie es die Folha de São Paulo formuliert, „das Dekret des Präsidenten verfügt den Preisnachlass durch die Raffinerien. Von den Raffinerien bis zu den Tankstellen bestimmen freie Verhandlungen den Preis. Es stellt sich die Frage, ob die Aktionen der Regierung an den Zapfsäulen verfassungsgemäß sind.“ Die teilweise Steuerbefreiung des Treibstoffs – insgesamt werden fünf verschiedene Formen von Steuern für Union und Bundesstaaten erhoben, die u.a. für den Straßenbau eingesetzt werden – sorgen für Unmut bei den Landesregierungen. Und die neuen Untergrenzen für Frachtgut rufen die Unternehmerverbände auf den Plan. Der Unternehmerverband von São Paulo, FIESP, hat bereits mit einer Klagewelle gedroht. So wird seit dem Ende des Streiks nachverhandelt und jeden Tag eine neue Lösung für die Einhaltung der Zusagen diskutiert.

Bereits am 30. Mai veröffentlichte die Regierung Temer das Präsidialdekret 839, eine 35 Seiten lange Liste mit Streichungen von finanziellen Mitteln in Regierungsprogrammen und Subventionen. Mehr als 1,2 Milliarden Reais (270 Millionen Euro) werden u.a. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Förderung von Frauen und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gestrichen. Der größere Teil der Budgetkürzungen, 12,1 Milliarden Reais, betrifft allerdings bisherige Subventionen, darunter in der Getränkeindustrie. Die Liste mit Kürzungen war bereits seit längerem erwartet worden, denn seit dem Oktober 2016 sind die Ausgaben für staatliche Sozialprogramme für 20 Jahre „eingefroren“. Die versprochene Preissenkung für Diesel muss daher durch weitere Kürzungen finanziert werden – oder wie es der Blogger Leonardo Sakamoto formulierte: „Und die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Würde werden zu Diesel.“

DAS FASS IST ÜBERGELAUFEN

Was mit friedlichem Protest gegen eine Sozialreform begann, breitete sich zu einem landesweiten Feuer gegen die Repression des Präsi­denten Daniel Ortega und seiner Vizepräsidentin und Ehegattin Rosario Murillo aus. „Die Reform war das Zündholz, das auf eine seit vielen Jahren ausgetrocknete Wiese geschleudert, die Lunte eines Cocktails entzündete“, sagt Mónica Baltodano. Die Direktorin der Stiftung Popol Na kämpfte in der nicaraguanischen Revolution als Guerillera gegen die Diktatur Somozas und ist heute regierungskritische Sandinistin.

Die Regierung verkündete Mitte April unvermittelt eine Reform, die die Beiträge für die Rentenversicherung für die Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen erhöhen sollte. Gleichzeitig sollten die Renten um fünf Prozent gekürzt werden. Eine solche Erhöhung würde Arbeiter*innen, Rentner*innen, aber auch kleine Unternehmen hart treffen. Daraufhin gingen Rentner*innen und solidarische Studierende auf die Straße. Die Polizei und regierungstreue Banden der Sandinistischen Jugend griffen die friedliche Demonstration am 18. April an. Die Bilder der verletzten jungen und alten Menschen und das Ausmaß der Repression entfachten zum ersten Mal, seit Ortega 2006 wieder zum Präsidenten gewählt wurde, einen landesweiten Aufstand der Bevölkerung. „Diese Reform war der Zünder für eine Akkumulation ungerechter und unmenschlicher Aktionen sowie der Untätigkeit der Regierung. Das Volk ist dessen leid, das Volk hat sich erhoben“, sagt der 24-jährige Student aus Chinandega, Yosman Alvarado.

Dabei ist die Repression vom 18. April kein Einzelfall. Im November 2017 verübte das Militär ein Massaker in der Gemeinde San Pablo in La Cruz de Río Grande mit sechs Toten, NGOs und Menschenrechtsorganisationen werden durch institutionelle Repression in ihrer Arbeit eingeschränkt; statt Korruption zu ahnden, schützt die Regierung Amtsträger wie Roberto Rivas, Präsident des Obersten Wahlrats, und der Familienclan Ortega bereichert sich selbst. Auch das Sozialversicherungsinstitut INSS diente der Bereicherung der Regierung und sollte nun mittels der Reform gerettet werden. Bei den nationalen und regionalen Wahlen sicherte sich die Regierungspartei FSLN durch Wahlbetrug die alleinige politische Macht, wogegen es bereits seit langem Unmut gibt.

Die künstlichen Bäume wurden von wütenden Menschen gefällt.

Seit Jahren protestieren soziale Bewegungen gegen den Ausverkauf des Landes und die Vergabe von Konzessionen zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. In vier Jahren organisierte die Anti-Kanal-Bewegung fast 100 Protestmärsche gegen das Gesetz 840 und erlitt dabei immer wieder Polizeigewalt (s. LN 525). Anfang April brannte nun das Biosphärenreservat Indio-Maíz tagelang, ohne dass die Regierung etwas unternahm.

Aufgrund der Sozialprogramme der Regierung ging es vielen Menschen in den vergangenen Jahren besser, was Ortega die Unterstützung sicherte. Doch Nicaragua ist weiterhin das zweitärmste Land Lateinamerikas. Die assistenzialistischen Programme hätten der Bevölkerung Brotkrümel gegeben, während die Konzentration des Reichtums zugenommen habe, beklagt Mónica Baltodano, Direktorin der Stiftung Popol Na. „Diese Sozialprogramme werden eingestellt werden, da sie künstlich durch die Hilfe Venezuelas aufrecht erhalten wurden. Das Geld ging ohne staatliche Kontrolle an die Präsidentenfamilie. Das heißt, die Armutsreduktion, mit der sie sich öffentlich rühmen, ist nicht nachhaltig, weil sie nicht auf strukturellen Veränderungen beruht“, so Baltodano. Kritiker*innen weisen seit geraumer Zeit darauf hin, dass das Wegfallen der venezolanischen Unterstützung das Land vor große Problem stellen wird.

