Faustino Asprilla wurde schon im Vorfeld der WM 1994 als potentieller Star des Turniers gehandelt. Das wird in Frankreich nicht anders sein. Der Stürmer, der nach einem Zwischenstopp auf der rauhen Insel bei Newcastle United reumütig wieder zum italienischen Spitzenklub AC Parma ins warme Italien zurückkehrte, ist neben Kapitän Valderrama der Star der kolumbianischen Nationalmannschaft. Valderrama ist allerdings schon knapp 37 und vielleicht schon ein wenig zu schwach auf der Brust, um die Mannschaft mitzureißen. Deswegen setzen die kolumbianischen Fans ihre Hoffnungen vor allem auf Asprillas spektakuläre Soli. Auch andere Altstars wie der hünenhafte Mittelfeldspieler Freddy Rincón und Stürmer Anthony de Avila haben ihren Leistungszenit wohl überschritten und sind mehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie die Rolle als Führungsspieler übernehmen könnten.
Das soll nun in Frankreich Asprilla tun. Fachleute sagen ihm bewundernd nach, sein Antritt sei mit dem eines Ben Johnsons (kanadischer Sprint- und Dopingstar) in seinen besten Tagen vergleichbar; seine technische Brillanz reiche an die Ruud Gullits (einstiger Regisseur der holländischen Nationalmannschaft) heran und seine Eleganz sei die einer Ballerina. Asprillas Fußball-Finesse ist so recht nach dem Geschmack der kolumbianischen Fans. Weniger nach ihrem Geschmack ist das Fußballverständnis von Nationalcoach Hernán Dario Gómez. Dessen Auffassung vom Spiel ist modern, also zielorientiert. Taktisch diszipliniert und ergebnisorientiert will er seine Jungs spielen sehen. Seine Spielauffassung dürfte zwar nicht der Grund für die Todesdrohungen sein, die der Trainer und der Spieler Aristizábal nach der Bekanntgabe des Aufgebots erhielten, aber die Kolumbianer mögen keine Taktiererei. Zwar wurde die Endrunde in Frankreich als dritter der Südamerika-Qualifikation recht mühelos erreicht, doch die Art und Weise, wie dies geschah, trieb doch so manchem Fan die Zornesröte ins Gesicht. Versöhnlich stimmte da nur das Wirken des Faustino Asprilla. Sieben Tore schoß er in der Qualifikation, darunter einen lupenreinen Hattrick gegen die Überraschungsmannschaft aus Chile.
Asprillas großes Manko ist sein Temperament. Abseits des Spielfelds versorgte er die Kollegen von der Boulevardpresse kontinuierlich mit Stoff: Alkoholeskapaden, Schlägereien, Verfahren wegen Waffenbesitzes. Auch auf dem Spielfeld vertrat er seine Meinung nicht immer auf die sportliche Art. Im Qualifikationsspiel gegen Paraguay brannten ihm völlig die Sicherungen durch, so daß er sich auf ein Scharmützel mit Chilavert einließ. Die Boxeinlage auf dem Rasen sorgte für weltweites Aufsehen. Sein einstiger Trainer beim Drogenkartell-Verein Nacional Medellín bemerkte 1992 nach Bekanntwerden des Wechsels von Asprilla zum AC Parma erleichtert: Ich bin froh, daß er nach Italien geht, ich hätte das nervlich mit diesem Jungen nicht länger ausgehalten. Faustino kann ein wunderbarer Fußballer werden, vielleicht sogar eine Weltkarriere machen, doch seine Disziplinlosigkeit macht dich als Trainer fertig”. Jener Trainer war Hernán Dario Gómez. Offensichtlich ist der Nationalcoach mittlerweile von der Läuterung des Stars überzeugt und froh, ihn – aus Italien – in den Kreis der Nationalmannschaft berufen zu können.
Ob Asprilla bei der WM in Frankreich diesmal die hochgesteckten Erwartungen erfüllt, wird sich erstmals beim Auftaktspiel zeigen. Allerdings erwartet die Kolumbianer dort einen höchst unangenehme Aufgabe, weckt sie doch böse Erinnerungen an die Schmach von vor vier Jahren: der Gegner am 15. Juni in Lyon ist Rumänien.
Ein Grau(er) Sieg für die Colorados
Der neue Präsident Paraguays heißt Raúl Cubas Grau und ist Colorado. Dabei hatte es für die Opposition so günstig wie noch nie seit dem Ende der Stroessner-Ära ausgesehen. Erstmals trat die Opposition gemeinsam in einem Bündnis – der Alianza Democrática – an. Dann präsentierte sich die Coloradopartei im Jahr vor den Wahlen so zerstritten wie noch nie, drei größere Fraktionen dieser Partei bekämpften sich mit allen Mitteln und schließlich servierte sie das Sahnetüpfelchen für die Opposition, als der populäre Kandidat der regierenden Colorados und Ex-General Lino Oviedo wenige Tage vor dem Wahltermin wegen seines Putschversuches von 1996 gegen den gegenwärtigen Präsidenten Wasmosy für zehn Jahre hinter Gitter wanderte.
Die Colorados standen sprachlos ohne ihren Kandidaten da. Damit hätte es für die Opposition reichen sollen – so sagten es die letzten Umfragen. Aber die WählerInnen sagten etwas ganz anderes.
Colorados liegen überall vorn
Genau wie vor fünf Jahren erwiesen sich die Colorados als ausgesprochene Finalistas. In den letzten Tagen vor der Wahl mobilisierten sie noch einmal alles. Die Streitigkeiten zwischen den Fraktionen wurden begraben. Mit nur zwei Parolen ging es in den Endspurt. Die Anhänger um Oviedo zogen mit der Losung der sofortigen Freilassung Oviedos im Falle eines Wahlsieges in den Kampf. Da Oviedo in den ländlichen Gegenden mittlerweile als politischer Märtyrer gilt, dem von seinen Gegnern übel mitgespielt wurde, brachte das deutliche Sympathiepunkte und natürlich Stimmen.
Sein oder Nichtsein
Die andere Losung spiegelte in verschiedenen Varianten nur die Durchhalteparole der Colorados wieder, daß es um Sein oder Nichtsein geht. Angst vor möglichen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst oder den Staatsbetrieben im Falle einer Wahlniederlage der Colorados wurde geschürt. Auch fast zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur in Paraguay hat sich an der Regel aus der Stroessnerzeit, daß nur Colorados im öffentlichen Dienst tätig sein dürfen, wenig geändert. In den ländlichen Gegenden wurden außerdem in alter Manier fleißig Geschenke, Lebensmittel, Kleidung und Spielzeug unter die WählerInnen geworfen. Was gelten dagegen schon intellektuelle Größe und moralische Integrität der Oppositionskandidaten.
Die WählerInnen Paraguays haben entschieden. Mit einer Wahlbeteiligung von mehr als 80 Prozent bei über 2,1 Millionen Stimmberechtigten ging die Entscheidung eindeutig für die etablierte Coloradopartei aus. Auch wenn zwei Wochen nach dem Wahltag am 11. Mai noch immer nicht die endgültigen offiziellen Ergebnisse vorliegen, so führt nach 62 Prozent der bisher ausgezählten Stimmen der Kandidat der Colorados, Cubas Grau, mit 54 Prozent deutlich vor seinem Herausforderer Laíno mit 43 Prozent der Stimmen.
Stimmenauszählung gestoppt
Für die sonstigen Mitbewerber wurde insgesamt nicht mal ein Prozent der gültigen Stimmen abgegeben. Kurz nachdem der Generalsekretär der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), Cesar Gaviria, als Leiter der internationalen BeobachterInnengruppe den Wahlverlauf als “ziemlich normal” erklärt hatte, stoppte das Oberste Wahlgericht die Stimmenauszählung. Bei den per Fax nach Asunción übermittelten Wahlergebnissen waren verschiedene Unregelmäßigkeiten zugunsten der Colorados aufgetreten. Diese gefälschten Faxlisten erfordern eine neue Auszählung der Stimmzettel.
Aber am Gesamtergebnis wird sich nichts ändern. Auch bei den gleichzeitigen Gouverneurswahlen errangen die Colorados in 15 der 17 Regionen die absolute Mehrheit. Der Opposition gelang es nur im Departamento Boquerón, in allen Gremien eine Mehrheit zu erringen. In dieser Chacoprovinz ist auch die Mehrheit der deutschstämmigen Mennoniten angesiedelt.
Im Departamento Central liegt der Kandidat des Oppositionsbündnisses nach den Ergebnissen der Parallelauszählungen zwar vorn, aber nur mit 4.000 Stimmen. So lange die offiziellen Ergebnisse noch nicht vorliegen, ist der Triumph der Opposition dort noch nicht sicher. Auch in den beiden Kammern des Parlaments verfügen die Colorados wieder über eine solide Mehrheit. Die hatte bisher rein numerisch die Opposition.
Wahlsieger überrascht
Dieser absolut eindeutige Wahlsieg mit über elf Prozent Unterschied hat selbst den neuen Präsidenten Cubas Grau überrascht, wie er in einem Interview eingestanden hat. Deshalb kann auch noch niemand so richtig sagen, wie es weitergehen soll. Der 54 jährige Ingenieur und wohlhabende Unternehmer Raúl Cubas Grau war ursprünglich als Vizekandidat vorgesehen, ein richtiges Profil hat der politische Newcomer nicht. Nach ersten Gesprächen mit dem scheidenden Amtsinhaber Juan Carlos Wasmosy will Cubas Grau auf keinen Fall die Amtsgeschäfte vor dem 15. August übernehmen. Diesen Termin sieht die Wahlgesetzgebung als reguläre Frist vor. Cubas Grau, der seinen Wahlkampf mit der Forderung nach der sofortigen Freilassung von General Oviedo führte, schlägt vorerst verhaltenere Töne an. Ein allgemeines Amnestiegesetz soll her – pauschale Vergangenheitsbewältigung nach dem Vorbild Uruguays und Argentiniens.
Kommt Stroessner wieder?
Doch nicht nur Oviedo soll auf freien Fuß gelassen werden. Der machtbesessene designierte neue Vizepräsident Luis María Argaña will bei dieser Gelegenheit auch gleich den Ex-Diktator Alfredo Stroessner aus seinem brasilianischen Exil nach Paraguay zurückholen und ihn in die Politik der Colorados einbeziehen.
Das bereitet nicht nur der politischen Opposition Schwierigkeiten, auch in den eigenen Reihen gibt es Widerstand. Der unterlegene Präsidentschaftskandidat Domingo Laíno hat erklärt, prinzipiell hat er nichts gegen die Rückkehr des paraguayischen Bürgers Stroessner in sein Heimatland. Allerdings müßte er sich sofort den Gerichten wegen mehrerer Anklagen gegen ihn stellen. Deshalb wird hinter den Kulissen fleißig an einem Gesetzentwurf gebastelt, der weitere Anklagen gegen den inhaftierten General und den exilierten Diktator unmöglich macht. Zumindest für den Ex-General Lino Oviedo liegt schon ein Szenarium vor. Er soll freigesprochen und wieder in seinen militärischen Rang eines Generals im Ruhestand einschließlich aller finanziellen Bezüge eingesetzt werden, um ihn schließlich auf einem schnell einzuberufenden Parteitag der Colorados als Parteivorsitzenden zu wählen. Diesen Posten müßte jedoch der neue Vizepräsident Argaña räumen.
Der Präsident als Sandwich
Da Argaña nicht gerade als Freund von Oviedo gilt und diese Machtposition bestimmt nicht freiwillig aufgeben wird, sind neue parteiinterne Konflikte bereits programmiert. Bei mindestens drei fast gleichstarken Fraktionen der Colorados in den Parlamentskammern könnte die Opposition am Ende doch noch der eigentliche Sieger sein.
Bereits jetzt macht der Begriff vom “Sandwich Cubas Grau” die Runde: Der Präsident eingeschlossen von den beiden Fraktionen der starken Männer der Colorados Oviedo und Argaña. Auch vielen Militärs dürfte die Rückkehr von General Oviedo nicht einerlei sein, hatten sie sich doch gegen ihn gestellt und müssen jetzt Repressalien fürchten.
Die Nachbarländer sehen die Entwicklung mit Sorge, denn die Stabilität des Mercosur soll auf keinen Fall gefährdet werden.
Wahlvorbereitungen: Der Kandidat sitzt im Gefängnis
Täglich steht Ex-General Lino Oviedo in allen Schlagzeilen der Zeitungen Paraguays, jedoch in einer Weise, die ihm nicht unbedingt recht sein dürfte. Sah er sich doch schon als nächster Präsident, als er die parteiinternen Vorwahlen im September 1997 gewonnen hatte und sich gegen drei Mitbewerber durchsetzen konnte. Mit seinen markigen Sprüchen im Stile eines Exmilitärs hat er sich jedoch – besonders in den eigenen Reihen – nicht nur Freunde gemacht. Zu seinem Intimfeind wurde Präsident Juan Carlos Wasmosy. Nach langen gegenseitigen Anfeindungen verhängte Wasmosy kurzerhand eine 30tägige Arreststrafe gegen den General im Zwangsruhestand. Nach einem Versteckspiel, mit dem sich Oviedo immer wieder seiner Verhaftung entzog, trat er dann Anfang Dezember tatsächlich seinen Arrest im Hauptquartier der 1. Kavalleriedivision außerhalb der Hauptstadt Asunción an.
Ein General unter Dauerbeschuß
Obwohl Oviedo während des Arrests kaum Kontakte zur Außenwelt hatte, hielten seine Anhänger an ihm fest und führten die Wahlvorbereitungen erfolgreich ohne ihn weiter. Kurz vor Jahresende bestätigte das interne Wahlgericht der Coloradopartei den Nominierungsanspruch Oviedos als Präsidentschaftskandidaten und lehnte damit den Antrag von Luis María Argaña, dem Führer der Coloradopartei, ab, die Vorwahlen für nichtig zu erklären. Zu gern wäre Argaña selbst der Präsidentschaftskandidat der Colorados, war er Oviedo doch nur knapp unterlegen, obwohl ihm, Argaña, fast der ganze Parteiapparat zur Verfügung stand.
Die parteiinternen Gegner Oviedos zogen nun alle Register, um den General für amtsunfähig erklären zu lassen. In einer regelrechten Kampagne wurde ein Gerichtsverfahren nach dem anderen gegen ihn eröffnet. Sollte er auch nur in einer Klage für schuldig befunden werden, wird er nach paraguayischem Wahlrecht amtsunfähig und darf nicht für ein Amt kandidieren. In einem der Verfahren wird Oviedo durch zwei Abgeordete unrechtmäßige Bereicherung vorgeworfen. Da aber keine konkreten Beweise vorliegen, dürfte ihm diese Klage kaum Kopfzerbrechen bereiten.
Eine böse Überraschung für Oviedo war jedoch, daß er nach seiner 30tägigen Arrestzeit am 11. Januar nicht entlassen wurde. Ein außerordentliches Militärtribunal verfügte seine unbefristete Inhaftierung und eröffnete gleichzeitig mehrere Militärgerichtsverfahren gegen den Ex-General. In einem Verfahren wird ihm wegen des gescheiterten Putschversuchs vom April 1996 gegen Präsident Wasmosy Rebellion vorgeworfen, zum anderen stehen Verstöße gegen das Wahlrecht während seiner aktiven Militärzeit zur Debatte. Aktive Militärs dürfen sich laut Verfassung nicht politisch betätigen. Oviedo war jedoch zu jeder Zeit politisch aktiv. Ein weiterer Vorwurf richtet sich gegen den überteuerten Kauf von Hubschraubern für die Antidrogeneinheiten des Landes, für den er verantwortlich war.
Deutscher Giftmüll in Paraguay
Eine ganz andere Dimension hat die gerichtliche Untersuchung über Oviedos Verwicklungen in einen Giftmüllskandal. Ein Journalist deckte die Korrespondenz zwischen dem General und dem damaligen paraguayischen Botschafter in Deutschland auf, in dem es um die Versendung von deutschem Giftmüll nach Paraguay ging, auf die Greenpeace schon seit längerem hingewiesen hatte. Inzwischen wurden zwei Lagerstätten im Zolldepot von Asunción und im Chaco gefunden, wo sich bereits seit einigen Jahren 638 Fässer mit belasteten Materialien befinden. Die Absenderfirma Agrocome war fingiert. Es scheint festzustehen, daß Oviedo dank der Mithilfe paraguayischer Diplomaten einer der Hauptnutznießer der Giftmüllimporte war. In diesem Fall werden sich die Untersuchungen noch über längere Zeit hinziehen.
Zum Leidwesen von Präsident Wasmosy und Parteichef Argaña gingen die Untersuchungen gegen Oviedo nur außerordentlich langsam und kompliziert voran. Die Anwälte Oviedos versuchten, eine Freilassung zu erreichen, indem sie sich auf „habeas corpus“ beriefen, jenen Rechtsgrundsatz, der Inhaftierung ohne richterlichen Haftbefehl verbietet. Das schlug fehl. Das Oberste Gericht wies die vorläufige Freilassung zurück, und ein Richter, der sie angeordnet hatte, wurde wegen Überschreitung der Amtsbefugnisse zurechtgewiesen. Auch die Militärs widersetzten sich einer möglichen Freilassung Oviedos und ließen die Muskeln spielen. Rein ‘routinemäßig’ rollten Panzer durch die Stadt, und Militärflugzeuge hielten Flugmanöver ab. Putschgerüchte wurden sofort dementiert.
Zehn Jahre für Oviedo
Am 3. März verkündete das Militärtribunal sein Urteil. Ex-General Oviedo wurde der Rebellion für schuldig befunden und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Das Urteil wurde nur vier Tage nach seiner offiziellen Registrierung als Präsidentschaftskandidat der Coloradopartei verkündet. Die Führung der Colorados um Argaña begrüßte die Entscheidung und leitete sofort notwendige Schritte ein, um Oviedo als offiziellen Kandidaten zu ersetzen. Zur allgemeinen Überraschung kam es daraufhin zum politischen Schulterschluß zwischen den beiden Erzfeinden Wasmosy und Argaña. Gerade Argaña, der während der gesamten Regierungszeit von Wasmosy mit seinen Anhängern im Parlament in politischer Opposition zum Präsidenten stand, vollzog eine Wende. Beide versuchen nun, ein neues Kandidatenpaar ins Spiel zu bringen. Neuer Präsidentschaftskandidat soll Raúl Cubas Grau werden, der bereits als Vizepräsident von Oviedo nominiert war. Der neue Vizepräsidentschaftsanwärter soll, welche Überraschung, Luis María Argaña selbst sein. Doch das Oberste Wahltribunal wies eine provisorische Anmeldung dieses Kandidatenpaares mit der Begründung zurück, daß noch die Wahlformel Oviedo-Cubas gelte. Um das politische Verwirrspiel noch zu verstärken, setzte der Oberste Gerichtshof die zehnjährige Gefängnisstrafe gegen Oviedo aus und prüft gegenwärtig die Rechtmäßigkeit des Urteils des Militärtribunals. Es wird von zahlreichen als unabhängig geltenden in- und ausländischen Rechtswissenschaftlern bezweifelt, ob ein Militärtribunal überhaupt für ehemalige Militärs zuständig und das Urteil somit rechtsfähig ist. Die Überprüfung der Beweise und die mögliche Übergabe des Falles an ein Zivilgericht mit möglicher Verurteilung aus dem gleichen Grund steht auf einem ganz anderen Blatt. Das Oberste Gericht will seine Entscheidung auf jeden Fall noch vor den geplanten Wahlen bekanntgeben. Aber genau da liegt für die Colorados das Problem. Möglicherweise stehen sie kurz vor der Wahl ohne Kandidaten da.
Fällt der 10. Mai aus?
In ihrer Zerstrittenheit sehen sich die Colorados plötzlich der Gefahr gegenüber, die Macht im Land zu verlieren. Das Wahlgesetz sieht nicht vor, einen Reservekandidaten beim Obersten Wahltribunal anzumelden, und die Anmeldefristen sind fast verstrichen. Während Argaña strikt für eine Verschiebung des Wahltermins um 60 Tage ist, windet sich Wasmosy noch. Einerseits will er am Wahltermin und an der geplanten Amtsübergabe am 15. August festhalten, andererseits will er nicht, daß allein die geeinten Oppositionsparteien zur Wahl antreten und somit schon gewonnen hätten. Deshalb werden nochmals alle Register gezogen, um die Wahlen vielleicht doch noch auf mehr oder weniger legale Weise zu verschieben. Eine Anrufung des Obersten Gerichtshofes hat bereits eine Abfuhr eingebracht. Laut dem Präsidenten des höchsten Justizorganes des Landes, Raúl Sapena Brugada, besteht keine verfassungsmäßige Grundlage zur Verschiebung des Wahltermins, wenn eine Partei Probleme mit ihren Kandidaten hat. Auch Unregelmäßigkeiten in den Vorwahlen der Parteien sind nicht Sache des Obersten Gerichts, sondern parteiinterne Angelegenheiten. Schließlich versuchten die Colorados eine Verschiebung des Wahltermins zu erzwingen, indem sie Unregelmäßigkeiten im Wahlregister beklagten. Aber auch dieser Versuch scheiterte gründlich, denn die Vorwürfe erwiesen sich als fingiert und unwahr. Eine Technikergruppe der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) reiste eigens an, um das neuerstellte beziehungsweise überarbeitete Wahlregister Paraguays unter die Lupe zu nehmen, und bescheinigte Paraguay, nach Puerto Rico das derzeit zweitbeste Register in Lateinamerika zu besitzen. Mögliche Unstimmigkeiten bei Adressenangaben von Wählern liegen bei unter 0,2 Prozent. Außerdem besteht noch die Möglichkeit, daß Parteien Einzelbeanstandungen zu Wählerangaben vorbringen. Ein letzter Versuch der Verlegung des Wahltermins richtet sich jetzt gegen die Zentrale Wahlkommission selbst. Mitglieder der Kommission werden persönlich angegriffen mit dem Vorwurf, die Oppositionsparteien zu unterstützen. Die Hoffnung, daß das Oberste Gericht doch noch eine Verschiebung der Wahlen anordnet, begründen sich nur noch auf die vage Illusion, daß die parteiinternen Wahlen sowohl der Colorados als auch der Opposition wegen Unregelmäßigkeiten wiederholt werden müssen. Weiterhin ist durchgesickert, daß im Präsidialamt darüber diskutiert wurde, die Wahlen auszusetzen und entweder eine provisorische Militärjunta oder das Oberste Gericht mit der Führung des Landes bis zur Neuwahl zu beauftragen. Für den 26. April haben die Colorados einen Sonderparteitag einberufen, einziger Tagespunkt: die Wahlen.
Mit ihrer Forderung nach Verschiebung der Wahlen stehen die Colorados allein da, denn die Opposition ist strikt gegen einen neuen Termin. Die Präsidentschaftskandidaten des oppositionellen Wahlbündnisses Alianza Democrática, Domingo Laino und Carlos Filizzola, weigern sich inzwischen, über eine Verschiebung zu sprechen. Die katholische Kirche versuchte in dieser Diskussion zwischen den Parteien zu vermitteln, startete vor einigen Tagen jedoch eine Kampagne unter dem Motto ‘En mayo vamos a votar’ – Im Mai gehen wir wählen. Laut Umfragen sind 87 Prozent der Bevölkerung für Wahlen am 10. Mai. Heftige Proteste gegen eine mögliche Wahlverschiebung kamen auch aus dem Ausland. Argentinien, Brasilien, die OAS, die USA und das Europäische Parlament protestierten energisch gegen eine mögliche Verschiebung, weil sie darin eine Gefahr für den demokratischen Prozeß im Lande sehen. Brasilien drohte sogar mit dem Ausschluß Paraguays aus dem Mercosur mit Verweis auf die in das Vertragswerk eingebaute Demokratieklausel.
