Erinnern, erhalten, entfalten

Forderungen nach Gerechtigkeit Proteste gegen die Verantwortlichen im Jahr 2006 (Foto: Tony1940 via wikimedia commons – Public Domain)

Der Supermarkt Ycuá Bolaños öffnete am 7. Dezember 2001 erstmalig seine Türen. Das zweistöckige Gebäude verfügte über einen geräumigen Parkplatz im Untergeschoss und bot eine Vielzahl von Einkaufsmöglichkeiten, darunter eine kleine Bäckerei und eine Küche, die frische Speisen zubereitete. Doch trotz dieser modernen Einrichtungen zeigen die späteren Ermittlungen der Behörden, dass grundlegende Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigt wurden. Die Räume waren mangelhaft belüftet, und es fehlte an essenziellen Schutzmaßnahmen wie einer Sprinkleranlage, zudem waren die Rauchmelder defekt.

Am schicksalhaften 1. August 2004 bricht im ersten Stock des Supermarktes ein Feuer aus, vermutlich ausgelöst durch einen defekten Grill, dessen brennbare Gase die Decke entzünden. Zwei heftige Explosionen folgen, und das Feuer breitet sich langsam, aber unaufhaltsam über die Treppen hinunter zur Hauptverkaufsfläche aus. Die im Untergeschoss geparkten und vollgetankten Autos geraten schnell in Brand, und einige von ihnen explodieren. Damit ist eine Flucht über diesen Weg unmöglich. Über sieben Stunden toben die Flammen, bevor die Feuerwehr sie schließlich unter Kontrolle bringen kann. Ein an der Rettung beteiligter Feuerwehrmann fasst die Tragödie später mit diesen Worten zusammen: „Stellen Sie sich die immense kriminelle Energie der Betreibenden vor, denn der Befehl war, die Türen zu schließen. Ein Befehl, der den Wert der Waren über den Wert des Lebens selbst stellt.“

Zahlreiche Überlebende berichten von dem grauenhaften Moment, als sie feststellten, dass die Fluchttüren verriegelt waren. Ein Sicherheitsbeauftragter hatte die Türen auf Anweisung des Inhabers des Supermarktes, Juan Pío Paiva, und dessen Sohn Victor Daniel Paiva, verschlossen. Ihre Angst vor Plünderungen und Diebstählen führte zu einer Entscheidung mit verheerenden Konsequenzen: Die Türen wurden geschlossen und die Fluchtwege damit versperrt.

Als das Feuer ausbricht, befinden sich etwa 1.000 Personen im Supermarkt. Ein Rettungssanitäter, der vor Ort ist, sagt später: „Sich zu erinnern ist schmerzhaft. Es gibt nur wenige Leute, die über dieses Thema sprechen wollen, weil es keine schöne Anekdote ist. Viele halten uns für Helden und so weiter. Aber was sind Helden? Wir haben nur getan, was wir tun mussten.“ Die medizinischen Berichte der Krankenhäuser offenbaren das Ausmaß des Grauens: Insgesamt werden mehr als 350 Personen mit schweren Verbrennungen dritten Grades und gravierenden Verletzungen der Atemwege eingeliefert. Die Mehrheit der Opfer hat zum Zeitpunkt des Brandes nicht einmal das 30. Lebensjahr erreicht. Sie verbrannten in den Flammen oder erstickten an den giftigen Gasen.

Zwei Jahre nach der Katastrophe werden die drei Hauptverantwortlichen wegen fahrlässiger Tötung zu jeweils fünf Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl die Staatsanwaltschaft eine deutlich härtere Strafe von 25 Jahren gefordert hatte. Dieses milde Urteil löst massive Proteste in ganz Asunción aus. Die Empörung der Bevölkerung ist groß, und die Protestierenden fordern ein neues Verfahren, das gerechtere Strafen bringen soll. Ihre Stimmen werden gehört, und im Februar 2008 findet das neue Verfahren statt. Das Gericht verschärft die Strafen erheblich: Juan Pío Paiva wird zu zwölf Jahren Haft verurteilt, sein Sohn erhält eine zehnjährige Gefängnisstrafe, und der Sicherheitsbeauftragte muss fünf Jahre ins Gefängnis. Darüber hinaus werden auch der Aktionär Humberto Casaccia und der Architekt Ernardo Ismachowiez wegen fahrlässigen Verhaltens verurteilt.

Doch die Verantwortlichen bleiben nicht lange hinter Gittern. Seit 2014 ist keiner von ihnen mehr in Haft. Pío Paiva und sein Sohn werden aufgrund guter Führung vorzeitig entlassen, was bei den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer erneut für Empörung sorgt. Victor Daniel Paiva, der Sohn des Inhabers, verstirbt im Jahr 2020 an Komplikationen infolge einer Covid-19-Erkrankung.

Denkmal bringt Menschen zusammen

18 Jahre nach der Tragödie wird schließlich ein Denkmal zur Erinnerung an das verheerende Feuer im Ycuá Bolaños Supermarkt errichtet. An der Stelle des ehemaligen Supermarktes steht nun ein Ort des Gedenkens, der Erlösung und der Resilienz. Das Denkmal soll nicht nur an die Verstorbenen erinnern, sondern auch als Raum für kulturelle, religiöse und öffentliche Veranstaltungen dienen. Ziel ist es, einen Ort der Widerstandsfähigkeit zu schaffen, der die Erinnerung an die Tragödie wachhält und gleichzeitig Hoffnung für die Zukunft vermittelt.

Das Denkmal besteht sowohl aus alten Betonfragmenten des Supermarktes als auch aus neuen architektonischen Elementen. Es gibt Räume, die zum Zusammenkommen einladen, und bepflanzte Wände, die die Geräusche der Stadt dämpfen, um stille Orte der Reflexion zu schaffen. Eine erhöhte Plattform ermöglicht es den Besucher*innen, in die Ferne zu blicken und symbolisiert möglicherweise den Ausblick in eine hoffnungsvollere Zukunft.

Das Denkmal verbindet nun verschiedene Nachbarschaften, die zuvor durch den Supermarkt getrennt waren. Im Erdgeschoss, wo sich einst der Parkplatz befand, ist heute ein zentraler Wasserspiegel angelegt. Über diesem Wasser hängt eine Platte, die mit über 300 kleinen Löchern durchsetzt ist. Durch sie fällt das Licht ein und spiegelt sich im Wasser wider, was eine beruhigende und gleichzeitig tief berührende Atmosphäre schafft. Diese Lichtspiele sollen an die vielen Menschen erinnern, die bei dem verheerenden Feuer ihr Leben verloren haben.

Zur feierlichen Eröffnung des Denkmals und des kulturellen Zentrums Ycuá Bolaños spricht der damalige Kulturminister Rubén Capdevila bewegende Worte an die Angehörigen der Verstorbenen: „Ab heute werden die Türen nicht mehr geschlossen sein.“


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Verdammter Süden

Aliza Abranavel ist tot. Als Fonsecas Protagonist Julio, wie Fonseca selbst Literaturprofessor, davon erfährt, legt er direkt eine neue Liste an. Sein erster Reflex ist, ihren Namen neben all denen der Autor*innen und Künstler*innen zu schreiben, mit denen er ihr Schaffen assoziiert. Austral ist eines dieser Bücher, die einen auch im Stehen gelesen, in einem überfüllten Regionalzug komplett mitreißen und weit wegtragen. In den Süden, um genau zu sein.

Dorthin trägt es auch Julio. Mit der Schriftstellerin Aliza Abranavel hatte er 30 Jahre zuvor ein Verhältnis: Für ihn ein Ausbruch und ein Roadtrip durch das von Diktaturen und Bürgerkriegen gezeichnete Mittelamerika. Jetzt ist Aliza Abranavel tot und beauftragt ihn posthum, sich ihrer unveröffentlichten Manuskripte anzunehmen. Also reist Julio aus dem schneebedeckten winterlichen Ohio in den Sommer der „nuancierten Kargheit“ Humahuacas.

Acht Jahre vor ihren Tod hatte Abranavel eine Hirnblutung erlitten und seit dem eine Sprachstörung. Dies hielt sie jedoch nicht davon ab, in eine nordargentinische Künstler*innenkolonie zu ziehen und ihr Werk zum Abschluss zu bringen. Das Manuskript namens „Die Privatsprache“ webt Fonseca in den Text ein und eröffnet so eine weitere Geschichte. Spätestens hier beginnt sich um Julio wie um den die Leser*in ein Netz zu ziehen, gesponnen aus realen und fiktiven Geschichten, Fotos, Bildern, Theorien und Referenzen. Zum Glück sind diese mit einer Leichtigkeit gewoben, die das intellektuelle Gewicht dahinter nicht zur Last werden lässt. Das Werk im Werk dreht sich zunächst um die Begegnung von Alizas Vater Yitzhak mit dem Anthropologen Karl-Heinz von Mühlfeld.

Von Mühlfeld forschte auf den Spuren Elisabeth Förster-Nietzsches, der Schwester des bekannten Philosophen, die gemeinsam mit ihrem Mann Reinhard Förster an dem wahnwitzigen und zutiefst kolonialistischen, rassistischen und antisemitischen Projekt einer „arischen Kolonie“ in Paraguay namens Nueva Germania scheiterte. Während er all dies liest, verbringt Julio einige Zeit mit den jungen Künstler*innen der Kolonie, in der Aliza lebte und trifft schließlich auf Raúl Sarapura, Indigener Mitarbeiter der verstorbenen Schriftstellerin, der ihm das Lexikon des Verlusts übergibt, ein Werk, bei dessen Erstellung er Aliza unterstützt hat. Dessen mit Fotos, Bildern und Textfragmenten gestalteten Seiten sind nicht nur beschrieben, sondern ebenfalls collageartig nachgebaut im Buch enthalten, wobei Fonseca von Ignacio Acosta unterstützt worden ist. Das Lexikon schließlich führt Julio über diverse Exkurse durch Philosophie und Kunstgeschichte, die ihren Aufhänger in persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen von Aliza haben, nach Guatemala.

Dort trifft er auf das „Theater der Erinnerung“, ein Freilufttheater, um „den Überlebenden zu helfen, die unter dem Trauma des Erlebten verschütteten Erinnerungen wiederzufinden“, das Juan de Paz Raymundo auf den längst überwucherten Trümmern des während des guatemaltekischen Bürgerkriegs zerstörten Dorfs errichtet hat. Der Angehörige der K’ich’e ist im Alter von fünf Jahren, als der Roatrip von Aliza und Julio zu Ende ging, Waise geworden. Mit den Aufnahmen der Stimmen der Überlebenden des Genozids versucht er nun, das von den Militärs vernichtete Dorf zu rekonstruieren. Doch in seinem Theater hören nur die Vögel zu, die sich zwischen den leeren Sitzreihen verirrt haben.

So bleibt die vergebliche Suche nach einer Stimme, wenn die Welt oder die Sprache schwindet, unvollendet. Für den Schmerz gibt es keinen Ausdruck und keinen für die Erinnerung. Als Leser*in fühlt man sich in die Geschichten verstrickt, wie Von Mühlfeld in den Tonbändern seiner Feldforschung. Der „Überall-Tourist“ Julio fühlt sich am Ende seiner überhasteten Reisen wie ein von der eigenen Logik in den Hinterhalt gelockter Detektiv. Fonsecas Stil ist wunderschön und bleibt dank der meisterinnenhaften Übersetzungsleistung Sabine Giersbergs auch im Deutschen erhalten. Mit einer Leichtigkeit kreiert Fonseca Bilder, die den Staub der Wüste Humahuacas, die Hitze der paraguayischen Ebene oder die Tiefe des von Krieg und Zeit zerstörten guatemaltekischen Dorfes am Berg nachvollziehbar machen. Das Ganze hat der Verlag Klaus Wagenbach in einer tollen Ausgabe der Reihe Quartbuch veröffentlicht.

Uns bleibt „am Ende der Reise die unermessliche Distanz“ und ein mitreißendes, obwohl manchmal an der Grenze zur Unübersichtlichkeit schlitterndes Leseerlebnis, welches trotz all der aufgeworfenen Themen dennoch das Unbehagen entbehrt, das andere zeitgenössische Autor*innen Lateinamerikas, wie Samantha Schweblin oder Fernanda Melchor auszeichnet.


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DRECKIGER STROMDEAL IM HINTERZIMMER

Wasserkraftwerk Itaipú Schlägt auf beiden Seiten der Grenze politische Wellen // Foto: Deni Williams CCBY 2.0

Das Wasserkraftwerk Itaipú sorgt wieder für Streit. Der Rücktritt des paraguayischen Chefs der Energiebehörde ANDE, Pedro Ferreira, hat die Regierung Paraguays Ende Juli in eine handfeste politische Krise gestürzt. Ferreira begründete seinen Schritt mit der Missbilligung des neuen Vertrages zwischen Brasilien und Paraguay, in dem die Mechanismen und die Preise für den Verkauf von Strom aus dem Kraftwerk festgelegt wurden. Insbesondere die kolportierten Regeln für den Verkauf von Energieüberschüssen erhitzen dabei die Gemüter in Paraguay. Denn die neuen Regeln sind – laut Perreira – höchst unvorteilhaft für das kleine Land im Vergleich zum großen Nachbarn Brasilien. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Vertrag in Geheimverhandlungen zwischen den beiden Regierungen geschlossen wurde.
Seit die Verhandlungen über den Bau des – gemessen an der installierten Kapazität – zweitgrößten Staudamms der Welt in den 1960er Jahren begannen, haben die Diskussionen über das Projekt nie aufgehört. Insbesondere in der paraguayischen Öffentlichkeit war Itaipú immer umstritten. Im Jahr 2016 präsentierte sich das binationale Betreiberunternehmen voller Stolz mit dem Titel „weltweit größter Energieproduzent“, nachdem das Kraftwerk in seiner bisherigen Laufzeit 103.098.366 Megawattstunden erzeugt hatte. Doch verschiedene soziale Bewegungen, Politiker*innen und Intellektuelle ziehen die Vorteile, die das Kraftwerk Paraguay angeblich bringt, in Zweifel. Hauptpunkt der Kritik ist, dass Itaipú vor allem Brasilien einseitige Vorteile biete. Aus diesem Grund verlangen Politiker*innen und Aktivist*innen immer wieder eine Neuverhandlung des Vertrages von Itaipú. Der ehemalige Präsident Fernando Lugo (2008-2012), der einzige Präsident Paraguays seit 1947, der nicht der Partei der Colorados angehörte, strebte ebenfalls eine Neuverhandlung an, bevor er 2012 in einem umstrittenen Verfahren des Amtes enthoben wurde (siehe LN 457/458).
Itaipú war das wichtigste Symbol für den Fortschritt der Militärdiktatur unter Alfredo Stroessner (1954-1989). Im Jahr 1973 unterzeichneten Stroessner und der brasilianische Diktator Emilio Garrastazú Medici den Vertrag von Itaipú, der den Bau des gemeinsamen Kraftwerks vorsah. Dabei spielte der US-amerikanische Einfluss eine große Rolle: Im Kontext des Kalten Krieges boten die USA den Ländern Südamerikas günstige Kredite für Entwicklungsprojekte an, um der Einflussnahme der Sowjetunion vorzubeugen. Die kurz nach Unterzeichnung des Vertrages eingetretene Ölkrise war ein zusätzlicher Anreiz, das Projekt schnell auf den Weg zu bringen. Tatsächlich entwickelte sich Itaipú zum ambitioniertesten Entwicklungsprojekt beider Länder. Doch spätere Studien zeigten, dass das Projekt zahlreiche negative soziale und ökologische Folgen hatte: Tausende Indigene und Kleinbäuerinnen und -bauern wurden umgesiedelt, teilweise unter Anwendung von Gewalt. Angemessene Entschädigung wurde nicht geleistet.