Der jetzige Protest kostete über 30 Menschen das Leben, nach Angaben von Menschenrechtsgruppen CPDH, CENIDH und ANPDH könnten es bis zu 63 sein. Darunter ein Journalist aus Bluefields und viele, zum Teil noch minderjährige, Studierende und Arbeiter*innen. Bei der Polizei gab es ein Opfer. Auch Paramilitärs und Anhänger*innen der Regierung verletzten Dutzende. Mehr als 200 Personen werden vermisst und mindestens 60 wurden inhaftiert.

Erfolgreicher Protest Teile der Reform musste Ortega zurücknehmen (Foto: Jorge Mejía)

Somit ist das Ende der Gewalt eine der zentralen Forderungen der Protestierenden. Außerdem fordern sie den Rücktritt der Polizeiführung, die Freilassung der Gefangenen, eine unabhängige Aufklärung der Gewalttaten und die Wiederherstellung elementarer Menschenrechte, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Auch die Zensur und Abschaltung der Medien solle aufhören. Der Student Alvarado fordert: „Wir wollen die Diktatur nicht mehr länger! Wir fordern den sofortigen Rücktritt Ortegas und Murillos sowie ihrer korrupten Gefolgschaft. Dem müssen demokratische, freie und transparente Wahlen folgen.“ Die Studierenden fordern mit ihrem Protest auch autonome Universitäten, da diese von der Regierung vereinnahmt und kontrolliert werden.

Ortega versuchte in seinen Ansprachen die Demonstrant*innen als „kriminelle rechte Gruppen“ zu denunzieren, die mit Hilfe finanzieller Mittel aus den USA das Land destabilisieren wollten.

Tatsächlich handelt es sich bei den Menschen, die ihre Rechte einfordern, um Arbeiter*innen, Studierende, die ländliche Bevölkerung, eine breite gesellschaftliche Kraft. „Die mobilisierten Kräfte stammen aus allen politischen Richtungen. Es gibt Sandinisten, Liberale, Konser­vative und der größte Teil sind die ohne Partei­zugehörigkeit“, beschreibt Baltodano. Treibende Kraft der Proteste waren zunächst die Student*innen. Anfang April organisierten sich noch vor allem politisierte, jedoch parteiunabhängige und umweltbewusste Studierende in Reaktion auf den Brand in Indío-Maiz. Umwelt­organisationen gehen von Brandstiftung durch sogenannte Kolonisator*innen aus. Landesweit rücken diese in indigene Territorien und Naturschutzgebiete vor und weiten die Agrargrenze aus. Die Studierenden klagten die Komplizenschaft der Regierung an. Bereits hier schützte die Polizei die Sandinistische Jugend bei Gewalttaten gegen die Demonstrierenden. Als Ortega Mitte April die Reform verkündete, waren es vor allem Studierende, die auf die Straße gingen. Neben den Studierenden und Renter*innen richtete sich die Polizeigewalt auch direkt gegen Journalist*innen und Personen, die offen ihre Zugehörigkeit zu sozialen Bewegungen, wie der feministischen, zeigten. In den darauffolgenden Tagen breitete sich der Protest dann nicht nur territorial, sondern auch in der gesellschaftlichen Breite aus.

In vielen Universitäten wurde der Protest mit staatlicher Gewalt zerschlagen. „Aber in der UPOLI, die in den barrios populares Managuas liegt, errichtete die Bevölkerung Barrikaden, um die Studierenden zu schützen, die in die Universität flüchteten und sie bis heute als Bastion des politischen Kampfes halten“, beschreibt Baltodano. Angesichts der Gewalt schildern viele ihre Angst. Sie wollen sich durch die Repression jedoch nicht einschüchtern lassen und protestieren trotzdem. „Die Repression provozierte eine solche Empörung, dass die Menschen die Angst verloren und die Macht der Mobilisierung spürten“, sagt Baltodano. Die kollektive Erfahrung der Revolution ist ein Motor. Die jungen Menschen, die die Diktatur Somozas, die Revolution und den Krieg gegen die Contras in den 1980er Jahren nicht miterlebt haben, sehen sich zum Teil dennoch in der Tradition, die Rechte der Bevölkerung zu verteidigen.

“Wir fordern den Rücktritt Ortegas und Murillos sowie freie und transparente Wahlen.”

In Gesprächen mit Personen aus der feministischen Bewegung wird deutlich, dass insbesondere die nicht so sichtbare Repression viel Angst verbreitet. Schlägertrupps der Sandinistischen Jugend sind auf den Straßen, die Ministerien statten kritischen nicaraguanischen Organisationen Besuche ab und suchen nach Wegen, sie zu schließen. Ein riesiges Problem stellt die Zensur von Medien und die Verbreitung von Falschmeldungen dar. Die wenigen unabhängigen Medien, die es noch gibt, wurden nach Ausbruch der Proteste massiv angegriffen. Die sozialen Medien spielen deshalb eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung der Protestereignisse. Es herrscht Misstrauen, wo offen gesprochen werden kann und welchen Informationen zu trauen ist.

Der Widerstand begann spontan und unorganisiert. Was ihm Stärke gibt, ist die Einheit der verschiedensten sozialen Bewegungen und Sektoren. Bewusst gehen die Menschen in den Nationalfarben blau und weiß auf die Straße, wie bei den Demonstrationen am 23. April. Auf der zentralen Demonstration in Managua, dem „Marsch für den Frieden“ skandierten die Menschen „Weg mit Ortega“ und „Das vereinte Volk wird niemals besiegt“.