Stroessner läßt grüßen
Daß diese Warnungen nicht unbegründet sind, zeigt sich an den Drohgebärden, die zunehmend aus den Reihen der Colorados kommen. So wurde in der Parteiführung die Forderung aufgestellt, paramilitärische Gruppen nach dem Vorbild der ‘guardias urbanas’ – ‘Stadtwachen’ aus der Stroessnerzeit zu gründen, um die Interessen der Colorados verteidigen zu können. Gleichzeitig sollen alle Nichtcolorados aus öffentlichen Ämtern und Staatsbetrieben gedrängt beziehungsweise entlassen werden, wozu die verbleibende Zeit der WasmosyRegierung genutzt werden soll. Während der Stroessnerdiktatur durften nur Coloradomitglieder für den Staat arbeiten. Entsprechende Petitionen liegen beispielsweise von der Frauenorganisation der Colorados vor. Die Kirche und die Oppositionsparteien wiesen einen solchen Rückfall in die Diktatur und den Autoritarismus strikt zurück. Das Parlament beschloß eine Gesetzesvorlage, die die Parteienwerbung in öffentlichen Einrichtungen verbietet. Übrigens nutzte Exdiktator Stroessner das politische Klima, um eine Erlaubnis zur Rückkehr aus dem brasilianischen Exil zu erhalten. Laut der brasilianischen Zeitschrift Veja hat sich General Oviedo dafür ausgesprochen.
Wahlvorbereitung läuft planmäßig
In Paraguay herrscht gegenwärtig die paradoxe Situation, daß einerseits die rein technischen Vorbereitungen der Wahlen planmäßig laufen, wie die Zentrale Wahlkommission bestätigt, andererseits der politische Wahlkampf durch die Parteien bisher eher verhalten geführt wurde. Die Coloradopartei kann wohl kaum Wahlkampf führen mit einem Kandidaten, der vielleicht nicht antreten kann und mit einem anderen, der noch nicht darf. Aber auch die Opposition hält sich eher zurück, um die Wahlkampfressourcen nicht übermäßig zu strapazieren, falls der Termin doch noch platzt. Obwohl die Opposition im Kampf um die Präsidentschaft zum ersten Mal mit einem gemeinsamen Kandidatenpaar auftritt, ist ihnen der Sieg bei weitem nicht sicher. Zum einen ist die Zugehörigkeit zur herrschenden Coloradopartei über mehrere Generationen insbesondere in den ländlichen Gegenden tief verwurzelt, und zum anderen hat sich das Erscheinungsbild von General Oviedo in der Öffentlichkeit gewandelt. Er wird zunehmend als Opfer der juristischen Willkür und standhafter Kämpfer betrachtet, der von der eigenen Parteiführung verraten wurde. Das schafft ihm Sympathien. Nach verschiedenen Meinungsumfragen lag Oviedo lange Zeit mit rund 45 Prozent der Stimmen deutlich vor Laino und Filizzola mit 37 Prozent. Erst eine Umfrage vom 21. März zeigte einen hauchdünnen Vorsprung von Laino. Anders sieht es bei dem Zwei-Kammern-Parlament aus. Hier ist der Vorsprung der Opposition recht deutlich. Allerdings sind alle Umfragen aufgrund der geringen Anzahl der Befragten und auch der hohen Quote an unentschiedenen Wählern mit Vorsicht zu betrachten. Sollte General Oviedo seinen Anspruch auf die Präsidentschaftskandidatur doch noch verlieren, würde das Oppositionsbündnis Alianza Democrática, bestehend aus dem Partido Liberal Radical Auténtico (PLRA) und dem Partido Encuentro Nacional (PEN), klarer Nutznießer sein. Denn weder der Vizepräsident der Colorados, Raúl Cubas Grau, noch Luis María Argaña verfügen über Oviedos Beliebtheitsgrad, wie die gleichen Umfragen bewiesen.
Auf jeden Fall ist bereits für den ordnungsgemäßen Wahlablauf und die nötige Transparenz gesorgt. Die OAS kündigte an, 40 Wahlbeobachter nach Paraguay zu entsenden. Auch die Organisation SAKA wurde wieder ins Leben gerufen. Dieser Dachverband besteht aus verschiedenen in- und ausländischen Nichtregierungsorganisationen, die Wahlbeobachter in alle Wahlbüros entsenden will und – wie schon in den vergangenen Wahlen – eine Parallelauszählung vornimmt. Wahlbetrug im großen Stil wird damit kaum möglich sein – unter der Voraussetzung, daß die Wahlen wie vorgesehen stattfinden.
Ein General will an die Macht
Seit seiner aktiven Beteiligung am Militärputsch gegen den Diktator Stroessner im Februar 1989 ist Lino Oviedo eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Landes. Mit einer scharfen Handgranate in der Hand, zwang der damalige Oberst den letzten bewaffneten Widerstand von Stroessner-Anhängern nieder. Dieser Mut machte ihn populär. Auf dem Weg nach oben brachte er es schließlich bis zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Diesen Posten erlangte er nicht zuletzt auch, weil er dem heutigen Präsidenten Wasmosy zum Wahlsieg verhalf, als dieser sich in einem sehr umstrittenen Wahlverfahren gegen den Mitkonkurrenten Luis María Argaña innerhalb der Coloradopartei durchsetzen mußte.
Aber das Verhältnis Präsident und General blieb nicht lange ungetrübt. Der ambitionierte General Oviedo nutzte alle Gelegenheiten, sich politisch zu profilieren, obwohl laut Verfassung von 1992 allen Militärs politische Äußerungen, Aktivitäten oder Parteimitgliedschaften verboten sind. Bei Oviedo gelten solche Verbote jedoch nur für andere. Als dem Präsidenten die Einmischungen zu viel wurden und er den Rücktritt des Generals verlangte, lehnte dieser schlicht ab und mobilisierte seine Streitkräfte. Erfahrungen in der Durchführung eines Staatsstreiches besaß er schließlich. Daß der Präsident klein beigeben wollte und dem potentiellen Putschistenführer den Posten des Verteidigungsministers anbot, blieb eine Politposse am Rande.
Die Nachricht vom angeblichen oder tatsächlichen Putschversuch Oviedos mobilisierte die besorgten Nachbarländer und sorgte für massive Proteste der Öffentlichkeit. Mit diesem Rückhalt entließ Präsident Wasmosy den General aus dem aktiven Militärdienst. Nach mehreren Monaten Gefängnishaft wurde Oviedo vom Gericht von jeglicher Schuld eines Staatsstreiches freigesprochen, ein Indiz dafür, daß auch die Justiz in Paraguay noch immer politisch orientiert ist und weniger auf einer soliden Gesetzgebung beruht. So kommen die unglaublichsten Urteile zustande.
Als frischgebackener ‘Zivilist’ gründete Oviedo sofort seine Parteifraktion UNACE und arbeitete weiter an seinem Ziel der nächste Präsident Paraguays zu werden. Als ausgesprochener Populist und Nationalist verspricht er in markigen Tönen alles mögliche oder bedroht auch schon mal massiv die Presse oder politische Opponenten. Neben militärischen Kreisen findet er seine Anhänger vor allem in der ländlichen Bevölkerung. Mit großem finanziellem Aufwand, Propagandatouren und Geschenkaktionen gewann er schließlich die parteiinterne Nominierungswahl zum Präsidentschaftskandidaten knapp mit 36,7 Prozent, gefolgt von Luis María Argaña mit 34,9 Prozent. Carlos Facetti, der Favorit des derzeitigen Präsidenten, erzielte ganze 22,4 Prozent, und Vizepräsident Angel Seifart erreichte nur 1,1 Prozent. Oviedo ließ sich feiern, als hätte er bereits das Präsidentenamt gewonnen. Da die Colorados nach wie vor die stärkste Partei des Landes sind, liegt ein möglicher Wahlsieg auch in greifbarer Nähe.
Oviedo besuchte sofort die Präsidenten der Nachbarstaaten, um sich den Rücken zu stärken. Die reagierten genauso verschnupft auf den Ex-General ob seines versuchten Staatsstreiches wie der US-Botschafter, der ihm öffentlich jegliche demokratische Glaubwürdigkeit absprach.
Am Rande sei erwähnt, daß Oviedo ganz auf die deutsche Verbindung setzt, schließlich erhielt er einen Teil seiner militärischen Ausbildung in Deutschland. So bezeichnet er sich gern als ‘Demokrat der Schule Adenauer, Schmidt und Kohl’ und möchte aus Paraguay ‘das Deutschland Südamerikas’ machen. Andererseits scheut sich Oviedo auch nicht, sich selbst mit Perón zu vergleichen. An mangelndem Selbstbewußtsein leidet er offensichtlich nicht.
Sinkt der Stern Oviedos?
Oviedos Erfolg wird in den eigenen Reihen nicht kampflos hingenommen. Das zeigte sich schon an dem Zeitraum von zwei Wochen, den das parteiinterne ‘Tribunal Electoral’ benötigte, um das offizielle Wahlergebnis bekannt zu geben. Argaña warf der Oviedofraktion sofort Wahlbetrug vor, den es zweifelsfrei gegeben hat, jedoch von allen Seiten.
Auch Wasmosy macht es seinem Intimfeind so schwer wie nur möglich. Nachdem ihn Oviedo im In- und Ausland als unfähig und korrupt beschimpft hat, hat der Präsident als Oberkommandierender der Streitkräfte kurzerhand eine 30tägige Arreststrafe gegen den General im Ruhestand verfügt. Eine Kinder- und Familienrichterin (!) setzte die Strafe jedoch kurzerhand aus, so daß ein langwieriges Tauziehen der Anwälte begann. Als Wasmosy schließlich Recht bekam und seine Präsidentengarde losschickte, um Oviedo in dessen Anwesen festzunehmen, war dieser bereits bestens über alles informiert und hatte sich ins Ausland abgesetzt. Dort gab er fleißig Interviews an Fernsehen, Rundfunk und Presse. Ein klarer Sieg nach Punkten für Oviedo, der den Präsidenten in jeder seiner Aktionen als unfähig dastehen ließ.
Noch größere Gefahr droht Oviedo jedoch von der Coloradopartei selbst. Breit wird diskutiert, ob die Vorwahlen annuliert werden sollen oder Argaña nachrückt. Auf alle Fälle weigert sich die Parteiführung, die Präsidentschaftskandidatur von Oviedo im Namen der Partei offiziell bei den Wahlbehörden anzumelden. Ein Versuch Oviedos, sich selbst als Kandidat registrieren zu lassen, wurde bisher abgelehnt. Nun liegt ein Antrag vor, der Oviedo gar aus der Coloradopartei ausschließen soll. Dann wäre nur noch eine Nominierung als unabhängiger Kandidat möglich. Bis Anfang März muß die Anmeldung erfolgen, es sei denn, die für den 10. Mai 1998 vorgesehenen Wahlen werden generell verschoben. Erste Stimmen gibt es bereits dafür.
Noch ist Oviedo nicht am Ende, denn er besitzt Rückhalt in der Armee und Bauern halten in seinem Namen die Parteizentrale aus Protest besetzt.
Opposition mit Erfolgschancen
Erstmals haben sich die beiden größten Oppositionsparteien des Landes, die Authentische Liberal-Radikale Partei (PLRA) und die Partei der Nationalen Zusammenkunft (PEN) auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Die Liberalen stellen mit Domingo Laíno den Präsidentschaftskandidaten. Laíno bewirbt sich damit bereits das dritte Mal um das Präsidentenamt seit dem Sturz Stroessners. Das Amt des Vizepräsidenten wird von der PEN gestellt. Für Carlos Filizzola gab es keine Mitbewerber in den eigenen Reihen.
Der noch sehr junge Filizzola hatte 1991 sensationell mit seiner neu gegründeten Bürgerbewegung das Bürgermeisteramt in der Hauptstadt Asunción gewonnen. Er und seine Partei gelten vielen als Hoffnungsträger und unverbrauchte Kraft im korrupten und verfilzten Politdickicht Paraguays. Für den angesehenen paraguayischen Schriftsteller Augusto Roa Bastos, der vor kurzem in diese Partei eintrat, ist sie die ‘junge Partei für das junge Land’. Beide Parteien wollen in der Erstellung eines Regierungsprogramms zusammenarbeiten. Damit sind die Chancen für die Opposition so gut wie noch nie, das Präsidentenamt zu erringen. Leicht wird es trotzdem nicht werden, auch wenn die herrschende Coloradopartei in sich zerstritten ist und insbesondere Filizzola Stimmen von Coloradoanhängern gewinnen dürfte, denn nicht alle sehen in der politischen Opposition eine wirkliche Alternative.
Der Dachverband der Bauernorganisationen MCNOC hat die Unterstützung sowohl der möglichen Kandidatur Oviedos wie auch der Laínos zurückgewiesen, da sie beiden nicht zutrauen, die Interessen der paraguayischen Bauern zu vertreten.
Auch die katholische Kirche hat bisher noch kein Votum abgegeben. Allerdings hat sie jeden Christen des Landes zum Kampf gegen die allgegenwärtige Korruption aufgerufen und damit indirekt dem alten System das Vertrauen entzogen. Auf jeden Fall werden die Monate bis zur Wahl sowie die Wahlen selbst noch mit einigen Überraschungen in der politischen Landschaft Paraguays aufwarten.
Den arbeitenden Kindern nützt nur, was sie selbst wollen
In Lateinamerika, Westafrika und Südostasien sind seit einigen Jahren Organisationen arbeitender Kinder im Entstehen. Ihre Vorstellungen und Forderungen zur Kinderarbeit decken sich oft nicht mit dem, was Regierungen und internationale Organisationen wie ILO und UNICEF verkünden. Vor allem wenden sie sich dagegen, jede Arbeit von Kindern in Bausch und Bogen zu verdammen und abschaffen zu wollen. Statt dessen verlangen sie, Armut und Ausbeutungsverhältnisse ins Visier zu nehmen und die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen und in Würde und freier Entscheidung arbeiten zu können. Die Kinder wollen weiter ihre Familien unterstützen und eine aktive anerkannte Rolle in ihren Gesellschaften spielen.
Die Osloer Konferenz näherte sich ein Stück weit den Vorstellungen der Kinderorganisationen, indem sie sich auf die besonders ausbeuterischen und riskanten Formen der Kinderarbeit konzentrierte. Sie blieb aber meilenweit von den Erwartungen der Kinder entfernt, indem sie die internationalen und strukturellen Ursachen der Ausbeutung von Kindern ignorierte und sich wie eh und je auf gesetzliche Verbote und Boykottappelle kaprizierte. Eine neue Strategie, die wirklich den arbeitenden Kindern zugute käme und ihre Situation verbesserte, kam auf der Osloer ILO-Konferenz nicht in Sicht.
Die 300 MinisterInnen und ExpertInnen von ILO, UNICEF, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Kinderhilfsorganisationen, die sich auf der Konferenz die Köpfe heiß redeten, duldeten sage und schreibe drei (3) handverlesene Kinder unter sich und störten sich auch noch daran, daß die anderen ihr Forum verließen und vor der Tür ihrer luxuriösen Konferenzstätte demonstrierten. In Oslo waren es vor allem einige Gewerkschaften und Regierungen, die sich die Mitwirkung und Kritik der Kinder verbaten.
Ihre Sturheit und Arroganz wurde selbst innerhalb der UNICEF, die die Konferenz mitveranstaltete, mit Empörung quittiert. Immerhin: In einem Brief an die norwegische Regierung erklärte Bill Myers, einer der profiliertesten UNICEF-Experten zur Kinderarbeit:
„Allein pragmatische Erwägungen erfordern, die arbeitenden Kinder gerade in dem Moment, in dem wir Maßnahmen zu ihrem Schutz beschließen, mitwirken zu lassen und uns ihnen zu stellen. Jedes Mal mehr erkennen die Experten, daß ein wirksamer Schutz der Kinder gegen den Mißbrauch am Arbeitsplatz nicht von oben gegen den Willen der Bevölkerung dekretiert werden kann, vor allem in Ländern mit einem hohen Anteil armer Familien, deren Kinder mehrheitlich in der Landwirtschaft, im Haushalt und im informellen Sektor arbeiten.“
In Oslo wurde die Chance verpaßt, neue Wege im Kampf gegen die wirtschaftliche Ausbeutung und den sozialen Ausschluß zusammen mit den direkt betroffenen Kindern zu suchen. Um so wichtiger ist es, die Kritik, Vorschläge und Forderungen der sich organisierenden Kinder selbst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
KASTEN
Erklärung des V. lateinamerikanischen und karibischen Treffens
arbeitender Kinder an die internationale Gemeinschaft
Für Arbeit in Würde und eine Gesetzgebung, die uns schützt und anerkennt
Die VertreterInnen der Bewegungen und Organisationen arbeitender Kinder Lateinamerikas und der Karibik (NATs) sowie anwesende VertreterInnen der arbeitenden Kinder Afrikas und Asiens, die sich auf dem V. lateinamerikanischen und karibischen Treffen aller organisierten arbeitenden Kinder versammelt haben, geben hiermit im Namen von weiteren Millionen von arbeitenden Kindern dieser Regionen folgende Erklärung an die internationale Öffentlichkeit ab:
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat für uns Kinder die Rechte, angehört zu werden (Art. 12), uns zu organisieren (Art. 15) und beschützt zu werden (Art. 32) festgelegt. In unserem tagtäglichen Leben, in unserer Arbeit, in unseren Organisationen und auf diesem lateinamerikanischen Treffen haben wir NATs jedoch feststellen müssen, daß diese Rechte nicht ausreichend sind, denn sie werden in der Praxis nicht respektiert.
Man hört uns an, aber man berücksichtigt unsere Ansichten nicht. Man gibt uns das Recht, uns zu organisieren, aber unsere Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher werden nicht anerkannt. Man „beschützt“ uns, aber man läßt uns nicht an der Ausarbeitung solcher „Schutz“programme mitwirken. Unsere Organisationen kämpfen Tag für Tag für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, für unsere Rechte auf angemessene und qualitativ gute Ausbildung, für bessere Gesundheitsbedingungen, für Möglichkeiten, uns versammeln zu können, um gemeinsam Aktionen durchzuführen, das heißt dafür, in unserem Leben selbst die Protagonisten zu sein und in unseren Gesellschaften als soziale Subjekte anerkannt zu werden. Unsere Organisationen haben sich als die beste Art erwiesen, uns vor Ausbeutung, schlechter Behandlung und der Geringschätzung durch die Gesellschaft zu schützen. Innerhalb unserer Organisationen fühlen wir uns als würdige, fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für unsere Arbeit. Hier bilden wir uns und finden Raum für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen für Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt, das für uns unzumutbar ist.
Damit unsere Meinungen ernstgenommen werden, müssen unsere Organisationen auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene rechtlich voll anerkannt werden. Unsere demokratisch gewählten VertreterInnen müssen in allen lokalen, nationalen und internationalen Gremien mitreden und mitwählen können, in denen über Politik, die die Kinder und die Arbeit betrifft, entschieden wird, wie in der Bildungspolitik, der Arbeitspolitik sowie bei Plänen zur sozialen Absicherung und Gemeindeentwicklung. Die Präsenz der NATs innerhalb dieser Gremien gemeinsam mit Delegierten anderer sozialer Organisationen ist die beste Garantie im Kampf gegen Ausbeutung, Armut und Ausgrenzung und ein großer Schritt zur Durchsetzung der Menschenrechte. Wir NATs aus Lateinamerika und der Karibik wie auch unsere Freunde aus Afrika und Asien verstehen uns als ProduzentInnen DES LEBENS, angesichts der Kultur des Todes, die uns jegliche Rechte und unsere volle Eingliederung in die Gesellschaft verwehrt. Dies nicht anzuerkennen bedeutet, uns noch weiter als jetzt schon auszugrenzen. Gleichzeitig von Bürgerrechten zu uns zu sprechen, ist ein Hohn.
JA zur Arbeit in WÜRDE, NEIN zur Ausbeutung!
JA zur Arbeit unter SCHUTZ, NEIN zu schlechter Behandlung und Mißbrauch!
JA zu ANERKANNTER Arbeit, NEIN zu Ausschluß und Ausgrenzung!
JA zu Arbeit unter MENSCHLICHEN BEDINGUNGEN, NEIN zu unwürdigen Bedingungen!
JA zum RECHT, IN FREIHEIT ZU ARBEITEN, NEIN zur Zwangsarbeit!
Huampaní, Lima (Peru), 6.–9. August 1997
VertreterInnen der Bewegungen arbeitender Kinder: aus der Region Südamerika: Argentinien, Paraguay, Uruguay; aus der Andenregion: Kolumbien, Chile, Ecuador, Peru, Venezuela; aus Mittelamerika und der Karibik: Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik.
Übersetzung: Jutta Pfannenschmidt und Manfred Liebel
Vom Recht, sich “das Kleid schmutzig zu machen”
Costa Rica war eines der ersten lateinamerikanischen Länder, das die politische Gleichstellung von Frauen mittels Quotenregelung gesetzlich verankerte. 1990 schon wurde ein Gesetz erlassen, das vorschreibt, die Positionen der Vizeminister, hohe politische Ämter und der Vorsitz staatlicher Institutionen in den ersten fünf Jahren zu mindestens 30 Prozent, in zehn Jahren zu 50 Prozent von Frauen eingenommen werden müssen. Es regelt außerdem, daß weder Männer noch Frauen mehr als 60 Prozent der Kandidatinnen stellen dürfen. Außerdem werden die einzelnen Parteien aufgefordert in ihren Parteistatuen “effektive Mechanismen” festzulegen, die eine Beteiligung von Frauen in der Parteiarbeit und bei der KanditatInnenwahl erleichtert.
Quotierung von KandidatInnen
Die in Lateinamerika am häufigsten praktizierte Form der Ouotierung beruht darauf, daß die Aufstellung der KandidatInnen politischer Parteien beeinflußt wird, eine Einflußnahme, die nur aufgrund der schon praktizierten Kontrolle der Parteien durch staatliche Organe stattfinden kann. Das bedeutet, daß die nationalen Wahlkommissionen die KandidatInnenlisten vor dem Beginn des Wahlkampfs anerkennen müssen, die Anerkennung verweigern, wenn nicht der im Quotengesetz vorgeschriebene Mindestanteil durch Frauen besetzt ist. Deshalb sind Quotenregelungen in Lateinamerika fast ausschließlich als Veränderungen der Wahlgesetze verabschiedet worden, nicht als Anti-Diskriminierungsgesetze per se.
Die weitreichendsten dieser Quotenregelungen sehen 30 Prozent der Kandidatinnenplätze auf den Listen der politischen Parteien für Frauen vor. Eine solche Regelung findet sich beispielsweise in Argentinien. Im November 1991 wurde hier das Gesetz Nr. 24.012 verabschiedet, welches vorschreibt, daß “die Liste der Kandidaten für ein öffentliches Amt mindestens 30 Prozent Frauen enthalten muß. Listen, die dieses Kriterium nicht erfüllen, dürfen nicht veröffentlicht werden.”
Auch in der Dominikanischen Republik gibt es seit diesem Jahr ein vergleichbares Gesetz, welches fordert, daß ein Minimum von 30 Prozent der KandidatInnen aller politischen Parteien und Gruppierungen für das Nationalparlament und die Provinzparlamente Frauen sein müssen. In Brasilien gibt es seit 1996 eine 20 Prozent Quote bei der KandidatInnenaufstellung, die von einem Zusammenschluß aller Parlamentarierinnen durchgesetzt wurde.
In Chile wurde dieses Jahr dem Parlament ein Gesetzesvorschlag über eine Frauenquote von 20 Prozent vorgestellt. Er wurde allerdings bisher noch nicht verabschiedet. In Mexiko dagegen ist schon im letzten Jahr ein Gesetzesvorschlag, der eine 30 Prozent Quote vorsah, an den Stimmen der Abgeordneten der Partido Revolucionario Institutional (PRI) gescheitert.
