Kolumbiens Hoffnung heißt Asprilla

Faustino Asprilla wurde schon im Vorfeld der WM 1994 als potentieller Star des Turniers gehandelt. Das wird in Frankreich nicht anders sein. Der Stürmer, der nach einem Zwischenstopp auf der rauhen Insel bei Newcastle United reumütig wieder zum italienischen Spitzenklub AC Parma ins warme Italien zurückkehrte, ist neben Kapitän Valderrama der Star der kolumbianischen Nationalmannschaft. Valderrama ist allerdings schon knapp 37 und vielleicht schon ein wenig zu schwach auf der Brust, um die Mannschaft mitzureißen. Deswegen setzen die kolumbianischen Fans ihre Hoffnungen vor allem auf Asprillas spektakuläre Soli. Auch andere Altstars wie der hünenhafte Mittelfeldspieler Freddy Rincón und Stürmer Anthony de Avila haben ihren Leistungszenit wohl überschritten und sind mehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie die Rolle als Führungsspieler übernehmen könnten.
Das soll nun in Frankreich Asprilla tun. Fachleute sagen ihm bewundernd nach, sein Antritt sei mit dem eines Ben Johnsons (kanadischer Sprint- und Dopingstar) in seinen besten Tagen vergleichbar; seine technische Brillanz reiche an die Ruud Gullits (einstiger Regisseur der holländischen Nationalmannschaft) heran und seine Eleganz sei die einer Ballerina. Asprillas Fußball-Finesse ist so recht nach dem Geschmack der kolumbianischen Fans. Weniger nach ihrem Geschmack ist das Fußballverständnis von Nationalcoach Hernán Dario Gómez. Dessen Auffassung vom Spiel ist modern, also zielorientiert. Taktisch diszipliniert und ergebnisorientiert will er seine Jungs spielen sehen. Seine Spielauffassung dürfte zwar nicht der Grund für die Todesdrohungen sein, die der Trainer und der Spieler Aristizábal nach der Bekanntgabe des Aufgebots erhielten, aber die Kolumbianer mögen keine Taktiererei. Zwar wurde die Endrunde in Frankreich als dritter der Südamerika-Qualifikation recht mühelos erreicht, doch die Art und Weise, wie dies geschah, trieb doch so manchem Fan die Zornesröte ins Gesicht. Versöhnlich stimmte da nur das Wirken des Faustino Asprilla. Sieben Tore schoß er in der Qualifikation, darunter einen lupenreinen Hattrick gegen die Überraschungsmannschaft aus Chile.
Asprillas großes Manko ist sein Temperament. Abseits des Spielfelds versorgte er die Kollegen von der Boulevardpresse kontinuierlich mit Stoff: Alkoholeskapaden, Schlägereien, Verfahren wegen Waffenbesitzes. Auch auf dem Spielfeld vertrat er seine Meinung nicht immer auf die sportliche Art. Im Qualifikationsspiel gegen Paraguay brannten ihm völlig die Sicherungen durch, so daß er sich auf ein Scharmützel mit Chilavert einließ. Die Boxeinlage auf dem Rasen sorgte für weltweites Aufsehen. Sein einstiger Trainer beim Drogenkartell-Verein Nacional Medellín bemerkte 1992 nach Bekanntwerden des Wechsels von Asprilla zum AC Parma erleichtert: Ich bin froh, daß er nach Italien geht, ich hätte das nervlich mit diesem Jungen nicht länger ausgehalten. Faustino kann ein wunderbarer Fußballer werden, vielleicht sogar eine Weltkarriere machen, doch seine Disziplinlosigkeit macht dich als Trainer fertig”. Jener Trainer war Hernán Dario Gómez. Offensichtlich ist der Nationalcoach mittlerweile von der Läuterung des Stars überzeugt und froh, ihn – aus Italien – in den Kreis der Nationalmannschaft berufen zu können.
Ob Asprilla bei der WM in Frankreich diesmal die hochgesteckten Erwartungen erfüllt, wird sich erstmals beim Auftaktspiel zeigen. Allerdings erwartet die Kolumbianer dort einen höchst unangenehme Aufgabe, weckt sie doch böse Erinnerungen an die Schmach von vor vier Jahren: der Gegner am 15. Juni in Lyon ist Rumänien.

Ein Grau(er) Sieg für die Colorados

Der neue Präsident Paraguays heißt Raúl Cubas Grau und ist Colorado. Dabei hatte es für die Opposition so günstig wie noch nie seit dem Ende der Stroessner-Ära ausgesehen. Erstmals trat die Opposition gemeinsam in einem Bündnis – der Alianza Democrática – an. Dann präsentierte sich die Coloradopartei im Jahr vor den Wahlen so zerstritten wie noch nie, drei größere Fraktionen dieser Partei bekämpften sich mit allen Mitteln und schließlich servierte sie das Sahnetüpfelchen für die Opposition, als der populäre Kandidat der regierenden Colorados und Ex-General Lino Oviedo wenige Tage vor dem Wahltermin wegen seines Putschversuches von 1996 gegen den gegenwärtigen Präsidenten Wasmosy für zehn Jahre hinter Gitter wanderte.
Die Colorados standen sprachlos ohne ihren Kandidaten da. Damit hätte es für die Opposition reichen sollen – so sagten es die letzten Umfragen. Aber die WählerInnen sagten etwas ganz anderes.

Colorados liegen überall vorn

Genau wie vor fünf Jahren erwiesen sich die Colorados als ausgesprochene Finalistas. In den letzten Tagen vor der Wahl mobilisierten sie noch einmal alles. Die Streitigkeiten zwischen den Fraktionen wurden begraben. Mit nur zwei Parolen ging es in den Endspurt. Die Anhänger um Oviedo zogen mit der Losung der sofortigen Freilassung Oviedos im Falle eines Wahlsieges in den Kampf. Da Oviedo in den ländlichen Gegenden mittlerweile als politischer Märtyrer gilt, dem von seinen Gegnern übel mitgespielt wurde, brachte das deutliche Sympathiepunkte und natürlich Stimmen.