Dadurch, dass die Proteste nicht von einer Gruppe oder Partei angeführt werden, gibt es allerdings keine gemeinsame Ausrichtung. Auch die katholische Kirche mobilisiert und Gläubige wünschen sich vor allem eine friedliche Lösung. Viele fordern, dass als erste Bedingung für einen Dialog die Regierung zurücktreten und die Gewalt von unabhängigen (internationalen) Organen aufgeklärt werden müsse. Einige wollen eine Erneuerung des Sandinismus. Für andere ist der Sandinismus durch Ortegas Vereinnahmung inzwischen zu sehr mit rechter Politik besetzt. Ortega und Murillo lenkten inzwischen zu einem von der katholischen Kirche moderierten Dialog ein. Nach Tagen des Protests nahm Ortega die Sozialreform vorerst zurück. In einem Dialog mit dem COSEP, einem Interessenverband der Privatwirtschaft, sollte über die Reform gesprochen werden. Die sozialen Bewegungen erwirkten eine personelle und thematische Öffnung des Dialogs. Zum jetzigen Zeitpunkt ist unklar, wer unter welchen Bedingungen an diesem Dialog teilnimmt. Baltodano hofft, dass nicht nur Gesichter in der Regierung ausgetauscht werden und das kapitalistische Modell fortgeführt wird, sondern dass sich eine kritische Masse organisiert und die Nicaraguaner*innen den Wandel, „ein anderes Gesellschaftsmodell“, selbst bestimmen.

In einer öffentlichen Stellungnahme vom 27. April formuliert die nationale Bewegung der Frauen und Feministinnen Nicaraguas Bedingungen und Ziele für den Dialog und fordert: „Nieder mit der Diktatur! Beendigung der Repression und des Staatsterrors!“

„DER DRUCK MUSS VON DER STRAßE KOMMEN“

Immer wieder gibt es Berichte über Diffamierungskampangen und Repression der nicaraguanischen Opposition durch die Regierung. Die Methoden scheinen aber eher subtil zu sein, als offen gewalttätig – gerade im Vergleich zu den nördlichen Nachbarländern. Wie ist die aktuelle Situation der Opposition?

In Nicaragua gibt es eine Art von Repression, die sich eher auf ökonomischer Ebene abspielt. Ich habe schon vor Jahren meine Arbeit an der Universität verloren, weil ich in der Opposition aktiv bin. Vielen anderen ist dasselbe passiert. Wenn man im öffentlichen Dienst arbeitet und sich kritisch zu Ortega äußert, kann das die Kündigung zur Folge haben. Aber auch in der Privatwirtschaft können Vorgesetzte Probleme bekommen, wenn sie Oppositionelle beschäftigen. Und wenn du selbständig bist und dich kritisch äußerst, besucht dich die Polizei, die Finanzbehörde, um dich in Schwierigkeiten zu bringen. Aktuell gab es ein Verfahren gegen Ernesto Cardenal, infolgedessen wurde er zu hohen Strafzahlungen verurteilt. Das Ganze ist offensichtlich politisch motiviert, weil er in der sandinistischen Opposition aktiv ist.
Aber es gibt auch offene Repression. In abgelegenen ländlichen Gebieten im Norden des Landes werden regelmäßig Menschen ermordet.
Ein weiteres Problem ist die grassierende Gewalt gegen Frauen. Morde an Frauen und Mädchen bleiben straflos, viele sterben, da der therapeutische Schwangerschaftsabbruch verboten ist.. Das ist eine stille Gewalt, die in den nicaraguanischen Medien nicht thematisiert wird, geschweige denn internationale Aufmerksamkeit erfährt. Für uns ist aber klar, dass uns die Repression und Gewalt nicht zum Schweigen bringen werden.

Gibt es in der Frauenbewegung Erfolge, die erzielt wurden, trotz der derzeit schwierigen Bedingungen?

Die Frauenbewegung hat keine Angst vor den Mächtigen. Die Erfolge der letzten 50 Jahre für uns Frauen hat uns keine der Regierungen geschenkt, wir mussten uns alles erstreiten. Im Moment ist die Situation für Frauen tatsächlich schwierig. Ortega hat mit der Katholischen Kirche paktiert und ein totales Abtreibungsverbot durchgesetzt, er hat seine Stieftochter vergewaltigt. Und die derzeitige Vizepräsidentin Rosario Murillo, ihre Mutter, hat sich schützend vor ihren Mann gestellt – und nicht vor ihre vergewaltigte Tochter. Von ihnen ist also nichts Positives zu erwarten. Im Moment ist die häufigste Todesursache für Mädchen und Frauen zwischen 15 und 40 Jahren, dass sie von einer ihr nahestehenden Person ermordet werden. Von ihrem Mann, Ex-Freund, Vater. Und der Staat schützt uns Frauen nicht.
Die Forderungen der Frauenbewegung waren und sind zentral und werden es auch sein, wenn es darum geht, die Demokratie in Nicaragua wieder herzustellen. Nicht nur für Frauen, sondern für alle Nicaraguaner*innen.

Ein sehr kontrovers diskutiertes Thema ist der geplante Bau des Interozeanischen Kanals. Nach einem medienwirksamen Spatenstich ist nicht mehr viel passiert. Was ist der Stand der Dinge, haben die Bauarbeiten inzwischen tatsächlich begonnen?

Nein. Und das ist der bäuerlichen Bewegung gegen den Kanalbau zu verdanken, die wichtige Siege errungen hat. Diese Mobilisierung ist übrigens die größte seit der Revolution. Durch ihren Protest konnte etwa die Konfiszierung des Landes gestoppt werden. Und inzwischen gibt es in den Medien kritische Debatten. Das war auch ein Grund, warum sich so wenige potenzielle Investoren gefunden haben, die in ein Phantom-Projekt investieren wollten. Es fehlen noch Studien zur finanziellen Machbarkeit und die Frage stellt sich, wie sinnvoll ein Kanalbau ist, wenn gerade der Panamakanal ausgebaut wurde. Das Kanalgesetz hat allerdings noch immer Gültigkeit. Und das ist sehr gefährlich. In diesem Gesetz steht nämlich, dass unabhängig vom Kanalbau Land enteignet werden kann, um andere Projekte zu realisieren. Das können Bergbau-, Tourismus-, Hafenprojekte sein, der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Die einzige Möglichkeit, das Gesetz abzuschaffen, ist, Daniel Ortega von der Macht zu vertreiben. Und dafür brauchen wir eine breite Mobilisierung der Gesellschaft. Das ist die große Herausforderung derzeit in Nicaragua.