Freiwillige Quoten
Zusätzlich finden sich in anderen Ländern Frauenquoten als freiwillige Verpflichtungen einzelner Parteien. So garantieren zum Beispiel die Sozialistische Partei in Uruguay, die Partido Colorado in Paraguay und die Partido de la Revolución Democrática (PRD) in Mexiko eine Quote von 30 Prozent für Frauen. Die Partido por la Democracia (PPD) in Chile hat eine 20 Prozent Quote eingeführt. Auch die PT in Brasilien hat nach langen Auseinandersetzungen eine Quote von 30 Prozent für alle Parteiämter eingeführt. “Es war ziemlich schwer, diese Quote in der Partei einzuführen”, so Benedita da Silva, Gründungsmitglied der PT und seit 1994 im Brasilianischen Senat. “Einige Männer meinten, es gäbe gar keine Diskriminierung in der Partei und alle Frauen könnten hohe Parteiämter erlangen, wenn sie nur kompetent seien. Wir Frauen haben dagegengehalten: ‘Was denkt ihr eigentlich? Wir haben schon lange genug gezeigt, daß wir kompetent sind, erhalten aber nicht die entsprechende Anerkennung dafür’. Wir mußten sie also erst überzeugen, daß eine Quote notwendig ist, weil Diskriminierung der Grund ist, daß keine Frauen in hohen Positionen waren.”
Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg
Die Diskussionen um Quoten haben in allen Ländern dazu geführt, daß sich Frauen – teilweise auch Männer – aus verschiedenen politischen Gruppen oder unterschiedlichen Richtungen, aus Parteien und sozialen Bewegungen, in mehr oder weniger losen Koalitionen zugunsten der Quotenforderung zusammengeschlossen haben. Nur dort wo Zusammenschlüsse von Frauen mit massiver Unterstützung in der Öffentlichkeit eine Quotenforderung gestellt haben, waren diese auch erfolgreich, wie das argentinische Beispiel verdeutlicht.
Obwohl dort zwei unterschiedliche Versionen des Quotengesetzes zuerst von Abgeordneten der Unión Civica Radical, Senator Margarita Malharro, Norma Allegrone und Florentina Gomez Miranda im Senat und im Repräsentantenhaus vorgestellt wurden, erhielt es sofort Unterstützung von Vertreterinnen der anderen Parteien. Und obwohl die Stimmung vorher gegen das Quotengesetz gewesen war, wurde es überraschenderweise schon im September 1990 vom Senat verabschiedet. “An jenem Tag haben wir alle unsere Kollegen mobilisiert und um ihre Unterstützung gebeten”, so die Senatorin Malharro, “trotzdem hatten wir nicht viel Hoffnung und waren sehr überrascht, als die Abstimmung positiv verlief. Das war eher eine Frage des Glücks für uns.”
Ganz anders der Entscheidungsprozeß im Repräsentantenhaus: Als das Gesetz am 6. November 1991 debattiert werden sollte, war eine große Gruppe von Frauen als Beobachterinnen auf der Galerie, in den Fluren und auf den Straßen und Plätzen in der Nähe des Kongresses. Sie verliehen ihren Forderungen durch Rufe, Gesang und teilweise durch direkte verbale Angriffe auf die männlichen Abgeordneten während der Debatte Ausdruck. Frauen aus unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppen und Vertreterinnen unterschiedlicher Ideologien waren sich einig in der Unterstützung des Gesetzes. Es war ihnen außerdem gelungen, die weiblichen Abgeordneten, die das Gesetz nicht unterstützten wenigstens dazu zu bringen, es nicht öffentlich zu kritisieren.
Nicht einmal Frauentoiletten im Parlament
Die Brasilianerin Benedita da Silva erzählt ähnliches über ihre Zeit als Abgeordnete: “Als ich zuerst gewählt wurde, waren nur 26 von 599 Abgeordneten Frauen. Das war so eine Männerwelt, daß es nicht einmal Frauentoiletten gab. Und die Männer behandelten uns mit einem unglaublichen Paternalismus! Sie wollten auch, daß Frauen nur über Frauenangelegenheiten sprechen und versuchten, uns aus allen anderen Diskussionen rauszuhalten. Ich als Vertreterin der PT interessierte mich aber für die Agrarreform und die Rechte der ArbeiterInnen. Um gegen ihre Vorurteile anzugehen, fing ich also an, über “Frauen und die Agrarreform” zu reden, oder über “Frauen und Rechte am Arbeitsplatz”, Frauen und alles mögliche, bis sie mich endlich in allen diesen Bereichen ernst genommen haben.”
Gegen diese männliche Übermacht sind die Frauen aller Parteien in Brasilien dann zusammengekommen und haben eine nationale Kampagne gestartet, um eine Frauenquote von 20 Prozent bei allen KandidatInnen zu verlangen. “Das war ein tolles Beispiel dafür, wie Frauen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen, gemeinsam mit der Frauenbewegung aus allen Teilen des Landes, zusammenkommen können. Wir haben gemeinsam alle Parteien zwingen können, den Frauenanteil in ihren Reihen zu erhöhen.”
Allheilmittel gegen Machismo…
Dabei ist allen Beteiligten vollkommen klar, daß es sich bei der Quotenregelung keinesfalls um ein Allheilmittel gegen Machismo oder jede Art von Benachteiligung handelt. Eine Quote von 30 Prozent bei der Aufstellung der KandidatInnen erhöht ja nur in den seltensten Fällen den Frauenanteil wirklich auf 30 Prozent. Sie sagt an sich ja noch nichts darüber aus, ob Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen landen. Selbst wenn Frauen auf jedem dritten Listenplatz stehen, führt das vor allem bei kleineren Parteien, die nicht viele Sitze gewinnen, am Ende auch wieder zu einer weitaus geringeren Repräsentation von Frauen.
Letztlich haben Quoten bei der KandidatInnenaufstellung aber doch in allen Ländern dazu geführt, daß mehr Frauen in die Parlamente gelangen. In Argentinien beispielsweise halten Frauen seit den Wahlen 1994 ein Viertel der Sitze im Parlament, der höchste Frauenanteil in der Geschichte Argentiniens.
Schlechter sieht es dann allerdings bei der Verteilung von Plätzen im Kabinett aus, wo in keinem lateinamerikanischen Land eine Quotenregelung praktiziert wird. In Argentinien hat die erhöhte Anzahl von Parlamentarierinnen nicht dazu geführt, daß nun Frauen auch tatsächlich mehr Regierungsämter bekleiden und sich in den Rängen mit hoher politischer Verantwortung wiederfinden. Im Vergleich dazu finden sich mehr Frauen auf ministerieller Ebene in Ländern, die keine gesetzlich geregelte Quote bei der KandidatInnenaufstellung, haben so zum Beispiel in Chile und Venezuela. Und in den karibischen Staaten bekleiden Frauen bis zu 20 Prozent der Ämter auf Ministerialebene. Auch ohne daß die Listen der KandidatInnen quotiert sind, halten Frauen in der Karibik im Durchschnitt 18 – 20 Prozent der Sitze im Parlament.
… oder Gnade der Mächtigen?
Was eine Quote real für Frauen bringt, ist umstritten. Selbst in den Ländern, in denen Quotenregelungen bestehen, sind sich die KommentatorInnen uneins, ob die Quoten den Frauen denn nun auch tatsächliche politische Handlungsmöglichkeiten verschaffen oder ob Frauen – mit oder ohne Quote – nur nach oben gelangen, weil sie durch Partei-Patriarchen unterstützt werden oder anders von Männern abhängig sind. Diese “Quotenfrauen”, so wird erwartet, machen sowieso keine progressive Politik.
Die Bolivianerin Sonia Montaño beobachtet zum Beispiel, daß “die wenigen Frauen, die nach oben kommen, eine solch große Bringeschuld gegenüber den parteipolitisch Mächtigen haben, daß sie fast immer nur zustimmend die Hand heben, mit der Mehrheit der Partei stimmen, um Konflikte zu vermeiden oder plötzlich blind werden für Menschenrechtsverletzungen.” Sie fügt deshalb unmißverständlich hinzu: “Von solchen Frauen wollen wir nicht mal 15 Prozent.”
Verändern Quoten Politik?
Forderungen nach Quoten wurden in der Öffentlichkeit manchmal so wahrgenommen, als ob sie nur den Partikularinteressen der parteipolitisch aktiven Frauen entgegenkommen, aber keine Relevanz für Normalbürgerinnen haben. Das hat einerseits die Vehemenz von Quotenforderungen geschwächt. Andererseits aber hat es dazu geführt, daß die Politikerinnen nur in intensiven Diskussionen über Politikstile und -inhalte die Unterstützung für Quoten durch Frauen der sozialen Bewegungen gewinnen konnten und ihr Verhalten im Parlament stärker beobachtet wurde. “Es war schwierig, dieses neue Konzept von Gleichheit durchzusetzen”, so die argentinische Abgeordnete der Frente Grande, Cecilia Lipczik, “nicht nur gegenüber der männlichen Welt, sondern auch der weiblichen Welt gegenüber.”
Die Diskussionen um Quoten spiegelten so die Debatte der Frauenbewegungen weltweit wider: Gibt es allen Frauen gemeinsame Interessen, die nur von Frauen vertreten werden können, und praktizieren Frauen als solche einen anderen Politikstil?
Insgesamt blieb es jedenfalls bisher eine Wunschvorstellung, daß sich feministische Überzeugungen, soziales Engagement und progressive politische Inhalte und Stile in einer Machtposition vereinigen. “Wenn auch Frauen anders als Männer sein mögen, so muß doch auch klar sein, daß nicht alle Frauen automatisch auf die Bedürfnisse anderer Frauen achten oder auf Gender-Fragen im allgemeinen. Mehr Frauen in wichtigen Positionen bedeuten deshalb noch lange nicht, daß auch mehr Aufmerksamkeit auf die Diskriminierung von Frauen gelegt wird”, so die Journalistin Anna Fernandez Poncela. Deshalb wäre es trügerisch, es als Erfolg zu werten, daß in Ecuador die Vizepräsidentin inzwischen eine Frau ist. Alexandra Vela bezeichnet sich selbst weder als Feministin noch hat sie besonderes Interesse an der Verbesserung der Situation von Frauen geäußert, auch wenn sich das mittlerweile ein wenig zu ändern scheint.
Auch das Beispiel Violettá Chamorros, der ehemaligen Präsidentin Nicaraguas, zeigt, wie wenig sich positive Veränderungen des Geschlechterverhältnisses einstellen müssen, nur weil eine Frau politische Entscheidungsträgerin ist.
Insgesamt scheint sich aber die Meinung durchzusetzen, daß sich die “Qualität der Debatte” durch die Anwesenheit von Frauen verbessert habe und daß eine “Erweiterung des demokratischen Raums offensichtlich geworden sei, weil “das Thema Frauendiskriminierung” notwendigerweise behandelt werden mußte, auch von Politikern und Parteien, die sich sonst nicht damit beschäftigt hätten”, betont die brasilianische Feministin Graciela Rodriguez.
Quotenregelungen können also reale Möglichkeiten schaffen für mehr Pluralismus und für die Ausübung von Kritik und Kontrolle durch Frauen – im Parlament und von außen. Formal müssen Frauen dann jedoch überhaupt erst das Recht erhalten, genauso schlechte Politiker zu sein wie die Männer. Unter den “Quotenfrauen” werden dann hoffentlich auch so manche dabei sein, die andere politische Inhalte vielleicht sogar mit anderen Politikstilen verbinden und streitbare Alternativen innerhalb des politischen Systems formulieren.
Die nicaraguanische Feministin Sofía Montenegro drückt das so aus: “Der Kampf um die Rechte von Frauen muß aus dem Inneren des Systems heraus stattfinden. Sonst werden weiterhin andere Entscheidungen treffen ohne uns zu fragen. Irgendeine von uns muß jetzt hier ihr Kleid schmutzig machen, um für uns alle neue Wege zu eröffnen.” Die Erfahrung mit Frauenquoten und institutionalisierter Gleichstellungspolitik in anderen Ländern wie zum Beispiel hier in der Bundesrepublik hat allerdings gezeigt, daß Quotendiskussionen die Energien der Frauenbewegungen eher aufsaugen und zum Verlust feministischer politischer Kreativität zu führen scheinen. Die Frage ist also noch offen, ob die Machtumverteilung und Politikveränderung durch Quoten, in Lateinamerika wie anderswo, die Frauenbewegung zum zahnlosen Tiger macht.
“Herkules-Quasimodo” im Hinterland Bahias
Die Broschüre erschien 1993. Hundert Jahre zuvor kam die Pilgerschaft des Antonio Vicente Mendes Maciel im Sertâo von Bahia zum Stehen. Der frühere Kaufmannsgehilfe aus Quixeramobim in der Provinz Ceará war seit etwa 20 Jahren in den trockenen Inlandsgebieten des brasilianischen Nordostens bekannt als ein wandernder Eremit und Prediger. Durch seine Taten wie sein Auftreten – er baute verfallene Friedhöfe und Kirchlein wieder auf und predigte von Sünde und Erlösung – erwarb er sich den Respekt vieler der bäuerlichen sertanejos und den Ehrentitel Conselheiro – der Ratgeber. Ebenso erwarb er sich den Zorn der Amtskirche und das Mißtrauen der Behörden. 1893 zog sich Antonio mit einer noch kleinen Schar von Anhängern in einen Winkel des Sertâo Bahias zurück. Seine Wahl fiel auf den Weiler Canudos, etwa 400 km nordöstlich der Hauptstadt des Bundesstaates Bahia, Salvador gelegen, zwar im Fadenkreuz einiger regionaler Straßen, doch in unwegsamem, bergigem Gelände und abseits der einzigen Eisenbahn- und Telegraphenlinie im Nordwesten des Bundesstaates. Daß in Rio vier Jahre zuvor eine Koalition von Politikern und Militärs die Monarchie zu Fall gebracht und die Republik auf den Thron gesetzt hatte, hatten im Sertâo wahrscheinlich noch nicht einmal alle mitbekommen. Gesellschaftliche Veränderungen dort brachte der staatspolitische Umsturz nicht mit sich.
Die Bewegung von Canudos wurde bald zur regionalen und überregionalen Attraktion. Ein steter Strom armen Landvolks bewegte sich durch die Caatinga, die dornig-struppige Vegetation des Sertâo, auf den Ort zu. Innerhalb von drei Jahren schwoll Canudos auf viele tausend Bewohner an, eine Großstadt inmitten des von extensiver Viehwirtschaft und spärlicher Besiedelung gekennzeichneten Sertâo. So abgelegen und uninteressant die Gegend auch immer für die Eliten gewesen sein mochte, dieses Phänomen konnten sie nicht länger ignorieren. Nicht nur, weil der Conselheiro und sein Gefolge längst als kriminelle Vereinigung stigmatisiert waren, in die sich viele der gefürchtetsten Banditen der Region geflüchtet hätten (und sich, Zeitzeugen zufolge, alsbald vom Conselheiro bekehren ließen, ihre Sünden bereuten und hinfort dem Rauben und Morden abschwörten).
Canudos gegen die Großgrundbesitzer
Nicht nur, weil Canudos als “Unruhestifter” zur strategischen Masse eines inneroligarchischen Konflikts um die Macht im Bundesstaat Bahia geworden war. Sondern vor allem, weil Canudos in der Tat den regionalen Eliten ein echtes Problem bereitete: Den Fazendeiros, den Großgrundbesitzern, liefen in Scharen die Arbeitskräfte weg, vor allem Menschen, die als Tagelöhner oder als kleine Viehhirten wenig zu verlieren hatten. Es machten sich aber auch solche nach Canudos auf, die über Besitz und Auskommen verfügten, Einzelne und ganze Familien, die Haus und Garten verkauften, um sich der Bewegung anzuschließen. Messianische Strömungen und religiöse Führer, die sie lenken, hat der Sertâo immer wieder gekannt; in dieser Region, die nach ihrer Kolonisierung und der “Pazifierung”, sprich Ausrottung der indianischen Ursprungsbevölkerung über Jahrhunderte kaum sozialen Wandel kannte, hat das “Mittelalter” in der feudalen Besitz- und Machtstruktur ebenso wie in der mentalen Disposition noch lange nachgewirkt. Und manche dieser Bewegungen brachten die politisch-ökonomische Ordnung des Coronelismo durcheinander. Diese basiert darauf, daß die wenigen mit viel Land die vielen ohne Land nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und juristisch kontrollieren, d.h. sie durch feudale Arbeitsverhältnisse und klientelistische Beziehungen an sich binden, die Gerichtsbarkeit über sie ausüben und sie als “Stimmvieh” auf sich verpflichteten – sofern sie wählen durften, was in der Ersten Republik in Brasilien Analphabeten und damit 90 Prozent der Bevölkerung verwehrt war.
Die Repression konnte nicht ausbleiben. Auf “ordnungswidrige” Massenbewegungen der einfachen Bevölkerung hatte der Sklavenhalterstaat Brasilien nie anders als repressive Antworten gegeben; “das Volk” war formal-rhetorische Referenz, aber kein Gegenüber, mit dem man etwa verhandelt hätte.
Ein Polizeibataillon wird Ende 1896 ausgesandt, mit Canudos aufzuräumen. Ohne den Ort selbst zu erreichen, muß der Trupp bewaffneten Widerstand vergegenwärtigen, der sie zum Rückzug zwingt. Tote bleiben zurück, die meisten sind Conselheiristas, doch auch zehn Polizisten sind darunter. Einer zweiten, größeren Expedition, widerfährt das gleiche Schicksal. Die Aufregung ist groß, auch in der 2.000 Kilometer entfernten Bundeshauptstadt Rio de Janeiro. Ein Heer wird aufgestellt unter Führung eines berüchtigten Kriegshelden aus dem Krieg gegen Paraguay mit weit über tausend Soldaten und Polizisten, die dieses Mal auch Kanonen aus Kruppschen Schmieden mit sich führten. Canudos verteidigt sich mit Mitteln, die Jahrzehnte später unter dem Namen “Guerilla” auf dem Kontinent berühmt werden. Die Arroganz der Küste gegenüber dem Hinterland mündet in einer erstaunlichen Ignoranz, und die Armee macht ungefähr alles falsch, was man für einen Krieg unter den logistisch-topographischen Gegebenheiten des Sertâo falsch machen konnte. Es gelingt den Soldaten nicht, den Verteidigungsring zu knacken. Als der berühmte Befehlshaber César höchst unnötigerweise ums Leben kommt, ist die Moral der Truppe gebrochen. Zum Schluß fliehen sie in Panik durch die Caatinga, verfolgt von den Conselheiristas. Der Rückzug gelingt nur mit Mühe.
Canudos, mittlerweile ein nationaler “Skandal” erster Ordnung, forderte die Republik als selbsternannte brasilianische Moderne, existentiell heraus. “Canudos” geriet zum diskursiven Ereignis, das die veröffentlichte Meinung vor allem im Jahr 1897 durchgängig beschäftigte. Das Gemeinwesen im Sertâo wurde spätestens nach der Niederlage der dritten Expedition diskursiv zum “von ausländischen Mächten unterstützten monarchistischen Aufstand” aufgeblasen. Die Barbarei habe sich gegen die Zivilisation aufgelehnt, der Atavismus gegen die Moderne. Der Diskurs zu Canudos setzte sich in solchen Fundamentaloppositionen seinen Rahmen.
Vom “Sieg der Republik” am 5. Oktober 1897…
Aus dem ganzen Land wurden Soldaten zusammengekratzt; Über 10.000 von ihnen, weit über die Hälfte der brasilianischen Streitkräfte, wurden zwischen April und Oktober 1897 in Canudos eingesetzt, dazu Unmengen an Waffen und Munition. Die “Niederschlagung des Aufstands” übersetzte sich in einen Vernichtungskrieg, ein wochenlanges Massaker. Als Canudos am 5. Oktober, nach dreimonatiger Belagerung endlich fiel, waren nicht nur in den Ruinen der Stadt keine Überlebenden mehr zu finden. Auch von den männlichen Gefangenen sollte kaum einer überleben. Ihnen wurde, einer im kürzlichen beendeten Bürgerkrieg im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul aufgekommenen Mode folgend, die Kehle durchgeschnitten; passar gravata vermelha, die rote Krawatte anlegen, hieß es im Soldatenjargon.
Der “Sieg der Republik” wurde enthusiastisch gefeiert. Es dauerte Monate, bis kritische Stimmen laut wurden, die die Grausamkeiten des Massakers und die Rolle der Sertanejos für Brasilien anfragten. Doch es dauerte fünf Jahre, bis das Bild von der Armee als heldenhafter Retterin der Nation einen den Diskurs drehenden Schlag erhielt. 1902 erschien “Os Sertôes” des Ingenieurs Euclides da Cunha, der die Schlußphase des Krieges (allerdings nicht die allerletzten Tage) als Kriegsberichterstatter des O Estado de Sâo Paulo miterlebt hatte. Das Werk ging schon kurze Zeit nach seinem Erscheinen in die Liste der brasilianischen Literaturklassiker ein. Berthold Zilly, Dozent am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, hat 1994 seine hervorragende Übersetzung (“Krieg im Sertâo”) fertiggestellt. Os Sertôes beschreibt ausführlich in einer Mischung aus wissenschaftlicher Analyse und fiktionaler Erzählung die Region, ihre Bewohner und den Krieg von Canudos. Stark beeinflußt von positivistischen und darwinistischen Theorien, schildert da Cunha die Sertanejos von Canudos als Produkt ihrer Rassenmischung und ihrer geologischen, klimatischen und sozialen Umwelt. Das Ergebnis sei “Herkules-Quasimodo”, eine eigene Rasse geistig minderbemittelter und der Modernisierung letztlich unfähiger Menschen, rückständiges Volk im rückständigen Hinterland und dennoch stark, weil homogen, und deshalb wertvoll für die Entwicklung der brasilianischen Nation zum Besseren. Die Zukunft der Nation angesichts ihrer “gemischtrassigen” Zusammensetzung war um die Jahrhundertwende eine Hauptsorge vieler brasilianischer Intellektueller, die sich beständig den europäischen Spiegel vorhielten. Das Buch endet mit einer Grossen Anklage an die Armee. Da Cunha bezichtigt sie des Verbrechens an den Sertanejos. Ausführlich schildert er die Degolamentos, die Abkehlungen der Gefangenen. Die Soldaten, resümiert er, hätten eine größere Barbarei begangen als die angeblichen Barbaren.
Canudos gehört zweifelsohne, wie der Präsident des Abgeordnetenhauses in Brasília bei der Eröffnung der Sondersitzung zum Zentenarium von Canudos am 21. Oktober 1993 feststellte, zu den “umstrittensten Episoden der ganzen Geschichte unseres Vaterlandes”.
…zum nationalen Trauma
Os Sertôes hat in Brasilien eine bis auf den heutigen Tag nachhaltige Wirkung verbreitet. Das Militär haßte es über Jahrzehnte, weil es die Kriegsverbrechen (und die Unfähigkeit) des Militärs anprangerte. Dutzende von Schriften aus der Feder von Offizieren sind erschienen, die alle belegen wollen, warum die “Fanatiker” von Canudos damals die Republik bedrohten und deshalb mit Krieg überzogen werden mußten.
Die Historiker und Sozialwissenschafter liebten es, weil es ihnen scheinbar die Arbeit einer eigenen Forschung abnahm und sie über Generationen hinweg ihre Interpretationen zu Canudos immer wieder und immer nur mit Os Sertôes unterfütterten, statt die Quellen zu studieren.
Canudos ist eines der großen Traumata der Geschichte der brasilianischen Republik und einer der großen Mythen vor allem der brasilianischen Linken. In der Auseinandersetzung “Küste versus Hinterland” gleich “Modernität versus Anachronismus” sehen konservative Gruppen bis heute einen Fanatismus am Werk, der die Republik bedroht habe. Von anderer Seite ist Canudos als verwirklichte sozialrevolutionäre Utopie gekennzeichnet worden, die auf die Brechung der Macht des Großgrundbesitzes gezielt und in urkommunistischer Manier in reinem Gemeineigentum gelebt habe. Auch die linken Interpretationen gehen wohl an der Realität vorbei, ohne daß bis heute Klarheit herrschte über den Charakter der Gemeinde von Canudos. Die Quellenlage zum Internen von Canudos ist mehr als dürftig. Viel spricht jedoch dafür, daß das Leben in Canudos sich von dem anderer Orte im Sertâo nicht wesentlich unterschied. Nicht alle nahmen beständig am religiösen Leben teil. Nicht alle blieben bis zum Schluß, viele flohen vor dem Krieg. Ob der Ratgeber tatsächlich unumschränkte Autorität besaß oder nicht zunehmend die militärischen Führer die Zügel in die Hand nahmen, ist ungewiß. Gewißlich war Canudos nicht “demokratisch” verfaßt. Es gab Privateigentum; auch die Häuser durften verkauft werden. Es gab einen regen Handel mit umliegenden Orten und Fazendeiros, deren Eigentum nicht angetastet wurde. Das Acker- und Weideland nutzten die Conselheiristas gemeinsam. Weideland in Gemeineigentum ist eine Tradition des Sertâo, und der Landkonflikt in der Region von Canudos heute besteht weniger darin, daß die einzelnen Familien Parzellen für sich fordern als darin, daß der Fundo de Pasto von Großgrundbesitzern nach und nach als Privateigentum reklamiert, eingezäunt und von Pistoleiros verteidigt wird. Dieses seit Generationen gemeinsam genutzte Weideland ist existentiell wichtig für die Haupteinnahmequelle der Gegend, die Ziegenzucht.
