Blutig und bissig

Pinochet als wahrhaftiger Blutsauger Filmstill aus El Conde (Foto: Netflix)

Bei Chiles bekanntestem Filmemacher Pablo Larraín (No, Spencer, Jackie) kommt es öfter einmal vor, dass in seinen Filmen nicht genau das steckt, was das Publikum sich erhofft hatte. In seinem Werk Ema von 2019 ließ er die Steilvorlage zu einem feministischen Manifest ungenutzt verstreichen. Nun übernahm Larraín 50 Jahre nach dem Putsch von Augusto Pinochet in Chile mit El Conde die fast schon logische Aufgabe, sich mit dem vielleicht größten politischen Schreckgespenst Lateinamerikas zu befassen. Eine Chance zur gnadenlosen Abrechnung für den Regisseur, der die Auswüchse des Systems Pinochet bereits in vorherigen Filmen direkt und indirekt kritisierte. Aber würde er sie auch nutzen?

Die skurrile Ausgangssituation des Films, in dem Pinochet als Vampir seinen eigenen Tod fingiert hat und als gruseliger Schatten seiner selbst bis heute in Chile weiterlebt, legt diesen Schluss nahe. Die Antwort lautet dennoch wie so oft bei Larraín: Ja und Nein. Denn El Conde, so überraschend es klingt, ist vor allem ein fast schon klassisch genretreuer Vampirfilm geworden. Da ist das alte, verbitterte und lebensmüde Scheusal Pinochet, das vergangenen Zeiten und Reichtümern nachtrauert und doch vom Durst nach Blut nicht lassen kann. Da gibt es die Rival*innen, die sich zwar unterwürfig geben, aber hinter seinem Rücken an seiner Macht kratzen und sich nichts sehnlicher wünschen als seinen Tod. Und da tauchen Vampirjäger*innen auf, die ihm aus (zumindest vorgeblich) hehren Motiven ebenfalls den Garaus machen wollen. El Conde, und das ist überraschend, ließe sich gut auch ohne tieferes Wissen um die chilenische Geschichte und Pinochets reale historische Persönlichkeit konsumieren. Noch mehr Genuss dürfte der Film aber selbstverständlich allen bereiten, die die omnipräsenten bissigen Zitate und Meta-Kommentare auf Pinochets Herrschaft, die chilenische Oberschicht oder die katholische Kirche − ein Steckenpferd Larraíns − einzuordnen wissen.

Denn sehr chilenisch ist El Conde mit Sicherheit auch geworden. So wohnt der Vampir Pinochet nicht in einem alten Schloss, sondern in einer ziemlich verfallenen patagonischen Finca am Ende der (chilenischen) Welt. Dort versteckt er sich vor dem Zugriff der Justiz. Seine Kinder, ein Haufen verzogener Taugenichtse, kommen nur vorbei, um ihre Chancen auf ein möglicherweise gigantisches Erbe aufrechtzuerhalten, das auf ausländischen Bankkonten schlummert. Die Zugänge dazu hat der oft tattrig wirkende Patriarch jedoch seltsamerweise „vergessen“, was den bedauernswerten Zustand seines Anwesens erklärt. Großartig und ebenfalls ungewöhnlich ist die schauspielerische Leistung, die der 87-jährige Jaime Vardell als Vampir gewordener Diktator bietet. Wer Pinochet als überzeichnete Farce erwartet hätte, sieht sich getäuscht, denn Vardell interpretiert seine Rolle betont ernst und an der realen Person orientiert. Nur bei den Zusammentreffen mit der Familie ergibt sich Situationskomik, die Larraín als genauer Beobachter und Analytiker der oberflächlich-heuchlerischen Freundlichkeiten der lateinamerikanischen Oberschicht offenbart. In den Gesprächen der Familienmitglieder kommt dann auch die politische Dimension zum Tragen. Detailgenau werden eindeutige Fälle von Korruption, Machtmissbrauch und Nepotismus diskutiert, die sich in Pinochets Amtszeit zugetragen haben. Eingebettet in den ansonsten eher mystischen Kontext wirkt das allerdings ein wenig unvermittelt und gewollt – so, als würde Larraín hier tatsächlich etwas abarbeiten, was von ihm erwartet worden war.