Gerät unter Druck Paraguays Präsident Mario Abdo Benítez // Foto: Cesar Itiberé PR CCBY 2.0

Der riesige Staudamm stellt einen schweren Eingriff in die Flussökologie des Paraná dar und zog das gesamte Flussbecken in Mitleidenschaft, da die natürlichen Fischmigrationen unterbrochen wurden. Zudem wurden atlantische Regenwälder überflutet und zerstört, die wieder aufgeforsteten Wälder erscheinen eher wie Plantagen und verfügen längst nicht über eine so große Biodiversität.

Die Kritik prangert den „Verrat des Staatschefs an der Guaraní-Nation“ an


Paraguays damaliger Diktator Stroessner nutzte das Itaipú-Projekt zur Stabilisierung seines Regimes. Er versorgte damit seine Klientelnetzwerke, um sich deren Loyalität zu versichern. Ganze Familien wie etwa die Papalardo, Wasmoy und Debernardy wurden reich, indem sie Baumaterialien an das Megaprojekt lieferten. Die gesamten Baumaßnahmen waren von starker Korruption gezeichnet, an der sich die engen Verbündeten Stroessners bereicherten.
Der amtierende Präsident Paraguays, Mario Abdo Benítez von der Colorado-Partei, sieht sich nun ebenfalls schweren Verdächtigungen ausgesetzt, die Interessen des Landes für seine eigenen verraten zu haben. Sein Vater (ebenfalls Mario Abdo) war seinerzeit ein enger Vertrauter und persönlicher Sekretär von Stroessner. Präsident Abdo wird aktuell beschuldigt, in den geheimen Neuverhandlungen einen skandalösen Vertrag unterzeichnet zu haben. Darin soll er praktisch auf alle möglichen Verbesserungen für Paraguay verzichtet haben. Die Presse und politische Organisationen der Opposition bezeichneten Abdos Verhalten als „Verrat des Staatschefs an der Guaraní-Nation“.
Ausgelöst hatten die Regierungskrise Äußerungen des zurückgetretenen Chefs der staatlichen Energiebehörde ANDE. Pedro Ferreira erklärte gegenüber verschiedenen Medien, dass die brasilianische Regierung Paraguay praktisch erpresst hätte, ein nachteiliges Abkommen über die Vermarktung der Energieüberschüsse des Landes zu unterzeichnen. Nach dem ursprünglichen Vertrag von Itaipú steht Paraguay ein Kontingent der Energie aus dem Kraftwerk zu, das die paraguayische Nachfrage bei weitem übersteigt. Die Überschüsse kann Paraguay verkaufen – aber nur nach Brasilien. Ferreira betonte, dass auf brasilianischer Seite gut unterrichtete Techniker*innen an den Verhandlungen teilnahmen, während auf paraguayischer Seite nur Mitarbeiter*innen des Außenministeriums vertreten waren, die keine angemessenen Kenntnisse von Strompreisen, möglichem Nutzen oder Verkaufsmöglichkeiten auf dem Strommarkt hatten. Es scheint, so Ferreira, als sei der Präsident von schlechten Berater*innen umgeben oder die paraguayische Seite hätte absichtlich einen schlechten Deal abgeschlossen.
Anfangs drehte sich die Kritik vor allem um die offenbar schlechte Beratung, die der Präsident erhalten habe. Ferreira selbst hatte erklärt, Abdo sei nicht über die Einzelheiten unterrichtet gewesen und hätte praktisch blind ein Abkommen unterzeichnet. Doch der Skandal nahm eine andere Dimension an, als Ferreira seine privaten Gespräche mit dem jungen Anwalt José Rodríguez González veröffentlichte. Dieser hätte sich als persönlicher Berater des paraguayischen Vizepräsidenten Hugo Velázquez vorgestellt und explizit verlangt, dass Punkt 6 aus dem Abkommen herausgenommen werde. Dieser Punkt 6 sei allerdings zentral für eine Verbesserung der Vertragsregeln für Paraguay gewesen, denn er hätte es dem Land erlaubt, selbst den überschüssigen Strom in Brasilien zu vermarkten – ein Geschäft, das mit erheblichen Gewinnaussichten verbunden ist. Ohne Punkt 6 obliege der Verkauf des paraguayischen Energieüberschusses hingegen ausschließlich brasilianischen Unternehmen. Dies würde über Verträge zwischen der paraguayischen Energiebehörde ANDE und dem halbstaatlichen brasilianischen Energieunternehmen Eletrobras geregelt werden.

Präsident Bolsonaro Verdacht auf Amtsmissbrauch zur persönlichen Bereicherung // Foto: Isac Nóbrega PR CCBY 2.0

Bereits kurze Zeit später kam heraus, dass im neuen Abkommen sogar vorgesehen war, dass alle Stromverkäufe an ein einziges Unternehmen gehen sollten, welches dann die Vermarktung auf dem liberalisierten brasilianischen Strommarkt realisieren sollte. Dabei handelt es sich um das Unternehmen Leros Comercializadora. Das Skandalöse dabei ist, dass Mitglieder der Familie des brasilianischen Staatspräsidenten Bolsonaro im Aufsichtsrat des Unternehmens vertreten sind.
Recherchen von Journalist*innen haben nun gezeigt, dass der Druck, Punkt 6 aus dem Abkommen zu streichen, von Leros Comercializadora ausging. Der Anwalt José Rodríguez González habe somit tatsächlich die Interessen des Unternehmen Leros vertreten, als er im Namen des Vizepräsidenten Hugo Velázquez bei den Verhandlungen mitmischte, so die Medienberichte.
Als die Staatsanwaltschaft sich des Falles annahm, behauptete Rodríguez González, er habe „sein Handy verloren“, auf dem sich die Kommunikation mit dem damaligen ANDE-Chef Ferreira befunden habe.

Die Diskussionen über das Projekt haben nie aufgehört


Es gibt also ernstzunehmende Hinweise darauf, dass das Geheimabkommen zu Itaipú nicht nur unvorteilhaft für Paraguay ausfällt, sondern dass es auch eine private Vereinbarung zwischen Bolsonaro einerseits und Abdo und Velázquez andererseits beinhaltet, mit dem Ziel, Profit aus dem Verkauf paraguayischen Stroms zu schlagen.
Der Skandal setzt nicht nur Präsident Mario Abdo unter Druck. Im brasilianischen Parlament haben oppositionelle Abgeordnete eine Untersuchung gegen Präsident Jair Bolsonaro wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch eingeleitet. Mitglieder der Arbeiterpartei PT des ehemaligen Präsidenten Inácio Lula da Silva haben bei der Bundesstaatsanwaltschaft eine Untersuchung des Abkommens über Kauf und Verkauf des paraguayischen Energieüberschusses beantragt. Der Antrag, den 24 Abgeordnete unterzeichnet haben, verlangt, dass die schwerwiegenden Vorwürfe gegen den Präsidenten, den Außenminister Ernesto Araújo und den brasilianischen Generaldirektor von Itaipú, Joaquim Silva, aufgeklärt werden.
In Paraguay schlägt der Skandal bereits jetzt größere Wellen. Die Regierung Mario Abdos befindet sich ihrer bislang schwersten Krise. Der paraguayische Kongress hat eine Kommission aus beiden Kammern des Parlaments gebildet, um den Fall zu untersuchen. In der Zwischenzeit hat die paraguayische Regierung erste Schritte unternommen, um Brasilien zu bitten, das Abkommen rückgängig zu machen. Jair Bolsonaro hatte bereits erklärt, dass er einen solchen offiziellen Antrag annehmen würde, weil sein „Freund Marito“ die Sachen gut mache und etwas Hilfe benötige. Unbeabsichtigt verstärkte Bolsonaro mit seiner Wortwahl die Verdächtigungen, er hätte die paraguayische Regierung zu seinen Zwecken beeinflusst.
Trotz aller Bemühungen der Regierung, die Wogen zu glätten, wurde sie von mehreren Rücktritten erschüttert. Der Außenminister Luis Castiglioni, der Botschafter in Brasilien sowie hochrangige Mitarbeiter*innen bei Itaipú und ANDE mussten aufgrund des öffentlichen Drucks ihre Posten aufgeben. Auch María Epifanía González, die das Ministerium für den Kampf gegen Geldwäsche leitete, musste ihr Amt verlassen: Sie ist die Mutter von José Rodríguez González, der mutmaßlich im Auftrag von Leros Comercializadora entscheidend Einfluss auf die Verhandlungen genommen hatte.
Die oppositionelle liberale Fraktion im Parlament beantragte schließlich sogar die Amtsenthebung des paraguayischen Präsidenten Abdo. Noch im Juli hat die Fraktion der Colorados – die ansonsten bei weitem nicht geschlossen hinter Abdo steht – den Antrag abgelehnt. Dies zeigt, dass der Pakt zwischen den innerparteilichen Fraktionen um Mario Abdo und den ehemaligen Präsidenten Horacio Cartes hält. Noch. Viele Analyst*innen halten es für gut möglich, dass er die restlichen fünf Jahre seiner Legislaturperiode nicht im Amt übersteht.

 


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„WIR MÜSSEN UNSER DENKEN DEKOLONISIEREN”

(Foto: privat)

Frau Caballero, Sie kommen gerade von einer internationalen Frauenkonferenz. Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Themen der Konferenz und der Arbeit Ihrer Organisation?
Wir forschen seit 2012 zu Geschlechtergewalt gegen indigene Frauen in Paraguay. Aus dieser Forschung heraus sind neue Möglichkeiten der Unterstützung entstanden. So haben wir einen Arbeitskreis zwischen indigenen und nicht-indigenen Frauen geschaffen, der ein interkulturelles Lernen ermöglichen soll und in dem wir über Themen wie empoderamiento (Empowerment) oder ein gewaltfreies Leben sprechen. Die Konferenz will, so wie es ihr Name andeutet, Schnittstellen zwischen den vielfältigen Erfahrungen der Frauenkämpfe suchen. Also Punkte, bei denen wir uns zusammentun und Kraft entwickeln können. Wir wollen einen Mentalitätswechsel im Hinblick auf die Art des Zusammenlebens in den Gesellschaften. Denn wir wurden uns einig, dass wir mit der Welt, in der wir leben, nicht zufrieden sind. Dort erleben wir Gewalt und Tod: Jeden Tag stirbt eine Frau an einem Ort durch physische oder strukturelle Gewalt. So leiden indigene Frauen an einem Mangel an Gesundheit und Bildung. Wir sprechen von einer Revolution im Sinne einer Veränderung, die uns zu dem führt, was die indigenen Völker el buen vivir („das gute Leben“) nennen.

Können Sie ein generelles Bild der Lage der indigenen Gemeinschaften Paraguays zeichnen?
In Paraguay befindet sich die Agrarindustrie in einem Prozess der extremen Ausweitung. Wir sind der viertgrößte Sojaproduzent der Welt. Unsere Regierungen setzen alles daran, den Sojaanbau und die Viehwirtschaft auszuweiten, doch dafür müssen Indigene und Kleinbauern von ihrem Land verschwinden. Täglich werden sie durch das Gift der Agrarindustrie und durch die Entwaldung getötet. Auch das Trinkwasser ist vergiftet, ihnen fehlt das Buschland, ihre Gesundheit verschlechtert sich und es mangelt an Zugang zu Bildung für sie.

Wie genau wirkt sich die Ausweitung der Sojagrenze und der Viehzucht auf das Leben der indigenen Gemeinschaft aus?
Die Mehrheit der indigenen Gemeinschaften lebt noch in den ländlichen Gebieten, aber viele von ihnen migrieren aufgrund der Entwaldung ihrer Territorien und des damit einhergenden Wegfallens ihrer Existenzgrundlage in die Städte. Sie waren ursprünglich Jäger, Sammler und Kleinbauern, aber jetzt können sie nicht mehr sammeln und jagen. In den Städten bilden sie auch Gemeinschaften, aber die Kinder, die dort geboren werden, wachsen natürlich mit einer anderen Kultur auf. Sie bleiben in der Stadt und verlieren den Bezug zu ihrem Heimatort.

Kehren die jungen Leute irgendwann zurück in die ländlichen Gebiete?
Aufgrund der Attraktivität und Annehmlichkeiten der Städte kehren sie selten zurück. Es passiert dasselbe wie mit den Bauern, die ihre Länder aufgrund der Ausbreitung der Agroindustrie verkaufen. Aber im Gegensatz zu diesen ist der Landbesitz der indigenen Bevölkerung kollektiver Art und kann nicht verkauft werden, so schreibt es die Verfassung vor. Deshalb wird der Druck, dass sie das Land verlassen, auf anderen Wegen verursacht.

Was sind das für Wege?
Meiner Meinung nach geschieht es über die fundamentalistischen Religionen, da diese das ganze kulturelle Gewebe der indigenen Völker kaputtmachen, indem sie ihre Überzeugungen und ihre Art zu leben angreifen. Vor einer Weile berichtete uns eine indigene Frau von einem skandalösen Fall. Es ging dabei um einen Pastor einer fundamentalistischen Kirche. Dieser nahm in Anwesenheit ihres spirituellen Führers einen der heiligen Gegenstände ihres Volkes, welchen man für traditionelle Rituale nutzt, sagte, er sei Teufelswerk und verbrannte ihn. Sie sagte, als der Pastor diesen Gegenstand, den nicht mal wir anfassen dürfen weil er so heilig ist, nahm und verbrannte, sei es so gewesen, als wenn er uns alle zusammen genommen, angezündet und verbrannt hätte. Sie versuchen also, die indigene Kultur auszulöschen, alles zu zerstören, damit die Indigenen geschwächt werden und weggehen. Und dann sagen sie, dass sie das Buschland und die Natur nicht mehr brauchen, sich nicht mehr dafür interessieren, und verlassen das Territorium. Dieses wird dann frei für die Monokulturen oder die Marihuanaplantagen.

Welche Reaktion entwickeln die indigenen Frauen angesichts dieser Bedrohung ihrer kulturellen Lebensweisen?
Da die Kultur dieser Gemeinschaften keine Akkumulation von Gütern, sondern eine andere Form des Zusammenlebens mit der Natur vorsieht, entwickeln die Frauen auch andere Mechanismen der Resistenz als beispielsweise Frauen in anderen Teilen der Welt. Wir sagen zum Beispiel, dass die indigenen Frauen die Hüterinnen der Erinnerung ihrer Gemeinschaften sind. Sie sind es, die die Lieder und das Kunsthandwerk bewahren sowie das Wissen der Medizin. Deshalb begleiten wir sie als Organisation in dem Prozess der Revitalisierung dieser Aspekte, also dessen, was ihnen Identität gibt.