Religiöse Motive und nicht die Landfrage bewegten den Conselheiro und sein Gefolge. Dennoch war Canudos eine auch wirtschaftliche und gesellschaftlich Alternative. Die Bewegung wird heute in der Forschung als “sozio-religiös” gekennzeichnet: Canudos, obwohl vom Conselheiro als religiöse Gemeinschaft gegründet, deren konservative Sündentheologie nichts “Befreiendes” aufwies, prägte Züge eines gesellschaftlichen Gegenmodells aus. In Canudos wohnten viele ehemalige Sklaven; der Conselheiro war immer ein Gegner der Sklaverei gewesen. Es gibt Hinweise darauf, daß Indios in Canudos wohnten und mitkämpften. Es gab in der Tat keinen Großgrundbesitzer, keine Abgaben, keine Unterstellung unter seine Gerichtsbarkeit. Es gab ein System des Ausgleichs bei Gütern des Bedarfs; wer nicht selbst genug Nahrungsmittel produzieren konnte, dem wurde geholfen. Canudos, aus und auf Religion gegründet, verursachte erhebliche sozio-ökonomische Turbulenzen in der Gesellschaftsformation des Sertâo und repräsentierte für die gesamte brasilianische Elite ein Mikromodell einer politisch-ökonomischen Autarkie jenseits des elitär-autoritären Gesellschaft, das nicht hinzunehmen war.
Hinzu kommt: Im Krieg von Canudos kristallieren sich Grundkonflikte der brasilianischen Gesellschaft bis heute: Der zwischen den Großstädten an der Küste und den Dörfern des Hinterlands; die enorme Diskrepanz von Arm und Reich, die sich bis heute ungebrochen an der Frage der Verfügung über Land offenbart und Konflikte entzündet. Brasilien hat – aller Rhetorik zum Hohn – bis heute keine Agrarreform erlebt. Es kann daher nicht verwundern, wenn sich der MST, der Gewerkschaftsverband CUT oder die befreiungstheologisch orientierten Pastoralinstitutionen der katholischen Kirche schon seit vielen Jahren auf das vermeintlich sozialrevolutionäre Erbe des Conselheiro beziehen. Dieser wäre heute vermutlich kein Führungsmitglied, aber ein Sympathisant des MST.
“Canudos” im Aufschwung
In Brasilien erlebt “Canudos”, immer verknüpft mit Euclides da Cunha und seinem Buch, im Zusammenhang des Doppeljubiläums 1893/97-1993/97 (Gründung/Zerstörung von Canudos) einen Aufschwung in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Vor allem in diesem Jahr jagen sich die wissenschaftlichen Symposien, Debatten, Videovorführungen. Ein Kinofilm – die teuerste brasilianische Produktion aller Zeiten – ist gedreht worden. Im Sertâo hat die Landesuniversität von Bahia einen archäologischen Park angelegt, in dem die wichtigsten Kampfstätten in der Caatinga besichtigt werden können. Die Ruinen von Canudos selbst und das in ihnen neuentstandene, zweite Canudos sind hingegen Ende der 1960er Jahre in einem Staudamm versunken, den die Militärregierung anlegen ließ – ob aus rein topographischen Gründen oder um das kollektive Gedächtnis der Region zu ertränken, sei dahingestellt. Das dritte Canudos ist 1985 in den Rang einer Kommune aufgestiegen. Auf deren 3.000 Quadratkilometer wohnen etwa 14.000 Menschen. Dort verdient eine Schullehrerin oft weniger als einen Mindestlohn (ca. 180 DM monatlich). Außerhalb der Stadt Canudos haben viele der Bewohner weder Strom noch fließend Wasser. Die Straßen sind nicht asphaltiert, bei Regen sind die entlegeneren Weiler im Munizip abgeschnitten. In der Sozialindikatoren-Tabelle des nicht gerade hochentwickelten Bundesstaates Bahia rangiert die Kommune zwischen Platz 200 und Platz 360 – von 415 Munizipien. Der Park ist nur eine der Unternehmungen des “Centro de Estudos Euclides da Cunha” der Landesuniversität, mit denen in Canudos die aktuelle soziale Situation verbessert und die Erinnerung an den Krieg und seine Bedeutung für die brasilianische Geschichte wachgehalten werden soll, zum Beispiel durch die Einrichung eines “Canudos-Hauses” mit Bibliothek im heutigen Canudos. Lange Zeit redete im Sertâo aus Angst vor Repressalien niemand über den Krieg – eine Schwierigkeit, auf die die wenigen interessierten Forscher noch in den 50er und 60er Jahren stießen. Heute sind die, die als Kinder oder Enkel von überlebenden Conselheiristas noch die Geschichte erzählten, nahezu alle weggestorben. Die Jugend hört nicht mehr zu. Fernsehen und Videogame sind heute auch im Sertâo vitale Absauger oraler Traditionen. Nicht zur Pflege des steingewordenen kollektiven Gedächtnisses, sondern in der Hoffnung auf Touristen wird die Bar “Zum Conselheiro” in Bendegó gerade renoviert. Dennoch ist die Existenz dieser – und anderer, ähnlich benannter- Kneipen ein Beleg für die Lebendigkeit des Mythos Canudos. Daß dieser Mythos unmittelbar anschlußfähig ist, stellten im Jubiläumsjahr 1993 zwei Spitzenpolitiker unter Beweis. Im Wahlkampf für die Präsidentenwahl zog der Spitzenkandidat der Arbeiterpartei PT, Lula da Silva, mit einer Karawane durchs Hinterland. In Canudos teilte Lula eigenhändig Brot unter den Menschen aus. Gebete wurden gesprochen und Lula rief, in überraschender Abwandlung des üblichen materialistischen Diskurses seiner sozialistischen Partei, den Menschen zu: “Das Rot der Fahne der PT ist das Blut von Jesus Christus am Kreuz.” Auch der Soziologe Fernando Henrique Cardoso wußte, was der Mythos wert ist, und ließ es sich nicht nehmen, seine Wahlkampf tour durch Bahia in Canudos zu eröffnen. Er brachte kein Brot mit, sondern das Versprechen, auf der von Salvador kommenden Bundesstraße ein 80 km langes Teilstück bis nach Canudos zu asphaltieren. Das Versprechen auf Modernisierung gewann die Wahl gegen das Versprechen auf mehr soziale Gerechtigkeit. Canudos erhält – die Straße ist jetzt tatsächlich im Bau – seinen Asphalt und wartet weiter auf Landreform, eine funktionierende Justiz und Ärzte.
Krieg im Sertâo
Jenseits der politischen Konjunkturzyklen sind es vor allem Intellektuelle und Wissenschaftler, die sich für Canudos interessieren. Dieses Interesse ist nicht mehr auf Brasilien beschränkt. In den USA, wo bereits 1947 eine Übersetzung von Os Sertôes erschien, steht das Ereignis zumindest für die Studierenden der Latin American Studies auf dem Lehrplan. Vargas Llosas Canudos-Roman La Guerra del Fin del Mundo, 1981 erschienen1, sorgte auch anderswo für erste Kenntnisnahme. In Deutschland errang “Krieg im Sertâo”, passend zur Frankfurter “Brasilien”-Buchmesse 1994 erschienen, eine erstaunliche Aufmerksamkeit und viele Spalten in allen großen deutschsprachigen Feuilletons. 1995 wurde Canudos auf zwei Symposien im Berliner Haus der Kulturen thematisiert. Im Mai diesen Jahres schließlich veranstaltete das Zentrum Portugiesischsprachige Welt an der Kölner Universität den wohl bisher in Europa größten wissenschaftlichen Kongreß zu Canudos, mit 20 geladenenen Referentinnen und Referenten aus Brasilien, dazu aus Italien und Frankreich. Dieses Interesse ist zum einen sicherlich konjunkturell erzeugt von Buchmesse und Zentenarien. Doch hat dieses Interesse am Ereignis und seiner Interpretation durch Euclides wohl auch zu tun mit dem heutigen Faible für die Auflösung von Gattungsgrenzen, für die Genrewanderung zwischen Literatur und Wissenschaft, die da Cunha ja unternimmt.
Canudos ist überall
Es hat auch zu tun mit der erschreckenden Aktualität von Kriegen, die im Namen von “Rassen” oder wie wir heute sagen “Ethnien” geführt werden. Das hat zu tun mit der ambivalenten Modernitätseuphorie und Modernitätskritik, die da Cunhas Werk kennzeichnete und heute wieder den Zeitgeist. Die Frage etwa, ob die Barbarei als Entartung oder Wesensmerkmal der Moderne zu betrachten ist, führt – im Zusammenhang mit der Shoah – fortgesetzt zu erregten Debatten. Die Frage “Sind die Sertanejos Brasilianer und was heißt das für unsere Nation?” stellt sich heute als die Frage nach der sogenannten “Identität” Europas. Und sie stellt sich mit Vehemenz, wenn an den Hauptbahnhöfen Kerneuropas massenhaft zerlumpte Gestalten auftauchen, die fatal an die Bilder aus der Dritten Welt erinnern, aber darauf pochen, als Rumänen oder Ukrainer zu “uns” zu gehören. Der jugoslawische Bürgerkrieg schließlich hat endgültig die Illusion zerstört, im Herzen der europäischen Zivilisation sei die Barbarei besiegt. Über den europäischen Rand hinausgespäht, geraten, während alles über Globalisierung redet, unentwegt Retribalisierungen in den Blick, politisch-geographische Sezessionen, ethnisch begründet, ökonomisch schwachsinnig, fundamentalistisch verteidigt. Und schon heben jene den Finger, die vom Kampf der Kulturen als dem Konfliktmuster der Zukunft reden.
Ähnlich wie die irritierten Beobachter heute fragte da Cunha Ende des letzten Jahrhunderts, ob die Bewegung von Canudos unter die Opfer eines Modernisierungsprojektes zu zählen sei. Canudos repräsentierte eine fragmentierte Identität, die sich religiös begriff und sich gesellschaftlich vollzog. Damit geriet sie in Gegensatz zur in Konstruktion befindlichen “nationalen Identität” Brasiliens. Diese wurde den Leuten in Canudos deshalb auch konsequent verweigert; sie galten auf dem Höhepunkt des Krieges der öffentlichen Meinung nicht als “Brasilianer”, sondern irgendwie als “Ausländer”. Im Hirngespinst der ausländischen Kriegsberater und Wafffenlieferanten, die Canudos gehabt haben soll, fand dieser Diskurs sein Spielbein.
Euclides da Cunha analysierte ein Ereignis, das er in den Zusammenhang des Konfliktes Zivilisation versus Barbarei eingestellt sah. Und er entdeckte, daß die Barbarei auch auf Seiten der Zivilisation heftig wuchert. Die Europäer sind mit der Erkenntnis konfrontiert, daß ihre Barbarei nicht zu den historischen Akten gezählt werden kann. Tatsächlich helfen die Kategorien Zivilisation und Barbarei weder heute noch damals sonderlich weiter. Aber Canudos liefert uns Europäern des späten zwanzigsten Jahrhunderts ein Beispiel dafür, daß die Bestrebungen des modernen Nationalstaats zur Standardisierung und Homogenisierung nicht nur von Gesetzen und Industrienormen, sondern auch von “Identitäten” als Zuschreibungen, von gesellschaftlichen Verhaltens- und politischen Sichtweisen ein universelles Phänomen ist, das den Sertâo Bahias mit Berlin verbindet.
1 Euclides da Cunha, “Krieg im Sertâo”. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Berthold Zilly, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994.
2 Auf Deutsch erschienen als Mario Vargas Llosa, “Der Krieg am Ende der Welt”, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987
Nach dem großen Schwindel
In seiner nur sechs Monate dauernden Amtszeit hatte der Präsident Abdalá Bucaram – “el loco” – des populistischen Partido Roldosista Ecuatoriano PRE alle Rekorde gebrochen: Keiner vor ihm hatte derart dreist in die eigene Tasche gewirtschaftet und seinen Clan in die Schlüsselpositionen des Landes gehievt. Keiner hatte so selbstherrlich regiert und dabei über den kurzen Publikumserfolg hinaus so wenig an längerfristigen Konzepten eingebracht. Keiner hatte so unverhohlen die Presse- und Meinungsfreiheit in Frage gestellt und so inkohärente, aber entgegen allen Wahlversprechen drastische wirtschaftliche Maßnahmen durchgesetzt.
Und so reichte ein halbes Jahr, um auch die Teile der Bevölkerung gegen sich aufzubringen, die in Bucaram in der Stichwahl Anfang Juli 1996 im Gegensatz zu dem Kandidaten des konservativen Partido Social Cristiano PSC, Jaime Nebot, das kleinere Übel gesehen hatten. Sie hatten damals seinen Wahlsieg mit 54 Prozent der Stimmen möglich gemacht – trotz der ihm von den Medien bescheinigten Irrationalität und “Verhaltensauffälligkeit”. “O nos salvamos o nos hundimos”: Entweder wir retten uns, oder wir gehen unter. Alles oder nichts.
Nichts als Ablabla
Aber Bucaram ließ seine Versprechen platzen wie Seifenblasen: von einer Milderung der neoliberalen Anpassung keine Spur, paternalistische und inszenierte Almosen statt struktureller Hilfe, Großaufträge gingen außer Landes, keinerlei Investitionssicherheit, und das versprochene Ministerio Étnico kränkelte ebenfalls vor sich hin. Als Inbegriff des Neureichen von der Küste, der sich gegen die alteingesessenen Eliten aufbäumt und seinen Platz beansprucht, konnte er mit seinem discurso vulgar und seinem machistischem Gehabe eine Zeit lang von seiner Planlosigkeit ablenken. Mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein schaffte es Bucaram, gegen ihn gerichtete Kritik und Attakken in Stärken umzudeuten, sein selbstgebasteltes Image als loco machte ihn geradezu immun: nicht-endenwollende kitsch-triefende Auftritte als Sänger, Fußballspieler oder “Freund der Armen”, mit denen er um die Gunst der breiten Massen warb. Die staunende ecuadorianische Mittel- und Oberschicht sah darin den letzten Rest an nationaler Würde dahinschwinden. Abdalá, róbate el país, ¡pero no cantes! steht in großen Lettern auf einer Häuserwand in der Neustadt von Quito: Plündere ruhig das Land, aber sing bitte nicht!
Präsident Abdalá Bucaram wurde am 5. Februar wegen “geistiger Unfähigkeit” seines Amtes enthoben. Erst unmittelbar vor seinem politischen Ende dämmerte es ihm, daß seine Show zu Ende war, daß er die Massen nicht länger hinter sich, sondern gegen sich hatte, daß Gewerkschaften nicht mit kleinen Häppchen zufriedenzustellen sind und die Indígena-Bewegung nicht mit schnöden Versprechungen. Bucaram hatte sich selbst in einem atemberaubenden Schwindel in die absolute politische Isolation manövriert, “einsamer als die Charaktere von García Márquez” und unfähig, die Tatsachen um sich herum richtig zu deuten. Bereits seit Anfang Januar wurde im Kongreß eigentlich nur noch darüber diskutiert, wie man Abdalá am besten loswerden könnte. Daß ausgerechnet Parlamentspräsident Fabian Alarcón, der nur mittels eines Paktes mit Abdalá in den Kongreß und in sein Amt gelangt war, dessen Amtsenthebung vorantrieb und schließlich zum Interimspräsidenten ernannt wurde, lindert die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens nicht gerade. Dennoch wurde die Entscheidung des Kongresses im Nachhinein bestätigt: Am 25. Mai befürworteten in einer Volksabstimmung rund 76 Prozent der Bevölkerung die Amtsenthebung Bucarams. Für die Ernennung Alarcóns als Übergangspräsidenten stimmten aber gleichzeitig nur 68 Prozent.
Fürs Fotoalbum mit weißer Weste
Alarcón ist seit jeher das Fähnlein im Winde, stets auf Allianzen zum eigenen Vorteil bedacht. Nun selbst im höchsten Amt, scheut er klare Entscheidungen und ist als Interimspräsident abhängig vom Kongreß beziehungsweise vom den Kongreß dominierenden PSC. Innenpolitisch ist sehr wenig passiert seit dem Rausschmiß Bucarams. Alarcón hält sich bedeckt und setzt auf Schadensbegrenzung, so weit das Erbe Bucarams dies erlaubt. Viele Bestimmungen der Regierung Bucaram wurden ausser Kraft gesetzt, wie zum Beispiel der drastische Wegfall von Subventionen zum Beginn des Jahres, in anderen Fällen wurde bei bereits unterzeichneten Verträgen nachverhandelt.
Zwar wurde eine Antikorruptionskommission ins Leben gerufen, und immerhin schloß der Kongreß siebzehn Abgeordnete wegen dringenden Korruptionsverdachts aus den eigenen Reihen aus. Aber es ist nicht schwer, Korruption mit Bucaram gleichzusetzen und selbst die Hände in Unschuld zu waschen. Auch bei seinem ersten Staatsbesuch in Paraguay zu Gesprächen über einen möglichen Beitritt Ecuadors in den Mercosur und das Protokoll von Rio de Janeiro war Alarcón ganz der Saubermann: eifrig bemüht, seinen rechtmäßigen Status zu unterstreichen und das Image Ecuadors zu kitten. Und was machen da schon die eine oder andere Anklage wegen Mißbrauchs öffentlicher Gelder im eigenen Lande…
Asamblea Light
Auch auf die zentrale Forderung der Massendemonstrationen vom 5. Februar war Alarcón vordergründig eingegangen: Die Einberufung eines Organs zur Überarbeitung der Verfassung war beschlossene Sache und durch die Volksabstimmung Ende Mai für dieses Jahr bestätigt. Doch dann ging die Diskussion um den Namen des Organs los: Asamblea Constituyente oder Asamblea Nacional? Dahinter verbirgt sich der Status der juristischen Kompetenz gegenüber Kongreß und Interimspräsidenten, und letztendlich wurde mit der Namensgebung Asamblea Nacional aus der Asamblea Constituyente eine Asamblea Light. In Ecuador ist es unter Velasco Ibarra bereits einmal dazu gekommen, daß eine verfassungsgebende Versammlung kurzerhand das Parlament aufgelöst hat, und da gingen die Abgeordneten doch lieber auf Nummer sicher.
Aber das war erst der Anfang. Während die sozialen Bewegungen auf eine schnelle Durchführung drängten, schienen die etablierten Parteien überhaupt keine Eile zu haben: lieber warten bis nach den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr, um den schönen Wahlkampf nicht zu beeinträchtigen, und wer weiß, vielleicht ist die Zusammensetzung dann ja auch eine ganz andere… Entgegen der durch die Volksabstimmung bestätigten Fristen wurde im Kongreß ein Termin für Ende nächsten Jahres festgesetzt.
Entscheidungshilfen für Alarcón
An dieser Stelle war nun Alarcón gefragt, der gegen die Vorlage des Kongresses Veto einlegen und den mehrheitlich festgelegten Ablauf der Dinge hätte durchsetzen können. Mit einem landesweiten Streik am 11. und 12. August tat die CONAIE, die nationale Konföderation der Indígenas, ihren Unmut über die Verschleppungstaktiken kund und versuchte so, Alarcón, welcher sich hinter dem Meinungsbild im Kongreß versteckte, zu einem Veto zu zwingen. Letztendlich bedurfte es jedoch eines radikalen Sinneswandels von Jaime Nebot. Der Kopf des konservativen PSC setzte sich – auch zum Erstaunen seiner eigenen Parteikollegen – auf einmal vehement für die sofortige Durchführung der Nationalversammlung ein, um so Alarcón zu einer eindeutigen Stellungnahme, “dem Veto”, zu bewegen.
Nach einem weiteren vorläufigen Termin ist die Asamblea Nacional – derzeit – auf den 20. Dezember angesetzt, mit einer strikten Befristung auf drei Monate. Sie verfügt über weite Befugnisse zur Verfassungsreform, und die von ihr beschlossenen Änderungen werden direkt – ohne weitere Einflußmöglichkeiten seitens des Interimspräsidenten oder des Kongresses – übernommen. Die Mitglieder der Versammlung werden Mitte November gewählt, und da sie auch über die Zukunft des Kongresses und das präsidiale System befinden kann, hat der erbitterte Kampf um diese Ämter nun begonnen. Die Versammlung soll sich aus 70 Vertretern der Provinzen und 20 nationalen Vertretern zusammensetzen. Die von dem neomarxistischen Movimiento Popular Democrático MDP vorgeschlagene gemischte Personen- und Listenwahl soll die im Kongreß vorherrschenden Parteistrukturen aufbrechen und die Vertretung von Minderheiten gewährleisten. Als Wahlmodus innerhalb der Asamblea wurde die sogenannte autoregulación beschlossen, was bedeutet, daß das Organ selbst entscheidet, in welchen Fällen es mit einer einfachen oder mit einer zwei Drittelmehrheit beschlußfähig ist. Im schlimmsten Fall also langwierige Abstimm-Marathons über den Modus einer Abstimmung.
Was denn, Inhalte?
Dann ist ja jetzt alles in Ordnung: Die Versammlung hat einen Namen, ein Datum und einen Wahlmodus, die notwendige Gesetzesänderung zur Wahl der Abgeordneten ist auch schon fast auf dem Weg, aber halt – was war noch gleich mit den Inhalten? Fast drei Monate hat sich die Diskussion um technische Angelegenheiten hingezogen, und wenn die Erarbeitung von inhaltlich – programmatischen Vorlagen auch nur annähernd so vor sich hinkriecht, sind die drei Monate der Asamblea um, bevor es zur ersten Abstimmung gekommen ist. Lange Zeit hatte nur die Indígena-Organisation CONAIE ein regelmäßiges Forum, in denen mögliche Tagesordnungspunkte der Nationalversammlung und Stellungnahmen diskutiert werden. Außerdem hat die CONAIE im Rahmen der Koordinierung sozialer Bewegungen zusammen mit den Gewerkschaften für Oktober ein eigenes Vorbereitungsgremium angekündigt. Auch die anderen Parteien fangen jetzt langsam an, schon mal Schlagworte zu verbreiten. Die Vorstellungen reichen von leichten Korrekturen bis zu einer radikalen Überarbeitung der Verfassung, zum Beispiel im Hinblick auf das Präsidialsystem. Die öffentliche Debatte um die Agenda der Asamblea aber ist im Gerangel um die technischen Daten vollkommen zu kurz gekommen.
Dabei steht die Verfassungsreform seit langem auf der Tagesordnung und ist besonders im Präsidentschaftswahlkampf vergangenen Jahres durch den von Indígenas und Gewerkschaften unterstützten Kandidaten Freddy Ehlers zu einem zentralen Thema geworden. Ehlers’ Hauptforderungen waren zum einen die Anerkennung Ecuadors als plurinationaler Staat und zum anderen die sogenannte “Unberührbarkeit” der als strategisch erachteten Sektoren wie Erdöl, Telekommunikation und Elektrizität. Die Debatte um den plurinationalen Staat, die 1990 während des ersten landesweiten Indígena-Streiks noch mit separatistischen Tendenzen und der Auflösung des ecuadorianischen Nationalstaates in einen Topf geworfen wurde, hat in den vergangenen Jahren breiten Rückhalt – auch in Teilen der nicht-indigenen Bevölkerung – bekommen. Eine Änderung der Verfassung in diesem Sinne würde für Ecuador einen riesigen Schritt in Richtung Anerkennung von Minderheiten und politische Partizipation bedeuten. Eine starke Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen sowie der Privatisierungsprozeß und im besonderen die Sozialversicherung werden wahrscheinlich weitere Hauptthemen der Asamblea Nacional sein.