Im November 2016 fanden Präsidentschaftswahlen in Nicaragua statt. Wie zu erwarten gewann Daniel Ortega zum dritten Mal, mit mehr als 70 Prozent der Stimmen. Überschattet wurden die Wahlen durch Betrugsvorwürfe. Was ist dort passiert?

Es war nicht der erste Wahlbetrug, den Ortega begangen hat. Bereits seit 2006 kam es immer wieder zu Unregelmäßigkeiten. Im Vorfeld der Wahlen von 2016 verbot Ortega allen Oppositionsparteien teilzunehmen und untersagte auch die Anwesenheit internationaler Wahlbeobachter*innen. Nur Parteien, die mit ihm paktieren, waren zugelassen. Deswegen war es nicht nur Wahlbetrug, sondern auch eine Wahlfarce, denn es gab nichts zu wählen. Die Situation ist aber nicht neu. Meine Partei, die MRS etwa, kann schon seit 2008 nicht mehr antretem, weil ihr der Parteistatus entzogen wurde. Wir konnten bis 2016 nur noch in gemeinsamen Bündnissen antreten. Das ist nun auch vorbei.

Ortega hat die Demokratie demontiert und baut seine Macht immer weiter aus. Trotzdem scheint er noch immer eine große Unterstützung im Volk zu genießen. Wie gelingt ihm das?

Ortega hat keine wirkliche Unterstützung im Volk, diese Basis gibt es nicht. Weder die große Mehrheit der Nicaraguaner*innen, noch viele Parteiangehörige der FSLN waren mit dem offensichtlichen Wahlbetrug einverstanden. Sie sind nicht damit einverstanden, dass sie keine Wahl haben, sie wollen nicht unter einem autoritären Regime leben. Ortega hat die Situation der armen Bevölkerung nicht verbessert, noch immer gehört Nicaragua zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas. Die Investitionen in Bildung und Gesundheit sind so niedrig wie zu Zeiten der früheren Regierungen. Zu Beginn seiner Amtszeit konnten Dank des Geldes aus Venezuela einige Sozialprogramme finanziert werden, aber sie kamen vor allem seinen Gefolgsleuten zugute.
Deshalb hat er auch keine wirkliche Basis im Volk, sonst hätte es auch keine Notwendigkeit für den Wahlbetrug gegeben. Hätte er tatsächlich die Zustimmung, die er für sich reklamiert, hätte er ohne Probleme freie Wahlen abhalten können. Er weiß aber, dass er die Basis nicht hat, deshalb musste er die Wahl manipulieren. Ortega repräsentiert nicht die Interessen der Armen, er repräsentiert die Interessen der Unternehmen.

Die Nähe zu den Unternehmen passt zwar nicht zu seiner revolutionären Rhetorik, deckt sich aber mit seiner wirtschaftspolitischen Ausrichtung Nicaraguas.
Die wirtschaftliche Ausrichtung des Landes hat sich seit der Machtübernahme von Ortega im Vergleich zu den neoliberalen Vorgängerregierungen nicht geändert. Darin war er so erfolgreich, dass der IWF Nicaragua sogar offen gelobt hat für die vorbildliche Wirtschaftspolitik.
Die Chance, strukturelle und tiefgreifende Verbesserungen für die Armen zu erreichen, wurde verpasst. Es gibt in Nicaragua noch immer Gegenden, wo Menschen hungern. Im Land existiert weder ein politisches Programm, das die Armut strukturell bekämpft, noch eine nachhaltige Umweltpolitik.

Ist die Straße im Moment der einzige Ort, wo sich die Opposition noch Gehör verschaffen kann?

Die parteipolitische Opposition innerhalb des Nationalkongresses ist im Moment nicht möglich. Der Druck muss von der Straße kommen, wir müssen uns mobilisieren und echte und freie Wahlen fordern. Da sind nicht nur die oppositionellen Parteien gefordert, sondern auch die sozialen Bewegungen und einzelne Menschen, die sich keiner Bewegung zugehörig fühlen.

Für viele war Nicaragua seit er Revolution 1979 nicht nur Projektionsfläche für eine bessere Welt, sondern auch der reale Ort für den Kampf um eine gerechtere Gesellschaft. Ist trotzdem noch etwas übriggeblieben von der Revolution?

Die Politik Daniel Ortegas hat heute nichts mehr mit der Revolution zu tun. Seine revolutionäre Rhetorik sind nur leere Worthülsen. Aber alle Nicaraguaner*innen wurden durch die Revolution geprägt. Das Land hat sich durch die Revolution grundlegend verändert. Viele haben Lesen und Schreiben gelernt und zu Zeiten der Revolution gab es die modernsten Frauengesetze. Das vielleicht Wichtigste, was wir gelernt haben, ist, dass wir Rechte haben und dass wir ein Recht darauf haben, in einem Land zu leben, das unsere Rechte garantiert. Dieses Recht müssen wir uns jetzt wieder erkämpfen. Während der Revolution haben wir auch gelernt, dass wir in der Lage dazu sind, einen Diktator zu verjagen. Wir haben es bereits einmal bewiesen. Doch diesmal wollen wir keine Waffen nutzen, wir brauchen eine breite Mobilisierung und demokratische Formen. Und das wird auf der Straße beginnen.