Ein zentraler Ansatzpunkt von Grupo SUNU ist also die Stärkung der kulturellen Identität der indigenen Bevölkerung?
Ja, denn wir glauben, dass wir anfangen müssen, zu dekolonisieren. Das bedeutet, unsere eigenen Werte und unser eigenes Potenzial wiederzuentdecken. Geschichtlich betrachtet wurde uns in Paraguay vermittelt, zu Europa aufzusehen und es als das Erstrebenswerte und Perfekteste anzusehen, was es gibt. Wir sollten unser Denken dekolonisieren, damit indigene Völker ihr Selbstwertgefühl wiederentdecken und ihren enormen Reichtum schätzen können. Auf der Grundlage dieser Entdeckung und dieses Potenzials können sie alternative Vorschläge entwickeln und ihre Vorstellungen vom buen vivir verbreiten. Wir glauben, dass ausgehend von dieser Revitalisierung sowohl Indigene wie auch wir nicht Indigene etwas lernen können. Das ist es, was mich bestärkt, was mir Sinn gibt im Leben – zu wissen, woher ich komme. Es geht darum, mich sicher in der Welt zu fühlen. Wir helfen also auch dabei, die interne Organisation der Indigenen zu stärken, damit sie sich gegen die äußeren Bedrohungen wie das kapitalistische System wehren können. Wenn wir mit den indigenen Völkern arbeiten, müssen wir uns die westlichen Brillen abnehmen, versuchen zu verstehen, wie ihre Gesellschaft funktioniert, wie sie ihr Leben gestalten.

Sie legen auch besonderes Augenmerk auf die Arbeit mit den indigenen Jugendlichen.
Es ist wichtig, dass die Jugendlichen Räume innerhalb ihrer Gemeinschaften finden und innerhalb der Organisationen. Denn in diesen Krisen, seien es die Entwaldung, der Einfluss der Medien oder der ganze kulturelle Verlust, mit denen die Gemeinschaften konfrontiert werden, sind es die Jungen, die am meisten leiden. Ihnen fehlt die Orientierung, und sie verfallen leichter den Verlockungen der Drogen und des Alkohols. Es gibt Fälle von Selbstmord, Fälle von Gewalt und immer sind es die Frauen, die unter der Gewalt der Männer leiden.

Sie hatten schon den Anbau von Marihuana erwähnt, der besonders im Territorium der Paî Tavyterâ zunimmt. In den letzten Jahren hört man immer wieder von Mordfällen an ihnen, die unaufgeklärt bleiben.
Solche Mordfälle passieren gerade häufig, da Männer und auch Frauen in die Marihuanaplantagen gehen, um Geld zu verdienen – letztere meist als Köchinnen oder Prostituierte. Wenn sich jemand dem Willen der Plantagenbesitzer*innen widersetzt, endet das oft tödlich. Aber wer wird in solchen Fällen schon nachforschen? Niemand geht in diese Plantagen hinein. Viele Indigene sind arm und können sich keinen Anwalt leisten. Und wenn es sich um Drogenhändler handelt, weiß man über deren genauen Verbleib nichts. Besonders gravierend ist das im Fall von Frauen. Vor einer Weile ist eine junge indigene Frau verschwunden und wurde dann irgendwo am Straßenrand vergewaltigt und ermordet gefunden. Aber den Staat interessiert so eine arme indigene Frau nicht.
Unterstützt Ihre Organisation indigene Gemeinschaften darin, ihre Rechte einklagen zu können?
Wir versuchen, innerhalb der Gemeinschaften einige Vermittler zu etablieren, die sich im nicht-indigenen Rechtssystem auskennen, damit die Indigenen ihre Rechte bei den zuständigen Instanzen im Land einklagen können.

Worin sehen Sie die größten Herausforderungen in der zukünftigen Arbeit Ihrer Organisation?
Unsere größten Herausforderungen hängen direkt mit denen der indigenen Völker Paraguays zusammen, also mit den Waldrodungen, dem Drogenhandel und den Vertreibungen aus indigenen Territorien. Viele der indigenen Weltanschauungen haben mit den Wäldern zu tun. Wie soll man den Kindern und Jugendlichen erklären, was bestimmte Mythen bedeuten, wenn der Kontext fehlt, wenn es gar kein Buschland mehr gibt? Jedes Tier hat eine bestimmte Funktion in ihrem System. Wie übermittelt man so etwas Jugendlichen, wenn das alles weg ist?
Und schließlich fragen wir uns, wie wir diesen großen Problemen, mit denen die Gemeinschaften konfrontiert sind, begegnen können. Wie können wir ein so großes globales System bremsen? Aus diesem Grund sind internationale Treffen sehr wichtig, denn so sehen wir, dass wir nicht alleine sind, dass auch in anderen Teilen der Welt, wie zum Beispiel in den Philippinen, die indigene Bevölkerung leidet. Wir erkennen, dass es sich um ein weltweites Problem handelt und dass die Politik unseres Staates von den großen multinationalen Firmen definiert wird. Trotz dieser schwierigen Situation sehen wir selbst in den kleinsten Widerständen großes Potenzial.


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DAS VERSCHWINDEN DES JOSEF MENGELE

Olivier Guez weiß, wovon er spricht: Seit mehr als zehn Jahren recherchiert der französische Autor über das Schicksal der Nazis in der Nachkriegszeit. Als Co-Autor des Drehbuchs zu „Der Staat gegen Fritz Bauer“ über die Suche nach Adolf Eichmann bekam er 2016 den Deutschen Filmpreis, im Jahr 2007 erschien sein Buch über jüdische Holocaust-Überlebende in Deutschland. In Das Verschwinden des Josef Mengele dreht es sich diesmal um die Perspektive der Täter.

Lückenlos beschreibt Guez die Flucht Mengeles nach Argentinien im Jahr 1949, seinen jahrelangen Aufenthalt unter falschem Namen im Buenos Aires der 50er Jahre, seine Verstecke in Paraguay und letztendlich in Brasilien. Der Autor gibt Einblicke in die argentinische „Nazi Society“, die sich nach ihren Uniformen zurücksehnt und das wahre Ausmaß der Ermordung der Juden verleugnet. Vom Perón-Regime unterstützt, von der jungen Bundesrepublik zunächst nicht verfolgt, führen die Ex-Nazi-Funktionäre ein ausschweifendes, unbehelligtes Leben. Mengele traut sich nach einigen Jahren sogar, einen deutschen Reisepass auf seinen richtigen Namen anzufordern – und erhält ihn problemlos. Erst nach 1959, als ein deutscher Haftbefehl gegen Mengele erlassen wird, erfolgt die schrittweise Verwandlung Mengeles vom üppig lebenden „Pascha“ zur verfolgten, paranoiden „Ratte“. Seine Flucht über den südamerikanischen Kontinent dauert am Ende dreißig Jahre.

„Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist ein Roman. Die Sprache ist durchgehend dokumentarisch-nüchtern, die Erzählung chronologisch. Politische und gesellschaftliche Zusatzinformationen rahmen die Geschichte ein. Der Autor stellt sich vor, dass das Buch wie ein Krimi zu lesen ist. Dabei steht dem/r Leser*in jedoch die Erzählweise im Weg: Die aneinandergereihten Daten und Fakten verhindern an vielen Stellen einen Spannungsaufbau. Die wenigen Gedankenmonologe des Protagonisten reichen nicht aus, um das abstrakte Monster Mengele menschlicher oder verständlicher erscheinen zu lassen. Der ehemalige KZ-Arzt bleibt ein bestialischer Mann, der am Ende seine Strafe erhält, wenn auch keine gerichtliche: Die „Tortur des Exils“ in einem „Gefängnis unter freiem Himmel“.  Guez behauptet, fast nichts erfunden zu haben. Ist der Roman dann überhaupt eine Fiktion? Die beiden Berufe von Guez, Journalist und Autor, scheinen sich in diesem Werk zu vermischen. Auch wenn er erklärt, nicht journalistisch gearbeitet zu haben, hat man beim Lesen oft das Gefühl, eine nüchterne Reportage in den Händen zu halten. Die Einschätzung des französischen Schriftstellers Frédéric Beigbeder, Guez hätte eine neue Romanform geschaffen, mutet befremdlich an. Da trifft es der Erklärungsversuch des Autors im Deutschlandfunk-Interview besser: „Es ist eine literary non-fiction – eine Erzählung oder ein Dokumentarroman oder etwas dazwischen.“

Um die Lebensgeschichte des „Todesengels von Auschwitz“ ranken sich viele Legenden. Das Verdienst des Romans ist es, die Lücken zu schließen, die trotz Mengeles Tagebüchern und zahlreicher Literatur über seine Person in den Berichten bestehen geblieben sind. Wer allerdings eine fesselnde Fluchtgeschichte erwartet, wird enttäuscht werden.


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ALTE ELITE IM NEUEN GEWAND

Nostalgisch? Abdo Benítez äußerte sich mehrmals positiv über die Stroessner-Zeit (Foto: Flickr.com / Michel Temer CC BY 2.0)

Ein Bruch mit der Vergangenheit sieht anders aus. Der seit dem 15. August amtierende Präsident Paraguays Mario Abdo Benítez Junior ist der Sohn des ehemaligen Privatsekretärs von Alfredo Stroessner. Mario Abdo Benítez Senior galt über drei Jahrzehnte als rechte Hand des Diktators, der von 1954 bis 1989 das Land regierte. In dieser Zeit häufte Abdo Benítez Senior ein Vermögen an und wurde ein einflussreicher Unternehmer. Mit diesem finanziellen Hintergrund konnte der Junior seine politische Karriere finanzieren.

In einem Interview mit der Tageszeitung ABC hatte Abdo Benítez Junior noch im Wahlkampf erklärt: „Ich hege nichts als Bewunderung für meinen Vater. Er war mir ein Vorbild. Er war immer ein guter Vater und ein ehrenhafter Mann; zudem ein fleißiger Arbeiter.“ Mehrmals hatte er sich zudem positiv über die Stroessner-Zeit geäußert. Es war vorherzusehen, dass derartige Aussagen bei den Opfern der Stroessner-Diktatur nicht gut ankamen. Die Opposition versuchte deshalb, den Politiker der Republikanischen Nationalen Allianz (ANR) in die Nähe der Militärdiktatur zu rücken und zu beschwören, mit ihm drohe der Rückfall in den Autoritarismus.

Um sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, betonte Abdo Benítez in seiner Wahlkampagne, dass er sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen werde. Er erklärte, dass er zwar bestimmte Aspekte der Stroessner-Zeit positiv bewerte – wie die wirtschaftliche Entwicklung und vermeintlich niedrige Kriminalitätsrate – , er damit aber „keine Verbrechen und keine Einzelpersonen“ verteidigen wolle. Bewusst hielt er seine Distanzierung von der Diktatur so nebulös: Schließlich finden sich unter den Colorados, wie die Angehörigen der ANR genannt werden, noch zahlreiche nostalgische Anhänger*innen Stroessners, die Abdo Benítez ebensowenig verprellen wollte, wie dessen Gegner*innen, von denen es auch nicht wenige in der ANR gibt.

Sein Wahlkampf war von Erfolg gekrönt. Am 22. April war Abdo Benítez Junior mit 46,5 Prozent zum Staatsoberhaupt gewählt worden. Doch für die ANR ist dieses Ergebnis eher ein Dämpfer. Efraín Alegre von der Liberalen Partei, historisch in Konkurrenz mit den Colorados, war der Kandidat des Mitte-links-Bündnisses GANAR und konnte 42,7 Prozent der Stimmen gewinnen. Dies entsprach nur ca. 94.000 Stimmen Unterschied.
Das Bündnis GANAR wurde auch von der linken Sammlungsbewegung Frente Guasú unterstützt, dem der ehemalige Präsident und Vorsitzender des Senats, Fernando Lugo, vorstand. Nur dem ehemaligen Bischof Lugo als Kandidaten hätten Beobachter*innen zugetraut, die seit 1947 fast ununterbrochen regierenden Colorados zu besiegen, wie er es bereits 2008 getan hatte. Doch Lugo, der 2012 in einem hochumstrittenen Verfahren des Amtes enthoben worden war, darf nicht erneut kandidieren, denn die Verfassung erlaubt keine Wiederwahl eines Präsidenten.
Diese Regelung hatte Abdo Benítez Amtsvorgänger Horacio Cartes zu kippen versucht. Auf verschiedenen Wegen hatte der Unternehmer*innen und mutmaßlich reichste Paraguayer*innen versucht, eine Verfassungsänderung durchzusetzen. Dadurch hatte er im April vergangenen Jahres gewaltsame Proteste provoziert, bei denen sogar das Parlamentsgebäude in Brand gesetzt worden war (siehe LN 514).

Vor der Wahl im April dieses Jahres hatte Cartes noch versucht, sich als Kandidat für ein Senatorenamt aufstellen zu lassen, und dieses auch bei den Wahlen gewonnen. Als ehemaliger Präsident wäre er zwar ohnehin als Senator auf Lebenszeit aufgestellt worden, jedoch ohne Gehalt, Stimmrecht oder – wahrscheinlich am bedeutsamsten für Cartes – Immunität. Gegen ihn liegen mehrere Beschuldigungen wegen Korruption und Beteiligung am Zigarettenschmuggel vor, denen er sich vermutlich ungerne vor Gericht stellen will. Doch er konnte das gewonnene Sena­toren­amt nicht einfach annehmen, da es zu einer Überschneidung mit seinem Präsidentenamt gekommen wäre. Deshalb hatte er im Mai seinen Rücktritt eingereicht. Als sich abzeichnete, dass die Legislative seinen Rücktritt nicht akzeptieren würde, nahm er sein Rücktrittsgesuch zurück und übergab, wie vorgesehen, erst am 15. August das höchste Staatsamt.

Das Vorgehen Cartes‘ offenbart eine tiefe Respektlosigkeit gegenüber demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen und Regeln. Viele einflussreiche Colorados biegen und manipulieren die Gesetze zu ihren Gunsten, die Korruption ist virulent. Abdo Benítez hat versprochen, diese Praxis zu ändern. „Das stellt einen Bruch gegenüber Cartes und einen gewissen Fortschritt für Paraguay dar“, kommentiert der paraguayische Politikwissenschaftler und Soziologe Carlos Peris gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Er glaubt nicht, dass Abdo Benítez so schamlos wie Cartes demokratische Regeln für sich zurechtbiegen wird. „Allerdings ist auf wirtschaftlicher Ebene mit Kontinuität zu rechnen.“ Niemand rechnet damit, dass Abdo Benítez die neoliberale Wirtschaftspolitik seines Amtsvorgängers hinterfragen oder gar substanziell ändern wird.

Paraguay ist nach Mexiko der zweitgrößte Produzent von Marihuana

Die zu erwartende Wirtschaftspolitik Abdo Benítez‘ bringt ihm denn auch mächtige Verbündete ein. Wenige Tage vor seinem Amtsantritt hatte er die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) Christine Lagarde in Washington besucht. Bei einer gemeinsamen Presse­konferenz versicherte Lagarde, dass der IWF weiterhin Paraguays wirtschaftliche Entwicklung mit Krediten unterstützen wolle. Dies verwundert nicht, ist doch abzusehen, dass Abdo Benítez ganz im Sinne des IWF regieren wird.

Auch die konservativen Präsidenten Brasiliens und Argentiniens, Michel Temer und Mauricio Macri, begrüßten die Wahl Abdo Benítez‘. Denn in seiner Regierung sehen sie einen zuverlässigen Verbündeten, um ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) zu erreichen, das sie anstreben.