Dieselben Kulissen
Nach Meinung des Soziologen Hernán Ibarra vom Centro Andino de Acción Popular CAAP wird sich in der Asamblea die Zersplitterung der politischen Parteien widerspiegeln, die auch den Kongreß immer wieder manövrierunfähig macht. (Ecuador verfügt über siebzehn Parteien bei rund fünf Millionen WählerInnen.) Damit bleibt das grundsätzliche Problem bestehen: Wie kann durch die Veränderung der Konstitution eine Veränderung der Politik erreicht werden? Zwar können größere Spielräume für Staatsbürgerrechte festgeschrieben werden, ohne politische Bereitschaft sind diese jedoch nutzlos.
Es scheint, als ob das politische System Ecuadors zu verhakt und starr ist, um sich selbst zu reformieren. Die landesweite Indígenabewegung – seit den Wahlen 1996 mit der aus ihr hervorgegangenen Partei Pachakutik-Nuevo País erstmals im Parlament vertreten – bleibt die dynamische Ausnahme im Polit-Establishment. Ihre Errungenschaften in den letzten Jahren sind zweifellos wichtige Impulse auch für andere Gruppierungen, selbst wenn es im Hinblick auf Pachakutik starke Meinungsverschiedenheiten gibt.
Die Zivilgesellschaft hat sich im Februar als mächtiger Akteur gezeigt, der nicht länger bereit ist, Clownereien auf seine Kosten durchgehen zu lassen. Mit dem Rausschmiß Bucarams ist der Showmaster außer Landes, bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Kulissen jedoch als dieselben. Armut weiter Teile der Bevölkerung, Korruption in unvorstellbaren Ausmaßen und Politiker, die in ihrem alltäglichen Klein-Klein untereinander jegliche Beschäftigung mit zukunftsweisenden Projekten für das Land aus den Augen verloren haben – diese Gründe, die Abdalás Wahlsieg als Akt der Verzweiflung möglich gemacht haben, sind nach wie vor präsent. Abdalá hat Korruption, populistisches Gehabe und die “Unregierbarkeit” des Landes auf die Spitze getrieben, erfunden hat er sie jedoch nicht.
Die großen Hoffnungen auf bahnbrechende Veränderungen und ein “Neues Land” nach der Verfassungsreform sind durch den langatmigen und schwerfälligen Prozeß der Umsetzung stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Schon jetzt werden die ersten Unkenrufe laut: der Post-Asamblea-Frust kommt bestimmt. Also vom Post-Bucaramato in die Post-Asamblea-Analyse? Wann endlich kommt der Wechsel in vorwärtsgerichtete Visionen, wann der Spielraum für die im Land vorhandenen Gesellschaftsentwürfe?
Vielfältige Bündnisse
Die Ausgangsbedingungen für feministische Bewegungen unterschieden sich allerdings von Land zu Land, denn schließlich ist der lateinamerikanische Kontinent ein Konglomerat von Rassen, Ethnien, Sprachen und Kulturen. Diese Vielfalt hat sehr ungleiche ökonomische, kulturelle und politische Entwicklungen verursacht. Sie hat außerdem die komplexen Probleme, die sich aus der spanischen Kolonisierung und später aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ergaben, noch verstärkt. Für die Entstehung der neuen Republiken nach den Unabhängigkeitskriegen hat auch das ideologische Gewicht der katholischen Kirche eine entscheidende Rolle gespielt. Denn die Kirche hat ihren Einfluß über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten können – in den Sphären politischer Macht ebenso wie in großen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Eine solche Präsenz wird in bestimmten historischen Epochen immer verhindern können, daß sich Strömungen der sozialen Erneuerung und Säkularisierung durchsetzen.
Andererseits haben auch Klassen- und Rassenunterdrückung den Republiken, die nach dem Ende der spanischen Herrschaft gegründet wurden, ihren Stempel aufgedrückt. Bis heute hat dies die Überwindung der gesellschaftlichen Ungleichheiten verhindert und jedwede Form der Integration erschwert, besonders in den Ländern wo die indigene Bevölkerung seit Jahrhunderten marginalisiert wird.
Erste Feministinnen
Als Auslöserinnen der feministischen Bewegungen Lateinamerikas können einerseits fortschrittliche Ideen und die politische Durchsetzung kapitalistischer Modernisierung benannt werden, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts besonders in Ländern mit europäischer Einwanderung oder in geographischer Nähe zu den Vereinigten Staaten auftauchten. Genauso bedeutsam ist aber auch die Bildung sozialer Bewegungen, die soziale und wirtschaftliche Verbesserungen einforderten. Sie sind hauptsächlich gewerkschaftlichen oder indigenistischen Ursprungs, mit Wurzeln im Anarchismus wie im Sozialismus.
Die Bewegungen, die sich für das Frauenwahlrecht, für gleichberechtigten Zugang zu Bildung und für die Verleihung gleicher bürgerlicher Rechte für Frauen einsetzen sind so parallel zu den sozialen Bewegungen der Arbeiter und Indígenas entstanden. Manchmal haben sie sich angesichts gemeinsamer Ziele auch miteinander verbündet. Der Kampf um den Acht-Stunden-Tag und Protestbewegungen von LandarbeiterInnen und ethnischen Gruppen zum Beispiel, wurden durch einen Teil der frühen Frauenbewegung unterstützt.
Forderungen nach weiblicher Emanzipation gab es bereits 1836, als eine Gruppe mexikanischer Frauen die Zeitschrift El Semanario de las Senoritas Mexicanas gründete, in der feministische Ideen diskutiert wurden. Die Argentinierin Juana Manso, die heute als Vorläuferfigur der feministischen Bewegung in ihrem Land gilt, veröffentlichte 1852 in Brasilien O’Jornal das Senhoras, eine Zeitschrift “für die gesellschaftliche Verbesserung und die Emanzipation der Frau”. Es war die erste Zeitschrift, die ausschließlich von Frauen geleitet und hergestellt wurde. Ebenfalls in Brasilien initiierte die Feministin Nisia Floresta (1809-1885) eine Reihe von Konferenzen zu Frauenfragen. Sie übersetzte auch Mary Wollstonecraft ins Portugiesische, während die Chilenin Martina Barros de Orrego ihrerseits 1874 John Stuart Mill “Über die Unterdrückung der Frauen” ins Spanische übersetzte.
Zwei Jahre später, also 1876, trug sich eine Gruppe chilenischer Frauen in das Wahlregister eines Bezirks von Santiago ein, und lenkten so die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Empört verhinderte die Mehrheit der männlichen Politiker die Teilnahme der Frauen an der Wahl, nicht ohne klarzustellen, daß die chilenische Verfassung, wenn sie von “Bürgern” spricht, “Männer” meint.
Die Themenpalette erweitert sich
Der Kampf um das Wahlrecht dauerte noch lange an und umfaßte viele Aktionen in zahlreichen Ländern des Kontinents. Bald schon ging es jedoch nicht mehr nur um das Wahlrecht. Im Jahr 1910 fand in Buenos Aires der Erste Internationale Frauenkongress (Congreso Femenino Internacional) statt, und zwischen 1914 und 1915 fand der Feministinnenkongress von Yucatan in Mexiko statt. Die Debatten über Themen wie Prostitution, Scheidung oder die Situation der Arbeiterinnen begannen auf diesen Kongressen.
In den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts dann wurden erste lateinamerikanische Frauenparteien gegründet, die ihre Aufgabe darin sahen, die Forderungen von Frauen in die Tagespolitik einzubringen. So etwa die Partido Feminista Nacional de Argentina und die Partido Civico Femenino de Chile, beide 1919 gegründet. 1921 wurde auf einem Frauenkongress in Havanna die Gründung der Partido Nacional Feminista vereinbart.
Sicherlich hatten diese Aktionen nicht die gleiche Wirkung wie die angelsächsischen Bewegungen für das Frauenwahlrecht. Oft handelte es sich nur um sehr kleine Gruppen oder Einzelpersonen, die ihren Kampf über den Journalismus oder in den Konferenzsälen von Kultur- und Wohltätigkeitseinrichtungen austrugen. Die lateinamerikanischen Mentorinnen und ihre Anhängerinnen waren intellektuelle Frauen der Mittelschicht, die meist einen bürgerlichen Beruf erlernt hatten. Der sufragismo, der Feminismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vertrat also mehrheitlich eine politisch liberale Ideologie, die den sozioökonomischen status quo nicht in Frage stellte. Angesichts der frühnationalen und kolonialen Züge der lateinamerikanischen Gesellschaften muß der frühen Frauenbewegung aber zugutegehalten werden, daß sie in der Lage war, eine wichtige Gruppe von Frauen zu mobilisieren und daß er für seine Zeit sehr progressive Ziele vertreten hat.
“Proletarierinnen aller Länder…”
Während sich die von den Anarchisten und Sozialisten verbreiteten Ideen in Gewerkschafts- und Parteigründungen kristallisieren, betrat eine neue Spielart des Feminismus die Bühne, die ihre Ursache der wachsenden Eingliederung von Frauen in die Lohnarbeit hatte: Man könnte sie als proletarischen Feminismus bezeichnen. Insbesondere der Anarchismus unterstützte die Organisierung der einfachen Arbeiterinnen und auch die Formierung von Frauen mit Führungsqualitäten. Ihre Diskussionen kreisten um die Thematik von Klasse und Gender, wie wir heute sagen würden. Hervorzuheben wäre hier die Kolumbianerin Maria Cano, die als Arbeiteraktivistin ihre sozialistischen Überzeugungen mit ihrem Engagement für die Emanzipation der Frauen verband. Sie organisierte nicht nur Streiks in den Bergbau – und Erdölregionen sowie in den Bananenanbaugebieten, wo sie stets von einer kämpferischen Menge begleitet wurde; sondern attackierte auch gleichzeitig scharf ein Gesellschaftssystem, das sie aus Sicht der Frauen für höchst ungerecht hielt. Sie betonte zum Beispiel 1925, daß Frauen nicht an den Universitäten zugelassen wurden, “wo sie sich die Stellung, die ihnen zusteht, erarbeiten könnten. Nicht einmal das Recht zu denken, das Recht, ihre Meinung zu sagen, gesteht man den Frauen zu. Eingeschlossen wie in einem eisernen Ring müssen sie schweigen, sich wie Wesen ohne eigenes Bewußtsein unterwerfen, während auf ihrem Heim Unterdrückung und Unrecht lasten…”.
In manchen Fällen hat sich der Kampf der sufragistas direkt mit dem Klassenkampf verbunden. Beispielsweise beteiligen sich 1991 einige sufragistas aus der von der Schriftstellerin Zoila Aurora Caceres gegründeten Gruppe Feminismo Peruano an der Organisation einer Frauenversammlung, die die Forderung nach “Verbilligung der Lebenskosten/Grundnahrungsmittel(??)” erhob. Die Versammlung mündete in einem “Marsch gegen den Hunger”, der durch die Straßen von Lima zog. Später gründete Caceres, die als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht in ihrem Land gilt, die erste Telefonistinnengewerkschaft.
Errungenschaften der ersten Feministinnen
Was hat der frühe Feminismus in Lateinamerika und der Karibik erreicht? Er hat weite Teile der öffentlichen Meinung auf die defizitären bürgerlichen und politischen Rechte der Frauen, auf ihre Situation der gesetzlich verankerten Unmündigkeit aufmerksam gemacht. Viele Veröffentlichungen, Reden, Bücher und Zeitschriften aus dieser Epoche zeugen von dieser Sensibilisierungsarbeit. Feministinnen wie Juana Manso in Argentinien, Paulina Luisi in Uruguay, Serafina Davalos in Paraguay, Adela Zamudio in Bolivien, Francisca Senhorina da Motta Diniz in Brasilien, Luisa Capetillo in Puerto Rico, Amanda Labarca in Chile, Maria Jesus Alvarado Rivera in Peru und viele andere setzten sich vehement für den Zugang zu Bildung für Frauen und die Änderung diskriminierender Gesetze ein. Natürlich beschränkte sich der Einsatz für diese Sache nicht allein auf die sufragistas, auch Sozialistinnen und Anarchistinnen organisierten Kerngruppen und Schauplätze für den Kampf um Gleichberechtigung. Hier trafen Feministinnen, Gewerkschafterinnen, Parteiaktivistinnen, Berufstätige und Intellektuelle aufeinander. Gemeinsam übten sie erfolgreich Druck aus und erreichten schließlich auch die Unterstützung einiger männlicher Politiker für bestimmte Gesetzesänderungen. Dieser langwierige Kampf wurde 1929 in Ecuador das als erste Land der region Frauen das aktive Wahlrecht zusprach zum ersten Mal von Erfolg gekrönt.
Später wurden dann auch andere Gesetze verändert, die Scheidung, den Zugang zu den Universitäten, das Recht auf Berufsausübung und auf bezahlte Beschäftigung regelten. Diese Errungenschaften hingen auch mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und dem beschleunigten Verstädterungsprozeß zusammen, der Lateinamerika vor allem seit den 50er und 60er Jahren bestimmte. Paradoxerweise war aber gerade im letzteren Zeitraum der organisierte Feminismus eher schwächer, was in erster Linie mit dem Aufstieg der politischen Parteien und der Gewerkschaftsbewegung zu tun hatte.
Die Zweite Welle des Feminismus in Lateinamerika und der Karibik fand ihren ersten Auftritt vor einem sehr spezifischen Hintergrund: dem antiimperialistischen Kampf der Linken. Die 60er Jahre waren von intensiven ideologischen Debatten der Linken, besonders innerhalb der orthodoxen stalinistischen Parteien bestimmt, insbesondere nach dem Triumph der kubanischen Revolution und den Guerrilla-Aufständen in Bolivien, Kolumbien, Peru und Venezuela. Die romantische Figur des Guerrilleros, die Stilisierung des bewaffneten Kampfes zum “Wahren Weg” in Richtung Sozialismus prägten den Alltag einer ganzen Generation. Tiefgreifende Veränderungen und Mobilisierung kennzeichneten die lateinamerikanischen Gesellschaften: LandarbeiterInnenaufstände in den Andenstaaten, Migration vom Land in die Metropolen, die dort wiederum in Basisbewegungen mündete. LandarbeiterInnen und SlumbewohnerInnen trugen die politische Radikalisierung bis in Gruppen der Mittelschicht, wie StudentInnen, Intellektuelle und FreiberuflerInnen. Auch die Revolution vom Mai ’68 wirkte als ein weiterer Faktor von außen besonders auf Sektoren der marxistischen Linken ein, in denen sich nach dem Scheitern der Guerrilla-Bewegungen eine gewisse Unzufriedenheit breitgemacht hatte.
In dieser Zeit kanalisierte sich das Engagement von Frauen für Veränderungen besonders in den linken Parteien. Figuren wie Haydee Santamaria (Kuba), Lolita Lebron (Puerto Rico), Domitila Chungara (Bolivien), aber auch Tania La Guerrillera, die Gefährtin Che Guevaras in Bolivien, waren die Modelle feministischen politischen Engagements.
Um 1970 aber tauchte das Bild des Feminismus als Importprodukt auf. Die Massenmedien zeigten das Bild nordamerikanischer Feministinnen, die scheinbar nichts anderes zu tun hatten, als sich ihrer BHs zu entledigen. Der Begriff “Feministin” wurde zum Synonym für eine verbitterte Frau, einer Art Anti-Mann, und der aktive Feminismus wurde zur Gefährdung des Klassenkampfes stilisiert. Schon Fidel Castro hatte den Feminismus für schädlich erklärt, da er einer gut durchdachten Strategie des internationalen Kapitalismus gehorche. So litten die ersten Versuche feministischer Aktionen unter den Angriffen und der Ablehnung der Linken – auch der in linken Parteien organisierten Frauen.
Institutionalisierung des Feminismus
Als 1975 die “Frauendekade” der Vereinten Nationen ausgerufen wurde, intensivierten sich die Diskussionen über die “Frauenfrage”, den Feminismus, die Beziehungen zwischen Feminismus und Klassenkampf und Formen der Selbstbestimmung. Neue Gruppen traten auf den Plan, die den ersten Zusammenschlüssen aus den Jahren zwischen 1970 und 1973 folgen. Die erste Konferenz des Internationalen Jahres der Frau, die von den Vereinten Nationen im Juni 1975 ausgerichtet wurde, geriet zum ersten großen Treffen der lateinamerikanischen und angelsächsischen Feministinnen. Gleichwohl – bedingt durch das Engagement der meisten Delegierten in sozialen und parteipolitischen Organisationen – räumte das Schlußdokument auch dem Klassenkampf und umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen eine zentrale Bedeutung ein. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete die bolivianische BergarbeiterInnenanführerin Domitila Chungara den Feminismus als bourgeois und realitätsfern. Die Zeit war noch nicht reif für einen Dialog zwischen Feministinnen und Aktivistinnen der Linken.
Andererseits durchlebte der lateinamerikanische Kontinent eine schwierige und sehr schmerzhafte Etappe: Neben die bereits institutionalisierten Diktaturen in Brasilien und Paraguay traten die Militärherrschaften in Argentinien, Chile und Uruguay. Mord, Folter, Verfolgung, die Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Exil und – in dessen Folge – die Auflösung familiärer Bezüge waren die Folgen. Vor diesem Hintergrund reduzierte sich der Handlungsspielraum des Feminismus auf ein Minimum; nur in Ländern mit einem formaldemokratischen System konnten feministische Aktivitäten überhaupt überleben, etwa in Selbsthilfegruppen oder den ersten Frauen-NGOs (1978-1980). Dennoch war gerade das Exil auch Auslöser eines Bewußtwerdungsprozesses bei argentinischen, chilenischen, uruguayischen und brasilianischen Frauen. Viele erlebten die Realität des europäischen Feminismus und gründeten während des Exils eigene Gruppen. Die Rückkehr der ersten Exilierten in ihre Heimatländer fiel so mit dem Erscheinen unabhängiger feministischer Gruppen seit 1980 zusammen.
Außerdem begannen Frauen in der politischen Linken aufzubegehren, die bezüglich ihrer Parteizugehörigkeiten ein neues Selbstbewußtsein entwickelt hatten – schließlich hatte sich ihre Rolle zuvor auch innerhalb ihrer Organisationen auf die “häusliche Arbeit” beschränkt.
Die Abspaltung eines Sektors dieser Parteiaktivistinnen ist in etwa zeitgleich mit dem Auftreten eines “sozialistischen Feminismus”, einer Spielart besonders klassenbewußter Prägung, die sich erst im Laufe der Zeit starrer Schemata entledigte und Konzepte von Patriarchat und Sexualität in ihre Gesellschaftsanalyse einbezog. Manche Ausprägungen des lateinamerikanischen Feminismus lehnten sich stark an den Feminismus des Nordens an, insbesondere in ihrer Betonung von “Bewußtwerdungsprozessen”, dem radikalen Anspruch auf Separatismus bezüglich der Parteien und indem sie die Betonung einer spezifisch weiblichen Sexualität (und auch eine sehr schüchterne Kritik von Zwangsheterosexualität) in den Status politischer Fragen erhoben.
Vielfältige Feminismen und Bewegungen
In den letzten Jahren sieht sich der lateinamerikanische Feminismus neuen praktischen und konzeptuellen Herausforderungen gegenüber. Vor dem Hintergrund der aktuellen neoliberalen Umwälzungen in den Gesellschaften des Kontinents ist seine Situation schwieriger geworden. Die unterschiedlichen Formen des Feminismus wurden nun dazu gezwungen, umfassendere Analysen zu erarbeiten und – beispielsweise – ethnische Fragen zu thematisieren, die in der Region von entscheidender Bedeutung sind. War die Bewegung in ihren Anfängen von akademisch gebildeten Frauen der Mittelschicht und von emanzipierten Berufstätigen dominiert, so stellt sich das feministische Universum heute als ein Konglomerat aus Frauen und Strömungen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Ansätzen dar. In dem oft als movimiento amplio de mujeres bezeichneten Gesamtzusammenhang finden sich so verschiedene Ausdrucksformen, wie zum Beispiel der feminismo popular (in Organisationen der Armenviertel, der Landarbeiterinnen oder Indígenas), die corriente autonoma (der “Feminismus per se”), der Feminismus in den linken Parteien, in Gewerkschaften und Berufsverbänden, der Feminismus im akademischen Bereich, der NGO-Feminismus und nicht zuletzt der “Regierungs-Feminismus” von Frauen, die in Regierungsinstitutionen beschäftigt sind.
In jedem dieser Bereiche können die Forderungen, die erhoben werden, Elemente aus der liberalen Strömung, Teile des Radikalfeminismus oder aber einer klassenbezogenen Ausrichtung enthalten. Bei bestimmten Gelegenheiten, etwa in Wahlkämpfen oder während internationaler Konferenzen, hat sich gezeigt, daß die zu den jeweiligen Anlässen gebildeten Plattformen eine strategische Kombination aus reformerischen und radikalen Forderungen wählen. Allianzen müssen eingegangen werden, die von vornherein die spezifischen Unterschiede wahrnehmen und respektieren. Es ist dementsprechend unmöglich, weiterhin von nur einem Feminismus zu sprechen, der in der Theorie einheitliche Forderungen vertritt und sich auch in der Praxis homogen darstellt. Neuere Beiträge des postmodernen Feminismus zielen in diese Richtung. Um mit den US-Amerikanerinnen Nancy Fraser und Linda J. Nicholson zu sprechen: Die feministische politische Praxis “wird immer mehr zu einer Angelegenheit von Allianzen. Es gibt keine Einheitlichkeit mehr in bezug auf ein Interesse oder eine Identität, die von allen geteilt werden”. Eine solche Praxis “funktioniert nur in der Form vielfältiger Bündnisse. Keines davon läßt sich auf einen Wesensgehalt festlegen. Vielleicht wäre es besser, immer nur im Plural, von einer Praxis der Feminismen zu sprechen…”. Auch für Lateinamerika ist das ein wichtiger Denkanstoß kurz vor dem Jahr 2000.
aus: Perspectivas 3/1996, Isis Internacional
Das vielstimmige Lied Paraguays
Roa Bastos, Bankangestellter, Journalist, schließlich und vor allem Schriftsteller, ist in Deutschland durch seine Romane Hijo de Hombre (1960, dt.: “Menschensohn”) und Yo el Supremo (1974, dt.: “Ich, der Allmächtige”) bekannt geworden. In Lateinamerika wurden Literaturfreunde schon einige Jahre früher auf ihn aufmerksam, nämlich nach der Veröffentlichung seines Erzählbands El trueno entre las hojas (Der Donner zwischen den Blättern) Anfang der 50er Jahre. Damals lebte er schon nicht mehr in Paraguay. Sein Exil beginnt nach der gescheiterten Revolution 1947, die dem Voranpreschen der Militärdiktatur nicht Einhalt gebieten konnte. In Buenos Aires findet er ein vorübergehendes Zuhause, wird von der Gesellschaft Argentinischer Autoren zum Präsidenten ernannt und bereist mit Jorge Luis Borges und Miguel Angel Asturias als lateinamerikanischer Literaturbotschafter Europa. Mitte der 70er Jahre läßt er sich im südfranzösischen Toulouse nieder, wo er an der Universität lateinamerikanische Literatur und Guaraní unterrichtet, neben dem Spanischen wichtigste Sprache Paraguays.
Der Blick des Exilanten
Die Biographie Roa Bastos’ steht, wie bei vielen Künstlern und Intellektuellen Lateinamerikas, unter dem Zeichen des Exils, dem Verbot von Heimat, dem Blick von außen auf das geliebte, gepeinigte Land. Auch seine Jugend beginnt ähnlich wie die anderer Literaten des Kontinents. Wie Mario Benedetti arbeitet er zunächst als eine Art Buchhalter oder Bankangestellter, gerade mal 16 Jahre war er da alt, und wie viele seiner Kollegen kam er über den Journalismus, gelegentliche Artikel, Sozialreportagen und Kriegsberichterstattung aus Europa, zur literarischen Fiktion. Ort seiner Romanhandlungen ist stets Paraguay, Thema stets die Geschichte, die Allgegenwart der Unterdrückung.