Besser gelingt ihm der Spagat zwischen Realität und Fiktion mit der metaphorischen, zwischen Brutalität und Poesie pendelnden Bildsprache, die symbolisch die Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung Chiles repräsentiert. In wunderschönen Schwarz-Weiß-Aufnahmen gehalten und mit fantastischen Szenenbildern und Kostümen ausgestattet, schafft El Conde eine einzigartige Atmosphäre an der Grenze von Traum und Wirklichkeit. Das leise Abheben der Vampire, die unmerklich und elegant erscheinend das Leben der Menschen beobachten, um ihnen dann auf brutale Weise das Herz herauszureißen und zu verspeisen – beim Gedanken an reale Parallelen in der chilenischen Vergangenheit laufen hier sicher vielen Schauer über den Rücken. Das gleiche gilt für die selbst für einen Vampirfilm grausam dargestellten Morde, die der untote Diktator begeht – die Herzen seiner Opfer landen in einem elektrischen Mixer. Der Film ist deshalb auch nur hartgesottenen Kinogängerinnen zu empfehlen, die es gewohnt sind, drastischen Gewaltdarstellungen mit kritisch-ironischer Distanz zu begegnen. Als Stilmittel ist diese explizite Zurschau-stellung von Grausamkeiten aber unbedingt notwendig, um Pinochet nicht nur als senilen Alten zu zeigen, sondern auch als das Monster, das für die brutale Folter und Ermordung zehntausender Menschen verantwortlich war.

Auch die katholische Kirche, die Oberschicht und die Verteidiger*innen der Militärdiktatur in Chile bekommen in El Conde ohne Frage ordentlich ihr Fett weg. Im Verlauf des Films spannt Pablo Larraín den Bogen aber noch weiter und zeichnet eine weltweite Geschichte der Oligarchie und Aristokratie nach. Die beginnt im absolutistischen Frankreich (dem Geburtsort des filmischen Vampirs Pinochet) und reicht bis in die chilenische Gegenwart, wo der Neoliberalismus nach wie vor die meisten Lebensbereiche durchdringt. Kapitalismus symbolisiert als jahrhundertelanges Aussaugen der Weltbevölkerung durch eine unsterbliche Dynastie von Vampiren – das Bild ist so naheliegend, dass man sich fragt, warum erst jetzt jemand auf die Idee kommt, darüber einen Film zu machen. Wie vieles in El Conde wird dieser Gedanke aber nur angerissen, nicht bis ins Detail auserzählt. Man könnte deshalb argwöhnen, Pablo Larraín hätte vielleicht zu viele gute Ideen gehabt, um sie alle sinnvoll in diesem Film unterzubringen. Wahrscheinlicher ist aber, dass er in El Conde eine zu einseitige Aussage mit Absicht vermeiden wollte, um seinem geschulten Publikum genügend Raum für eine eigene Sicht der Dinge offenzulassen. Und das zumindest bei der Kritik bereits mit Erfolg: Beim renommierten Filmfestival in Venedig gewann der Film einen Silbernen Löwen als Preis für das beste Drehbuch.