Traditionell sind beide Länder von enormer Bedeutung für die paraguayische Politik und Wirtscha, beide befinden sich aber in tiefen wirt­schaftl­­ichen Krisen. Dennoch gehen Wirtschaftsexpert*innen nicht davon aus, dass die Krise in den Nachbarländern einfach so auf Paraguay übergreift. Zwar sind die Einnahmen Paraguays aus dem Export von Elektrizität (generiert in den großen Wasserkraftwerken Itaipú und Yaceretá) nach Argentinien und Brasilien von großer Bedeutung, und diese gehen naturgemäß mit dem Rückgang der dortigen Wirtschaftsleistung zurück. Doch mittlerweile ist für Paraguay der Export von Soja wichtiger geworden: Das Land ist der fünftgrößte Sojaexporteur der Welt, und beliefert vor allem den europäischen und chinesischen Markt.

Im ländlichen Raum herrschen Rechtsunsicherheit und ein generalisiertes Klima der Angst

Ein anderes bedeutsames Exportprodukt Paraguays ist heiklerer Natur. Paraguay ist nach Mexiko der zweitgrößte Produzent von Marihuana. Insbesondere im Norden und Westen des Landes wird die illegalisierte Droge auf riesigen Feldern für den Export angebaut.

Großgrundbesitzer*innen, davon etliche Anhänger*innen der Colorados, profitieren mutmaßlich von diesem Geschäft, obwohl die ANR in öffentlichen Aussagen immer wieder betont, mit „harter Hand“ gegen den Drogenhandel durchgreifen zu wollen. Es gibt Indizien, dass Ex-Präsident Horacio Cartes selbst von der Geldwäsche von Einnahmen aus dem Geschäft profitiert hat.

Beide Wirtschaftszweige – Soja- und Marihuana-Anbau – basieren auf einer grundsätzlichen Rechtsunsicherheit im ländlichen Raum. Für beide Produkte müssen Kleinbäuer*innen vertrieben werden, ohne dass diese sich effektiv vor Gericht wehren können. Nur in einem generalisierten Klima der Angst unter der Bevölkerung können Mafias den Drogenanbau und -handel vollziehen, wie sie es derzeit tun.

Die immer stärker werdende Militarisierung des Nordens des Landes schafft diese Situation. Unter dem Vorwand der Bekämpfung der kleinen Guerrillagruppe Paraguayisches Volksheer (EPP) gibt der Staat dem Militär immer weiter reichende Vollmachten im Norden des Landes. Dies schafft das Klima der Angst, das die illegale Aneignung von Land und den großangelegten Anbau von Marihuana durch Mafias, die eng mit Politik und Großgrundbesitzer*innen verbunden sind, erst möglich macht. Abdo Benítez mag sich ein bisschen mehr an die demokratischen Regeln halten als sein Vorgänger. Dass er diese grundlegenden korrupten Strukturen im Land beseitigen wird, ist aber kaum zu erwarten. Letztlich wird er dafür sorgen, dass die alten Eliten weiter ihre Macht erhalten könnten.


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RÜCKKEHR DES AUTORITARISMUS

Seit Beginn der Diktatur Alfredo Stroessners im Jahr 1954 hat die Colorado-Partei beinahe ununterbrochen regiert. Nur zwischen 2008 und 2012 schaffte es die von Fernando Lugo angeführte Allianz, für eine der ungleichsten Gesellschaften des Planeten zaghafte Umverteilungsprogramme zu entwerfen. Diese Regierungszeit wurde jedoch durch einen parlamentarischen Putsch vorzeitig beendet.

Sowohl die sogenannte Colorado-Partei (ANR) als auch die Liberale Partei (PLRA) – die zweitwichtigste des Landes – sind ideologisch dem rechtskonservativen Lager zuzuordnen und stellen gemeinsam schon lange eine unerschütterliche parlamentarische Mehrheit.

Die Kandidaten Mario Abdo Benítez und Hugo Velazquez von der rechtskonservativen Partei ANR wurden bei den Wahlen jeweils als Präsident und Vizepräsident mit 46,44 Prozent der Stimmen bestätigt. Nur knapp dahinter lagen die Kandidaten der liberalen Partei PLRA mit 42,74 Prozent. Bei den Parlamentswahlen gewann die Colorado-Partei ebenfalls mit 29,64 Prozent die Mehrheit, gefolgt von der PLRA mit 22,1 Prozent und der progressiven Frente Guasú mit 10,68 Prozent.

Bereits die Vorwahldebatten im Land standen im Zeichen der etablierten Parteien. Sie haben traditionell nur wenig Substanz und richten sich nach den Interessen von Privatleuten, die meistens mit Medienunternehmen und den traditionalistischen Diskursen der politischen Parteien in Verbindung stehen. Starke öffentliche Medien gibt es nicht, und bereichernde Inhalte auf alternativen Wegen in die Debatten einzubringen, ist bislang niemandem gelungen.

Bei diesen Wahlen gab es zwei starke Präsidentschaftskandidaten. Für die ANR trat Mario Abdo Benítez an, der Enkel des Privatsekretärs von Diktator Stroessner; für die Liberale Partei kandidierte zum zweiten Mal in Folge Efraín Alegre, der von seinem Parlamentssitz aus den parlamentarischen Putsch befördert hatte und so 2012 Lugos Regierung stürzte, sodass die ANR 2013 erneut an die Macht kam. Für diese Wahlen nun versöhnte sich Alegre mit der Parteienallianz Frente Guasú, die von Lugo geführt wird und ein weites politisches Spektrum von Links und Mitte-Links abdeckt. Vereinzelte Stimmen aus der Allianz riefen jedoch dazu auf, ungültig zu wählen.

Die Colorado-Partei knüpft erneut an Diskurse und Praktiken der Stroessner-Diktatur an, und der Sieg ihres Kandidaten scheint vor diesem Hintergrund kein Zufall. Zu ihren auffälligsten Forderungen zählt etwa die Wiedereinführung des verpflichtenden Wehrdienstes oder auch die Einrichtung von Häusern zur Aufnahme minderjähriger Mütter, was als Antwort auf wichtige Sozialdebatten über Sicherheit und Sexualität (Sexualkunde, Abtreibung etc.) zu sehen ist. Den sozialen Netzwerken bot das Argumentationsniveau des Kandidaten einen ständigen Anlass zum Spott.
Die Liberale Partei büßte durch ihre Mitwirkung beim Parlamentsputsch 2012 viel Macht ein. Trotz ihrer liberalkonservativen Haltung, wie sie zu Zeiten der Diktatur als einzige zugelassen war, konnten sich unter ihrem Schutz wichtige progressive Persönlichkeiten und Gruppen herausbilden. Bei diesen Wahlen sollten ihre Vorschläge direkte Antworten auf die drängendsten Bedürfnisse der Menschen geben. Dies war eher politisches Marketing und verlieh strukturellen Fragen keine Tiefe, um im Fall eines Sieges Konflikte zu vermeiden.

Angesichts der heftigen Konfrontation der feministischen Bewegung mit ihren ärgsten, in religiösen Sekten konzentrierten Gegner*innen, wurde die Debatte zu weiten Teilen über Themen wie Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe geführt. Doch keiner der Kandidaten wagte es, sich offen für diese progressiven Forderungen auszusprechen.

Die Einigung über eine gemeinsame Präsidentschaftskandidatur der Opposition ermöglichte es, dass alle Parteien ihre Kandidaturen für das Parlament unabhängig voneinander vorstellten. Es konnte jedoch ein Dutzend dieser Parteien keinen einzigen Sitz für sich gewinnen. Nur die Frente Guasú unter Ex-Präsident Lugo darf künftig sechs Senator*innen stellen. Bemerkenswert ist, dass die von einer bekannten Komiker*innen-Gruppe geführte Partei Hagamos Stimmenzuwächse für sich verbuchen konnte, und außerdem die Partei Patria Querida wiederauferstanden ist, die Unternehmer-„Freunde“ 2001 gegründet hatten und die sich als Hauptziel die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen schrieb.

Die Colorado-Partei hat mit keinem großen Abstand zum Zweitplatzierten gesiegt, und wenn man sich die gravierenden Mängel des Wahlsystems vor Augen führt, könnte man sogar sagen, dass sie in der Praxis eine symbolische Niederlage hat einstecken müssen.
Am Wahltag fahren in Paraguay fast keine öffentlichen Verkehrsmittel, was fährt, wird durch politische Parteien privatisiert, die ihre Anhänger zu den Wahllokalen befördern lassen. Während des Wahlkampfs kam es zu Anzeigen gegen Kandidat*innen, die Geld verteilten, Ausweisdokumente kauften und andere althergebrachte Praktiken nutzten, um die Wahlen zu manipulieren.

Wer mehr bezahlen kann und über die besser ausgebildeten Leute zur „Überwachung der eigenen Stimmen“ am Wahltag verfügt, streicht in punkto Ergebnisse an den Urnen Gewinne ein. In den Tagen nach der Wahl wurde deswegen von Seiten der Liberalen Partei heftige Kritik laut.
Die Debatte um elektronische Wahlurnen oder ein effizienteres Auszählsystem wurde vor einer Weile unter der Prämisse aufgegeben, dass diejenigen, die über die größte Parteienstruktur verfügen, von diesem Chaos profitieren. Denn so können quasi während des gesamten Wahlvorgangs kleine Betrügereien verübt werden, die in der Summe den allgemeinen Wahlverlauf beeinflussen.

Der Sieg eines Enkels der längsten Diktatur Amerikas, der auf den Werken seiner Großväter aufbaut, steht als klares Zeichen für den Diskurs und die Praktiken, die eingesetzt werden sollen – nicht nur in Paraguay, sondern auch in den Nachbarländern. Nach einem Jahrzehnt lateinamerikanistischer Regierungen, die vor allem auf regionale Integration setzten, um ihre gemeinsamen Interessen auf der globalen Bühne vorzutragen, reiht sich ein parlamentarischer Staatsstreich an den anderen, kommt es zu Wahlbetrügereien und Operationen von Medienunternehmen, die allesamt in die Machtübernahme zwielichtiger Persönlichkeiten münden, die mit transnationalen Mafias in Verbindung stehen: Da wären der Fall Temer gegen Dilma und die Festnahme Lulas in Brasilien, die Verstrickung Macris mit den Panama Papers und seine herabwürdigende Haltung gegenüber den Müttern der Plaza de Mayo in Argentinien, die Verbindung von Präsident Cartes mit dem globalen Zigarettenhandel in Paraguay. All das weckt zumindest den Verdacht, dass in Zeiten von Facebook und transnationalen Machtstrukturen ein Plan Cóndor reloaded besteht.

Mit seinen knapp 400 Quadratkilometern besitzt Paraguay pro Kopf die achtgrößte kultivierbare Fläche weltweit. Das sind die wahren Interessen hinter einer Neuordnung der lateinamerikanischen Regierungen.


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“DAS KINO KANN EINE GESELLSCHAFT HEILEN!”

Las Herederas ist der erste Film aus Paraguay im Wettbewerb der Berlinale. Was bedeutet das für Sie und das paraguayische Kino?
Man kann sagen, dass unser Kino viele Jahre lang unsichtbar war. Paraguay hat lange Zeit seine Filmproduktion vernachlässigt. Wir hatten einen bayerischen Präsidenten, den Diktator Alfredo Stroessner, der 1954 an die Macht gekommen ist und sie 1989 wieder abgegeben hat, als ich 16 Jahre alt war. Stellen Sie sich mal vor, diese ganzen Jahre praktisch ohne Filmproduktion! Das war gravierend und weil es einfach sehr wenig Filme gab, konnten wir natürlich auch nicht auf der Berlinale präsent sein. Deshalb freue ich mich auch, mit einem Film auf der Berlinale vertreten zu sein, der eine soziale Schicht behandelt, die in unserem Kino nicht oft zu sehen ist und die mit einer Reflexion über die Dinge zu tun hat, die mir in meinem Land wichtig erscheinen. Manchmal kommt es mir so vor, dass durch die Festivals, die Filmfonds, selbst durch die Kritiker ein lateinamerikanisches Kino nach ihren Bedürfnissen geformt wird, die manchmal exotisierend sind. Das kann zum Beispiel auch ein zu offensichtlich politisches Kino sein. In diesem Fall habe ich versucht, einen Film hierher zu bringen, der das nicht ist, sondern etwas, von dem ich glaube, dass wir es brauchen.

Foto: Viola Güse

Gab es wirklich gar keine Filmproduktion in Paraguay? Ich frage, weil Diktaturen das Kino ja manchmal für ihre Propaganda verwenden. Wie es zum Beispiel im Dritten Reich mit den Filmen von Leni Riefenstahl der Fall war.
In Paraguay gab es einige Firmen, die offizielle Nachrichtensendungen für das Kino machten. Die produzierten im Auftrag von Franco für die lateinamerikanischen Diktaturen und arbeiten heute alle in Madrid. Es gab 1979 einen einzigen Film, der offiziell in Paraguay produziert wurde (den Kriegsfilm Cerro Cora, Anm. d. Red.). Der Rest ist ein weißer Fleck.

Sprechen wir ein bisschen über das Setting des Films. In Las Herederas sind Männer fast unsichtbar. Wenn die Kamera auf einen Mann schwenkt, wird das Bild unscharf gezoomt. Woher kam die Idee, einen Film zu machen, in dem fast nur Frauen auftreten? Speziell ältere Frauen.
Ich glaube, da gab es viele Gründe. Als ich die Geschichte schreiben musste, habe ich nachgedacht, und die erste Sache, die mir in den Kopf kam, waren die Gespräche von Frauen untereinander. Am meisten erinnerte ich mich an die Echos der Stimmen der Frauen, die ich in meiner Kindheit kennengelernt hatte. Ich glaube, wenn man seinen ersten Film macht, sucht man nach einem sicheren Ort. Ich habe mich für ältere Frauen entschieden, weil es für mich sehr wichtig war, über eine Gesellschaft zu sprechen, die sich ständig selbst reproduziert und deswegen ist die Geschichte so wichtig. Diese Frauen tragen ihre Geschichte in ihren Gesichtern, in ihren Körpern, überall. Genauso wie das alles in den Tapeten des Hauses, in den Möbeln hing. Die vergangene Zeit ist überall präsent, um dieses Gefühl nachzuempfinden, dass wir über etwas Altes, etwas im Verfall, um das sich niemand schert.

Haben Sie diese weibliche Welt aus familiären Erinnerungen rekonstruiert? Ich kann mir vorstellen, dass der Zugang dazu für einen Mann nicht so leicht war.
Das Grundsätzliche habe ich als Kind aufgeschnappt. Viele Dinge habe ich gehört, als ich mich als Kind versteckt und gelauscht habe und ich glaube, dass es das ist, was in meinem Kopf widerhallt. Ich glaube, dass ich das heute nicht mehr hören könnte, dass ich zu dieser Intimität keinen Zugang mehr hätte. Aber es erscheint mir, dass man es Kindern verzeiht, wenn sie da sind, während die Mutter und die Tanten miteinander sprechen… Ich glaube aber auch, dass die Teile der Gesellschaft, in denen man sich untereinander verbündet, in denen der Modus Operandi der Klatsch, der Gossip ist, mein Interesse wecken. Das erscheint mir in einer Gesellschaft wie der, aus der ich komme, von fundamentaler Wichtigkeit.