Sohn eines Brasilianers französischer Abstammung und einer Guaraní könnte er als typisches Beispiel der paraguayischen Mestizen gelten, die auf dem Lande Guaraní, in der Stadt Guaraní und Spanisch sprechen, oder vielmehr Jopará, die spanisch-paraguayische Umgangssprache. Allerdings war sein Vater weder campesino noch Gelegenheitsarbeiter, sondern ein angesehener Ingenieur, der den Sohn in die Hauptstadt zur Schule schicken konnte. Die Mutter erfüllte ihm die Ohren und die Phantasie mit den Legenden, Mythen und der Gegenwart des Guaraní.
Lied des Volkes
Roa Bastos ist nicht getrennt von Paraguay und seinen zweisprachigen Kulturen denkbar. Die mündliche Tradition des Guaraní, der immer wieder erzählten Geschichten und Legenden, die doch jedesmal anders klingen, jedesmal neu erfunden werden, spiegelt sich in seinen spanischen Texten wider. Immer sind verschiedene Stimmen zu hören, der Erzähler läßt die anderen zu Wort kommen, Unterdrücker wie Unterdrückte. Nicht die Chronologie ist vorrangig, nicht das Übereinstimmen, sondern das vielstimmige Lied eines Volkes, ausgedrückt durch die Melodie der hörbaren Stille, das Donnern zwischen den Blättern, die Gitarre des toten Gaspar Mora, der Lärm der Trommlerpfeife und der wirbelnden Trommeln, das Kreischen der Nachteule Suindá. Die Musik des Erzählten, verwoben mit Mythen und immer wieder dem Gehörten, formt die imaginäre Welt Augusto Roa Bastos’. Sein Landsmann Rafael Barrett formulierte Ende der 20er Jahre, was auch Roa Bastos sich zu eigen macht: “Die Wurzeln des Volkes sind, wie die des Baumes, unter der Erde. Es sind die Toten. Die Toten sind lebendig. Unsere Nöte sind die Verzweigungen früherer Nöte, die weder aufgehalten, umgeleitet, noch in ihrem Keim erstickt werden konnten”.
Diese Nöte, dieses Nicht-Leben, sind für den Autor Ausdruck jener Irrealität, zu der die Geschichte seines Landes unter dem Joch der Unterdrükkung geronnen ist. Der Schatten auf einem vergessenen Stück nächtlichen Brachlands, der sich zu einem wimmerndem Körper wandelt, der starblinde Marcario, Einsiedler und Bildschnitzer von Itaipé, die unschuldige Mätresse des deutschstämmigen Diktators, mythische Realitäten oder reale Fiktionen, erhalten von Roa Bastos ihren Platz in der Geschichte.
Der, dem es ein Anliegen ist, die Stimme des kollektiven Gedächtnisses zu formulieren und das Echo des Echos der Geschichte niederzuschreiben, ist vor einem Jahr dauerhaft in seine Heimat zurückgekehrt. Noch zu Beginn der 80er Jahre war Roa Bastos in Paraguay zur persona non grata geworden. Bleibt zu wünschen, daß ihm ein solches Schicksal in Zukunft erspart bleibt.
KASTEN
Nicht ganz ein Roman
In seinem jüngsten Buch “Madama Sui”, das noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, erzählt Augusto Roa Bastos die Geschichte einer jungen Frau, die zwei Jahre lang die Geliebte Stroessners war.
Roa Bastos erklärt im Vorwort von “Madama Sui”, er habe versucht, seine Erzählung aus der Sicht einer Frau niederzuschreiben: mit der uns eigenen Sensibilität und Wahrnehmung, unserer natürlichen Intuition, alles zu wissen, ohne uns dessen bewußt zu sein. Die Welt mit den Augen einer Frau zu sehen, ist der Versuch, gegen den autoritären, dominanten, “männlichen” Diskurs, die Schwingungen zwischen der Dichotomie von Gut und Böse aufzufangen.
In diesem Sinne ist es Roa Bastos gelungen, das Leben von “Madama Sui” in eine “weibliche” Form zu bringen. Die Heldin ist nicht gut oder böse, schuldig oder unschuldig, sondern ein junges Mädchen, Kind und Frau, die Geliebte des Diktators und eines Guerilleros, Hure und Jungfrau. Das Buch selbst ist weder Roman noch Bericht, keins davon und beides. “Wer ist Madama Sui? Gab es diese seltsame Persönlichkeit wirklich oder nur als erfundene Erzählung? Diese Geschichte, dem Natürlichen entnommen, mit realen und authentischen Personen, ist weniger als ein Bericht und mehr als eine Erfindung”, gibt Roa Bastos den LeserInnen mit auf den Weg.
Eine hybride Erzählung, in der der Autor durch Gespräche mit Signore Ottavio Doria, Freund und Mentor von Sui, und durch ihre Tagebuchaufzeichnungen ihr kurzes Leben zu begreifen versucht. Lágrima González Kusugüe, genannt Sui, wurde nur zwanzig Jahre alt. Sui, wie Suindá, die Eule aus den paraguayischen Wäldern, die ihre Beute durch ihre gellenden Rufe anlockt; Sui, wie viele Frauen aus Japan, der Heimat ihrer Mutter.
Sui wächst in dem kleinen Ort Manorá auf, ihre Eltern sterben früh, einige Jahre später stirbt auch ihre Großtante. Eine kleine Vagabundin, auf sich selbst gestellt, lebensfroh und glücklich, weil es ihr niemals in den Sinn gekommen ist, unglücklich zu sein. Dafür wird sie von Signore Ottavio Doria, dem Architekten, der seine Resignation gegenüber der Welt in unvollendeten Architekturprojekten ausdrückt, verehrt und beneidet. Mit fünfzehn Jahren zieht sie in die Stadt, um Anwältin zu werden. Der einzige Mann, den sie liebt, ER, geht in die Wälder und schließt sich der Guerilla an. Mit der juristischen Ausbildung wird es nichts. Sui gewinnt einen Schönheitswettbewerb, und von da an ist der Übergang zur Geliebten des Diktators fließend. Nach zwei Jahren kehrt sie nach Manorá zurück – mit achtzehn Jahren ist sie zu alt für die Vorlieben des Diktators -, wo sie zwei Jahre später stirbt. In die kurze Biographie von Madama Sui sind viele Episoden eingewebt, so ihre Reise nach Japan, ihre Begegnung mit der Vermittlerin des Diktators, vor allem aber Gespräche zwischen Sui und der Vermittlerin, Roa Bastos und Ottavio Doria, wodurch der Text eher eine gewisse Annäherung an die Person, als eine Chronologie der Ereignisse wird.
Schneller, breiter, größer, besser?
Fünf Länder sind an dem Projekt beteiligt: Bolivien, das über einen Kanal mit dem Rio Paraguay verbunden ist, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien. Ausgangspunkt ist der bolivianische Ort Cáceres, der Zielhafen am Atlantik ist Nueva Palmira in Paraguay.
Als infrastrukturelles Rückgrat des Mercosur soll die Mega-Wasserstraße die Wettbewerbsfähigkeit des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses auf dem Weltmarkt stärken. Verkürze sich, wie geplant, die 45-tägige Schiffsfahrt von Caceres nach Nueva Palmira um die Hälfte – so die beteiligten Regierungen – würden die Exportprodukte preislich attraktiver und die Region für Investoren lukrativer. Geltend gemacht werden zudem noch länderspezifische Interessen: Bolivien hätte endlich freie Bahn zum Meer, Argentinien verspricht sich Exportverbesserungen, für Brasilien bieten sich geopolitische Vorteile (bessere Kontrollmöglichkeit über die Nachbarländer) und auch Paraguay lockt ein besserer Meereszugang. Ein zwischenstaatliches Hidrovía-Komitee koordiniert die Vorhaben und Studien und beteiligt sich außerdem an der Suche nach Finanzquellen. Zugleich fungiert es als Ansprechpartner für Nichtregierungsorganisationen (NROs) und als Organisator von sogenannten Partizipationstreffen.
Flüsse für die Schiffe statt Schiffe für die Flüsse ?
Bisher besteht das Projekt aus 90 Einzelvorhaben, wie Eindeichungen, Begradigungen, Stillegung von Seitenarmen, Hafenbau, Baggerarbeiten zur Vertiefung und die Sprengung störender Felsformationen. Die Kosten werden sich (nach Berechnungen von 1989) auf 1,3 Mrd. US-Dollar belaufen, mit danach folgenden Unterhaltungskosten von ca. 3 Mrd. US-Dollar jährlich. Wer das finanzieren soll, ist zur Zeit noch unklar; gerechnet wird mit Geldern der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), der Weltbank und verschiedener bilateraler Geber, die sich teils mit Projekten, teils mit Exportbürgschaften beteiligen. Auch von der EU sind – als zukünftigem Handelspartner – Hilfen zu erwarten.
Aus den selben Töpfen finanzierten sich die in den letzten zwei Jahren unter Beteiligung von norwegischen und nordamerikanischen Beratern durchgeführten Umwelt- und Durchführbarkeitsstudien.Zur Zeit werden die Studien von verschiedenen Gruppen und Institutionen evaluiert. So untersucht der World Wildlife Fund for Nature (WWF), ob die ökologischen Folgen realistisch abgesehen wurden, die holländische Regierung schätzt Kostenpläne ein, Nichtregierungsorganisationen vor Ort untersuchen die Verläßlichkeit der Studien. International anerkannte Hydrologen, die von der Interamerikanischen Entwicklungsbank herangezogen wurden, beschrieben die Durchführbarkeits- und Verträglichkeitsstudien in einem vorläufigen Dokument als “simplifizierend” und kritisierten, daß die komplexen Wasser- und Strömungsverhältnisse nicht ausreichend beachtet wurden. Sie forderten dazu auf, “die Schiffe den Flüssen anzupassen und nicht die Flüsse den Schiffen”.
Trotz der aufkommenden Protesten haben die Präsidenten der Länder im Februar 1997 eine pressewirksame “Eröffnung” des Projektes inszeniert, um Tatsachen zu schaffen. Diese Eröffnung, die mit Ausschreibungen von Ausbaggerungsarbeiten einhergeht, steht im Widerspruch zu den Versprechungen des Hidrovía-Komitee, nicht vor Ende der Studien- und Evaluierungen mit der Umsetzung zu beginnen und eine ausreichende Partizipation der Bevölkerung zu gewährleisten.
Bei den Auswirkungen des Projekts muß man zwischen jenen unterscheiden, die sich unmittelbar aus dem Flußausbau ergeben und solchen, die als mittelbare Folgen abzusehen sind. Beide Flüsse zusammen haben ein Einzugsgebiet von ca 720.000 km2 (entspricht etwa der doppelten Fläche der Bundesrepublik). Auf diesem Gebiet leben 40 Millionen Menschen direkt an den Flüssen, 14 Millionen sind in ihrer Lebensweise eng an die Flüsse gebunden. Unter ihnen sind zahlreiche indigene Gemeinden.
Ein Feuchtgebiet liegt auf dem Trockenen
Eine ökologische Katastrophe wartet auf das Pantanal. Hier, im größten Feuchtgebiet der Erde, leben zahlreiche Menschen vom Fischen, Sammeln, Jagen, Ökotourismus und kleiner Landwirtschaft. Sie alle würden Land und ihre Erwerbstätigkeit verlieren. Für die inianischen Völker bedeutet die Terstörung ihrer Umwelt darüber hinaus den Verlust einer kulturellen Umwelt. Von einer Kompensation wurde bisher nicht gesprochen. Die geplanten Sprengungen während des Baus der Hidrovía würden sozusagen den “Pfropfen” aus dem Gebiet ziehen. Das Zukunftsszenario: Weite Teile des Feuchtgebietes trocknen aus, umliegende Strömungsverhältnisse verändern sich, da das Pantanal seine Funktion als Wasserschwamm verliert. Im Unterlauf ist dann entsprechend mit riesigen Überschwemmungen zu rechnen. Veränderte Strömungsverhältnisse bedeuten aber auch Versalzung, Versandung und Erosion in der Umgebung der Flußufer. Fischbestände und Fischreichtum werden beeinflußt. Der bisherige Transport, Einnahmequelle für tausende, wird gefährdet, statt dessen wächst mit den Riesenfrachtverbänden die Unfallgefahr.
Offiziell soll im Pantanalgebiet nicht gearbeitet werden, der Hafen von Descalvados soll aus den Planungen herausgenommen werden. Zweifel kommen jedoch auf seit oberhalb des Pantanals am bolivianischen Tamengokanal ausgebaggert wird. Diese Arbeiten sind nicht zu erklären, wenn die Schiffe nicht auch Fahrterleichterungen durch das Pantanal bekommen.
Weitreichendere Folgen sind abzusehen: geplant ist eine Vergrößerung und damit ein Heranrücken der Agrarfront an die Flußufer. Die Landspekulation beginnt bereits. Dank ungesicherter Eigentums- und Verfügungsrechte der Kleinbauern und indigenen Gruppen, vertreiben Großfirmen in den betreffenden Gebieten die Menschen mittels Gewalt, Druck oder Geld mit Leichtigkeit von ihrem Land. Die erhofften Arbeitsplätze werden ausbleiben: Großplantagen wie die geplanten, die Frachtverbände bis zu 16 Schiffen füllen sollen, sind hochmechanisiert. Dazu kommt die Wasserbelastung durch den Transport, den Pestizideinsatz, die Abwässer aus Minen und aus Häfen. Es werden Straßen in umliegende Waldgebiete getrieben und damit indianische Gebiete zerstört.
…. auch die sozialen Unterschiede werden tiefer
Die Nachhut bilden in solchen Fällen weitere Entwaldung, Brandrodung, Erosion, Aufgabe der Subsistenzwirtschaft, die Anlage illegaler und legaler Minen, die Ausbreitung von Krankheiten und sozialen Konflikten durch die Zunahme Landloser und WanderarbeiterInnen – und führt letztendlich zu einer weiteren Konzentration produktiver Ressourcen in den Händen weniger.
Von den offiziellen Stellen werden der Zusammenhang Hidrovía und nachfolgende Entwicklung ignoriert. Partizipative Planungsmethoden existieren höchstens als selektive Alibiauslese, die Betroffenen wissen in der Mehrheit kaum um das Projekt.
Soja für Europa
Problematisch ist Hidrovía allerdings nicht nur als Einzelprojekt. Bei einer Betrachtung der Hintergründe wird deutlich, daß sich die ganze wirtschaftliche Struktur der Region verändern wird. Geplant sind Agrar-, Holz- und Bergbauprojekte in der gesamten Region, privat, staatlich oder durch Entwicklungshilfe finanziert. Drei Ölfirmen haben ihre Kapazitäten verdreifacht, und es gibt neue Holzeinschlagskonzessionen in Formosa. Die Produkte sollen auf der Hidrovía bzw. Zugangsflüssen,-kanälen und Zügen transportiert werden. Ziel der Transporte: die EU, mit der Mercosur zur Zeit ein Sonderabkommen aushandelt. Absurd erscheint in diesem Zusammenhang, daß in weiteren Teilen Südamerikas Flüsse in Wasserstraßen umgewandelt worden sind oder werden sollen, also eine direkte Konkurrenz darstellen. Darunter sind die beiden Wasserstraßen Madeira-Amazonas und Toncantins-Araguaia in Brasilien, die den Norden des Landes nach Westen öffnen.
Die einseitige Exportorientierung von Produkten, die sowieso schon von mehreren Ländern in Masse exportiert werden, wird zum Preisverfall auf dem Weltmarkt führen. Kommt noch der – allerdings schleppende – Subventionsabbau in der EU, und das Aufholen der osteuropäischen Staaten bei der Agrarproduktion.
Exportiert werden soll vorrangig eins: Soja. Schon seit Jahren gehört Brasilien zu den drei größten Sojaproduzenten der Welt – Spitzenreiter sind die USA. Als Exportschlager, um Devisen zur Schuldenreduzierung zu bekommen, um Importe zu ersetzen, und um billiges Sojaöl zur Verfügung zu haben, ist die Sojaproduktion in Brasilien mit Subventionen und Krediten massiv gefördert worden. Paraguay, stets wachsam angesichts der Konkurrenz, hat das Programm des Nachbarn importiert, große, kapitalkräftige brasilianische Firmen ins Land gelockt und ebenfalls mit Soja expandiert.
Auch im Osten Boliviens soll der Sojaanbau massiv ausgeweitet werden. Dazu wird die Hafenkapazität in Caceres verdreifacht – mit Hilfe der größten Agrarfirma der Welt, Cargill aus den USA, die 51 Prozent am Hafen besitzt. Ab März 1997 sollen über den oben erwähnten Transportweg Madeira-Amazonas 750 Tonnen Soja pro Tag verladen werden – das ist eine LKW-Ladung alle 2 Minuten.
Widerstand – die Rios-Vivos Koalition
Gegen das Projekt wenden sich mittlerweile viele NRO. Gegen HPP haben sich über 300 Gruppen aller fünf Länder, darunter indigene Organisationen, soziale NROs und Umweltorganisationen zu einer Koalition namens Rios Vivos zusammengeschlossen. Sie versuchen, das Projekt und die Bandbreite der Folgen in der Bevölkerung bekannt zu machen, organisieren Seminare, auf denen sich zum Beispiel Indígenas aus mehreren Ländern treffen, um gemeinsame Positionen zu überlegen. Sie bündeln und koordinieren die Kritik der NROs und haben international Kontakt mit Organisationen aufgenommen, um von außen Druck auf Regierungen und Finanzinstitutionen auszuüben. Zu Rios Vivos gehören daher mittlerweile auch eine europäische und eine amerikanische Organisation.
In der Bundesrepublik halten mehrere Organisationen ständigen Kontakt zu Rios Vivos und arbeiten mit ihnen zusammen. So waren im Frühjahr 1996 fünf Vertreter von Rios Vivos in der Bundesrepublik und haben das BMZ und andere Institutionen der Entwicklungshilfe besucht und über die fehlende Vorabinformation und Einbeziehung der Bevölkerung in das Projekt aufgeklärt.
Kein Fortschritt ohne Aufklärung
Rios Vivos ist nicht grundsätzlich gegen den Transport auf den Flüssen, da diese seit Jahrhunderten genutzt werden. Die Organisation wendet sich aber dagegen, daß ohne jede Mitwirkung und voraussichtlich ohne jeden Nutzen für die regionale Bevölkerung ein Megaprojekt durchgezogen wird. Sie fordern daher eine umfassende Information über HPP und alle angekoppelten Projekte. Sie fordern eine Beteiligung und Einbeziehung der Menschen und eine Diskussion über das mit HPP vorgegebene Entwicklungsmodell. In den Worten einer Resolution, die 70 VertreterInnen von 22 indianischen Gruppen im Mai herausgegeben haben, sieht das so aus: “Erlaubt uns, den Regierungen zu mißtrauen angesichts der Gleichgültigkeit, die sie uns bei anderen Großprojekten entgegengebracht haben, die sie uns immer als positive Projekte dargestellt haben und die uns nie etwas Positives gebracht haben. Wir wissen, daß der Fluß vertieft wird, und wir fürchten, daß unser Land austrocknet. Wir wollen, daß die Regierung uns garantiert, daß sich die Flüsse nicht verändern und wir wollen wissen, was getan wird, um unser Leben zu verbessern. Wir verlangen, daß mit HPP nicht eher angefangen wird, als bis gründliche Umweltstudien fertig sind, die die Belange der Anwohner und unsere miteinbeziehen. Wir wollen, daß unsere Territorien bestätigt werden. Wir empfinden HPP als Angriff auf das sozioökonomische und kulturelle System der indigenen Völker, weil es uns ein Entwicklungsmodell auferlegt, daß einem adäquaten Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen fremd ist.”
Hidrovía und Deutschland
Die Bundesrepublik ist bisher nicht direkt an der Finanzierung und den Bauvorhaben beteiligt, wird aber als “reiches Land” als eine potentielle Finanzquelle betrachtet. Finanzierungen könnten dabei über die offizielle Entwicklungshilfe oder Exportbürgschaften laufen. In Betracht gezogen werden muß dabei, daß es nicht nur um die Finanzierung der Flußarbeiten geht, sondern auch um Anschlußprojekte wie Bergbau und Agrobusiness.
Indirekt ist die Bundesregierung allerdings schon jetzt an dem Projekt beteiligt – und zwar über ihre Beteiligung an der Interamerikanischen Entwicklungsbank, dem UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (8,9 Prozent Beitragsanteil 1993) und der EU. Letztere hat für Studien zur Modernisierung mehrerer Häfen entlang der Flüsse 850.000 ECU zur Verfügung gestellt. Die Durchführung der Studien, die bis September 1997 fertiggestellt werden sollen, obliegt der deutschen Consulting Rogge Marine in Bremerhaven. Innerhalb der EU ist die Bundesrepublik ausserdem der wichtigste Handelspartner für Lateinamerika, besonders für Agrarimporte: 28 Prozent aller Agrareinfuhren stammen aus der Region, davon sind 30 Prozent Futtermittel, also auch Soja. Vor dem Hintergrund wachsender Handelskontakte zwischen EU und Mercosur würden nicht nur substantielle Handelsinteressen der EU befriedigt, sondern wären auch millionenschwere Aufträge für europäische Firmen zu erwarten. Nur einige, durch die Erfahrung mit dem Erzabbauprojekt Grande Carajas in Brasilien mißtrauisch gewordene EU-ParlamentarierInnen haben sich vorsorglich in einer informellen Hidrovía-Arbeitsgruppe zusammengeschlossen.
Auf Nichtregierungsebene haben sich ca. 15 deutsche Umwelt- und Entwicklungsorganisationen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, darunter der WWF, KoBra (Koordination der Brasiliengruppen) und Pro Regenwald. Die Gruppen machen in der Bundesrepublik und auf EU-Ebene Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. Gesucht wird auch der Kontakt zu Gruppen, die sich in Deutschland mit der Problematik Wasserstraßen, also dem geplanten Ausbau der letzten Kilometer freifließender Flüsse und dem Rückbau kanalisierter Flüsse beschäftigen, um den Partnern in Lateinamerika Vergleichsmöglichkeiten und Kritikpunkte bieten zu können.
Ob HPP in der jetzigen Form verhindert werden kann, hängt zu einem grossen Teil davon ab, ob und wie europäische und dabei besonders deutsche Gruppen und Personen anfangen, Öffentlichkeit zu schaffen und Druck auf PolitikerInnen auszuüben. Die weltweite Degradierung von Flüssen zu Verkehrswegen auf Kosten der AnwohnerInnen und der Natur führt in eine Sackgasse. Transport muß nicht billiger und schneller werden, sondern anders: vermieden, wo nicht notwendig und vor allem so teuer wie es den ökologischen und sozialen Schäden entspricht, die er verursacht.
Argentiniens Kampf gegen die Haare
Summa summarum war Argentinien in den letzten 20 Jahren die erfolgreichste lateinamerikanische Mannschaft. Zweimal Weltmeister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist allerdings der Wurm drin. Bei der Qualifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 gegen Kolumbien die höchste Heimschlappe in der Länderspielgeschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Dopings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den verletzten Caniggia bereits im Achtelfinale aus. Der Trainer Alfredo Basile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Daniel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeistertruppe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Weltmeisterkapitän von 1986. Der Grund: Passarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als erster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spielen durfte er indes nicht, seiner Meinung nach wegen Maradona, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswegen für José Luis Brown als Libero plädierte. Jedenfalls stellte Trainer Carlos Bilardo Brown auf, Argentinien wurde Weltmeister und die Intimfeindschaft Passarella-Maradona nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas erste Amtshandlung war denn auch zielgerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hätten in der Nationalmannschaft fortan nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in erster Linie galt: dem ohrberingten Maradona und dessen langmähnigem Freund Caniggia. Eine glatte Überreaktion, war doch Maradona wegen seines Dopingvergehens ohnehin 15 Monate gesperrt und damit für die Nationalmannschaft kein Thema. Caniggia wiederum war in Europa wieder einmal auf Vereinssuche un es war äußerst unklar, ob er überhaupt weiter für die Auswahl spielen wollte. Überreaktion aber insbesondere deswegen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mannschaft, Mittelfeldspieler Fernando Redondo und Torjäger Gabriel Batistuta lange Mähnen zierten.