Sein oder Nichtsein

Die andere Losung spiegelte in verschiedenen Varianten nur die Durchhalteparole der Colorados wieder, daß es um Sein oder Nichtsein geht. Angst vor möglichen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst oder den Staatsbetrieben im Falle einer Wahlniederlage der Colorados wurde geschürt. Auch fast zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur in Paraguay hat sich an der Regel aus der Stroessnerzeit, daß nur Colorados im öffentlichen Dienst tätig sein dürfen, wenig geändert. In den ländlichen Gegenden wurden außerdem in alter Manier fleißig Geschenke, Lebensmittel, Kleidung und Spielzeug unter die WählerInnen geworfen. Was gelten dagegen schon intellektuelle Größe und moralische Integrität der Oppositionskandidaten.
Die WählerInnen Paraguays haben entschieden. Mit einer Wahlbeteiligung von mehr als 80 Prozent bei über 2,1 Millionen Stimmberechtigten ging die Entscheidung eindeutig für die etablierte Coloradopartei aus. Auch wenn zwei Wochen nach dem Wahltag am 11. Mai noch immer nicht die endgültigen offiziellen Ergebnisse vorliegen, so führt nach 62 Prozent der bisher ausgezählten Stimmen der Kandidat der Colorados, Cubas Grau, mit 54 Prozent deutlich vor seinem Herausforderer Laíno mit 43 Prozent der Stimmen.

Stimmenauszählung gestoppt

Für die sonstigen Mitbewerber wurde insgesamt nicht mal ein Prozent der gültigen Stimmen abgegeben. Kurz nachdem der Generalsekretär der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), Cesar Gaviria, als Leiter der internationalen BeobachterInnengruppe den Wahlverlauf als “ziemlich normal” erklärt hatte, stoppte das Oberste Wahlgericht die Stimmenauszählung. Bei den per Fax nach Asunción übermittelten Wahlergebnissen waren verschiedene Unregelmäßigkeiten zugunsten der Colorados aufgetreten. Diese gefälschten Faxlisten erfordern eine neue Auszählung der Stimmzettel.
Aber am Gesamtergebnis wird sich nichts ändern. Auch bei den gleichzeitigen Gouverneurswahlen errangen die Colorados in 15 der 17 Regionen die absolute Mehrheit. Der Opposition gelang es nur im Departamento Boquerón, in allen Gremien eine Mehrheit zu erringen. In dieser Chacoprovinz ist auch die Mehrheit der deutschstämmigen Mennoniten angesiedelt.
Im Departamento Central liegt der Kandidat des Oppositionsbündnisses nach den Ergebnissen der Parallelauszählungen zwar vorn, aber nur mit 4.000 Stimmen. So lange die offiziellen Ergebnisse noch nicht vorliegen, ist der Triumph der Opposition dort noch nicht sicher. Auch in den beiden Kammern des Parlaments verfügen die Colorados wieder über eine solide Mehrheit. Die hatte bisher rein numerisch die Opposition.

Wahlsieger überrascht

Dieser absolut eindeutige Wahlsieg mit über elf Prozent Unterschied hat selbst den neuen Präsidenten Cubas Grau überrascht, wie er in einem Interview eingestanden hat. Deshalb kann auch noch niemand so richtig sagen, wie es weitergehen soll. Der 54 jährige Ingenieur und wohlhabende Unternehmer Raúl Cubas Grau war ursprünglich als Vizekandidat vorgesehen, ein richtiges Profil hat der politische Newcomer nicht. Nach ersten Gesprächen mit dem scheidenden Amtsinhaber Juan Carlos Wasmosy will Cubas Grau auf keinen Fall die Amtsgeschäfte vor dem 15. August übernehmen. Diesen Termin sieht die Wahlgesetzgebung als reguläre Frist vor. Cubas Grau, der seinen Wahlkampf mit der Forderung nach der sofortigen Freilassung von General Oviedo führte, schlägt vorerst verhaltenere Töne an. Ein allgemeines Amnestiegesetz soll her – pauschale Vergangenheitsbewältigung nach dem Vorbild Uruguays und Argentiniens.

Kommt Stroessner wieder?

Doch nicht nur Oviedo soll auf freien Fuß gelassen werden. Der machtbesessene designierte neue Vizepräsident Luis María Argaña will bei dieser Gelegenheit auch gleich den Ex-Diktator Alfredo Stroessner aus seinem brasilianischen Exil nach Paraguay zurückholen und ihn in die Politik der Colorados einbeziehen.
Das bereitet nicht nur der politischen Opposition Schwierigkeiten, auch in den eigenen Reihen gibt es Widerstand. Der unterlegene Präsidentschaftskandidat Domingo Laíno hat erklärt, prinzipiell hat er nichts gegen die Rückkehr des paraguayischen Bürgers Stroessner in sein Heimatland. Allerdings müßte er sich sofort den Gerichten wegen mehrerer Anklagen gegen ihn stellen. Deshalb wird hinter den Kulissen fleißig an einem Gesetzentwurf gebastelt, der weitere Anklagen gegen den inhaftierten General und den exilierten Diktator unmöglich macht. Zumindest für den Ex-General Lino Oviedo liegt schon ein Szenarium vor. Er soll freigesprochen und wieder in seinen militärischen Rang eines Generals im Ruhestand einschließlich aller finanziellen Bezüge eingesetzt werden, um ihn schließlich auf einem schnell einzuberufenden Parteitag der Colorados als Parteivorsitzenden zu wählen. Diesen Posten müßte jedoch der neue Vizepräsident Argaña räumen.