 

EIN SONNTAG WIE JEDER ANDERE

Es ist der sechste November, Präsidentschaftswahlen in Nicaragua: Die Straßen Nueva Guineas, der kleinen Bauernprovinz im Osten des Landes, sind wie jeden Sonntag nahezu leer gefegt. Am Morgen sieht man hier und da fein angezogene Menschen auf dem Weg zum Gottesdienst. Man verbringt den Tag zu Hause, lässt die Woche gemütlich im Kreise der Familie ausklingen, erledigt Hausarbeiten. Zur Wahl gehen? Lohnt nicht des Gangs; das Ergebnis ist schon lange bekannt.
Und wenige Tage später ist es dann Gewissheit. Der 70-jährige Ex-Guerillero Daniel Ortega wird seine dritte Amtszeit in Folge antreten: gewählt mit 71,3Prozent der Stimmen. Die eigentliche Nachricht ist eine andere. Die Wahlbeteiligung ist mit knapp über 65 Prozent eine der niedrigsten seit Jahrzehnten – und das selbst nach den offiziellen Zahlen des Wahlrates. Ob diese stimmen, darf angezweifelt werden. Die Wahllokale waren in den meisten Teilen des Landes ebenso leer wie in Nueva Guinea, das konnten selbst die staatlichen Medien nicht verbergen. Wie viele der 3,8 Millionen Wahlberechtigten wirklich ihre Stimme abgegeben haben, bleibt ungewiss; die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien schätzten gerade einmal 28 Prozent.

Revolutionsmüdes Nicaragua: Zur Wahl gehen lohnt sich nicht (Foto: Hermann Kuemmel)

Es scheint, als habe die Opposition, die im Vorhinein von den Wahlen ausgeschlossen worden war (s. LN 507/508), mit der Kampagne “¡No hay por quien – ni para que – votar! – es gibt niemanden und für nichts zu wählen!” Erfolg gehabt.
Dabei hatte die Regierung die Anzahl der Wahlurnen gekürzt, sodass sich Schlangen vor den Lokalen bilden würden. Nicht einmal dafür reichte die Beteiligung. Internationale Beobachter*innen wurden von der Wahl verbannt. Verschiedene Organisationen allerdings, unter anderem  der einzige regierungskritische Fernsehkanal Kanal 12 schickte eigene „Wahlbeobachter“ ins Rennen, die versuchten, verdeckt mit Fotos und Videos vom Geschehen in den Wahlkammern und auf der Straße zu berichten.
„Man gab mir 200 Córdoba für Benzin, damit ich den Tag durch die Stadt fahren kann. Mein Bruder wurde gebeten, reinzugehen und die Situation drinnen festzuhalten”, berichtet Danny Rivera, erklärter Nichtwähler und am Wahltag im Auftrag von Kanal 12 unterwegs. Er will die Farce dokumentieren.
Andere Töne schlug währenddessen Ex-Präsident Paraguays, Fernando Lugo, an, der sich zu Zeit der Wahl in Nicaragua aufhielt: „Ich kenne keine Wahl, bei der man mit einer Wahlbeteiligung von 100 Prozent rechnet. Wir sehen, die Wahlen in Nicaragua sind demokratisch und legitim. Sechs Kandidaten zur Präsidentschaft, das spricht von einer pluralistischen Demokratie.” Lugo bezog sich auf die verbliebenen Parteien, die allesamt mit Ortega paktieren.
Was Lugo nicht sieht, ist offensichtlich: Die Demokratie in Nicaragua scheint schwer angeschlagen. Dabei war es sogar ein Erfolg, dass dieses Jahr überhaupt fristgerecht gewählt wurde. Im Frühjahr machten Gerüchte die Runde, Ortega wolle gar keine Wahlen durchführen – aufgrund der Unruhen wegen des geplanten Kanals. Als sich im Mai des Wahljahres die Einleitung der Wahlkampagne des Präsidenten verzögerte, mehrten sich die Befürchtungen. Um den stockenden Kanalbau wurde es ruhiger – Wahlen fanden statt.
Und damit gibt es eine zweite Gewissheit. Der Ortega-Clan wird weiter an der Macht bleiben, Ende unabsehbar. Von Daniel Ortega heißt es, er sei mittlerweile schwer krank. Sollte er die Amtszeit nicht überstehen, übernimmt seine Frau das Ruder. Rosario Murillo ist nun Vizepräsidentin.
Damit ist das Land längst tief im Orteguismus angekommen – der einstige Sandinismus ist längst verblasst. Seit der Wahlniederlage Ortegas 1990 haben sich die meisten der alten Weggefährten abgewandt. Prominente Namen wie Ernesto Cardenal, Sergio Ramirez oder auch die Schriftstellerin Gioconda Belli.
Auch breite Bevölkerungsschichten kehrten Ortegas FSLN den Rücken. Geblieben ist eine stabile Wählerbasis von ungefähr 35 Prozent. Die Zahl ist in Nicaragua zu einem Symbol der politischen Wendigkeit Ortegas geworden.
Sein größter Schachzug war sein Pakt mit dem Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán (1997-2002). Im Jahr 1999 einigten sich die Chefs der eigentlich konkurrierenden Parteien darauf, die Posten im obersten Gericht und dem Wahlrat unter ihren Leuten aufzuteilen. Durch eine Verfassungsänderung reichten fortan eine Mehrheit von 35 Prozent der Stimmen, um das Amt des Präsidenten zu übernehmen. Im gleichen Zug wurde dem scheidenden Präsidenten ein Sitz im Parlament garantiert – damit war die Immunität gesichert, ein wichtiger Punkt für Alemán, dessen Korruption allseits bekannt war.