Der Trainer als Frisör
Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einlegen, Redondo machte klar, daß seine langen Haare ein Teil seiner Persönlichkeit seien und er unter diesen Bedingungen nicht weiter spielen würde, Batistuta besuchte hingegen flugs den Frisör und ließ sich die Haare schneiden. Für ihn stand auch am meisten auf dem Spiel. Schließlich war er auf dem besten Wege, Maradona als Rekordtorschütze der Nationalmannschaft zu verdrängen, Pausen à la Caniggia kämen da ungelegen.
Die Krise geht weiter
Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wurde zum Fehlschlag. Maradona ließ sich von seinem Ferienort einfliegen, begutachtete die Spiele und lästerte über die Darbietungen. Vor allem die blamable 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Munition. Das unglückliche Ausscheiden gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Haussegen hing schief. Nur noch ein knappes Jahr bis zur Qualifikation und der argentinische Fußball in der großen Sinnkrise. Zwei Turniere hintereinander frühzeitig gescheitert, die einstige Turniermannschaft par excellence begann an sich zu zweifeln.
Ein haariger Kompromiß
Maradonas Sperre war unterdessen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Europa, Benfica Lissabon, war Caniggia wegen unmotivierten Auftritten bei den Fans derart in Ungnade gefallen, daß er auf offener Straße eine Abreibung verpaßt bekam. Daraufhin kehrte er der europäischen Diaspora den Rükken, zumal Maradona bei Boca Juniors sehnsüchtig auf seinen erklärten Lieblingsmitspieler wartete. Wenn sie zusammen spielten, harmonierten sie wie Zwillinge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, beziehungsweise wegen roter Karten gesperrt. Titel blieben so für Argentiniens populärsten Club Boca Juniors de Buenos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zunehmend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifikationsspiel gegen Bolivien benennen und Caniggia spielte immer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fußballfan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unverzichtbar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kompromißbereit. Um ganze drei Zentimeter ließ er sich die Haare schneiden. Passarella konnte an dieser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Caniggia ins Aufgebot. Alles in Butter, da sich das Problem Redondo wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Argentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Favorit schien wieder auf den Erfolgspfad zurückgekehrt zu sein.
Ecuadors bolivianische Taktik
Nach dem Heimspiel in Buenos Aires stand das Auswärtsspiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Weltmeisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Bolivien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flachlandbewohner aus Argentinien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und klimatischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Meter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella bezeichnete die Höhe als zusätzlichen Spieler Ecuadors. Mit 20 Litern Sauerstoff sollte dieser zusätzliche Spieler bekämpft werden. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Carlos Morales behielt Recht: “Batistuta und Caniggia werden Schwindelanfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen können”. Das argentinische Stürmerduo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Niederlage die logische Konsequenz. Ecuador hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bisherigen fünf Heimspiele gewonnen, nur gegen die Allklimaspieler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Auswärtsbilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vierten Platz.
Zurück in der Krise
Das nächste Auswärtsspiel Argentiniens war nun in Perus Hauptstadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Argentinier ein torloses Unentschieden retten. Neben dem Torwart Burgos war Abel Balbo der auffälligste Spieler Argentiniens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer halben Stunde duschen gehen. Caniggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schäme mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht gespielt habe. Ich suche keine Entschuldigungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Entschuldigungen suchen.” Vorerst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Verein in Europa und befindet sich nun wieder in Verhandlungen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturmpartner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im nächsten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länderspieltorrekord von 34 zu überbieten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch gestohlen. Im Tor Paraguays steht nämlich José Luis Chilavert, Torhüter und Torjäger in einer Person. Der Keeper des argentinischen Vereins Velez Sarsfield hatte vor dem Spiel angekündigt, einen Treffer zu versenken. Nichts ungewöhnliches für Chilavert, der schon über 30 Elfmeter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnappte sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit einem Freistoß zum 1:1 Endstand. Argentinien war schwer getroffen. Ausgerechnet der Gastarbeiter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punktspiels eine leichte Tätlichkeit begangen, die nun schwer geahndet wurde. Mehrere Monate Ausschluß vom Spielbetrieb lautete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kündigte seinen Weggang aus Argentinien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chilavert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich verlor er seinen Nimbus als unfehlbarer Elfmeterschütze und versiebte gleich deren zwei in einem Punktspiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Abschluß der Vorrunde hinter Kolumbien an zweiter Stelle steht, punktgleich mit dem Ersten und geradezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußtsein war heftig angeknackst, gegen Mannschaften wie Peru und Paraguay nicht zu gewinnen, war reichlich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das venezolanische Team kein Länderspiel gewinnen können, von Punkten bei Qualifikationsspielen ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zurücktrat. Gegen Argentinien langte es immerhin zu einem Führungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Venezolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Treffer nicht, das Ziel Selbstbewußtsein für die anstehenden Spiele zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brachten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmeichelhafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letzten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellenführer Kolumbien. Unterdessen glänzte der wiedergenesene Redondo beim designierten spanischen Meister Real Madrid während Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch einige Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball bezeichnet, jammerte er nun gegenüber dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Argentinien haben keinen Maradona mehr, das ist viel schlimmer.” Maradona zu berufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war dieser vereinslos und zudem hatte er in seiner vorerst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich aufmerksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elfmeter hintereinander verschossen hatte. Von den gegnerischen Fans verspottet, von Selbstzweifeln geplagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Erholung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Vertragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Redondo. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er seine Haare mindestens um drei Zentimeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem wegen einer Formkrise nicht mal berufen worden, so daß Argentinien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damaligen langhaarigen Leistungsträger Redondo, Batistuta und Caniggia antrat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen stehen seitdem wieder auf Kurzhaarschnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.
Die Gewerkschaften und der MERCOSUR
Der MERCOSUR birgt viele Gefahren für die Bevölkerungen der sich integrierenden Länder. Der Druck der Weltmarktkonkurrenz veranlaßt die Regierungen der MERCOSUR-Staaten, die nationale Wirtschaftspo-litik maximal auf die Bedürfnisse der inländischen Unternehmen auszurichten. Die Interessen der ar-beitenden Bevölkerung fallen so wieder einmal unter den Tisch. Die Ausgangssituation war schon bei Vertragsabschluß nicht rosig: So sind alle Mitgliedsstaaten von hoher Arbeitslosigkeit betroffen. Schwarzarbeit und das Vorenthalten von Sozialleistungen stehen ebenso auf der Tagesordnung wie unsichere Arbeitsplätze und Einstellungen außerhalb der tariflichen Bestimmungen und Arbeitsgesetzgebungen.
In Argentinien beträgt die Arbeitslosigkeit heute fast 20 Prozent. Die Regierung Menem hat mit Übernahme liberaler Programmatik die traditionelle Funktion der Peronisten, die sozialen Interessen der Bevölkerung zu vertreten, aufgegeben. Große Bevölkerungsgruppen verfügten somit über keinerlei Mittel mehr, die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen aufzuhalten. Die Regierung verschärft diese Entwicklung zur Zeit noch im Zusammenspiel mit den argentinischen GroßunternehmerInnen. So unterstützt die Regierung das von UnternehmerInnenseite geforderte Arbeitsflexibilisierungspaket. Inhalt ist die Aufhebung von flächendeckenden Tarifverhandlungen und -verträgen. Diese sollen zukünftig innerhalb einzelner Unternehmen geführt werden. Zudem werden die Entschädigungsregelungen bei Entlassungen modifiziert. Die Verwirklichung des MERCOSUR ist Teil der neoliberalen Wende der Regierung Menems, die insbesondere auch mit umfassenden Privatisierungen argentinischer Staatsunternehmen einhergeht. So entstanden in den letzten Jahren neue privatwirtschaftliche Monopol- und Oligopolgruppen, die häufig mit ausländischen Unternehmen verflochten sind. Diese Gruppen profitieren in erster Linie von der Außenöffnungspolitik, da sie am ehesten in der Lage sind, sich den neuen Bedingungen anzupassen.
Für den MERCOSUR insgesamt gilt, daß durch die unterschiedlichen Lohnniveaus der Mitgliedsländer (zum Beispiel lag der Mindestlohn in Argentinien 1995 bei 250 US-Dollar, in Brasilien jedoch nur bei 122 US-Dollar) Standortverlagerungen und Sozialdumping zu erwarten sind. Dazu kommt, daß sogenannte WanderarbeitnehmerInnen nicht nur aus den Mitgliedsstaaten kommen, sondern auch aus den Anrainerstaaten wie zum Beispiel Peru. Hier sind keine bilateralen Sozialabkommen in Sicht. Auch die Arbeit im Informellen Sektor wird eine immer größere Rolle spielen. In diesen werden viele verstärkt gedrängt, da der offizielle Arbeitsmarkt keine Perspektive und damit keine Existenzgrundlage mehr bietet. Diese Entwicklung wird durch die wachsende Konkurrenz zwischen den Unternehmen noch verschärft. Entlassungswellen und Betriebsschließungen beziehungsweise -verlegungen sind als Folge dieser Marktkonstellation absehbar.
Gegenmacht durch Gewerkschaften?
Nach einer derartigen Analyse stellt sich schnell die Frage nach gesellschaftlicher Gegenmacht. Die Gewerkschaften in Argentinien sind eine der gesellschaftlichen Gruppen, die überhaupt Stellung zur Wirtschaftspolitik ihrer Regierung und zu Zielen und Strategien des MERCOSUR-Projektes genommen haben. Indes sind die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, die den argentinischen Syndikalismus entstehen ließen, im Laufe der Zeit fast vollständig verschwunden.
Das grundlegende Modell der Gewerkschaftsbewegung entstand mit der Regierung Peróns in den vierziger Jahren und war darauf angelegt, die sozialen Kämpfe innerhalb des Landes zu regulieren. Die Entstehung von großen Industrien und Fabriken förderte gewerkschaftliches Denken und Handeln nach europäischem Vorbild. Es entstanden branchenbezogene Gewerkschaften, die sich in großen Dachverbänden zusammenschlossen.
Die Einflußnahme der Gewerkschaften schlug sich bei den Tarifverträgen vor allem in höheren Löhnen und sozialen Absicherungen nieder. Und das in einem wirtschaftlichen Szenario, in dem die Löhne mit ihrer Wirkung auf die effektive Nachfrage als dynamischer Entwicklungsfaktor erachtet wurden, da sie, inmitten einer binnenmarktorientierten Ökonomie, in die “eigenen” Unternehmen zurückflossen. Zusätzlich zeichnete sich Argentinien bis in die siebziger Jahre infolge wachsender Industrialisierung durch eine sehr geringe Arbeitslosigkeit aus.
Die argentinische Gewerkschaftsbewegung hatte aufgrund ihrer Beziehungen zum Staat und zu den Peronisten immer eine starke und mächtige institutionelle Funktion. Trotz der Staatsstreiche in den Jahren 1955, 1969, 1976 sowie der wiederholten Zeiten der Repression hat diese vom Peronismus geschaffene Struktur fast unverändert bis zum heutigen Tage überlebt.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die politische und wirtschaftliche Landschaft im Cono Sur verändert. Nicht zuletzt die Schaffung des MERCOSUR macht deutlich, daß sich die Südländer auf den Weltmarkt orientieren und eine Öffnung ihrer Ökonomien für ausländische Produkte und ausländisches Kapital anstreben. Die Löhne werden nun nur noch als Kostenfaktor gesehen, die Bedeutung als Nachfragefaktor wird vernachlässigt. Die sozialen Kosten der Wirtschaftspolitik der Regierung Menem sind enorm: Die Reallöhne in Industrie und Baugewerbe sind im Vergleich zu 1988 um 26,3 Prozent gefallen. Der Wohlfahrtsstaat wurde demontiert: Schulbildung und die Gesundheitsversorgung sind für große Bevölkerungsschichten unerschwinglich geworden. Kein Wunder, wenn die ärmsten 20 Prozent gerade mal 5 Prozent des nationalen Einkommens beziehen.
Infolge dem Schrumpfen der Produktionssektoren in den letzten Jahrzehnten, verkleinerte sich die Klasse der IndustriearbeiterInnen, die in absoluten Zahlen und im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung Argentiniens immer weniger Bedeutung hat.
In Argentinien war in den letzten 40 Jahren der Dachverband CGT ohne Konkurrenz und pflegte immer sehr enge Beziehungen mit den Regierungen. Jahrzehntelang galt der argentinische Gewerkschaftsbund CGT als Inbegriff des staatskonformen, kooperativistischen, parteiabhängigen Gewerkschaftsmodells in Lateinamerika.Heute existieren schon zwei große offizielle Gewerkschaftsverbände neben der CGT. Zum einen die 1992 gegründete CTA (Congreso de Trabajadores Argentinos), die als kritikfreudiger gegenüber dem Menemismus gilt. Zumindest auf formeller Ebene verläßt sie das klassische Konzept der Interessengruppenvertretung, indem sie sogenannte Individualmitglieder, zum Beispiel Arbeitslose, akzeptiert.
Zum anderen gründete sich 1993 die MTA (Movimiento de los Trabajadores Argentino), die sich als Opposition zum CGT versteht.
Des weiteren existieren heute mehr als 30 Gewerkschaften auf nationaler Ebene und dutzendweise Untergliederungen im Landesinnern.
Bis in die 80er Jahre organisierten sich die Gewerkschaften im Cono Sur nur auf nationaler Ebene. 1985 wurde nun die CCSCS gegründet (Coordinadora de los Centrales Sindicatos del Cono Sur), die die zentralen Gewerkschaftsverbände Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays umfaßt.
Im Hinblick auf die zu erwartenden sozialen Folgen verursachte der MERCOSUR große Verunsicherung: Welche Arbeitsmarkteffekte, welche Lohnentwicklung würde es geben und wie würde sich die soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten verändern? In Argentinien sind vor allem wesentliche Teile der Massenkonsum- und der Kapitalgüterindustrie durch den MERCOSUR betroffen. Die CCSCS einigte sich Anfang der 90er Jahre auf folgende Forderungen: 1. Einrichtung eines Sozial- und Strukturfonds zum Ausgleich struktureller Ungleichgewichte,
2. Aufwertung der Funktion der ArbeitsministerInnen als HauptvertreterInnen in den MERCOSUR-Institutionen
3. Angleichung der rechtlichen Bestimmungen aller Länder an das internationale Arbeitsrecht, sprich die Normen der Internationalen Arbeitsorganisa-tion ILO. Angestrebt wird eine Sozialcharta, die Grundrechte wie Tarifautonomie, gewerk-schaftliche Organisationsfreiheit und so weiter festlegen soll.
4. Erhöhung des Wissens- und Informationsstandes über den MERCOSUR.
Entweder gehen diese Aussagen und Forderungen an den gesellschaftlichen Problemen vorbei oder sie sind so allgemein gehalten, daß die Gewerkschaften keine Alterantive mehr gegen die Politik ihrer Regierungen (nicht nur gegen den MERCOSUR) zu bieten scheinen. Das ist nur zum Teil darauf zurückzuführen, daß die Schnelligkeit des Integrationsprozesses die verschiedenen Gewerkschaftsverbände überrascht und deshalb überfordert hat.
Der Zusammenschluß CCSCS bestand bei Verhandlungsbeginn zum MERCOSUR erst seit kurzem und verfügte über keine konkreten gemeinsamen Handlungsstrategien. Bis heute bewahren die Gewerkschaftsverbände ihre nationale Ausrichtung.
Entscheidend für die Schwäche der Gewerkschaften ist außerdem, daß sie unter fehlender Anerkennung in der Bevölkerung leiden. Im Falle Argentiniens wird der CGT-Spitze, des einzigen argentinischen Dachverbandes, der in der CCSCS organisiert ist, Korruption, undemokratische Strukturen und das Verfolgen eigener Machtinteressen vorgeworfen.
Unkoordinierte Proteste
Im Zusammenspiel mit dem Versagen traditioneller Gewerkschafts- strategien scheinen angesichts des freien Spiels der Marktkräfte, der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und der wirtschaftlichen Außenöffnung kaum erfolgreiche Konzepte für Gegenmacht in Sicht. Eine Auseinandersetzung mit der steigenden Armut, der Beschäftigung im Informellen Sektor sowie deren fließenden Grenzen zum formellen Arbeitsmarkt fehlt. Dies läßt die Gewerkschaften zunehmend zu ständischen Vertretungen immer kleiner werdender Interessensgruppen werden.
Die Angst der Bevölkerung in Argentinien, insbesondere vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, ist etwas sehr Greifbares geworden.
Die Gewerkschaften setzen der offiziellen Politik und der Durchsetzung von Unternehmensinteressen nur sehr schwachen Widerstand entgegen. Nichtsdestotrotz bleiben die Gewerkschaftsmitglieder eine mobilisierbare Basis, wie sich unter anderem in dem Generalstreik am 8. August 1996 gegen den Sozialabbau gezeigt hat. Aufsehen hat auch die einige Minuten dauernde “Dunkelheit” in Buenos Aires erregt, ausgelöst durch das kollektive Licht-Ausschalten in Privathaushalten. Diese Protestmomente sind in Argentinien in den letzten Jahren eher unkoordiniert und entfachen sich meist regional und in punktuellen Aktionen. Schon in den Zeiten der Hyperinflation 1990 kam es zu beträchtlichen sozialen Unruhen, die jedoch nicht in eine gezielte oppositionelle Strategie, sondern in Überfällen und Plünderungen von Supermärkten mündeten. Diese Form von Protest wiederholte sich im Juli 1996, als über 400 RentnerInnen und Arbeitslose verschiedene Supermärkte in der argentinischen Hauptstadt plünderten. Eine Protestaktion, die durch die Ankündigung erneuter Kündigungswellen und Rentenkürzungen durch Präsident Menem ausgelöst wurde.
In der Bevölkerung besteht also Widerstand gegen die sozialen Einschnitte, die durch den MERCOSUR aufgrund seiner Durchsetzung “von oben” nur verschärft werden können. Ein neuer Ansatzpunkt, diese Kräfte zu organisieren, könnte bei den (gewerkschaftlich orientierten) Gruppen liegen, die sich in den letzten Jahren in Argentinien gebildet haben und die ein ständisches Interessenvertretungskonzept abzulehnen beginnen.
KASTEN
MERCOSUR
Anders als frühere Integrationsprojekte in Lateinamerika, die hauptsächlich auf den Abschluß einer Freihandelszone abzielten, ist der MERCOSUR ausdrücklich nicht als Instrument eines defensiven Regionalismus konzipiert. Am 26. März 1991 unterzeichneten die Präsidenten aus Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay in Asunción, Paraguay, den Vertrag, der den MERCOSUR (Mercado Común del Cono Sur) ins Leben rief. Hauptziel des MERCOSUR sollte die sukzessive ökonomische Integration der beteiligten Staaten über die Etappen Freihandelszone, gemeinsame Zollunion und gemeinsamer Markt sein. Mit dem Vertrag von Asunción entstand ab dem 1. Januar 1996 der Binnenmarkt für den freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Jedoch offeriert der Vertrag jedem Land eine Schutzklausel, um zeitweilig Importquoten für bestimmte Güter festzusetzen, falls eine Branche durch den drastischen Anstieg der Einfuhren aus anderen Mitgliedsländern schwere Schäden bei Produktion und Beschäftigung erleiden würde. Damit soll den unterschiedlichen Gegebenheiten der MERCOSUR-Mitgliedsländer Rechnung getragen werden: An dem gemeinsamen Bruttoinlandsprodukt im Entstehungsjahr hat Brasilien einen Anteil von fast 80 Prozent, Argentinien 18 Prozent, der Rest entfällt auf die beiden kleinen Länder. Sehr unterschiedlich strukturierte Volkswirtschaften treffen aufeinander: Während Kapitalgüter und langlebige Konsumgüter vor allem aus Brasilien und Agrar-, Verbrauchsgüter sowie Lebensmittel aus Argentinien kommen, sind Paraguay und Uruguay überwiegend Rohstoffexporteure. Die Parlamente aller vier Mitgliedsstaaten haben den TRATADO DE ASUNCION innerhalb von acht Monaten nach seiner Unterzeichnung ratifiziert, so daß er am 28.11.1991 in Kraft treten konnte. Seit diesem Zeitpunkt haben die Institutionen des MERCOSUR ihre Arbeit aufgenommen. Das oberste politische Gremium ist der “Rat des Gemeinsamen Marktes” CMC. Exekutivorgan ist die “Gruppe des Gemeinsamen Marktes” GMC. Die Bearbeitung “fachlich-technischer” Aspekte des Integrationsprozesses findet auf Expertenebene in elf verschiedenen Arbeitsgruppen statt. Diese AGs erarbeiten Vorschläge, welche für die GMC jedoch nur Empfehlungscharakter haben. Nur in der 11. Arbeitsgruppe (“Arbeitsbeziehungen, Beschäftigung, Soziale Sicherheit”), die den absurden Anschein erweckt, daß diese Angelegenheiten unab-hängig von den 10 Fachgebieten (wie zum Bei-spiel Landwirtschaft und Steuerpolitik) betrachtet werden könnten, haben die Gewerkschaftsverbände ein formelles Rede- und Vorschlagsrecht. Als fünftes Land des amerikanischen Südhälfte ist 1996 Chile dem MERCOSUR beigetreten. Dadurch wird die direkte Öffnung zur Pazifikküste und damit zum Südost-Asien-Handel geschaffen. Außerdem wird zur Zeit der Beitritt Boliviens vorbereitet.”Neu” am MERCOSUR ist, daß im Gegensatz zu früheren wirtschaftlichen Integrationsprojekten in Lateinamerika die Zielsetzung sich nicht nur auf Zollpräferenzen beschränkt, sondern auch die politischen Grenzen am Schluß überflüssig geworden sein sollen – ganz nach Vorbild der EU. Jedoch hat – weder im voraus noch innerhalb des geschaffenen Institutionengebäudes – eine Kon-sultierung gesellschaftlicher Kräfte jenseits von Staat und Unternehmensführungen stattgefunden. Die Schaffung eines gemeinsamen Gremiums, wie zum Beispiel ein gemeinsames Parlament, das eine gewisse Kontrollfunktion einnehmen könnte, ist auch längerfristig für den MERCOSUR nicht geplant. Der MERCOSUR ist die südamerikanische Antwort auf die weltweite kapitalistische Dynamik, in der sich zur Zeit regionale wirtschaftliche Blöcke bilden, die so die nationalen Unternehmen für den internationalen Wettbewerb stärken sollen, nicht zuletzt durch die Entwicklung weltmarktfähiger kostensenkender Produktionskonzepte. Besonders großen Anreiz bietet die neue Freihandelszone den multinationalen Konzernen. Diese können nun ihre Produktionen zentralisieren und dabei den kostengünstigten Standort wählen. Innerhalb der weltweiten kapitalistischen Arbeitsteilung kommt dem MERCOSUR eine ganz bestimmte Rolle zu. So sind die Länder des Cono Sur insbesondere auf steigende Exporte in die Industrienationen angewiesen. Sie erfüllen die Funktion eines “Hinterhofes”, in denen die Multis profitabler produzieren können. Der MERCOSUR, dessen Mitgliedsstaaten in ihren Handelsbeziehungen traditionell stark mit den USA verflochten sind, bedeutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Daraus erklärt sich auch die sehr wachsame Haltung der Europäischen Union, die schon erste Verhandlungen mit MERCOSUR-VertreterInnen zwecks der Schaffung einer Freihandelszone MERCOSUR-EUROPÄISCHE UNION geführt hat. Die EU entdeckt Lateinamerika als noch nicht voll genutzten Absatzmarkt. Den USA soll das Feld nicht allein überlassen werden.