Der Präsident als Sandwich

Da Argaña nicht gerade als Freund von Oviedo gilt und diese Machtposition bestimmt nicht freiwillig aufgeben wird, sind neue parteiinterne Konflikte bereits programmiert. Bei mindestens drei fast gleichstarken Fraktionen der Colorados in den Parlamentskammern könnte die Opposition am Ende doch noch der eigentliche Sieger sein.
Bereits jetzt macht der Begriff vom “Sandwich Cubas Grau” die Runde: Der Präsident eingeschlossen von den beiden Fraktionen der starken Männer der Colorados Oviedo und Argaña. Auch vielen Militärs dürfte die Rückkehr von General Oviedo nicht einerlei sein, hatten sie sich doch gegen ihn gestellt und müssen jetzt Repressalien fürchten.
Die Nachbarländer sehen die Entwicklung mit Sorge, denn die Stabilität des Mercosur soll auf keinen Fall gefährdet werden.

Wahlvorbereitungen: Der Kandidat sitzt im Gefängnis

Täglich steht Ex-General Lino Oviedo in allen Schlagzeilen der Zeitungen Paraguays, jedoch in einer Weise, die ihm nicht unbedingt recht sein dürfte. Sah er sich doch schon als nächster Präsident, als er die parteiinternen Vorwahlen im September 1997 gewonnen hatte und sich gegen drei Mitbewerber durchsetzen konnte. Mit seinen markigen Sprüchen im Stile eines Exmilitärs hat er sich jedoch – besonders in den eigenen Reihen – nicht nur Freunde gemacht. Zu seinem Intimfeind wurde Präsident Juan Carlos Wasmosy. Nach langen gegenseitigen Anfeindungen verhängte Wasmosy kurzerhand eine 30tägige Arreststrafe gegen den General im Zwangsruhestand. Nach einem Versteckspiel, mit dem sich Oviedo immer wieder seiner Verhaftung entzog, trat er dann Anfang Dezember tatsächlich seinen Arrest im Hauptquartier der 1. Kavalleriedivision außerhalb der Hauptstadt Asunción an.

Ein General unter Dauerbeschuß

Obwohl Oviedo während des Arrests kaum Kontakte zur Außenwelt hatte, hielten seine Anhänger an ihm fest und führten die Wahlvorbereitungen erfolgreich ohne ihn weiter. Kurz vor Jahresende bestätigte das interne Wahlgericht der Coloradopartei den Nominierungsanspruch Oviedos als Präsidentschaftskandidaten und lehnte damit den Antrag von Luis María Argaña, dem Führer der Coloradopartei, ab, die Vorwahlen für nichtig zu erklären. Zu gern wäre Argaña selbst der Präsidentschaftskandidat der Colorados, war er Oviedo doch nur knapp unterlegen, obwohl ihm, Argaña, fast der ganze Parteiapparat zur Verfügung stand.
Die parteiinternen Gegner Oviedos zogen nun alle Register, um den General für amtsunfähig erklären zu lassen. In einer regelrechten Kampagne wurde ein Gerichtsverfahren nach dem anderen gegen ihn eröffnet. Sollte er auch nur in einer Klage für schuldig befunden werden, wird er nach paraguayischem Wahlrecht amtsunfähig und darf nicht für ein Amt kandidieren. In einem der Verfahren wird Oviedo durch zwei Abgeordete unrechtmäßige Bereicherung vorgeworfen. Da aber keine konkreten Beweise vorliegen, dürfte ihm diese Klage kaum Kopfzerbrechen bereiten.
Eine böse Überraschung für Oviedo war jedoch, daß er nach seiner 30tägigen Arrestzeit am 11. Januar nicht entlassen wurde. Ein außerordentliches Militärtribunal verfügte seine unbefristete Inhaftierung und eröffnete gleichzeitig mehrere Militärgerichtsverfahren gegen den Ex-General. In einem Verfahren wird ihm wegen des gescheiterten Putschversuchs vom April 1996 gegen Präsident Wasmosy Rebellion vorgeworfen, zum anderen stehen Verstöße gegen das Wahlrecht während seiner aktiven Militärzeit zur Debatte. Aktive Militärs dürfen sich laut Verfassung nicht politisch betätigen. Oviedo war jedoch zu jeder Zeit politisch aktiv. Ein weiterer Vorwurf richtet sich gegen den überteuerten Kauf von Hubschraubern für die Antidrogeneinheiten des Landes, für den er verantwortlich war.

Deutscher Giftmüll in Paraguay

Eine ganz andere Dimension hat die gerichtliche Untersuchung über Oviedos Verwicklungen in einen Giftmüllskandal. Ein Journalist deckte die Korrespondenz zwischen dem General und dem damaligen paraguayischen Botschafter in Deutschland auf, in dem es um die Versendung von deutschem Giftmüll nach Paraguay ging, auf die Greenpeace schon seit längerem hingewiesen hatte. Inzwischen wurden zwei Lagerstätten im Zolldepot von Asunción und im Chaco gefunden, wo sich bereits seit einigen Jahren 638 Fässer mit belasteten Materialien befinden. Die Absenderfirma Agrocome war fingiert. Es scheint festzustehen, daß Oviedo dank der Mithilfe paraguayischer Diplomaten einer der Hauptnutznießer der Giftmüllimporte war. In diesem Fall werden sich die Untersuchungen noch über längere Zeit hinziehen.
Zum Leidwesen von Präsident Wasmosy und Parteichef Argaña gingen die Untersuchungen gegen Oviedo nur außerordentlich langsam und kompliziert voran. Die Anwälte Oviedos versuchten, eine Freilassung zu erreichen, indem sie sich auf „habeas corpus“ beriefen, jenen Rechtsgrundsatz, der Inhaftierung ohne richterlichen Haftbefehl verbietet. Das schlug fehl. Das Oberste Gericht wies die vorläufige Freilassung zurück, und ein Richter, der sie angeordnet hatte, wurde wegen Überschreitung der Amtsbefugnisse zurechtgewiesen. Auch die Militärs widersetzten sich einer möglichen Freilassung Oviedos und ließen die Muskeln spielen. Rein ‘routinemäßig’ rollten Panzer durch die Stadt, und Militärflugzeuge hielten Flugmanöver ab. Putschgerüchte wurden sofort dementiert.