2006 kehrte Ortega schließlich mit 37,9 Prozent in das wichtigste Amt des Landes zurück. Seitdem hat er alle Vorkehrungen getroffen, um nicht noch einmal vom Thron gestoßen zu werden. Mit der katholischen Kirche und ihrem wichtigsten Vertreter im Land, dem Erzbischof von Managua Miguel Obando y Bravo, versöhnte sich Ortega. Für die politische Unterstützung der Kirche gab es im Gegenzug eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze des Kontinents.
Nach der umstrittenen Wahl 2011 änderte Ortegas FSLN mit einer Zweidrittelmehrheit die Verfassung, so dass die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Wahlperioden aufgehoben wurde. Ortegas Machtbasis ist noch viel weiter gestrickt. Seine Söhne Maurice, Daniel und Juan Carlos kontrollieren den staatlichen TV-Kanal 6 und mehrere Privatsender. Sein Sohn Rafael ist Vorsitzender der staatlichen Erdölgesellschaft und Laureano, ebenfalls ein Sohn des Präsidenten, leitet die Behörde ProNicaragua, über die alle ausländischen Investitionen laufen. Als Präsidentenberaterinnen fungieren die Töchter Luciana und Camila.
„Es ist, als wäre die Zeit nicht vorangeschritten; die Szenerie ist dieselbe, das was sich änderte sind die Namen der Figuren, aber das Spektakel bleibt dasselbe”, sagt Luis Sánchez Sancho, Mitglied der antiautoritären „Gruppe der 27″, die sich 1974 gegen Diktator Somoza, 2016 gegen Präsident Ortega stellen.
Für Ortegas Anhänger*innen sind stabile 4,5 Prozent Wirtschaftswachstum gute Argumente. Ebenso wie Sozialprogramme für das Land: Ortega verschenkt Traktoren oder auch mal Kühe und Schweine, darüber hinaus gewährt er billige Kredite. Günstiges Erdöl aus Venezuela, sowie Lehrer*innen und Ärzt*innen aus Kuba sichern die Macht ebenso wie die Hoffnung, dass Ortega Errungenschaften wie das kostenlose Bildungs- und Gesundheitssystem bewahren wird.
Trotzdem bleibt die soziale Ungerechtigkeit in Nicaragua enorm, mit 2.000 US-Dollar pro Kopf ist das durchschnittliche Jahreseinkommen das niedrigste Mittelamerikas.
Drei von zehn Nicaraguaner*innen sind zwischen 19 und 25 Jahre alt. Das Durchschnittsalter beträgt 22 Jahre, in Deutschland ist es doppelt so hoch. Ortegas Ehefrau Murillo wusste um das Potenzial der Jugend und gründete im Zuge ihrer Politpropaganda die Sandinistische Jugend. Ein Zentrum für Freizeitangebote, Spiel und Spaß. All das unter dem Dach und Kontrolle der amtierenden Partei. Viele Jugendliche haben keine Chance auf Bildung, müssen schon im frühen Alter Geld verdienen. Freizeit ist ein Privileg. So wird den Jugendlichen durch die Sandinistische Jugend dieser Raum geschaffen; ihnen das Gefühl gegeben, mitentscheiden zu können, eine Stimme zu haben. Zur Wahl zu gehen. Dazu unterhält Ortega einen üppigen Staatsapparat, in dem die FSLN-Mitgliedschaft einen Karrierevorteil bedeuten kann.
In vielen Teilen der Bevölkerung wiederum herrscht Resignation. “Wenn Gott will” und “Was sollen wir schon tun” sind die Credos eines revolutionsmüden Nicaraguas. Und trotzdem hob Ortega nach der Wahl hervor, dass diese „ohne Hass, ohne Konfrontation und ohne Tote“ von Statten gegangen sei.
Doch unter der Fassade brodelt es. Gerüchte nehmen in einer Gesellschaft, in der große Teile der Medien gleichgeschaltet sind, an Bedeutung zu. In den Wochen der Kampagne vor der Wahl haben viele Menschen ihren Pass erneuern lassen, um bei einer Eskalation schnellstmöglich nach Costa Rica zu desertieren, heißt es.  Schon länger machen unbestätigte Nachrichten von organisierten und bewaffneten Bauernaufständen, die sich in den beiden östlichen Regionen gegen den Kanalbau formieren, die Runde.
Ein weiterer Machtfaktor Ortegas droht zu kippen. Seit dem Tod von Obando wendet sich die katholische Kirche der Opposition zu. Teile der Bischofskonferenz riefen ebenfalls zum Wahlboykott auf. Die von Intellektuellen getragene ortegakritische Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) scheint langsam aus ihrer Schattenexistenz hervorzutreten. Auch die USA wendeten sich vor der Wahl von Ortega ab, der Kongress beschloss den NicaAct, um die Kreditvergabe für Ortegas Nicaragua zu blockieren.
In den Tagen nach der Wahl blieb es ruhig in Nicaragua. Ganz im Sinne von Daniel Ortega. Der alte Revolutionär hat eine neue Domäne: Der politische Stillstand.