Und dann das Männerbild. Ich denke, dass Sie sehr oft darauf stoßen werden, wenn Sie über Lateinamerika sprechen. Das sind machistische Gesellschaften dort, in denen erwartet wird, dass der Mann immer alle Antworten kennt. Dass er seiner Sache immer sicher ist, immer alles weiß. Die Frauen können sich aber Fragen stellen. Und mir schien es, dass über die weiblichen Charaktere die beste Herangehensweise wäre, um Fragen zu stellen. Also habe ich mir gesagt: So machen wir das!

Würden Sie ihren Film als feministischen Film bezeichnen?
Nein. Ich glaube, es ist ein humanistischer Film. Weil die Frauen keine feministischen Positionen vertreten, es sind verschiedene Arten von Frauen. Ich weiß nicht, wie Feministinnen oder lesbische Kollektive den Film aufnehmen werden. Das entzieht sich meiner Kontrolle. Aber was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass ich versucht habe, einen Film zu machen, der so humanistisch wie möglich sein sollte.

Der Film behandelt auch das Thema der sozialen Klasse, in diesem Fall der höheren sozialen Klasse. Das bemerkt man zum Beispiel im Verhältnis mit den Hausangestellten. Obwohl sie fast kein Geld mehr hat, möchte Chela, die Protagonistin, nicht auf ein Dienstmädchen verzichten. Wie präsent ist dieser Aspekt in der Gesellschaft in Paraguay?
In Paraguay gibt es eine enorme soziale Ungleichheit. Es ist eine Gesellschaft, in der wir sehr daran gewöhnt sind, dass ein Teil der Bevölkerung immer Diener, Chauffeure, Gärtner hat und der Rest am Existenzminimum lebt. Das erscheint mir sehr wichtig. Während der Entstehung des Films habe ich viel am Universum dieser Frauen gearbeitet und nicht so sehr an der Figur der Hausangestellten. Ich glaube, das ist erst gekommen, als wir diese Schauspielerin kennengelernt haben, die wirklich von Beruf Hausangestellte ist, bei meinem Nachbarn. Sie wohnt tatsächlich direkt neben meinem Haus. Und ausgehend von der Verbindung, die sie mit Chela hat, haben wir begonnen, darüber nachzudenken, ob ein großer Teil dessen, was passiert, daran liegt, dass es keinen Dialog zwischen den sozialen Klassen gibt, dass es da eine Annäherung, ein Gespräch geben müsste, damit die Dinge beginnen, sich zu ändern. Und ich glaube, das ist etwas sehr Wichtiges.

Ein anderes Thema des Films ist die Freiheit, die Chela sich nach und nach erarbeitet. Wenn wir über das Filmemachen in Paraguay reden, wo heute ein ziemlich repressives System an der Macht ist: Wie viel Freiheit gibt es heute für Filmemacher*innen in Paraguay?
Ich glaube, ich möchte hier nicht direkt vom repressiven System sprechen. Denn abgesehen davon, dass wir gerade einen Präsidenten haben, der in Anschuldigungen bezüglich Drogenhandel, Zigarettenschmuggel und Geldwäsche verstrickt ist, glaube ich, dass in Paraguay nicht nur der Staat, sondern das Bürgertum versagt. Es gibt diese romantische Beziehung zwischen der Bourgeoisie und den Diktatoren, die mir als etwas sehr Mächtiges erscheint. Und auf andere Weise besteht sie weiter fort, in diesen neuen Modellen, in denen die Mächtigen nicht mehr Diktatoren sind, sondern Schmuggler, Drogenbosse, andere Formen des Regierens. Für mich ist in diesem Moment, wenn ich von heute spreche, nicht mehr die Repression der Regierung das Schlimmste. Sondern die Unterdrückung durch die Gesellschaft, die viel stärker ist.

In Ihren Filmen sprechen Sie über kontroverse Themen, wie zum Beispiel das Massaker an der Landbevölkerung in Curuguaty. Wie wird das in Paraguay aufgenommen?
Diesem Film, der La voz perdida (Die verlorene Stimme) heißt und in Venezuela den Kurzfilmpreis Horizonte gewonnen hat, scheint mir ein so politischer Film zu sein, dass er dort, wo ich herkomme, als Propaganda aufgefasst wird. Es gibt in Paraguay keine große Offenheit dafür, keinen Wunsch, sich ernsthaft mit den Ereignissen zu befassen. Die Leute begnügen sich damit, die Nachrichten zu lesen. Aber wir wissen natürlich über die Entstehung dieser Nachrichten, die in Wirklichkeit große Manipulationen sind, Bescheid. Ich glaube, in Paraguay wäre dringend ein öffentlicher Fernsehkanal nötig. Ich habe schon einmal an so einem Projekt für öffentliches Fernsehen mitgearbeitet. Weil ich wirklich glaube, dass es wichtig ist, was es hier in Europa gibt: Eine Tradition öffentlicher Fernsehanstalten. In Lateinamerika gibt es das nicht. In Lateinamerika entsteht Kommunikation auf Privatinitiative und ich glaube, das ist sehr gefährlich für unsere Gesellschaft. Denn sie entsteht natürlich manipuliert durch die Interessen der großen Mediengruppen. Deshalb ist es mir sympathisch, dass Sie (Lateinamerika Nachrichten, die Red.) kollektiv organisiert sind. Das ist klug.

Aber auch viel Arbeit.
Die ist es wert.

Kommen durch den Erfolg, dass es ein Film aus Paraguay in den Wettbewerb der Berlinale geschafft hat, weitere Produktionen aus Paraguay nach? Gibt es eine junge Filmszene, die gerade entsteht?
Ja, es gibt eine neu entstehende, vielseitige paraguayische Filmszene, die verschiedene Aspekte behandelt. Aber ich glaube, dass die Unterstützung jedweder Filmproduktion fehlt. Es ist viel besser, auf der Basis öffentlicher Filmfonds zu arbeiten, die die Wichtigkeit des Kinos für den Aufbau einer Gesellschaft verstehen. In Paraguay gibt es immer diese Diskussion: „Wie kann man ins Kino investieren, wenn man doch die Ausgaben für die Gesundheit verwenden müsste?“ Das ist für mich eine grundlegende Debatte und ich vertrete dabei immer die Position, dass das Kino genauso Verletzungen heilt. Nur auf andere Weise.

Gibt es da Interesse von Seiten der Politik?
Wenig. Momentan laufen wir sogar Gefahr, dass Paraguay aus IberMedia, dem einzigen regionalen Filmförderfonds, dem wir angehören, austritt. Da werden wir dagegen kämpfen.


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IM ROSTIGEN KÄFIG


„Ganz Paraguay ist ein großes Gefängnis“ sagt Regisseur Marcelo Martinessi auf der Pressekonferenz zu Las Herederas. Das repressive politische System, das 2012 nach einer kurzen Phase der Lockerung durch einen kalten Putsch ins Land zurückgekehrt ist, lässt ungute Erinnerungen an das jahrzehntelange brutale Regime von Alfredo Stroessner, einer der letzten Militärdiktaturen Lateinamerikas, wach werden. Insofern ist es eine kleine Sensation, dass in diesem Klima der erste paraguayische Spielfilm aller Zeiten entstanden ist, der es in den Wettbewerb eines großen Filmfestivals geschafft hat. Martinessi, der bereits 2016 in Venedig den Preis für den besten Kurzfilm mit einem Beitrag über das Massaker an der Zivilbevölkerung in Curuguaty gewonnen hat, wählt mit Las Herederas eine für das männlich dominierte Paraguay ungewöhnliche, aber genau aus diesem Grund auch logische Perspektive: Der Fokus liegt komplett auf dem Privatleben mehrerer älterer Frauen.

Die Geschichte folgt Chela (herausragend in ihrem ersten Kinofilm: Ana Brun), einer in die Jahre gekommenen Dame der besseren Gesellschaft in Paraguay. Sie wohnt in einer nicht öffentlich ausgelebten Partnerschaft mit ihrer Freundin Chiquita (Margarita Irún) unter einem gemeinsamen Dach. Aber die Zeiten werden magerer und das Geld aus einer Erbschaft (vermutlich aus einer vorangegangen heterosexuellen Ehe) ist aufgebraucht. Deshalb wird im Laufe des Films nach und nach im wahrsten Sinne das Tafelsilber der beiden Herederas (Erbinnen) verscherbelt: Besteck, Tisch, Klavier. Als Chiquita wegen ihrer Schulden für kurze Zeit ins Gefängnis muss, sieht sich Chela, die ihr ganzes Leben lang nie selbstständig agieren konnte – oder durfte – plötzlich völlig auf sich allein gestellt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten findet sie sich jedoch schnell zurecht und baut mehr oder weniger durch Zufall einen Fahrservice für Frauen auf. Auf diese Weise macht sie die Bekanntschaft der lebenslustigen Angy (Ana Ivanova), zu der sie sich mehr und mehr hingezogen fühlt.

Martinessi geht im Film mehrere wichtige soziale Themen an, ohne dabei die Brechstange auspacken zu müssen. Das Getratsche der Frauen über ihre Hausangestellten aus der unteren sozialen Klasse, auf die selbst die quasi bankrotten von ihnen nicht verzichten wollen, ist eines davon. Ein anderes ist die völlige Ausblendung der gesellschaftlichen Realitäten, von denen die Frauen bei ihren Kaffeekränzchen und Dominozirkeln nichts mitbekommen. Erst durch Chiquitas Zwangsaufenthalt im Frauengefängnis kommen sie damit in Kontakt – und überraschenderweise finden sie dort trotz der teilweise chaotischen Verhältnisse sogar in gewisser Weise mehr Freiheit als in ihrem geordneten, aber von gesellschaftlichen Zwängen eingeengten Leben draußen. Zudem setzt auch der goldene Käfig, in dem viele von ihnen jahrzehntelang gut gelebt haben, durch die finanziellen Schwierigkeiten langsam immer mehr Rost an und bietet keinen Schutz mehr.

Las Herederas ist ein Film, der in leisen und subtilen Tönen ein komplexes Gesellschaftsporträt der (weiblichen) Oberschicht Paraguays entwirft. Die Protagonistinnen gehören zu einer „verlorenen Frauengeneration“ des Landes, die fast ihr komplettes Leben unter der Stroessner-Diktatur verbracht hat und niemals ihre Bedürfnisse jedweder Art offen ausleben konnte. Das Ergebnis war ein völliger Rückzug ins Privatleben und eine Unterordnung der Bedürfnisse unter ökonomischen Wohlstand, während das politische und gesellschaftliche Leben fast ausschließlich von Männern bestimmt wurde. Wie Martinessi diesen Spieß umdreht, wie er jedes Mal, wenn ein Mann im Film beginnt, zu sprechen (und das ist äußerst selten der Fall) die Kamera unscharf zoomt, das ist so bemerkenswert wie mutig. Kein einziger Mann nimmt auch nur im Ansatz eine Rolle ein, die über reine Dekoration hinausgeht. Und so öffnet sich der Blick auf eine Perspektive, die von teils sichtbaren, teils verborgenen Strukturen über Jahrzehnte fast unsichtbar bleib.So transportiert der Film feministische Ideen, ohne sie direkt anzusprechen.

Ein Interview mit dem Regisseur Marcelo Martinessi erscheint in der März-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten.

Las Herederas lief im Wettbewerb der Berlinale. Die Hauptdarstellerin Ana Brun bekam den Silberen Bären für ihre schauspielerische Leistung. Der Film wurde außerdem mit dem Alfred-Bauer-Preist für Filme, die neue Perspektiven eröffnen, ausgezeichnet.


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MIT GOTT UND DEN COLORADOS – ABER NICHT GEGEN DIE USA

„Brasilien ist nichts für Anfänger“ – dies ist ein beliebter Spruch unter Kenner*innen der politischen Kultur des größten lateinamerikanischen Landes. Politiker*innen wechseln zuweilen ihre Partei und Positionen wie andere Leute ihre Unterwäsche, und vertreten absurd anmutende Argumentationen. Doch wenn es um groteske Koalitionen und politische Argumentationen geht, hat das kleine Paraguay noch mehr drauf, als der große Nachbar. Wenn Brasilien nichts für Anfänger ist, dann ist Paraguay nur etwas für Spezialist*innen, wie der aktuelle Streit um einen Verfassungszusatz zeigt, der die Wiederwahl für Präsident*innen ermöglichen soll.

Wiederwahlen von Regierungschef*innen gelten als eine normale Angelegenheit in Demokratien. Doch in Paraguay liegt die Sache anders. Die paraguayische Verfassung von 1992 hatte vor allem ein Ziel: Lange Regierungszeiten, wie die des letzten Diktator des Landes, Alfredo Stroessner, zu verhindern. Dieser hatte für 35 Jahre das Land brutal regiert. Da er die Partei Nationale Republikanische Allianz – Colorados (ANR-Colorados) und das Militär kontrollierte, hatte keine oppositionelle Kraft gegen ihn eine Chance. Gestürzt wurde er schließlich 1989, von Leuten aus den eigenen Reihen: Es war eine Koalition aus dissidenten Colorados und Militärs, die ihn erfolgreich aus dem Amt putschte.

Auch nach Ende der Diktatur behielt die ANR-Colorados de facto die Rolle einer inoffiziellen Staatspartei, mit weitreichendem gesellschaftlichen Einfluss. Doch um zukünftig zu verhindern, dass sich eine einzelne Person dieses Partei- und Staatsapparats auf Dauer bemächtigen könnte, wurde die Amtszeit für einen Präsidenten auf fünf Jahre begrenzt, ohne jede Möglichkeit zur Wiederwahl. Diese Norm wurde von den ersten Staatschefs der demokratischen Transition auch respektiert. Nicanor Duarte Frutos (2003-2008) versuchte als erster Präsident, eine zweite Amtszeit für sich möglich zu machen. Sein Nachfolger, Fernando Lugo, war der erste seit den 1940er Jahren, der auf demokratischem Wege die Herrschaft der Colorados beendete. Doch er beendete seine reguläre Amtszeit nicht, denn das Parlament enthob ihn im Jahr 2012 des Amtes, in einem hochumstrittenen und als „kalten Putsch“ bezeichneten Verfahren. Nun strebt auch er eine Änderung der Verfassung an, um erneut als Präsidentschaftskandidat antreten zu dürfen.

Am weitesten kam allerdings der aktuelle Amtsträger, Horacio Cartes (ANR-Colorados), beim Vorhaben, eine zweite Amtszeit zu erlangen. Dabei nutzte er wenig demokratische Mittel und merkwürdig anmutende Allianzen. Dass Cartes überhaupt den Willen zu einer zweiten Amtszeit zeigte, ist an sich bereits ein Kuriosum: In einem Interview mit CNN-Lateinamerika nach seinem Amtsantritt am 15. August 2013 hatte er diesen Schritt noch kategorisch ausgeschlossen. *Damals sagte er: „Darüber kann ich nicht sprechen, denn die Verfassung verhindert eine zweite Amtszeit, und das sind die Regeln, die ich akzeptiert habe und nach denen ich spielen werde. Wenn eine zweite Amtszeit möglich gemacht wird, dann für den nächsten Präsidenten.“
Bis in den September des letzten Jahres hatte Cartes erklärt, dass der angemessene Weg, um eine zweite Amtszeit zu erreichen, eine Verfassungsreform sei, und nicht ein einfacher Zusatz. Denn, so Cartes, ein einfacher Verfassungszusatz würde die paraguayische Bevölkerung spalten.