Zehn Jahre für Oviedo

Am 3. März verkündete das Militärtribunal sein Urteil. Ex-General Oviedo wurde der Rebellion für schuldig befunden und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Das Urteil wurde nur vier Tage nach seiner offiziellen Registrierung als Präsidentschaftskandidat der Coloradopartei verkündet. Die Führung der Colorados um Argaña begrüßte die Entscheidung und leitete sofort notwendige Schritte ein, um Oviedo als offiziellen Kandidaten zu ersetzen. Zur allgemeinen Überraschung kam es daraufhin zum politischen Schulterschluß zwischen den beiden Erzfeinden Wasmosy und Argaña. Gerade Argaña, der während der gesamten Regierungszeit von Wasmosy mit seinen Anhängern im Parlament in politischer Opposition zum Präsidenten stand, vollzog eine Wende. Beide versuchen nun, ein neues Kandidatenpaar ins Spiel zu bringen. Neuer Präsidentschaftskandidat soll Raúl Cubas Grau werden, der bereits als Vizepräsident von Oviedo nominiert war. Der neue Vizepräsidentschaftsanwärter soll, welche Überraschung, Luis María Argaña selbst sein. Doch das Oberste Wahltribunal wies eine provisorische Anmeldung dieses Kandidatenpaares mit der Begründung zurück, daß noch die Wahlformel Oviedo-Cubas gelte. Um das politische Verwirrspiel noch zu verstärken, setzte der Oberste Gerichtshof die zehnjährige Gefängnisstrafe gegen Oviedo aus und prüft gegenwärtig die Rechtmäßigkeit des Urteils des Militärtribunals. Es wird von zahlreichen als unabhängig geltenden in- und ausländischen Rechtswissenschaftlern bezweifelt, ob ein Militärtribunal überhaupt für ehemalige Militärs zuständig und das Urteil somit rechtsfähig ist. Die Überprüfung der Beweise und die mögliche Übergabe des Falles an ein Zivilgericht mit möglicher Verurteilung aus dem gleichen Grund steht auf einem ganz anderen Blatt. Das Oberste Gericht will seine Entscheidung auf jeden Fall noch vor den geplanten Wahlen bekanntgeben. Aber genau da liegt für die Colorados das Problem. Möglicherweise stehen sie kurz vor der Wahl ohne Kandidaten da.

Fällt der 10. Mai aus?

In ihrer Zerstrittenheit sehen sich die Colorados plötzlich der Gefahr gegenüber, die Macht im Land zu verlieren. Das Wahlgesetz sieht nicht vor, einen Reservekandidaten beim Obersten Wahltribunal anzumelden, und die Anmeldefristen sind fast verstrichen. Während Argaña strikt für eine Verschiebung des Wahltermins um 60 Tage ist, windet sich Wasmosy noch. Einerseits will er am Wahltermin und an der geplanten Amtsübergabe am 15. August festhalten, andererseits will er nicht, daß allein die geeinten Oppositionsparteien zur Wahl antreten und somit schon gewonnen hätten. Deshalb werden nochmals alle Register gezogen, um die Wahlen vielleicht doch noch auf mehr oder weniger legale Weise zu verschieben. Eine Anrufung des Obersten Gerichtshofes hat bereits eine Abfuhr eingebracht. Laut dem Präsidenten des höchsten Justizorganes des Landes, Raúl Sapena Brugada, besteht keine verfassungsmäßige Grundlage zur Verschiebung des Wahltermins, wenn eine Partei Probleme mit ihren Kandidaten hat. Auch Unregelmäßigkeiten in den Vorwahlen der Parteien sind nicht Sache des Obersten Gerichts, sondern parteiinterne Angelegenheiten. Schließlich versuchten die Colorados eine Verschiebung des Wahltermins zu erzwingen, indem sie Unregelmäßigkeiten im Wahlregister beklagten. Aber auch dieser Versuch scheiterte gründlich, denn die Vorwürfe erwiesen sich als fingiert und unwahr. Eine Technikergruppe der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) reiste eigens an, um das neuerstellte beziehungsweise überarbeitete Wahlregister Paraguays unter die Lupe zu nehmen, und bescheinigte Paraguay, nach Puerto Rico das derzeit zweitbeste Register in Lateinamerika zu besitzen. Mögliche Unstimmigkeiten bei Adressenangaben von Wählern liegen bei unter 0,2 Prozent. Außerdem besteht noch die Möglichkeit, daß Parteien Einzelbeanstandungen zu Wählerangaben vorbringen. Ein letzter Versuch der Verlegung des Wahltermins richtet sich jetzt gegen die Zentrale Wahlkommission selbst. Mitglieder der Kommission werden persönlich angegriffen mit dem Vorwurf, die Oppositionsparteien zu unterstützen. Die Hoffnung, daß das Oberste Gericht doch noch eine Verschiebung der Wahlen anordnet, begründen sich nur noch auf die vage Illusion, daß die parteiinternen Wahlen sowohl der Colorados als auch der Opposition wegen Unregelmäßigkeiten wiederholt werden müssen. Weiterhin ist durchgesickert, daß im Präsidialamt darüber diskutiert wurde, die Wahlen auszusetzen und entweder eine provisorische Militärjunta oder das Oberste Gericht mit der Führung des Landes bis zur Neuwahl zu beauftragen. Für den 26. April haben die Colorados einen Sonderparteitag einberufen, einziger Tagespunkt: die Wahlen.
Mit ihrer Forderung nach Verschiebung der Wahlen stehen die Colorados allein da, denn die Opposition ist strikt gegen einen neuen Termin. Die Präsidentschaftskandidaten des oppositionellen Wahlbündnisses Alianza Democrática, Domingo Laino und Carlos Filizzola, weigern sich inzwischen, über eine Verschiebung zu sprechen. Die katholische Kirche versuchte in dieser Diskussion zwischen den Parteien zu vermitteln, startete vor einigen Tagen jedoch eine Kampagne unter dem Motto ‘En mayo vamos a votar’ – Im Mai gehen wir wählen. Laut Umfragen sind 87 Prozent der Bevölkerung für Wahlen am 10. Mai. Heftige Proteste gegen eine mögliche Wahlverschiebung kamen auch aus dem Ausland. Argentinien, Brasilien, die OAS, die USA und das Europäische Parlament protestierten energisch gegen eine mögliche Verschiebung, weil sie darin eine Gefahr für den demokratischen Prozeß im Lande sehen. Brasilien drohte sogar mit dem Ausschluß Paraguays aus dem Mercosur mit Verweis auf die in das Vertragswerk eingebaute Demokratieklausel.