KEIN FUNKEN REUE

Das Geheimnis lüften, um es in den Akten seiner Institution verschwinden zu lassen: Die Mission Padre Garcías ist so zwielichtig wie die Atmosphäre des kleinen Orts am Meer, wo die Sonnenstrahlen auf eine gewaltig düstere Wolkenfront treffen. Dass dieser Ort La Boca heißt und an der chilenischen Küste 160 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago liegt, ist unwichtig; wesentlich ist vielmehr die Tatsache, dass er abgelegen ist, überschaubar und wenig Abwechslung zu bieten hat. Hierher kommt Padre García als Abgesandter der katholischen Kirche Chiles, Seelsorger und Psychologe mit europäischen Diplomen, der für eine „neue Kirche“ eintritt. Der kriminellen Vergangenheit der vier Priester in dem so harmlos wirkenden gelben Haus am Hang will er auf die Spur kommen, herausfinden, ob sie sich ihrer Verfehlungen bewusst sind.
Nachdem sich Pablo Larraín in vorhergehenden Filmen – darunter sein bekanntester No! (2012) – mit der chilenischen Geschichte auseinandergesetzt hatte, behandelt El club ein Thema, das in der Öffentlichkeit vieler Länder seit einigen Jahren verstärkt diskutiert wird. Durch den diesjährigen Oscar für den US-amerikanischen Film Spotlight wurde den sexuellen Vergehen von Priestern an Minderjährigen gerade wieder umso mehr jener medialen Aufmerksamkeit zuteil, der die Kirche jahrzehntelang zu entkommen suchte: Anstatt die staatliche Justiz walten zu lassen, zog sie es vor, ihre straffällig gewordenen Mitglieder in eigenen Einrichtungen vor der Außenwelt zu isolieren, zu verstecken. Die Existenz zahlreicher solcher „Häuser der Buße“ überall auf der Welt habe für El club den Anlass gegeben, so Larraín im Interview. Bei der 65. Berlinale 2015 feierte sein Film Weltpremiere, er erhielt den Großen Preis der Jury zusammen mit einem Silbernen Bären und gewann in der Folge weitere Preise bei internationalen Festivals.
„Es ist ein schönes Leben. Den Brüdern geht es gut. Sie sind gesund und rein im Herzen.“ So versichert es Schwester Mónica gegenüber Padre García bei einem Gespräch unter vier Augen am Strand. Als einzige Frau bei den Priestern nimmt sie die Rolle einer Haushälterin ein und sorgt für die Einhaltung der strengen internen Regeln. Unberechenbar in ihrer Art, aber besorgt in der Beschaulichkeit ihres Alltags behelligt zu werden, geht Schwester Mónica sogar noch weiter: „Wir führen ein heiliges Leben. Es ist wirklich sehr schön.“ Da mag Padre García mit seiner Erwiderung vom „Ort der Reue“ der Wahrheit zwar näher kommen – aber bereuen diese Priester wirklich die Verbrechen, die sie begangen haben? Kann eine immer gleiche Abfolge von Beten, Essen, Singen, Schlafen, in der auch Alkohol und Hunderennen ihren Platz haben, wirklich angemessene Strafe sein?
El Club möchte ausdrücklich nicht den moralischen Zeigefinger erheben, wie Schauspieler Roberto Farías, der im Film in der Figur des Sandokan als einziges Opfer auftritt, bei der Pressekonferenz zur Berlinale klarstellte, sondern es dem Publikum überlassen, was es mit den Eindrücken aus dem Film anfängt. Dabei wirken Musik und visuelle Ästhetik so eindringlich mit der vielfach als „Kammerspiel“ bezeichneten Handlung zusammen, dass die Suche wenigstens nach einem Funken Reue in der Redeweise und im Mienenspiel der Priester in ihrer abgekapselten Welt für das Publikum zu einer verzweifelten, ungläubigen Aufgabe und der Film doch zu einer klaren Anklage der Straflosigkeit von Kirchenleuten wird. Die Abscheu gegen die Bewohnerschaft des gelben Hauses wächst mit der Gewissheit, dass diese Padres immer noch eine Gefahr darstellen. Der schwer traumatisierte und gesellschaftlich vollkommen marginalisierte Sandokan, der seinem Peiniger bis nach La Boca gefolgt ist und dessen schonungslose Sprache auf Interviews mit realen Opfern basiert, muss den Beweis dafür liefern.
Fahles Licht und fortwährende Beklemmung – verstärkt durch sowjetische Linsen aus den 60er Jahren – und kein einziger Sympathieträger. Dafür nimmt der Film die Zusehenden besonders in den Verhördialogen und mit seiner Kameraführung gefangen, wenn sie geduldig forschend über Gesichter und Landschaft streift. Zugleich zeigt El Club nicht, was die Menschen im Dorf über das Priesterhaus denken, was sie womöglich ahnen oder wissen. Da wäre zu fragen, ob diese nicht wir selbst sind, die es hinnehmen, dass die katholische Kirche sich hinter ihre Mauern zurückziehen kann, sodass nur ein Kunstwerk wie El club es schafft, einen vagen Blick dahinter zu werfen.

 

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