In seinen Reden verneinte Cartes immer wieder, eine zweite Amtszeit anzustreben.

In seinen Reden verneinte Cartes immer wieder, eine zweite Amtszeit anzustreben. Doch im vergangenen Jahr begann die Basis der Colorado-Partei, eine Verlängerung seiner Legislaturperiode zu verlangen. Im Oktober erklärte Cartes schließlich in einer Rede: „Wenn Gott und die Colorado-Partei wollen, stehe ich zur Verfügung!“
Die regierungsnahen Fraktionen der Colorado-Partei wählten nun aber das Mittel des Verfassungszusatzes, um eine zweite Amtszeit für den Mandatsträger zu erreichen – ein verfassungsrechtlich umstrittenes Mittel für eine so delikate Frage. Eine Verbündete fanden sie in einer Fraktion der Radikalen Liberalen Partei – PLRA, die sich um den Politiker Blas Llano sammelt. Einen anderen Verbündeten fanden sie in dem größten linken Parteienbündnis des Landes, dem Frente Guasu, der vom jetzigen Senator und Ex-Präsidenten Fernando Lugo angeführt wird.
Als Grund, warum sich diese beiden Gruppen auf ein Bündnis mit den eigentlich verhassten Colorados einließen, gaben beide an, dass das Volk Fernando Lugo wieder als Präsidenten wolle. Blas Llano erklärte, nur Lugo sei in der Lage, 2018 gegen die Colorados zu gewinnen, und er sei bereit, alles zu geben, um das zu erreichen. Er verteidigte sein Bündnis mit den Colorados also damit, dass er deren Herrschaft beenden wolle. Doch das ist noch nicht das Absurdeste: Es war niemand anderes als Blas Llano, der im Jahr 2012 als Präsident der PLRA den liberalen Abgeordneten und Senator*innen anordnete, dass sie für die Amtsenthebung von Präsident Fernando Lugo stimmen sollen. Wollte Blas Llano 2012 Lugo noch so schnell wie möglich loswerden, will er ihn nun 2018 wieder gegen die Colorados ins Amt bringen.

Nachdem diese kuriose Allianz geschmiedet war, sollte der Verfassungszusatz für eine zweite Amtszeit im Senat verabschiedet werden. Das Problem, das diese Koalition nun umschiffen musste, war die Tatsache, dass die Opposition die Präsidentschaft in der Legislative innehatte. Der Senatspräsident Héctor Acevedo erklärte, dass die Initiative der Gruppe um Cartes und seine Verbündeten gegen die Verfassung verstoße, jegliche Entscheidung in diese Richtung sei deshalb unzulässig. Folglich ließ er den Vorschlag nicht zur Abstimmung zu.
Angesichts des Widerstands des Senatspräsidenten bildeten die 25 Senator*innen, die für einen Verfassungszusatz stimmen wollten, einen Parallelsenat. Doch sie tagten nicht im dafür vorgesehenen Sitzungssaal des Kongresses, sondern hinter verschlossenen Türen, in den Büroräumen des Frente Guasu im Kongress. Unter Ausschluss der Opposition nahmen sie den Antrag für einen Verfassungszusatz, der die Wiederwahl ermöglicht, schnell an und gaben ihn weiter an die Abgeordnetenkammer. Dort hat das Lager von Horacio Cartes die absolute Mehrheit. Ab diesem Moment, am Nachmittag desselben Tages, begann der Konflikt zu eskalieren. Die Opposition rief zu Protesten auf, denen spontan große Teile der Bevölkerung folgten.

Die ersten, die zu Protesten aufriefen, waren Abgeordnete der Liberalen Partei, die zu den parteiinternen Gegner*innen von Blas Llano gehören, welche sich um den derzeitigen Präsidenten der PLRA sammeln, Efraín Alegre. Im Laufe des Nachmittags schlossen sich andere gesellschaftliche Gruppen den Protesten an. Ab 18 Uhr begannen einige Demonstrant*innen, gewaltsam in das Kongressgebäude einzudringen und Feuer zu legen.
Erst ab diesem Zeitpunkt begann die Polizei, gegen die Demonstrant*innen vorzugehen, aber dafür mit äußerster Gewalt. Ein Polizist schoss dem liberalen Abgeordneten Edgar Acosta mit einem Gummigeschoss direkt ins Gesicht. Mehrere hundert Demonstrant*innen wurden willkürlich festgenommen. Polizist*innen drangen ohne richterlichen Beschluss gewaltsam in die Zentrale der liberalen Partei ein. Bei dieser Aktion starb ein Anführer der Jugendorganisation der Partei, Rodrigo Quintana. Durch diese gewaltsamen Ausschreitungen wurde die paraguayische Gesellschaft noch mehr gespalten. Die Verteidiger der Bemühungen um eine Regelung der Wiederwahl verurteilten die „gewalttätigen Demonstrationen“, während die andere Seite vom „blutgetränkten Verfassungszusatz“ sprach.

Angesichts dieser bedrohlichen gesellschaftlichen Spaltung entschied der Präsident der Abgeordnetenkammer, Hugo Velázquez, dass er das Projekt nicht zur Abstimmung zulassen würde, bevor es keinen Dialog zwischen den beiden Seiten gäbe. Präsident Cartes erklärte daraufhin, dass er mit Papst Franziskus gesprochen hätte, und berief einen Runden Tisch des Dialogs ein. Als Vermittler solle die paraguayische Bischofskonferenz auftreten. Die starke Rolle, die Cartes hier der Kirche zugestand, war allerdings verfassungsrechtlich ebenfalls umstritten: Schließlich ist Paraguay der Verfassung nach ein laizistischer Staat. Allen Versuchen des Regierungslagers und seiner Verbündeten zum Trotz, sich geläutert zu zeigen, lehnte die Bevölkerung den geplanten Verfassungszusatz immer stärker ab. Es gab eine escrache-Kampagne gegen alle Senator*innen, die für den Verfassungszusatz gestimmt hatten. Das bedeutet, dass Demonstrant*innen vor die Privatwohnungen der Politiker*innen zogen, um dort gegen ihre Entscheidung zu protestieren. Etliche Senator*innen wurden auf offener Straße beschimpft, manchen wurde der Zugang zu Restaurants und Gaststätten verweigert.
Die Linke, die nicht im Frente Guasu organisiert ist, attackierte vor allem Fernando Lugo direkt. Sie warf ihm vor, dass er das Bündnis mit ausgerechnet den politischen Kräften suchte, die ihm 2012 das Präsidentenamt genommen haben: den Colorados und den Liberalen.

Der von Horacio Cartes angestoßene Runde Tisch des Dialogs scheiterte schnell, aber die Absichten, den erwünschten Verfassungszusatz durchzusetzen blieben latent vorhanden. Der Präsident schien sich wenig um die breite gesellschaftliche Ablehnung des Projektes zu scheren.

Doch dann schaltete sich die Botschaft der Vereinigten Staaten in Paraguay ein und erklärte, dass die USA einen Verfassungszusatz zur Lösung dieser delikaten Frage ablehnen würde und dass ein Abgeordneter kommen würde, um bei der Mediation der Verfassungskrise zu helfen. Dies änderte für Horacio Cartes alles: In einem offenen Brief an den Papst erklärte er, dass er von nun an keine weitere Amtszeit anstreben würde. In dem Brief gibt sich Cartes als sorgender Staatschef, der um den inneren Frieden des Landes bemüht ist: „Ich hoffe, dass diese Geste des Verzichts hilft, um den Dialog zu vertiefen, der die Institutionen der Republik und das harmonische Zusammenleben der Paraguayer stärken soll.“ Und von allen kuriosen Ereignissen in diesem Streit ist dieses letzte wohl das absurdeste: Denn der Präsident erklärte sich verantwortlich gegenüber den Vereinigte Staaten von Amerika und dem Papst – und nicht gegenüber der paraguayischen Bevölkerung.


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NEIN ZUR WIEDERWAHL

Am 31. März hat eine Rumpf-Versammlung des paraguayischen Senats den Weg für eine umstrittene Verfassungsänderung geebnet, und dabei massive Proteste provoziert. Der umstrittene Verfassungszusatz soll es ermöglichen, dass ein*e Präsident*in oder Ex-Präsident*in sich für eine zweite Amtszeit zur Wahl stellen darf. Die paraguayische Verfassung erlaubt einer Person nur eine Amtszeit als Präsident*in, auch wer einmal Vize-Präsident*in war, darf sich nicht auf das Präsidentenamt bewerben. Seit Monaten wird in Paraguay darum gestritten, ob diese Regelung – eine Reaktion auf die 34-jährige Diktatur von Alfredo Stroessner – geändert werden sollte (siehe LN 503).

Eine Koalition hauptsächlich aus der regierenden Colorado-Partei und der linken Frente Guasu wollte am 28. März einen entsprechenden Verfassungszusatz im Senat zur Abstimmung bringen. Als der Senatspräsident die Abstimmung darüber nicht zulassen wollte, erklärte ihn der Vize-Präsident des Senats für abgesetzt und sich selbst zum Präsidenten des Senats. Zahlreiche Abgeordnete boykottierten daraufhin die Versammlung. Der 25-köpfige Rumpfsenat (von 45 Senator*innen) ging dann dazu über, mehrere Verfahrensregeln für den Senat so zu ändern, dass der Kongress die Möglichkeit hätte, den umstrittenen Verfassungszusatz einfacher zu bewilligen. Für den 1._April setzte er eine Abstimmung diesbezüglich an.

Die Parlamentarier*innen, die die Versammlung boykottierten, sowie andere politische und gesellschaftliche Gruppierungen, organisierten daraufhin am 31. März eine Demonstration vor dem Kongressgebäude, zu der tausende Menschen kamen. Einige Personen aus dieser Protestveranstaltung gelang es, in das Kongressgebäude einzudringen und Feuer zu legen. Auch in anderen Städten kam es zu Protesten, in der wichtigen Handelsstadt Ciudad del Este wurde die Brücke der Freundschaft, die der Grenzübergang zu Argentinien ist, von Demonstrant*innen besetzt und der Rücktritt von Präsident Horacio Cartes gefordert.

Auf diese Proteste reagierte die Polizei mit brutaler Gewalt. Unter anderem sind Polizist*innen in die Parteizentrale der Liberalen Partei PLRA, die größtenteils gegen das Vorgehen des Rumpfparlaments ist, eingedrungen, um „die Anstifter zur Gewalt“ festzunehmen, wie sie sagten. Videoaufnahmen von den Überwachungskameras in dem Gebäude zeigen Polizist*innen, wie sie wahllos auf die dort Anwesenden einprügeln und diese festnehmen. Bei dieser Polizeiaktion ist ein Mitglied der Jugendorganisation der PLRA umgekommen.

In einer offiziellen Verlautbarung verurteilte Präsident Horacio Cartes die Proteste und beschuldigte sie, Gewalt zu säen. „Die Demokratie wird nicht mit Gewalt errungen oder verteidigt“, heißt es in dem Schreiben. „In Paraguay herrscht immer noch der Rechtsstaat“, heißt es weiter. Zu den offensichtlichen Rechtsbrüchen des Rumpfparlaments sagte er allerdings nichts. Als Reaktion auf die Todesfälle bei den Polizeieinsätzen entließ der Präsident aber den Innenminister Tadeo Rojas und den Polizeichef Críspulo Sotelo. Bis zum Redaktionsschluss blieb unbekannt, wie das Verfassungsgericht auf das beispiellose Verhalten des Rumpfparlaments reagiert. Das Rumpfparlament hat die Abstimmung über den umstrittenen Verfassungszusatz nun auf Dienstag, den 4. April verschoben.

 


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“DER STAAT MÜSSTE DEN NOTSTAND AUSRUFEN”

Protest vor dem Frauenministerium. Alle vier Tage wird in Paraguay eine Frau ermordet. (Foto: privat)

Die jüngsten Proteste gegen die Femizide in Asunción haben es geschafft, die ansteigende Mordrate an Frauen sichtbar zu machen. Wie interpretieren Sie diese Entwicklung und was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Belén Cantero: In einem großen Teil der Welt wird ein Anstieg von Gewalt gegen Frauen wahrgenommen. Obwohl auf der einen Seite die registrierten Gewaltakte gegen Frauen abnehmen, da solche Taten heutzutage sensibler und häufiger wahrgenommen werden, gehen wir trotzdem davon aus, dass die Gewalt gegen Frauen generell zugenommen hat. Immer mehr Frauen fordern ihre Rechte ein und kämpfen für ihre Freiheit, viele Männer begehren dagegen auf. Ich glaube, wir durchleben eine Krise des klassischen männlichen Selbstverständnisses beziehungsweise Rollenbildes, Frauen gegenüber eine mächtigere Position einzunehmen. Viele Männer reagieren mit Gewalt, um ihre Stellung zu verteidigen.

Welche Maßnahmen fordern Sie von der Regierung, damit sich die vielen Morde nicht wiederholen?

Soziale und politische Organisationen haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam die Untätigkeit der Regierung aufzudecken und anzuklagen. Es gibt eine breite Palette von Forderungen an den Staat. Zunächst einmal dürfen Opfer nicht erneut dem bestehenden System zum Opfer fallen. Anzeigen müssen ernst genommen und aufgenommen werden, und es muss in solchen Fällen von Gewalt unmittelbar gehandelt werden. In vielen Fällen, in denen Frauen Unterstützung vom Staat einfordern, beschützt dieser den Gewalttäter und bezichtigt das Opfer, selbst die Schuld an der Situation zu tragen. Der Staat müsste eigentlich den nationalen Notstand ausrufen, um so unmittelbar die benötigten Kräfte zu bündeln, die zur Schaffung von Notfallzentren für Frauen und weiterer psychologischer sowie juristischer Beratungs- beziehungsweise Betreuungseinrichtungen benötigt werden. Nicht nur das Frauenministerium, sondern auch das Gesundheits- und das Bildungsministerium sollten sich an die spezifischen Bedürfnisse dieser Situation anpassen, beispielsweise wenn es um sexuelle Gesundheit und Reproduktionsfähigkeit geht oder auch, was Kampagnen zur Sensibilisierung und Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen betrifft.

Welche Strategien haben Sie, um die Kampagne zu verbreiten und den Staat unter Druck zu setzen, damit er handelt?

Im Laufe des Jahres haben wir zwei Aktionen durchgeführt, eine direkt vor dem Bildungsministerium und eine weitere auf einem öffentlichen Platz. Die hatte einen künstlerischen Charakter und sollte auf die Problematik aufmerksam machen. Am 24. Februar, dem Tag der Frau in Paraguay, werden wir weitere Aktionen dieses Charakters an mehreren Orten durchführen, nicht nur in der Hauptstadt Asunción. Gerade sind wir dabei, uns gemeinsam mit anderen Organisationen an etwas Größerem zu beteiligen, nämlich an dem internationalen Generalstreik der Frauen in Paraguay. Wir sind überzeugt, dass dieser Tag ein Meilenstein für die Frauenbewegung in Paraguay sein wird und wir uns durch unsere Aktionen besser positionieren werden, um für politische Veränderungen entsprechend unseren Bedürfnissen zu sorgen.