Stroessner läßt grüßen

Daß diese Warnungen nicht unbegründet sind, zeigt sich an den Drohgebärden, die zunehmend aus den Reihen der Colorados kommen. So wurde in der Parteiführung die Forderung aufgestellt, paramilitärische Gruppen nach dem Vorbild der ‘guardias urbanas’ – ‘Stadtwachen’ aus der Stroessnerzeit zu gründen, um die Interessen der Colorados verteidigen zu können. Gleichzeitig sollen alle Nichtcolorados aus öffentlichen Ämtern und Staatsbetrieben gedrängt beziehungsweise entlassen werden, wozu die verbleibende Zeit der WasmosyRegierung genutzt werden soll. Während der Stroessnerdiktatur durften nur Coloradomitglieder für den Staat arbeiten. Entsprechende Petitionen liegen beispielsweise von der Frauenorganisation der Colorados vor. Die Kirche und die Oppositionsparteien wiesen einen solchen Rückfall in die Diktatur und den Autoritarismus strikt zurück. Das Parlament beschloß eine Gesetzesvorlage, die die Parteienwerbung in öffentlichen Einrichtungen verbietet. Übrigens nutzte Exdiktator Stroessner das politische Klima, um eine Erlaubnis zur Rückkehr aus dem brasilianischen Exil zu erhalten. Laut der brasilianischen Zeitschrift Veja hat sich General Oviedo dafür ausgesprochen.

Wahlvorbereitung läuft planmäßig

In Paraguay herrscht gegenwärtig die paradoxe Situation, daß einerseits die rein technischen Vorbereitungen der Wahlen planmäßig laufen, wie die Zentrale Wahlkommission bestätigt, andererseits der politische Wahlkampf durch die Parteien bisher eher verhalten geführt wurde. Die Coloradopartei kann wohl kaum Wahlkampf führen mit einem Kandidaten, der vielleicht nicht antreten kann und mit einem anderen, der noch nicht darf. Aber auch die Opposition hält sich eher zurück, um die Wahlkampfressourcen nicht übermäßig zu strapazieren, falls der Termin doch noch platzt. Obwohl die Opposition im Kampf um die Präsidentschaft zum ersten Mal mit einem gemeinsamen Kandidatenpaar auftritt, ist ihnen der Sieg bei weitem nicht sicher. Zum einen ist die Zugehörigkeit zur herrschenden Coloradopartei über mehrere Generationen insbesondere in den ländlichen Gegenden tief verwurzelt, und zum anderen hat sich das Erscheinungsbild von General Oviedo in der Öffentlichkeit gewandelt. Er wird zunehmend als Opfer der juristischen Willkür und standhafter Kämpfer betrachtet, der von der eigenen Parteiführung verraten wurde. Das schafft ihm Sympathien. Nach verschiedenen Meinungsumfragen lag Oviedo lange Zeit mit rund 45 Prozent der Stimmen deutlich vor Laino und Filizzola mit 37 Prozent. Erst eine Umfrage vom 21. März zeigte einen hauchdünnen Vorsprung von Laino. Anders sieht es bei dem Zwei-Kammern-Parlament aus. Hier ist der Vorsprung der Opposition recht deutlich. Allerdings sind alle Umfragen aufgrund der geringen Anzahl der Befragten und auch der hohen Quote an unentschiedenen Wählern mit Vorsicht zu betrachten. Sollte General Oviedo seinen Anspruch auf die Präsidentschaftskandidatur doch noch verlieren, würde das Oppositionsbündnis Alianza Democrática, bestehend aus dem Partido Liberal Radical Auténtico (PLRA) und dem Partido Encuentro Nacional (PEN), klarer Nutznießer sein. Denn weder der Vizepräsident der Colorados, Raúl Cubas Grau, noch Luis María Argaña verfügen über Oviedos Beliebtheitsgrad, wie die gleichen Umfragen bewiesen.
Auf jeden Fall ist bereits für den ordnungsgemäßen Wahlablauf und die nötige Transparenz gesorgt. Die OAS kündigte an, 40 Wahlbeobachter nach Paraguay zu entsenden. Auch die Organisation SAKA wurde wieder ins Leben gerufen. Dieser Dachverband besteht aus verschiedenen in- und ausländischen Nichtregierungsorganisationen, die Wahlbeobachter in alle Wahlbüros entsenden will und – wie schon in den vergangenen Wahlen – eine Parallelauszählung vornimmt. Wahlbetrug im großen Stil wird damit kaum möglich sein – unter der Voraussetzung, daß die Wahlen wie vorgesehen stattfinden.