DER EWIGE ORTEGA

„Es gibt niemanden, den man wählen könnte“, stand auf dem Zettel, den Mitglieder der Gruppe der 27 auf der Pressekonferenz am 9. August in Managua in die Kameras hielten. Der demokratische Raum sei von den Regierenden geschlossen worden, kritisierte Fabio Gadea Mantilla. Er ist einer der Sprecher der Gruppe der 27 und scheiterte bei den letzten Präsidentschaftswahlen als Gegenkandidat von Daniel Ortega, der grauen Eminenz der Sandinisten*innen. Er zieht im Hintergrund die Fäden und sorgt dafür, dass der Opposition in Nicaragua die Luft zum Atmen fehlt.
Die Wahlen seien nur eine Maske, mit der eine Diktatur verschleiert werde, hieß es bei der Pressekonferenz der 27. Dieser gehören auch der Befreiungstheologe, Sandinist und Dichter Ernesto Cardenal sowie die populäre Schriftstellerin Gioconda Belli an. Letztere warnte vor der Zentralisierung der Macht in den Händen von Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo. Das Paar stehe der Regierung vor, als seien sie von Gott gesalbt um an der Macht zu bleiben, kritisiert die 67-Jährige, die einst selbst in der sandinistischen Guerilla gekämpft hat und Ortega entsprechend lange kennt.
Ortega war einer von damals neun Comandantes der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN). Diese prägt seit dem 19. Juli 1979, seit dem Sieg der Revolution über den seit 1934 regierenden Somoza-Clan, das Land. Bereits 1984 wurde Ortega als erster Präsident nach dem Sturz der Somoza-Diktatur gewählt. Er scheiterte dann jedoch in den Wahlen vom Februar 1990 an der konservativen Kandidatin Violeta Chamorro. Das Land war kriegsmüde und vom Terror der von den Vereinigten Staaten unterstützten Contra-Guerilla zerrüttet. Nach der Wahl Chamorros kandidierte Ortega in den folgenden Jahren immer wieder für das höchste Staatsamt – ohne Erfolg. Erst 2006 schaffte er es wieder in den Präsident*innenpalast einzuziehen, dank eines Bündnisses mit dem korrupten Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán von der Liberalen Partei. Seitdem regiert der heute 70-jährige Ortega das Land gemeinsam mit seiner 65-jährigen Frau Rosario Murillo. Sie ist Sprecherin der Regierung, Ministerin und de facto das Gesicht der Macht. Bei der Wahl vom 10. November kandidiert die durchsetzungsstarke Murillo als Vizepräsidentin. Ortegas Kritiker*innen sehen deshalb eine neue Familiendynastie aufziehen.
Ortega sei dabei, so Fabio Gadea Mantilla, ein Einparteien-Regime mit dynastischen Zügen zu errichten. „Illegitim“ seien die anstehenden Wahlen, denn die Opposition sei „praktisch ausgesperrt“, kritisierte Carlos Tunnermann, ein weiterer aus der Gruppe der 27. Daran lässt sich kaum rütteln, denn in den vergangenen Jahren wurden die oppositionellen Parteien nach und nach mundtot gemacht. Erst wurde die vom ehemaligen Vizepräsident Sergio Ramírez mitgegründete Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) unter einem fadenscheinigen Vorwand für aufgelöst erklärt. Seitdem tritt die MRS als Teil der Allianz der nationalen Koalition für die Demokratie an, der als größte Partei die Liberale Partei (PLI) vorsteht. Doch auch die ist nun kaum mehr handlungsfähig: Denn im Juni hat der Oberste Gerichtshof einen Streit um die parteiinterne Vorherrschaft zugunsten des Ortega nahestehenden Pedro Reyes entschieden. Dagegen liefen die 16 Anhänger*innen des Parteivorsitzenden Eduardo Montealegre Sturm und wurden auf Anordnung des Obersten Wahlrats aus dem Parlament geworfen.
Dort verfügt die PLI über 24 Sitze, die absolute Mehrheit hat mit 64 der 90 Sitze aber die FSNL von Daniel Ortega. Daran wird sich Umfragen zufolge nichts ändern, denn Ortega führt sie mit 64 Prozent der Stimmen an und sollte der 70-Jährige, dem eine angegriffene Gesundheit nachgesagt wird, die Legislaturperiode nicht durchhalten, stünde seine Frau und Vizepräsidentin zur Stelle. Die ist in den letzten Jahren zu mehr als einer Präsidentengattin geworden und gilt vielen Oppositionellen als diejenige, die den Ton in der Regierung und der FSLN angibt. Die Partei stellt sechs der sieben Posten im Parlamentsvorsitz und auch die Justiz und der oberste Wahlrat gelten als Ortega-treu. Alles Gründe, weshalb nicht nur die Gruppe der 27 von einer Wahlfarce spricht.
Anfang September gab nun der frühere Außenminister und ehemalige Vorsitzende der Liberalen Partei, Eduardo Montealegre, bekannt, dass er sich aus der Politik zurückzieht. Folglich steht die Opposition ohne echten Kandidaten da, wodurch sich der Eindruck einer Wahlfarce verstärkt. Dazu passt, dass internationale Wahlbeobachter*innen ausdrücklich nicht erwünscht sind, wenn die rund 3,5 Millionen Wahlberechtigten am 10. November zu den Urnen schreiten. Das gilt mehr oder weniger auch für Pressevertreter*innen: Kritische Berichterstattung über den Nicaragua-Kanal ist genauso wenig erwünscht wie über die politischen Strukturen des Landes oder gar die Abläufe in der FSLN. „Für Ortega ist wichtig, dass alles den Anschein der Legitimität erweckt“, erklärt Carlos Tunnermann von der Gruppe der 27. Das sei aber immer schwieriger aufrechtzuerhalten, schreibt Sergio Ramírez, Schriftsteller und der ehemalige Vizepräsident der FSLN während Ortegas erster Amtszeit. „Es gibt keine glaubwürdigen Kandidaten, keinen unabhängigen Wahlrat, […] aber eine Wahlmaschine, die mit staatlichen Ressourcen gespeist wird“, betont er auf seiner Homepage. Für Ramírez (siehe den folgenden Text im Heft) ist die Zentralisierung der Macht unter der Regie Ortegas beispiellos und mit der Zunahme der Macht sei das Regime immer intoleranter geworden. So müssten nun auch Journalist*innen mit einer Ausweisung rechnen, wenn sie über unliebsame Themen wie die Armut schreiben.