Das Frauenministerium in Paraguay arbeitet unter einer ultrakonservativen Regierung, deren Senatoren Frauen offen vergleichen können mit „einer treuen Hündin, die kochen und nur ihren Mann bedienen soll“ (Äußerung von José Manuel Bóbeda in einer Versammlung der Organisation Amerikanischer Staaten 2014). Trotzdem wurde Ende 2016 das Gesetz „Für sie“ erlassen, das versucht, die Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Gibt es irgendwelche Erfolge seit der Erlassung dieses Gesetzes und wie effektiv kann das Ministerium unter der Regierung von Horacio Cartes sein?

Das Gesetz „Für sie“ wurde Ende 2016 erlassen. Dieses Gesetz war ein Gewinn durch die Bewegung. Der Kongress nahm dann noch einige Änderungen vor, wodurch die Begriffe „Gender“ und „Feminizid“ herausgenommen wurden und eine Schlichtungsinstanz zwischen Opfer und Täter verpflichtend etabliert wurde, dies bedeutete einen Rückschritt. Nach Protesten wurde ein Gesetz eingeführt, das einen Fortschritt darstellt. Aufgrund dessen wird heute der Straftatbestand „Feminizid“ anerkannt, er wurde schon von einigen Richtern angewandt. Bis heute (Stand 19. Februar 2017, Anm. d. Red.) wurden die Tötungsfälle von elf Frauen offiziell als „Feminizide“ deklariert. Dadurch wird die Problematik sichtbar gemacht und die Debatte verlagert. Der noch fehlende Teil des Gesetzes wird Ende 2017 eingebracht werden. Die aktuelle Regierung und auch der Staat sind weiterhin machistisch geprägt, ebenso wie die Gesellschaft Paraguays. Mit diesem Wissen im Hinterkopf muss uns klar sein, dass dieser Gewinn in der Jurisdiktion auch seine Grenzen hat. Viele Gesetze sind tote Buchstaben. Es kommt auf tiefgreifendere Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein an, ebenso wie auf die materielle Situation von Frauen und unserer Organisation, aber auch auf die Kämpfe, die dafür Sorge tragen, dass notwendige Veränderungen weiterhin stattfinden. Dieser Wandel ist kein Wandel von oben, dessen sind wir uns bewusst.

Die gendermotivierte Gewalt drückt sich auch in der starken Diskriminierung der LGBTI-Gemeinschaft in Paraguay aus. Eine Trans- Frau wurde in Ciudad del Este am selben Tag umgebracht, an dem das Gesetz „Für sie“ erlassen wurde. Dieses beschränkt sich aber nur auf den Schutz von Menschen, die vom Staat als biologische Frauen interpretiert werden. Gibt es auch einen Schutzmechanismus gegen strukturelle, psychologische und physische Gewalt gegen LGBTI-Personen?

Die LGTBI-Gemeinschaft bleibt juristisch weiterhin absolut ungeschützt, das beginnt schon in der Aushandlung der Gender-Identität, die mit dem binären Frau-Mann-Schema zu brechen sucht. Es gibt eine Kampagne und ein Gesetzesvorhaben namens „Gegen jede Form von Diskriminierung“, dagegen gibt es nach wie vor viel Gegenwehr. Es ist noch ein weiter Weg zu gehen, aber er ist notwendig. Von 1989, dem Ende der Stroessner-Diktatur, bis 2016 wurden 57 „Trans-Morde“ aus Hass registriert. Während der Diktatur Stroessners waren es 108 Mordfälle, die das Leiden Homosexueller durch deren Verfolgung in dieser Ära aufzeigen.

In Paraguay gibt es eine große Zahl an Bäuerinnen und indigenen Frauen, die noch weiteren Formen von Diskriminierung wie Rassismus und Klassismus ausgesetzt sind. Was bedeutet das für die feministischen Bewegungen in Paraguay?

In Paraguay – und ich denke, auch im Rest der Welt – leiden die Frauen unter diversen Formen von Unterdrückung, die sich lediglich auf das Geschlecht beziehen, insbesondere innerhalb der ärmeren Bevölkerungsschichten. Ein starker Feminismus ohne Frauen aus diesen gesellschaftlichen Bereichen ist undenkbar. In den marginalisierten Stadtvierteln, den bañados, sind die Frauen in der Mehrheit Anführerinnen. Die Frauen aus ländlichen Gebieten sind in der CONAMORI organisiert, ebenso wie die indigenen Frauen. Sicherlich handelt es sich eher um einen Feminismus von Nichtregierungsorganisationen, aber der stößt an seine Grenzen, wenn er nicht weitere Frauen erreicht. Ich denke, heute hat der paraguayische Feminismus in diesem Sinne einen breiteren Horizont. An der Vorbereitung des Generalstreiks beteiligen sich unterschiedlichste Organisationen wie solche aus ländlichen Gebieten, indigene Organisationen, lesbische und Transbewegungen. Wenn das nicht so ist, hat der Feminismus eine sehr kleine Basis und somit nur sehr geringe Möglichkeiten, uns bessere Tage zu bescheren.


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“DAS URTEIL IST VÖLLIG HALTLOS!”

Am 11. Juli 2016 hat ein paraguayisches Gericht elf Kleinbauern zu Strafen von bis zu 30 Jahren Haft – 40 Jahre mit Sicherheitsverwahrung – für das Massaker von Curuguaty verurteilt. Das Gericht befand die Aktivist*innen schuldig, mehrere Verbrechen begangen zu haben, unter anderem Mord, Besetzung fremden Eigentums und Bildung einer terroristischen Vereinigung. Was halten Sie von diesem Verfahren?

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Aitor Martínez Jiménez hat als Anwalt die Klage gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof vorgebracht. Martínez ist derzeit Professor für Jura an der Universität Nebrija, Madrid, zuvor hatte er einen Lehrauftrag für Menschenrechte an der Autonomen Universität von Asunción, Paraguay. Er hat an der Universität Carlos III in Madrid über internationales Recht promoviert. Aitor Martínez beschäftigt sich mit Paraguay, seit er 2007 für die spanische Botschaft in Paraguay arbeitete. Dabei hat er dauerhafte Kontakte zur paraguayischen Zivilgesellschaft aufgebaut und in mehreren Fällen die Opfer von Menschenrechtsverbrechen verteidigt. Er arbeitet auch für das International Legal Office for Cooperation and Development, das von dem bekannten Juristen Baltasar Garzón geführt wird.


Das Gerichtsverfahren wurde von Anfang an mit einem Ziel geführt, die Kleinbauern zu verurteilen, die Verbrechen gegen die Kleinbauern wurden nicht einmal untersucht. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben mehrere schweren Menschenrechtsverbrechen, die während des Massakers von den Sicherheitskräften begangen worden sind, dokumentiert und angezeigt: Es wurden Leichen von Kleinbauern gefunden, denen in den Mund geschossen worden war. Fernsehsender filmten am nächsten Tag Leichen von Kleinbauern, die offensichtlich nach ihrem Tod in Maisfeldern versteckt wurden. Und das sind nur einige Beispiele für die Beweismittel, die wir bei der Staatsanwaltschaft eingereicht haben. Doch die ging nicht darauf ein, von Anfang an ging es nur darum, die Kleinbauern zu verurteilen.

Sie haben 2014 eine Beschwerde gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof gegen das Gerichtsverfahren zum Massaker von Curuguaty vorgebracht. Auf was bezieht sich die Beschwerde konkret?

Dabei geht es vor allem um Verstöße gegen die Amerikanische Konvention für Menschenrechte (CADH). Zum einen wurden die Angeklagten ohne hinreichende Beweise angeklagt und wichtige Beweismittel, die auf dem Tatort gefunden wurden, fanden keine Verwendung. Bei dem Verfahren kam es zu massiven Verstößen gegen die Prozessordnung. Außerdem gab es Verstöße gegen das Menschenrecht, Zugang zur Justiz und gerichtlichen Schutz zu bekommen. Aber die Staatsanwaltschaft hat keine Klagen gegen die involvierten Sicherheitsbeamten angenommen. Polizisten wurden wegen außergerichtlicher Hinrichtungen, Versuch des Verschwindenlassens, Folter und anderer Delikte angezeigt. Mehrere Anzeigen mit umfangreichen Beweismitteln wurden eingereicht, dennoch hat die Staatsanwaltschaft nie in diese Richtung ermittelt. Den Opfern wurde also der Zugang zur Justiz verweigert.

Der Interamerikanische Gerichtshof hat dem paraguayischen Staat im vergangenen Jahr eine Frist von drei Monaten gewährt, um auf diese Beschwerden einzugehen. Was ist daraus geworden?

Die paraguayische Justiz antwortete, dass den Verurteilten noch immer innerhalb Paraguays Rechtsmittel zur Verfügung stünden, deshalb sei der Interamerikanische Gerichtshof noch nicht für den Fall zuständig. Tatsächlich steht im Fall Curuguaty immer noch ein Berufungsverfahren aus, das im August 2016 eingereicht worden ist. Doch die Justiz hat noch nicht darauf reagiert, obwohl die Fristen, die sich die paraguayische Justiz selbst setzt, abgelaufen sind. Es ist also doch so, dass für die Angeklagten keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung stehen, denn es ist ja der paraguayische Staat selbst, der das Berufungsverfahren blockiert.
Gehen wir auf die Einzelheiten des Falls ein. Dem Urteil des Gerichts zufolge hat der Anführer der Landbesetzer, Rubén Villalba, der Polizei eine Falle gestellt und dann den Polizeioffizier Erven Lovera auf kurze Distanz mit einer Schrotflinte erschossen. Daraufhin sei dann ein Schusswechsel ausgebrochen, bei dem weitere 16 Personen starben. Viele zweifeln an dieser Version. Was glauben Sie, was in Curuguaty wirklich passiert ist?
Dem Gericht zufolge hat Rubén Villalba mit einer Schrotflinte auf Erven Lovera geschossen, aber aus dem polizeilichen Gutachten geht hervor, dass aus dieser Flinte gar nicht geschossen worden ist. Man hat die Patronenkammer und den Lauf untersucht und fand keine Schmauchspuren.
Während der Beweiserhebung wurde der Antrag gestellt, die Fingerabdrücke der Angeklagten mit denen zu vergleichen, die man auf dieser und anderen beschlagnahmten Waffen gefunden hat. Aber das wurde einfach nicht gemacht, ein eklatanter Mangel an Sorgfalt. Und das sind nur einige krasse Beispiele für die Unstimmigkeiten in diesem völlig haltlosen Urteil. Was wirklich in Curuguaty passiert ist, kann man deshalb nicht wissen. Die Staatsanwaltschaft, also die Institution, die den Auftrag hatte, die Geschehnisse zu untersuchen, hat ihre Aufgabe nicht erfüllt.

Sie berichteten von unterdrückten Beweismitteln, das ging auch durch die Presse. Können sie noch mehr Beispiele für Beweismittel geben, die einfach „verschwunden“ sind?

Wenn man den Bericht über die Beweismittelsammlung am Tatort mit dem Bericht über die Beweismittel vergleicht, für die forensische Gutachten erstellt wurden, sieht man sofort, dass die nicht zusammenpassen. Es gibt Beweismittel, die am Tatort gesammelt worden sind, die aber nicht begutachtet wurden. Andere Gegenstände wurden nicht am Tatort gesammelt, aber dennoch gibt es Gutachten über sie.
Auf der anderen Seite tauchen fundamental wichtige Beweismittel nirgendwo auf, wie etwa die Videoaufnahmen, die vom Helikopter aus gemacht wurden, der die Polizeioperation begleitete. Ebenso die vielleicht wichtigsten Beweismittel, die hunderten Patronenhülsen vom NATO-Kaliber 5,56mm, die am Tatort gefunden worden sind. Diese Patronen werden in automatischen Waffen verwendet. Über Monate hinweg hat der Staatsanwalt Jalil Rachid behauptet, dass nur Munitionshülsen von Schrotflinten gefunden wurden. Videoaufnahmen eines Fernsehsenders zeigen aber, wie er selbst Taschen voller 5,56mm Patronenhülsen am Tatort entgegennimmt.

Nichtregierungsorganisationen, wie etwa die Koordination Menschenrechte Paraguay CODEHUPY kritisieren die Rolle, die der Staatsanwalt Jalil Rachid in dem Fall gespielt hat. Wie bewerten Sie dir Rolle von Jalil Rachid? War es eine politische Entscheidung, ihm den Fall zu übertragen?

Wenige Tage nach dem Vorfall, als bekannt wurde, dass das Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Fernando Lugo wegen des Massakers anstrengen wird, wurde der zuständige Staatsanwalt ausgetauscht. So kam Jalil Rachid an den Fall. So wurde sichergestellt, dass die Justiz die Argumentation, mit der die Absetzung Lugos begründet werden sollte, bestätigt: Dass Kleinbauern, die durch Lugos Politik für eine Landreform radikalisiert worden seien, die Polizei angegriffen hätten.
Jalil Rachid ist der Sohn von Bader Rachid, dem ehemaligen Vorsitzenden der Colorado-Partei, die für die Absetzung Lugos gestimmt hatte. Und Jalil Rachid ist selbst Parteimitglied der Colorados. Er war also ein Vertrauensmann für die Opposition.
Darüber hinaus ist die Familie Rachid befreundet mit der Familie des verstorbenen Blas N. Riquelme, der auch ein ehemaliger Vorsitzender der Colorados war. Riquelme war der vorgebliche Besitzer des Grundstücks Marina Kué.

Wenige Monate nach dem Massaker von Curuguaty hat das Unternehmen Campos Morombi das Grundstück Marina Kué  dem paraguayischen Staat „geschenkt“, obwohl es ja eigentlich nie offiziell dem Unternehmen gehört hat. Warum wurde das gemacht? Wie bewerten sie die Tatsache, dass der Staat dieses „Geschenk“ angenommen hat?

Offensichtlich war das ein juristisches Manöver. Während der mündlichen Verhandlung des Massakers wurde schnell klar, dass das Unternehmen Campos Morombi sich das Grundstück illegal angeeignet hatte. Die Landbesetzer waren also im Recht. Wenn das juristisch festgestellt worden wäre, hätte man die Kleinbauern nicht wegen Besetzung fremden Eigentums belangen können. Und man hätte Untersuchungen gegen Campos Morombi und gegen die Richter und Staatsanwälte einleiten müssen, die im Juni 2012 die Räumung befohlen hatten.
Dieser Trick wurde aus folgendem Grund angewandt: Campos Morombi überschrieb das Grundstück dem Staat, und der nahm das Grundstück an. Nur auf dieser Grundlage konnte das Gericht argumentieren, dass zum Zeitpunkt der Besetzung das Land der Firma Campos Morombi gehörte und dementsprechend die Kleinbauern verurteilen.

Derzeit existiert ein weiterer Landkonflikt um einige Grundstücke in Guahory, die sich einige Farmer mit brasilianischem Migrationshintergrund illegal angeeignet haben. Was für eine Verbindung sehen Sie zwischen diesem aktuellen Fall und dem von Curuguaty?