Ein General will an die Macht

Seit seiner aktiven Beteiligung am Militärputsch gegen den Diktator Stroessner im Februar 1989 ist Lino Oviedo eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Landes. Mit einer scharfen Handgranate in der Hand, zwang der damalige Oberst den letzten bewaffneten Widerstand von Stroessner-Anhängern nieder. Dieser Mut machte ihn populär. Auf dem Weg nach oben brachte er es schließlich bis zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Diesen Posten erlangte er nicht zuletzt auch, weil er dem heutigen Präsidenten Wasmosy zum Wahlsieg verhalf, als dieser sich in einem sehr umstrittenen Wahlverfahren gegen den Mitkonkurrenten Luis María Argaña innerhalb der Coloradopartei durchsetzen mußte.
Aber das Verhältnis Präsident und General blieb nicht lange ungetrübt. Der ambitionierte General Oviedo nutzte alle Gelegenheiten, sich politisch zu profilieren, obwohl laut Verfassung von 1992 allen Militärs politische Äußerungen, Aktivitäten oder Parteimitgliedschaften verboten sind. Bei Oviedo gelten solche Verbote jedoch nur für andere. Als dem Präsidenten die Einmischungen zu viel wurden und er den Rücktritt des Generals verlangte, lehnte dieser schlicht ab und mobilisierte seine Streitkräfte. Erfahrungen in der Durchführung eines Staatsstreiches besaß er schließlich. Daß der Präsident klein beigeben wollte und dem potentiellen Putschistenführer den Posten des Verteidigungsministers anbot, blieb eine Politposse am Rande.
Die Nachricht vom angeblichen oder tatsächlichen Putschversuch Oviedos mobilisierte die besorgten Nachbarländer und sorgte für massive Proteste der Öffentlichkeit. Mit diesem Rückhalt entließ Präsident Wasmosy den General aus dem aktiven Militärdienst. Nach mehreren Monaten Gefängnishaft wurde Oviedo vom Gericht von jeglicher Schuld eines Staatsstreiches freigesprochen, ein Indiz dafür, daß auch die Justiz in Paraguay noch immer politisch orientiert ist und weniger auf einer soliden Gesetzgebung beruht. So kommen die unglaublichsten Urteile zustande.
Als frischgebackener ‘Zivilist’ gründete Oviedo sofort seine Parteifraktion UNACE und arbeitete weiter an seinem Ziel der nächste Präsident Paraguays zu werden. Als ausgesprochener Populist und Nationalist verspricht er in markigen Tönen alles mögliche oder bedroht auch schon mal massiv die Presse oder politische Opponenten. Neben militärischen Kreisen findet er seine Anhänger vor allem in der ländlichen Bevölkerung. Mit großem finanziellem Aufwand, Propagandatouren und Geschenkaktionen gewann er schließlich die parteiinterne Nominierungswahl zum Präsidentschaftskandidaten knapp mit 36,7 Prozent, gefolgt von Luis María Argaña mit 34,9 Prozent. Carlos Facetti, der Favorit des derzeitigen Präsidenten, erzielte ganze 22,4 Prozent, und Vizepräsident Angel Seifart erreichte nur 1,1 Prozent. Oviedo ließ sich feiern, als hätte er bereits das Präsidentenamt gewonnen. Da die Colorados nach wie vor die stärkste Partei des Landes sind, liegt ein möglicher Wahlsieg auch in greifbarer Nähe.
Oviedo besuchte sofort die Präsidenten der Nachbarstaaten, um sich den Rücken zu stärken. Die reagierten genauso verschnupft auf den Ex-General ob seines versuchten Staatsstreiches wie der US-Botschafter, der ihm öffentlich jegliche demokratische Glaubwürdigkeit absprach.
Am Rande sei erwähnt, daß Oviedo ganz auf die deutsche Verbindung setzt, schließlich erhielt er einen Teil seiner militärischen Ausbildung in Deutschland. So bezeichnet er sich gern als ‘Demokrat der Schule Adenauer, Schmidt und Kohl’ und möchte aus Paraguay ‘das Deutschland Südamerikas’ machen. Andererseits scheut sich Oviedo auch nicht, sich selbst mit Perón zu vergleichen. An mangelndem Selbstbewußtsein leidet er offensichtlich nicht.

Sinkt der Stern Oviedos?

Oviedos Erfolg wird in den eigenen Reihen nicht kampflos hingenommen. Das zeigte sich schon an dem Zeitraum von zwei Wochen, den das parteiinterne ‘Tribunal Electoral’ benötigte, um das offizielle Wahlergebnis bekannt zu geben. Argaña warf der Oviedofraktion sofort Wahlbetrug vor, den es zweifelsfrei gegeben hat, jedoch von allen Seiten.
Auch Wasmosy macht es seinem Intimfeind so schwer wie nur möglich. Nachdem ihn Oviedo im In- und Ausland als unfähig und korrupt beschimpft hat, hat der Präsident als Oberkommandierender der Streitkräfte kurzerhand eine 30tägige Arreststrafe gegen den General im Ruhestand verfügt. Eine Kinder- und Familienrichterin (!) setzte die Strafe jedoch kurzerhand aus, so daß ein langwieriges Tauziehen der Anwälte begann. Als Wasmosy schließlich Recht bekam und seine Präsidentengarde losschickte, um Oviedo in dessen Anwesen festzunehmen, war dieser bereits bestens über alles informiert und hatte sich ins Ausland abgesetzt. Dort gab er fleißig Interviews an Fernsehen, Rundfunk und Presse. Ein klarer Sieg nach Punkten für Oviedo, der den Präsidenten in jeder seiner Aktionen als unfähig dastehen ließ.
Noch größere Gefahr droht Oviedo jedoch von der Coloradopartei selbst. Breit wird diskutiert, ob die Vorwahlen annuliert werden sollen oder Argaña nachrückt. Auf alle Fälle weigert sich die Parteiführung, die Präsidentschaftskandidatur von Oviedo im Namen der Partei offiziell bei den Wahlbehörden anzumelden. Ein Versuch Oviedos, sich selbst als Kandidat registrieren zu lassen, wurde bisher abgelehnt. Nun liegt ein Antrag vor, der Oviedo gar aus der Coloradopartei ausschließen soll. Dann wäre nur noch eine Nominierung als unabhängiger Kandidat möglich. Bis Anfang März muß die Anmeldung erfolgen, es sei denn, die für den 10. Mai 1998 vorgesehenen Wahlen werden generell verschoben. Erste Stimmen gibt es bereits dafür.
Noch ist Oviedo nicht am Ende, denn er besitzt Rückhalt in der Armee und Bauern halten in seinem Namen die Parteizentrale aus Protest besetzt.