Paraguay – Am Nasenring durch die Arena
So einfach schien das Spiel für General Lino Oviedo zu sein. Man rebelliert gegen den Präsidenten, macht ihm deutlich, daß die Streitkräfte mehrheitlich auf der anderen Seite stehen, und schon tut der düpierte Präsident öffentlich kund, den Putschisten demnächst als Verteidigungsminister in Amt und Würden sehen zu wollen. Beinahe wäre es genauso gekommen, hätten sich nicht die mehrheitlich oppositionellen ParlamentarierInnen einer solchen Manifestation politischer Peinlichkeit entgegengestellt. Worauf Präsident Wasmosy verlauten ließ, er habe die Stimme des Volkes vernommen, die Ernennung Oviedos zum Minister sei damit hinfällig. Was Satire scheint, ist Realität.
Juan Carlos Wasmosy hatte nie den Ruf, ein besonders starker Präsident zu sein, und niemand in Paraguay dürfte daran gezweifelt haben, daß die Streitkräfte nach wie vor eine Bastion politischer Macht im Lande darstellen. Trotzdem ist die Offensichtlichkeit atemberaubend, mit der Oviedo den Präsidenten als machtlos vorführt. Daß Militärs auch in den parlamentarischen Demokratien Lateinamerikas im Hintergrund die Fäden ziehen und wesentlichen Einfluß besitzen, ist nicht neu. Aber kaum einmal ist, seit dem Ende der Diktaturen in Lateinamerika, ein Präsident von einem ihm “untergebenen” General so am Nasenring durch die Arena gezogen worden, im Publikum die durch das Stichwort “Putsch” alarmierte Weltpresse.
Lino Oviedo dürfte vor seiner Rebellion gewußt haben, daß ein Militärputsch nach klassischem Muster das Land in die Isolation geführt hätte. Die negative Reaktion der übermächtigen Mercosur-Partner Argentinien und Brasilien war abzusehen, ebenso der Protest der Clinton-Administration. Es spricht für sich, daß sich Oviedo schon nach wenigen Tagen auf das Arrangement mit Präsident Wasmosy einließ. Aber innenpolitisch hat er klargestellt, daß die paraguayischen Streitkräfte auf ihrer Machtposition bestehen.
Der “Putschversuch” wirft ein deutliches Licht auf den Zustand so mancher parlamentarischen Demokratie in Lateinamerika. Einerseits läßt der internationale Kontext keine Alternative zu: Die parlamentarisch-demokratische Fassade muß stehen, um sowohl von den USA als auch von den regionalen Mächten anerkannt zu werden.
Andererseits sind durch die innenpolitischen Machtverhältnisse die Möglichkeiten begrenzt, demokratische Grundprinzipien wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit oder Kontrolle der Regierung durch die Opposition tatsächlich durchzusetzen und im Konfliktfall auch beizubehalten. Daß das Militär derjenige politische Faktor ist, der am wenigsten zur Aufgabe seiner Machtstellung bereit ist, gilt in Paraguay mehr als anderswo.
Oviedo scheint diese ambivalente Stellung der Armee sehr genau begriffen zu haben und verkörpert sie gewissermaßen in seiner Person. Er stand 1989 an der Spitze jener Rebellion, die General Stroessner stürzte und hatte, zumindest bis zum jüngsten “Putschversuch”, den Ruf eines loyalen, die demokratische Fassade achtenden Militärs. Aber er war es auch, der als Armeechef 1993 die Kandidatur seines Parteikollegen Wasmosy unterstützte und höchstwahrscheinlich auch mit unsauberen Methoden bei dessen Wahl nachhalf. Wasmosy ist kein unabhängiger Präsident, und nicht zu letzt Oviedo hat dafür gesorgt, daß er es nicht sein kann.
Dem General werden seit Jahren Ambitionen auf den Präsidentensessel nachgesagt, und es ist durchaus möglich, daß er mit seinem Image des starken Mannes breite Wählerschichten für sich gewinnen kann.
Sollte so wie in anderen lateinamerikanischen Ländern auch in Paraguay die Unzufriedenheit mit dem parlamentarisch-demokratischen Alltag groß genug sein, spricht nichts dagegen, daß sich eine Mehrheit der WählerInnen für einen Kandidaten Oviedo entscheiden könnte. Die Ereignisse der letzten Wochen wären dabei eher ein Plus als ein Minus für Oviedos Position in der Wählergunst. Gar so eindeutig gegen die Militärs muß die “Stimme des Volkes” nicht schallen.
Auch wenn der direkte Durchmarsch Oviedos ins Verteidigungsministerium gestoppt zu sein scheint, die nächste Präsidentschaftswahl kommt bestimmt. Man wird Lino Oviedo bei dieser Gelegenheit wohl wiedersehen und darf gespannt sein, ob die demokratischen Spielregeln dann eine Rolle spielen. Denn Artikel 236 der paraguayischen Verfassung läßt die Präsidentschaftskandidatur von Putschisten nicht zu.
Deutsches Exil in Lateinamerika
Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller EmigrantInnen fanden dort zumindest für eine gewisse Zeit Zuflucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Lateinamerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chronologie der Emigration in die mittel- und südamerikanischen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutschland eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Einwanderungsländer bevorzugten Staaten des “Südgürtels”, also Argentinien, Chile, Uruguay und das südliche Brasilien, waren bis etwa 1937 eine Art Geheimtip für EmigrantInnen, während in die übrigen Länder nur vereinzelte Personenkreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeitraum von einigen Staaten unternommenen Aktionen zur Aufnahme von EmigrantInnengruppen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzelfällen die 100 überschritten, – so die Ansiedlung saarländischer EmigrantInnen in Paraguay.
Die Erklärung für dieses Phänomen liegt darin, daß Lateinamerika kaum im Motivationsspektrum von Hitler-Flüchtlingen angesiedelt werden konnte. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herrschaft nach Deutschland zurückkehren wollte, blieb nach Möglichkeit in einem Nachbarland, jedenfalls in Europa. Wer als Jude Deutschland den Rücken kehrte und endgültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Ausreise nach Palästina. Auch Emigrationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach Lateinamerika emigrierte, war trotz des politischen Hintergrundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Bedrohungen und Repressalien freie Existenz aufbauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typischen Einwanderungsländer des Südgürtels bestätigt diese Beobachtung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restriktionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr aufnehmen konnten oder wollten, begann die Massenemigration in überseeische Länder, vorzugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegsbedingten Unterbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikanischen Staaten daraufhin die Einwanderung bremsten und zeitweilig die Grenzen völlig sperrten oder nur unter besonderen Bedingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlingsstrom auch in “weniger attraktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Honduras oder Bolivien, obwohl er eigentlich nach Palästina oder Nordamerika emigrieren wollte. Manche Länder nahmen den Charakter von Wartesälen an, in denen Flüchtlinge bis zu ihrer möglichen Weiterreise vorübergehend Zuflucht nahmen. Wer in Kuba oder in der Dominikanischen Republik Asyl gefunden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Paraguay oder Bolivien verschlagen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uruguay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deutsche Flüchtlinge nach Lateinamerika gelangten, wurden im wesentlichen vom Zeitpunkt der Emigration und von den Emigrationsmotiven bestimmt. Es gab vom Februar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime geduldete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenverhältnis zur fluchtartigen Emigration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhältnis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen EmigrantInnen dieses Jahres gingen etwa 13.000 nach Lateinamerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantInnen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französischen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges änderten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französische Atlantik-Küste besetzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Ausreisehafen, gefolgt von Lissabon, das aber nur über Spanien erreicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort weiter nach Shanghai in die USA und nach Lateinamerika. Ab November 1941 durften Juden aus dem deutschen Machtbereich nicht mehr ausreisen – die Entscheidung über die sogenannte “Endlösung” war gefallen. Mit der Besetzung Südfrankreichs durch deutsche Truppen im November 1942 wurden die letzten Ausreisemöglichkeiten blockiert. Die Emigrationsbewegung kam fast vollständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse verdienen in diesem Zusammenhang die Organisationen, durch deren Aktivitäten die in der Regel mittellosen Flüchtlinge überhaupt nach Lateinamerika gelangen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Dokumenten, die Bezahlung der Schiffspassagen und sonstigen Reisekosten, Quartiere und Kleidung, Kurse zur beruflichen Umschulung sowie die Ausrüstung mit Werkzeug – alles dies waren Probleme, die die EmigrantInnen gewöhnlich aus eigener Kraft nicht bewältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier beträchtliche Summen aufgebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stammten. Zu nennen sind vor allem die jüdische Hilfsorganisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachverband anderer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distribution Committee”. Diese beiden Organisationen hatten für die Fluchthilfe und für die Starthilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Dagegen richteten sich die Unterstützungen anderer Hilfsorganisationen nur auf einen kleinen und speziellen Teil der Emigration. Andere wichtige Vereinigungen waren die sozialdemokratische Flüchtlingshilfe, sowie die von der Liga für Menschenrechte getragene Demokratische Flüchtlingsfürsorge (beide waren bis 1938 in Prag, danach in London).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gelegentlich auch solche Organisationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren eigentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigration zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Association) verfolgte ursprünglich den Gedanken jüdischer landwirtschaftlicher Siedlungen in Argentinien und Brasilien, vermittelte aber – teilweise im Rahmen der HICEM – zahlreichen bedrohten Juden eine Zuflucht in Lateinamerika. Der St. Raphaelsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische AuswanderInnen durch soziale und seelsorgerische Betreuung, konzentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutschland, insbesondere auf die sogenannten “getauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesellschaft für Siedlung im Ausland” ermöglichte vielen katholischen Hitler-GegnernInnen eine Auswanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Grenzen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der genannten Organisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und humanitäre Vereinigungen, die innerhalb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leisteten; der Hilfsverein der Juden in Deutschland, die Quäker und andere. Dagegen war die Hilfstätigkeit einzelner Staaten, zwischenstaatlichen und internationalen Einrichtungen wie dem Völkerbund erbärmlich gering. EmigrantInnen, die sich nach Übersee retten konnten, verdankten dies fast ausschließlich privater Initiative.
Die Anzahl der deutschen beziehungsweise deutschsprachige EmigrantInnen in Lateinamerika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grobschätzung von rund 100.000 ausgehen. Es besteht allenfalls weitgehend Klarheit in der quantitativen Reihenfolge der Aufnahmeländer:
Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200
Die übrigen Länder, angeführt von Paraguay nahmen EmigrantInnen nur in dreistelliger, einige karibische und mittelamerikanische Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zuflucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach Santiago de Chile erstreckt. Dort lagen daher auch die wichtigen EmigrantInnenzentren. Einen Sonderfall bildete Mexiko, das zwar hinsichtlich der Aufnahmezahl eines der Schlußlichter bildete, aber wegen der hochkarätigen politischen und literarischen EmigrantInnen sowie wegen der von ihnen getragenen Verlage, Zeitschriften und Vereinigungen ein Exilzentrum von besonderer Bedeutung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifikation der EmigrantInnen in Lateinamerika war nicht auf die Gesellschaften der Asylländer zugeschnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Probleme verursachte. Exakte Zahlen liegen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen darauf, daß kaufmännische und andere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, HandwerkerInnen, ArbeiterInnen und Landwirte unterrepräsentiert waren. Aber gerade sie, insbesondere die Landwirte, waren besonders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu landwirtschaftlicher Siedlung erteilt, worauf aber die wenigsten vorbereitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Argentinien, Brasilien, Paraguay, Bolivien, Ecuador und Santo Domingo kleine Bauernhöfe gründeten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Berufe stießen deswegen auf besondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinamerikanische Gesellschaften seit langem notorischen Unterbeschäftigung in Handel und Dienstleistung bildeten die EmigrantInnen eher einen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenzneid und Fremdenfeindlichkeit, nicht selten mit antisemitischem Akzent. Einige Länder verboten oder behinderten die Ausübung bestimmter Berufe. Leichter hatten es FacharbeiterInnen und HandwerkerInnen, die wegen ihrer im allgemeinen beträchtlichen Überlegenheit an Berufs- und Allgemeinbildung gefragt waren. Dagegen standen VertreterInnen künstlerischer und geisteswissenschaftlicher Berufe vor besonderen Schwierigkeiten, weil ihre Tätigkeiten nicht gefragt und teilweise engstens auf die deutsche Sprache fixiert waren.
Die soziale Integration aus einem Abstand von 50 Jahren betrachtet zeigt, daß nach einer mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirtschaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten aufgerückt sind.
Die Gründe für diese überwiegend gelungene soziale Integration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvorsprung der meisten EmigrantInnen vor einheimischen Arbeitskräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der EmigrantInnen über gemeinsame Zeitschriften, Clubs, Vereinigungen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation ermöglichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Gemeinden, Verbände und Institutionen erwähnt werden, die – soweit Informationen vorliegen – oft einen hohen Organisationsgrad hatten. Ihre Arbeit dürfte in hohem Maße soziale Notfälle aufgefangen und eine Marginalisierung und Verelendung von EmigrantInnen verhindert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisationen deutscher EmigrantInnen waren, gemessen an der Zahl ihrer aktiven Mitglieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentlichen Rampenlicht und beanspruchten einen höheren Repräsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportvereine. Aus der Perspektive der deutschen Geschichte sind sie freilich interessanter, weil sie gewissermaßen “mit dem Blick nach Deutschland” arbeiteten, während ein großer Teil der jüdischen EmigrantInnen mit ihrer alten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. Andererseits wurden rund 50 von den Organisationen herausgegebenen Blätter und Zeitschriften, von denen allerdings einige nur einmal oder nur sehr selten erschienen oder aber über das Format hektographierter Rundbriefe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spektrum innerhalb der Emigration gelesen; sie bezogen somit auch politisch weniger engagierte Personen in die Diskussionen und Kontroversen ein. Wie in der gesamten Exilszenerie waren die EmigrantInnen in Lateinamerika untereinander heillos zerstritten und befehdeten sich aufs heftigste. Die Bedingungen für politische Aktivitäten variierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhältnissen abhängig. So waren irgendwelche Aktivitäten unter der blutrünstigen Herrschaft des dominikanischen Diktators Rafael Trujillo überhaupt nicht und in dem von Getulio Vargas autoritär regierten Brasilien nur eingeschränkt möglich. Dagegen boten demokratische Länder wie Chile und Uruguay, das gemäßigt autoritäre Argentinien sowie das nachrevolutionäre Mexiko günstige Voraussetzungen. Während aber in Chile auf amtlichen Druck die politischen EmigrantInnenvereinigungen fusionieren mußten, blühte in Bolivien ein Chaos der Verbände, Clubs und Organisationen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen einteilen. Die älteste von ihnen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auftrat: die Strasser-Bewegung. Bereits 1934 war ein Netz von Organisationen in fast allen lateinamerikanischen Staaten nachweisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Paraguay. In Buenos Aires erschien ab 1935 das Zentralorgan der Bewegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mitglieder der gleichnamigen Organisation waren größtenteils dissidente Nazis sowie antinazistische, aber gleichwohl rechtsextreme Kreise – Auslandsdeutsche wie auch EmigrantInnen.
Zu den bedeutenden politischen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika gehörten Zeitschrift und Bewegung “Das Andere Deutschland”. 1938 aus einem gleichnamigen Hilfskomitee in Buenos Aires hervorgegangen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zunächst breiten linken und demokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründeten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schriftleitung des Gründers und Herausgebers August Siemsen vereinigten sich im “Anderen Deutschland” in immer stärkerem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Gruppen. Aus Lesezirkeln entstanden in mehreren Ländern Lateinamerikas kleinere Gruppierungen und Vereinigungen, die in loser organisatorischer Verbindung zur Zentrale in Buenos Aires standen und im wesentlichen nur durch die Zeitschrift zusammengehalten wurden. Diese lockere Organisationsform hatte den Nachteil, daß die Bewegung “Das Andere Deutschland” in nur eingeschränktem Maße eine regelmäßige Verbandsarbeit leisten konnte; sie hatte den Vorteil, daß sie nicht von politisch dissidenten EmigrantInnengruppen unterwandert und umfunktioniert werden konnte. Ihre Schwerpunkte hatte die Bewegung im südlichen Lateinamerika, also in Argentinien, Uruguay, Chile, Brasilien, Paraguay und Bolivien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeitraum eine Mehrheit der politisch denkenden deutschen EmigrantInnen zu vereinen.
Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewegung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Strassers “Frei-Deutschland-Bewegung” verwechselt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen EmigrantInnengruppen gespalten, wobei die der KPD angehörenden oder nahestehenden Mitglieder in der Regel eigene Gruppierungen bildeten. Diese Spaltungen blieben, auch als mit dem Überfall auf die Sowjetunion ihr äußerer Grund entfallen war. Die Gruppierungen waren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und vereinigten in sich auch bürgerliche, christliche, konservative, ja sogar monarchistische EmigrantInnen. Ihre Programmatik und Phraseologie war verschwommen antifaschistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, jedoch blieben die Schlüsselpositionen fest in den Händen von KPD-FunktionärInnen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frankreich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer SchriftstellerInnen und FunktionärInnen niedergelassen hatte und wo sich mit einer kleinen Ausnahme keine anderen deutschen Exil-Organisationen bildeten, wurde im November 1941 die Zeitschrift “Freies Deutschland” gegründet. Um dieses politisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichnamige Vereinigung mit Ablegern in anderen Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Montevideo, wurde unter Führung der mexikanischen EmigrantInnenorganisation das KPD-gelenkte “Lateinamerikanische Komitee Freies Deutschland” gegründet, dem in der Folgezeit kleinere Organisationen beitraten. Man hatte Heinrich Mann für das Amt des Ehrenpräsidenten und für den Vorstand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konservativen böhmisch-österreichischen Schriftsteller Karl v. Lustig-Prean gewonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Ludwig Renn als amtierender Präsident, Anna Seghers sowie der KPD-Funktionär Paul Merker als Generalsekretär. Der Name des Komitees und andere Indizien verweisen auf die Bewegung “Freies Deutschland” in europäischen Exilländern sowie auf das gleichnamige Nationalkomitee in Moskau und lassen es als Instrument der damaligen sowjetischen Deutschland-Politik erscheinen.
In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikanischen und karibischen Republiken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominierende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkurrenz. In Uruguay und Chile fusionierten die beiden Bewegungen, in Chile aufgrund staatlichen Drucks, in Uruguay auf freiwilliger Basis. Insgesamt waren die “Freien Deutschen” erfolgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dürfen Vereinsattrappen und Briefkastenorganisationen vor allem in einigen mittelamerikanischen Staaten nicht über ihre tatsächliche Stärke hinwegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie gegen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland übernahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostgebiete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorganisationen auf heftigsten Widerspruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerikanische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben diesen überregionalen politischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von EmigrantInnen, die sich auf einzelne Länder oder Städte beschränkten und sich auch nicht einer der genannten Organisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisationen deutscher EmigrantInnen gab es noch weitere Betätigungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-GegnerInnen aktiv werden konnten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit geringem propagandistischem Aufwand einen großen Teil der in Lateinamerika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleichgeschaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das auslandsdeutsche Vereinsleben sowie Schulen und Presse beherrschten und durch Hetzpropaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die EmigrantInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diplomatischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen observierten und zu diesem Zweck meistens ortskundige auslandsdeutsche Spitzel mobilisierten. In einigen Ländern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einheimischer Nazi-SympathisantInnen in Polizei, Militär und Wirtschaft über einigen Einfluß. Es lag daher im ureigenen Interesse der EmigrantInnen, sich gegen diese Bedrohung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regierung durch Sprach- und Sachkenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikanischen Staaten wurden die meisten NS-Organisationen verboten. In einigen Ländern allerdings hatte es nie eine nennenswerte Fünfte Kolonne gegeben.
Ein weiteres Aufgabengebiet, an dem sich auch nichtorganisierte EmigrantInnen beteiligten, waren Nachkriegskonzeptionen für Deutschland. Einige der interessantesten Überlegungen stammen vom früheren liberalen Reichsinnen- und -justizminister Erich Koch-Weser, der im brasilianischen Bundesstaat Paraná sein Asyl gefunden hatte. Die der Bewegung “Freies Deutschland” nahestehenden EmigrantInnen äußerten sich nur sehr allgemein über Verfassungsfragen und wollten neben recht verschwommenen Forderungen nach Ausrottung von Nazismus und Antisemitismus die konkrete Gestaltung Deutschlands den Alliierten überlassen. Verbreitet war eine antikapitalistische Grundstimmung und die Absicht, mit einer weitgehenden Sozialisierung auch die gesellschaftlichen Ursachen antidemokratischer Entwicklung zu beseitigen. Die meisten Konzeptionen hielten am Nationalstaat fest, plädierten aber für eine Aussöhnung der ehemaligen Kriegsgegner und für einen losen Verbund der europäischen Staaten. In den Bereich der politischen Aktivitäten gehören auch größtenteils die kulturellen Leistungen der deutschen EmigrantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmittelbar politische Fragen ansprachen, indirekt darauf eingingen. Das war deutlich in der Presse und in den von einigen EmigrantInnenorganisationen regelmäßig gestalteten Rundfunksendungen der Fall, vor allem aber in den von Organisationen unabhängigen Zeitschriften und Verlagen. Zu erwähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile herausgegebene, auch in Nordamerika und Europa gelesene Monatsschrift Deutsche Blätter, deren hohes Niveau und solide Aufmachung von allen politischen Richtungen respektiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Dritten Reiches endeten weder Exil noch Folgeprobleme der Emigration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von EmigrantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jüdische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an einer Rückkehr. Sie hatten in Lateinamerika Wurzeln geschlagen oder aber bemühten sich um eine Weiterwanderung nach Palästina/Israel oder in die USA. Die Faustregel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zurückkehren wollten, die jüdischen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Lateinamerika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etliche Anfragen an den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher erhalten, ob man als Jude inzwischen wieder nach Deutschland zurückkehren dürfe. Und umgekehrt entschlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kinder und teilweise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objektive Schwierigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alliierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommunisten, die – sofern sie gebraucht wurden – mit sowjetischer Hilfe in die Sowjetische Besatzungszone zurückkehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund bestimmter politischer Ereignisse zurück – so Boris Goldenberg aus dem inzwischen kommunistisch gewordenen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben entschlossen, war es aber eine unangenehme ワberraschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emigration” ehemaliger NS-Funktionäre nach Lateinamerika einsetzte. Deren Vertreter – wie beispielsweise Eichmann oder Mengele – wollten unter anderem Namen untertauchen und teilweise aber auch mit Hilfe einheimischer Gesinnungsfreunde ihre unrühmlichen Aktivitäten fortsetzen.
In den Jahren 1946-1949 lösten sich aber die meisten der politischen Organisationen auf. Unterschiedliche Auffassungen über die Zukunft Deutschlands und vollends der Kalte Krieg entzogen ihnen die gemeinsame Plattform. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Mexiko, Brasilien und Bolivien – Nachfolgeorganisationen als sozialdemokratische Landesverbände konstituierten, nachdem während der NS-Zeit die SPD als Partei oder als parteinaher Verband im lateinamerikanischen Exil überhaupt nicht existiert hatte. Diese Organisationen bemühten sich einerseits um materielle Hilfe für ihre ausgeblutete frühere Heimat, und veranstalteten – wenigstens im Falle Brasiliens – Sammlungen. Sie bekämpften nach wie vor reaktionäre Strömungen unter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die junge Bundesrepublik, weil sie die diplomatischen und konsularischen Missionen in Lateinamerika hauptsächlich mit erzkonservativem Personal besetzte.
Lateinamerika hat die deutsche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexikanisches bzw. dominikanisches Exil ausführlich beschrieben; Anna Seghers griff gelegentlich lateinamerikanische Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffentlichte noch in Mexiko eine brillant geschriebene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Geschichte und Paul Zech gab Indianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfindung herausstellten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differenziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjährige Südamerikakorrespondent der Frankfurter Rundschau in Montevideo, Hermann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantInnen sind aber auch bedeutende WissenschaftlerInnen und VertreterInnen des öffentlichen Lebens in ihren Exilländern hervorgegangen. Der gegenseitige Kulturtransfer bildet vielleicht den erfreulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.