In dem Fall von Guahory vertrete ich ebenfalls die Opfer vor dem Interamerikanischen Gerichtshof, das sind ungefähr 200 Familien. In diesem Fall haben wir eine einstweilige Verfügung beantragt, damit das Gericht interveniert. Die Familien wurden auf brutale Weise enteignet, wobei gegen jede Rechtsstaatlichkeit verstoßen wurde.
Die Räumung von Guahory wurde ohne gerichtliche Verordnung durchgeführt und von den Agrarunternehmern dieser Region finanziert, die offen zugegeben haben, dass sie die Sicherheitskräfte dafür bezahlt haben. Außerdem haben diese Agrarunternehmer sich aktiv an der Polizeiaktion beteiligt, indem sie die Hütten der Kleinbauern mit ihren Traktoren und Bulldozern zerstörten, mit dem einzigen Ziel, sich umstrittene Grundstücke anzueignen.
Der Fall von Guahory zeigt, wie der Staat und seine Institutionen vor den Interessen einer kleinen unternehmerischen Oligarchie zurückweichen.
In Curuguaty wurde nach demselben Modell vorgegangen. Das Grundstück Marina Kué gehörte dem Staat und war eigentlich für eine Landreform vorgesehen. Dennoch hat die Firma Campos Morombi – die dem Ex-Vorsitzenden der Colorados, Blas N. Riquelme gehörte – sich dieses Grundstück einfach angeeignet. Am Ende hat die Macht dieses privaten Unternehmens erreicht, dass eine illegale Räumung der Landbesitzer in einer Tragödie endete.
Man sieht: Die Parallelen sind deutlich. Sie korrespondieren mit dem wichtigsten strukturellen Problem in Paraguay, der extremen Ungleichheit der Landverteilung. Man muss daran denken, dass in diesem Land etwa 89 Prozent des Landes etwa zwei Prozent der Landbesitzer gehört.


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BERLINALE – NUR NOCH GROßES KINO?

Der Reiz eines bedeutenden Filmfestivals besteht auf den ersten Blick aus den großen Momenten. Stars auf dem roten Teppich, große Gefühle auf der Leinwand, Namen von Schauspieler*innen, und Regisseur*innen mit Wiedererkennungswert begründen den internationalen Ruf eines Festivals. Auch die Berlinale kann sich deshalb selbstverständlich nicht alleine auf ihr Markenzeichen des „politischsten aller großen Filmfestivals“ verlassen und muss mit großen Namen aufwarten.

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Foto: Rodrigo Migliorin

Und das, soviel kann man schon vor Beginn der 67. Ausgabe verraten, ist diesmal hervorragend geglückt: Catherine Deneuve, Aki Kaurismäki, Ethan Hawke, Bruno Ganz, Geoffrey Rush, Robert Pattinson, Sienna Miller, Alex de las Iglesias und Ewan Mc Gregor (zu sehen im zweiten Teil von „Trainspotting“) sind nur eine kleine Auswahl der Filmgrößen, die sich rund um den Berlinale-Palast am Potsdamer Platz die Klinke in die Hand geben werden. Positive Schlagzeilen sind also garantiert.
Interessant ist ein Festival wie die Berlinale für viele aber auch deshalb, weil es die Möglichkeit bietet, in der kurzen Zeit von 10 Tagen einen Ausschnitt von künstlerischen Perspektiven und filmischen Abbildungen aus der ganzen Welt zu erhaschen. Ein Stempel, eine Vergleichsmöglichkeit davon, was Menschen, die die Realität beobachten und sie festzuhalten versuchen, bewegt. Sind sich Fragen, Standpunkte und künstlerische Herangehensweise rund um den Globus ähnlich oder driften sie auseinander? Ein Kriterium für die Auswahl von Festivalfilmen sollte deshalb sein, ein möglichst großes Potpourri verschiedener Realitäten anzubieten. Über Lateinamerika sagte der Sänger Manu Chao diesbezüglich einmal, um es kennenzulernen, bräuchte man mindestens zwei Leben.

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Foto: Rodrigo Migliorin

Und die Filmauswahl der Berlinale in den vergangenen Jahren hat gezeigt, dass die Regisseur*innen des Subkontinents die Kunst beherrschen, die unterschiedlichen Facetten ihrer Umgebung auf die Leinwand zu bringen. Auch dieses Jahr kann man sich deshalb auf die 21 Lang- und neun Kurzfilme sowie die drei Dokus über lateinamerikanische Künstler*innen freuen, die auf dem Festival zu sehen sein werden. Allerdings sticht ins Auge, dass die Auswahl geographisch sehr stark fokussiert ist.  Über die Hälfte der Filme stammt aus Brasilien (acht Lang-, drei Kurzfilme) und Argentinien (fünf/drei). Ansonsten sind nur noch Mexiko (vier/zwei), Chile (drei/-), Peru (ein/-), Kuba (ein/-) und Kolumbien (ein/ein) vertreten. Ob es nur am mangelnden Angebot liegt oder die auch im Independent-Bereich einflussreichen Filmgroßindustrien aus Brasilien und Argentinien ihre Produktionen einfach geschickter zu platzieren wissen, lässt sich aus der Ferne nur schwer beurteilen. Fakt ist, dass es auch 2017 wieder einige weiße Flecken auf der Berlinale-Landkarte Lateinamerikas gibt: Aus Zentralamerika ist  kein  einziger Beitrag vertreten, auch der Andenraum spielt diesmal fast keine Rolle. Das soll und wird den Genuss der anderen Filme natürlich nicht schmälern. Aber um die Welt (filmisch) verstehen zu können, wäre es schön, auch Eindrücke aus diesen Regionen etwas deutlicher wahrzunehmen – wenngleich sie vielleicht nicht den gleichen Glanz und Glamour versprechen, wie eine Fortsetzung von Trainspotting.

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Lateinamerikanische Filme auf der Berlinale

Wettbewerb: Zwei lateinamerikanische Produktionen haben es in den Wettbewerb geschafft. Joaquím (Brasilien) von Regisseur Marcelo Gomes ist ein Biopic über den brasilianischen Nationalhelden Tiradentes, der für die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal und die Abschaffung der Sklaverei kämpfte. In Una mujer fantástica (Chile) wird die transsexuelle Kellnerin Marina vom Tod ihres Freundes aus der Bahn geworfen. Bereits 2013 nahm der Regisseur und Wahl-Berliner Sebastián Lelio mit Gloria am Wettbewerb teil. Die Darstellerin Paulina García gewann damals einen silbernen Bären als beste Darstellerin.

Berlinale Special: Últimos Dias en La Habana (Kuba) verfolgt die Beziehung zwischen dem introvertierten Miguel und dem extrovertierten Diego, der HIV-positiv ist. Die Dokumentation La libertad del Diablo (Mexiko) gibt Menschen, die vom Drogenkrieg in Mexiko betroffen sind, eine Stimme.

Panorama: Gleich vier brasilianische Filme finden sich in der Arthouse/Autor*innenkino-Abteilung der Berlinale wieder. Como nossos pais befasst sich mit den alltäglichen Existenzlügen einer Familie in São Paulo. Pendular erforscht die Beziehung zwischen einer Tanzkünstlerin und einem Bildhauers anhand von deren kreativen Schaffens. Vazante spielt im Jahr 1821 und befasst sich mit den Macht- und Geschlechterverhältnissen auf der Farm des Sklaven- und Viehhändlers Antonio im brasilianischen Hinterland. Die Dokumentation No intenso agora ist eine essayistische Collage verschiedener weltweiter Umbruchsbewegungen der 1960er Jahre. Eine weitere Dokumentation kommt aus Chile: In El pacto de Adriana entdeckt Regisseurin Lissette Orozco, dass ihre Lieblingstante unter Augusto Pinochet für den chilenischen Geheimdienst DINA gearbeitet hat. Nicht von lateinamerikanischen Regisseur*innen, aber mit lateinamerikanischen Künstlerinnen als Protagonistinnen sind die Dokumentationen Tania Libre über die kubanische Dissidentin und Performancekünstlerin Tania Bruguera, die sich 2018 um die kubanische Präsidentschaft bewerben möchte sowie Chavela über das Leben der legendären mexikanischen Sängerin Chavela Vargas.

Forum: In der experimentellen Forum-Sektion ist Argentinien mit Cuatreros, einer Annäherung an Zeit und Lebensumstände des „argentinischen Robin Hood“ Isidro Velázquez (Siehe Rezension auf S. 52) und der argentinisch/kolumbianischen Co-Produktion Adiós entusiasmo vertreten, in der vier Geschwister ihre Mutter in ihrer Wohnung einsperren. Die chilenisch-mexikanische Dokumentation Casa Roshell zeigt einen ungewöhnlichen Ort in Mexico City, an dem Männer lernen, sich in Frauen zu verwandeln. Rifle ist ein moderner Western aus Süd-Brasilien, in der ein Ex-Soldat einen Kleinbauern vor Großgrundbesitzern schützen soll. Rio Verde: El tiempo de los Yakurunas ist eine Dokumentation über das Leben einer indigenen Gemeinschaft im peruanischen Amazonasgebiet. Der deutsche Beitrag Dieste mit Bezug zu Uruguay untersucht die Bauwerke des mehrfach ausgezeichneten uruguayischen Architekten Eladio Dieste.

Generation: Auch bei den häufig sehr sehenswerten Beiträgen aus der Jugendfilmreihe der Berlinale ist Brasilien gleich dreifach vertreten. In As duas Irenes entdeckt die 13-jährige Irene, dass ihr Vater eine Tochter von einer anderen Frau hat, die ebenfalls Irene heißt und genauso alt ist wie sie. In Não devore meu coração verliebt sich der 13-jährige Joca in die Guaraní Basano und gerät dadurch in Konflikte um Landraub und kulturelle Identität an der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay. Mulher do pai erzählt die Geschichte der Jugendlichen Nalu, die sich nach dem Tod des Großvaters um ihren blinden Vater kümmern muss. Der argentinische Beitrag Primero enero zeigt das schwierige Verhältnis zwischen dem kleinen Valentino und seinem Vater, der sich scheiden lassen will. Ebenfalls aus Argentinien kommt Soldado, in dem ein junger Mann 30 Jahre nach der Militärdiktatur in der argentinischen Armee erwachsen werden möchte. Schließlich gehen die Geschwister Dylan und Andrea in der mexikanischen Produktion Tesoros auf die Suche nach einem Piratenschatz, finden am Ende jedoch etwas viel Wertvolleres.

Retroperspektive: Die Berlinale zeigt eine restaurierte Fassung des mexikanischen Klassikers Canoa von 1975, in der eine Gruppe junger Mitarbeiter der Universität Puebla im Dorf San Miguel Canoa für Kommunisten gehalten und von einem wütenden Lynchmob der Bewohner*innen angegriffen wird (siehe Rezension S. 54)

Kurzfilme: Vênus – Filó, a Fadinha Lésbica (Brasilien, Panorama); Centauro (Argentinien); Ensueño en la pradera (Mexiko); Estás vendo coisas (Brasilien); Fuera de temporada (Argentinien); Libélula (Mexiko, Generation); La prima sueca (Argentinien, Generation); The jungle knows you better than you do (Kolumbien; Generation); Em busca da terra sem males (Brasilien, Generation)

In dieser Ausgabe erscheinen zwei Filmrezensionen, die von der Redaktion bereits vor Beginn des Festivals gesehen werden konnten. Weitere Rezensionen lateinamerikanischer Filme  werden wir während der Berlinale  fortlaufend auf unserer Homepage (www.lateinamerika-nachrichten.de) veröffentlichen.


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// KEIN AUFATMEN IM HINTERHOF

Trump versus Clinton – wenn diese LN in den Briefkästen liegt, ist die Schlammschlacht um die US-Präsidentschaft zum Glück vorbei. Das Aufatmen könnte von kurzer Dauer sein, hält man sich vor Augen, was nun folgen könnte. Sexistisch, rassistisch, unberechenbar: Über Donald Trumps Charakter bestand schon lange Klarheit – vor seinen Beleidigungen mexikanischer Migrant*innen, vor seiner Forderung eines Mauerbaus an der Südgrenze, vor „Pussygate“, vor seinen Aussagen, dass er den Einsatz von Atomwaffen nicht ausschließen möchte. Im Vergleich zu Trump wirkt Hillary Clinton wie ein Hort der Vernunft: intelligent und rational, fähig zu Kompromissen und mit viel politischer Erfahrung. Je länger dieser Wahlkampf dauerte, desto leichter fiel es, in ihr nicht nur das kleinere Übel, sondern eine gute Wahl zu sehen. In Lateinamerika sehen das viele anders – aufgrund der Erfahrungen mit der Außenministerin Clinton.

Da ist das Beispiel Honduras: 2009 jagten Militär und alte Eliten den gewählten Präsidenten Manuel Zelaya mit einem Putsch außer Landes. Er stand für ein progressives Programm, das Ungleichheiten zwischen Arm und Reich abbauen und demokratische Teilhabe verbessern sollte. Offiziell verurteilte „Hillary the Killary“ zwar Zelayas Absetzung, nur um flugs zur „Normalisierung“, das heißt: faktischen Anerkennung der Putschisten, überzugehen. Die Militärhilfe wurde Zug um Zug aufgestockt – trotz aller Hinweise, dass Militär und Polizei an den vielfachen Morden an Gewerkschafter*innen, Polit- und Umweltaktivist*innen beteiligt sind.

Da ist das Beispiel Paraguay: 2012 erfolgte der sogenannte „Parlamentsputsch“ gegen den ebenfalls als progressiv geltenden Präsidenten Fernando Lugo. Den Vorwand für das „Express-Amtsenthebungsverfahren“ war das Massaker von Curuguaty. Dabei kamen elf Landlose und sechs Polizisten ums Leben, die Verantwortung für diese Gewalttat ist weiter ungeklärt. Mittlerweile regiert der konservative Horacio Cartes, dem Verbindungen zum Drogengeschäft nachgesagt werden. Das Land wird militarisiert, soziale Proteste der Landlosen kriminalisiert. Clinton hatte sich beeilt, die paraguayischen Regierungen nach dem Amtsenthebungsverfahren politisch wieder salonfähig zu machen.

Da ist das Beispiel Mexiko: Die Enthüllungen von Clintons E-Mail-Verkehr offenbaren, dass sich die Außenministerin von 2009 bis 2011 dort vehement einmischte, um die Privatisierung des Erdölsektors voranzubringen. Clinton hat ein Herz für die Wall Street, die Folgen der Liberalisierung für Mexikos Arme lassen sie kalt.

Spätestens seit Clinton Anfang dieses Jahres einen „Plan Colombia für Zentralamerika“ forderte, um der Ausbreitung der Drogenkriminalität Herr zu werden, schrillten bei sozialen Bewegungen die Alarmglocken. Zu gut sind die schlechten Erinnerungen an das Original präsent. Der von Hillarys schlechterer Hälfte Bill in dessen Präsidentschaft 2000 auf den Weg gebrachte „Plan Colombia“ führte zu einer Gewaltwelle gegen Gewerkschafter*innen, Landlose, Indigene und afro-kolumbianische Gemeinden. Massenvertreibungen führten zu weiterer Landkonzentration in den Händen von Agrarindustriellen, die mit Paramilitärs verbündet waren und sind. Die globale Drogenkriminalität wurde durch den Plan nicht gestoppt. Und nun fordert dies Clinton für Zentralamerika: Frieden schaffen mit noch mehr Waffen.

Egal, wie die Wahl am 8. November ausgegangen ist – Lateinamerika wird sich auch zukünftig mit einer offensiven hegemonialen Politik aus dem Norden des Kontinents auseinandersetzen müssen. Jede Bewegung mit auch nur halbwegs sozialrevolutionärem Anspruch wird aus dem Weißen Haus direkt oder indirekt bekämpft. Aufatmen ist in Lateinamerika nicht angesagt.


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