Opposition mit Erfolgschancen

Erstmals haben sich die beiden größten Oppositionsparteien des Landes, die Authentische Liberal-Radikale Partei (PLRA) und die Partei der Nationalen Zusammenkunft (PEN) auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Die Liberalen stellen mit Domingo Laíno den Präsidentschaftskandidaten. Laíno bewirbt sich damit bereits das dritte Mal um das Präsidentenamt seit dem Sturz Stroessners. Das Amt des Vizepräsidenten wird von der PEN gestellt. Für Carlos Filizzola gab es keine Mitbewerber in den eigenen Reihen.
Der noch sehr junge Filizzola hatte 1991 sensationell mit seiner neu gegründeten Bürgerbewegung das Bürgermeisteramt in der Hauptstadt Asunción gewonnen. Er und seine Partei gelten vielen als Hoffnungsträger und unverbrauchte Kraft im korrupten und verfilzten Politdickicht Paraguays. Für den angesehenen paraguayischen Schriftsteller Augusto Roa Bastos, der vor kurzem in diese Partei eintrat, ist sie die ‘junge Partei für das junge Land’. Beide Parteien wollen in der Erstellung eines Regierungsprogramms zusammenarbeiten. Damit sind die Chancen für die Opposition so gut wie noch nie, das Präsidentenamt zu erringen. Leicht wird es trotzdem nicht werden, auch wenn die herrschende Coloradopartei in sich zerstritten ist und insbesondere Filizzola Stimmen von Coloradoanhängern gewinnen dürfte, denn nicht alle sehen in der politischen Opposition eine wirkliche Alternative.
Der Dachverband der Bauernorganisationen MCNOC hat die Unterstützung sowohl der möglichen Kandidatur Oviedos wie auch der Laínos zurückgewiesen, da sie beiden nicht zutrauen, die Interessen der paraguayischen Bauern zu vertreten.
Auch die katholische Kirche hat bisher noch kein Votum abgegeben. Allerdings hat sie jeden Christen des Landes zum Kampf gegen die allgegenwärtige Korruption aufgerufen und damit indirekt dem alten System das Vertrauen entzogen. Auf jeden Fall werden die Monate bis zur Wahl sowie die Wahlen selbst noch mit einigen Überraschungen in der politischen Landschaft Paraguays aufwarten.

Den arbeitenden Kindern nützt nur, was sie selbst wollen

In Lateinamerika, Westafrika und Südostasien sind seit einigen Jahren Organisationen arbeitender Kinder im Entstehen. Ihre Vorstellungen und Forderungen zur Kinderarbeit decken sich oft nicht mit dem, was Regierungen und internationale Organisationen wie ILO und UNICEF verkünden. Vor allem wenden sie sich dagegen, jede Arbeit von Kindern in Bausch und Bogen zu verdammen und abschaffen zu wollen. Statt dessen verlangen sie, Armut und Ausbeutungsverhältnisse ins Visier zu nehmen und die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen und in Würde und freier Entscheidung arbeiten zu können. Die Kinder wollen weiter ihre Familien unterstützen und eine aktive anerkannte Rolle in ihren Gesellschaften spielen.
Die Osloer Konferenz näherte sich ein Stück weit den Vorstellungen der Kinderorganisationen, indem sie sich auf die besonders ausbeuterischen und riskanten Formen der Kinderarbeit konzentrierte. Sie blieb aber meilenweit von den Erwartungen der Kinder entfernt, indem sie die internationalen und strukturellen Ursachen der Ausbeutung von Kindern ignorierte und sich wie eh und je auf gesetzliche Verbote und Boykottappelle kaprizierte. Eine neue Strategie, die wirklich den arbeitenden Kindern zugute käme und ihre Situation verbesserte, kam auf der Osloer ILO-Konferenz nicht in Sicht.
Die 300 MinisterInnen und ExpertInnen von ILO, UNICEF, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Kinderhilfsorganisationen, die sich auf der Konferenz die Köpfe heiß redeten, duldeten sage und schreibe drei (3) handverlesene Kinder unter sich und störten sich auch noch daran, daß die anderen ihr Forum verließen und vor der Tür ihrer luxuriösen Konferenzstätte demonstrierten. In Oslo waren es vor allem einige Gewerkschaften und Regierungen, die sich die Mitwirkung und Kritik der Kinder verbaten.
Ihre Sturheit und Arroganz wurde selbst innerhalb der UNICEF, die die Konferenz mitveranstaltete, mit Empörung quittiert. Immerhin: In einem Brief an die norwegische Regierung erklärte Bill Myers, einer der profiliertesten UNICEF-Experten zur Kinderarbeit:
„Allein pragmatische Erwägungen erfordern, die arbeitenden Kinder gerade in dem Moment, in dem wir Maßnahmen zu ihrem Schutz beschließen, mitwirken zu lassen und uns ihnen zu stellen. Jedes Mal mehr erkennen die Experten, daß ein wirksamer Schutz der Kinder gegen den Mißbrauch am Arbeitsplatz nicht von oben gegen den Willen der Bevölkerung dekretiert werden kann, vor allem in Ländern mit einem hohen Anteil armer Familien, deren Kinder mehrheitlich in der Landwirtschaft, im Haushalt und im informellen Sektor arbeiten.“
In Oslo wurde die Chance verpaßt, neue Wege im Kampf gegen die wirtschaftliche Ausbeutung und den sozialen Ausschluß zusammen mit den direkt betroffenen Kindern zu suchen. Um so wichtiger ist es, die Kritik, Vorschläge und Forderungen der sich organisierenden Kinder selbst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

KASTEN

Erklärung des V. lateinamerikanischen und karibischen Treffens
arbeitender Kinder an die internationale Gemeinschaft