FREILAUFENDER TIGER

In Nicaragua bewegen wir uns auf Präsidentschaftswahlen zu, die keine echten sein werden. Selbstverständlich ist alles im Voraus entschieden worden, damit der Comandante Daniel Ortega sie zum dritten Mal hintereinander gewinnt. Es gibt keine glaubwürdigen Oppositionskandi­daten, denn diejenigen, die es waren, sind durch einen Beschluss des Hohen Gerichtshofs, welchen der Hohe Wahlrat am selben Tag umsetzte, von den Wahlen ausgeschlossen worden. Diese Wahlen werden ohne internationale Beobachter stattfinden, weil sie der Präsident der Republik höchstpersönlich für unerwünscht erklärt hat. Und ohne eine zumindest minimal glaubwürdige Wahlbehörde, da sie der Regierung unterworfen ist. Was in einem darüber hinaus zerrissenen institutionellen Gefüge des Landes noch bleibt, ist deren absolutem und allgegenwärtigem Willen unterworfen.
Weder gibt es aktuell, noch wird es auf den Straßen oder auf dem Fernsehbildschirm einen enthusiastischen kontrastreichen Wahlkampf geben, noch Meinungsumfragen, die Wahltendenzen zeigen, welche sich von einen Tag auf den nächsten ändern könnten, ebensowenig Debatten zwischen Kandidaten, die in der Lage wären, diese Umfragen zu beeinflussen. Kurz gesagt, all das, was heutzutage als etwas Normales in all den Ländern gilt, in denen das demokratische System gedeiht, und die Macht durch faire Wahlen entschieden wird. Die einzigen Massenkundgebungen werden die des offiziellen Kandidaten sein, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Staatsmitteln, und dahinter der Propagandaapparat der Regierungspartei, fähig die Straßen mit Fahnen und Plakaten zu überfluten,  und die unter offizieller Kontrolle stehenden Radio- und Fernsehsender mit Slogans und Spots. Praktisch eine einzige Partei, die in einem einzigartigen Raum Wahlkampf führt. Es ist was man in gutem nicaraguanischen Spanisch „Kampf des freilaufenden Tigers gegen einen gefesselten Esel“ zu nennen pflegt.
Das Land entfernt sich immer mehr von dem, was man das durchschnittliche Modell der politischen Entwicklung in Lateinamerika nennen könnte. Trotz ökonomischer Krisen, sozialer Unruhen und sogar institutioneller Ungewissheit, sind die demokratischen Wege (in den anderen Ländern) immer noch offen, und die Entscheidung der Wähler*innen wird respektiert. Und selbst im Falle sehr knapper Ergebnisse – so wie bei den vor kurzem durchgeführten Wahlen in Peru – stellt niemand die faire Zählung der Stimmen in Frage, und der Wahlbetrug scheint vom politischen Panorama verbannt zu sein.
Normal funktionierende Demokratie in Bezug auf Wahlen ist natürlich nicht alles, sie beseitigt nicht  per se die gravierenden sozialen Diskrepanzen, noch schiebt sie der Korruption einen Riegel vor, diesem wiederkehrenden Laster, das das gesamte System in Schach hält, wie man in Brasilien gesehen hat. Doch nirgendwo, außer in Nicaragua, ist die absolute Machtkonzentration die Tendenz, und die Demontage der Institutionen, bis sie in reine Dekoration umgewandelt sind, die morgen  ganz von den Bühnen verschwinden werden, weil sie nutzlos sind.
Unter diesem Konzept der absoluten Macht zeigt sich das Regime immer intoleranter, wie man es gesehen hat bei der jüngsten Ausweisung ausländischer Bürger, unter ihnen US-Amerikaner, die in unser Land kommen, um bürokratische Aufgaben oder akademische, soziale oder politische Recherchen oder journalistische Reportagen über Themen durchzuführen, die zu Tabus geworden sind – solche wie die Armut oder den großen Interozeanischen Kanal, oder einfach um sich an ökologischen Programmen in ländlichen Gemeinden zu beteiligen. Dies hat dazu geführt, dass drei Länder – Mexiko, die USA und Costa Rica – ihre Bürger vor den Risiken einer Reise nach Nicaragua öffentlich gewarnt haben.
Doch die regierende Elite fühlt sich sicher und zuversichtlich. Sie baut auf die Gunst der Umfragen, auf eine organisierte und unter Kontrolle gehaltene Basis, die durch den Staatsapparat zu den öffentlichen Plätzen und auch zu den Wahlurnen mobilisiert werden kann und auf einen effektiven und treu ergebenen repressiven Polizeiapparat. Auf der anderen Seite befindet sich die Opposition –  dezimiert oder als illegal erklärt – aber es gibt genügend „Parteien“, die bereit sind, gegen Abgeordnetensitze und andere Posten an dem Wahlspiel teilzunehmen, so wie es in Nicaragua seit Somozas Zeiten (Somoza-Diktatur 1936-1979, Anm. d. Red.) gang und gäbe gewesen ist.
Und vor allem die Apathie ist in Mode. Die Bedürfnisse des täglichen Überlebens haben mehr Gewicht als das Interesse für die Demokratie und der Respekt vor den institutionellen Regeln. Auf den Straßenkundgebungen, die freie und faire Wahlen fordern, versammelt sich nur eine Handvoll Leute. Die einzigen, die in der Lage waren, die ländliche Bevölkerung in großen Mengen zu mobilisieren, sind die Anführer der Bewegung, die ihr Eigentum in den vom Bauprojekt des Großen Kanals gefährdeten Regionen verteidigen. Eine Bewegung, die unter der städtischen Bevölkerung kaum Anklang findet.
Das Regime baut auch auf seine Allianz mit dem Privatunternehmertum, das gelernt hat, sich vor Comandante Ortegas heftigem Diskurs gegen den US-Imperialismus und den Kapitalismus nicht zu ängstigen. Die Goldene Regel dieser Beziehung lautet, dass die politischen Angelegenheiten von den Verhandlungstischen ausgeschlossen bleiben, an welchen die wirtschaftlichen Themen besprochen werden. die sich wiederum an dem vom Internationalen Währungsfonds empfohlenen Rahmen anpassen.
Diese politischen Maßnahmen haben es möglich gemacht, dass die staatlichen Bilanzen ein gewisses Wachstum aufweisen, dennoch ein weniger rasches als der Zuwachs an neuen Millionär; sie haben weder eine nennenswerte Reduzierung der Armut herbeigeführt, auch  nicht der Arbeitslosenquote, noch haben sie Nicaragua aus der Liste der rückständigsten Länder Lateinamerikas herausgeholt, in der wir Haiti den Schlusslichtplatz streitig machen.
Und die USA wissen, dass es hinter der feurigen Rhetorik Ortegas gar keine reale Gefahr für die Interessen ihrer hemisphärischen Sicherheit gibt. Die jüngste Ausweisung US-amerikanischer Funktionäre ist zu einem – wenn überhaupt – störenden Vorfall heruntergespielt worden. Das in Nicaragua vorhandene Modell der Abschaffung der Demokratie steht keineswegs  im Widerspruch zu der alten These Washingtons darüber, dass das, was am meisten zählt, wenn man Lateinamerika zum Fokus der Politik macht, die Stabilität ist, die besteht, bis der Vulkan ausbricht. Doch noch gibt es keine seismischen Erschütterungen, die darauf hinweisen würden, dass etwas Ähnliches sich bald ereignen könnte.
Die Stimmen sind also im Voraus gezählt. Es ist, als ob die Wahlen von November dieses Jahres bereits stattgefunden hätten.

Newsletter abonnieren