Für Arbeit in Würde und eine Gesetzgebung, die uns schützt und anerkennt

Die VertreterInnen der Bewegungen und Organisationen arbeitender Kinder Lateinamerikas und der Karibik (NATs) sowie anwesende VertreterInnen der arbeitenden Kinder Afrikas und Asiens, die sich auf dem V. lateinamerikanischen und karibischen Treffen aller organisierten arbeitenden Kinder versammelt haben, geben hiermit im Namen von weiteren Millionen von arbeitenden Kindern dieser Regionen folgende Erklärung an die internationale Öffentlichkeit ab:
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat für uns Kinder die Rechte, angehört zu werden (Art. 12), uns zu organisieren (Art. 15) und beschützt zu werden (Art. 32) festgelegt. In unserem tagtäglichen Leben, in unserer Arbeit, in unseren Organisationen und auf diesem lateinamerikanischen Treffen haben wir NATs jedoch feststellen müssen, daß diese Rechte nicht ausreichend sind, denn sie werden in der Praxis nicht respektiert.
Man hört uns an, aber man berücksichtigt unsere Ansichten nicht. Man gibt uns das Recht, uns zu organisieren, aber unsere Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher werden nicht anerkannt. Man „beschützt“ uns, aber man läßt uns nicht an der Ausarbeitung solcher „Schutz“programme mitwirken. Unsere Organisationen kämpfen Tag für Tag für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, für unsere Rechte auf angemessene und qualitativ gute Ausbildung, für bessere Gesundheitsbedingungen, für Möglichkeiten, uns versammeln zu können, um gemeinsam Aktionen durchzuführen, das heißt dafür, in unserem Leben selbst die Protagonisten zu sein und in unseren Gesellschaften als soziale Subjekte anerkannt zu werden. Unsere Organisationen haben sich als die beste Art erwiesen, uns vor Ausbeutung, schlechter Behandlung und der Geringschätzung durch die Gesellschaft zu schützen. Innerhalb unserer Organisationen fühlen wir uns als würdige, fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für unsere Arbeit. Hier bilden wir uns und finden Raum für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen für Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt, das für uns unzumutbar ist.
Damit unsere Meinungen ernstgenommen werden, müssen unsere Organisationen auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene rechtlich voll anerkannt werden. Unsere demokratisch gewählten VertreterInnen müssen in allen lokalen, nationalen und internationalen Gremien mitreden und mitwählen können, in denen über Politik, die die Kinder und die Arbeit betrifft, entschieden wird, wie in der Bildungspolitik, der Arbeitspolitik sowie bei Plänen zur sozialen Absicherung und Gemeindeentwicklung. Die Präsenz der NATs innerhalb dieser Gremien gemeinsam mit Delegierten anderer sozialer Organisationen ist die beste Garantie im Kampf gegen Ausbeutung, Armut und Ausgrenzung und ein großer Schritt zur Durchsetzung der Menschenrechte. Wir NATs aus Lateinamerika und der Karibik wie auch unsere Freunde aus Afrika und Asien verstehen uns als ProduzentInnen DES LEBENS, angesichts der Kultur des Todes, die uns jegliche Rechte und unsere volle Eingliederung in die Gesellschaft verwehrt. Dies nicht anzuerkennen bedeutet, uns noch weiter als jetzt schon auszugrenzen. Gleichzeitig von Bürgerrechten zu uns zu sprechen, ist ein Hohn.
JA zur Arbeit in WÜRDE, NEIN zur Ausbeutung!
JA zur Arbeit unter SCHUTZ, NEIN zu schlechter Behandlung und Mißbrauch!
JA zu ANERKANNTER Arbeit, NEIN zu Ausschluß und Ausgrenzung!
JA zu Arbeit unter MENSCHLICHEN BEDINGUNGEN, NEIN zu unwürdigen Bedingungen!
JA zum RECHT, IN FREIHEIT ZU ARBEITEN, NEIN zur Zwangsarbeit!
Huampaní, Lima (Peru), 6.–9. August 1997
VertreterInnen der Bewegungen arbeitender Kinder: aus der Region Südamerika: Argentinien, Paraguay, Uruguay; aus der Andenregion: Kolumbien, Chile, Ecuador, Peru, Venezuela; aus Mittelamerika und der Karibik: Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik.
Übersetzung: Jutta Pfannenschmidt und Manfred Liebel

Vom Recht, sich “das Kleid schmutzig zu machen”

Costa Rica war eines der ersten lateinamerikanischen Länder, das die politische Gleichstellung von Frauen mittels Quotenregelung gesetzlich verankerte. 1990 schon wurde ein Gesetz erlassen, das vorschreibt, die Positionen der Vizeminister, hohe politische Ämter und der Vorsitz staatlicher Institutionen in den ersten fünf Jahren zu mindestens 30 Prozent, in zehn Jahren zu 50 Prozent von Frauen eingenommen werden müssen. Es regelt außerdem, daß weder Männer noch Frauen mehr als 60 Prozent der Kandidatinnen stellen dürfen. Außerdem werden die einzelnen Parteien aufgefordert in ihren Parteistatuen “effektive Mechanismen” festzulegen, die eine Beteiligung von Frauen in der Parteiarbeit und bei der KanditatInnenwahl erleichtert.

Quotierung von KandidatInnen

Die in Lateinamerika am häufigsten praktizierte Form der Ouotierung beruht darauf, daß die Aufstellung der KandidatInnen politischer Parteien beeinflußt wird, eine Einflußnahme, die nur aufgrund der schon praktizierten Kontrolle der Parteien durch staatliche Organe stattfinden kann. Das bedeutet, daß die nationalen Wahlkommissionen die KandidatInnenlisten vor dem Beginn des Wahlkampfs anerkennen müssen, die Anerkennung verweigern, wenn nicht der im Quotengesetz vorgeschriebene Mindestanteil durch Frauen besetzt ist. Deshalb sind Quotenregelungen in Lateinamerika fast ausschließlich als Veränderungen der Wahlgesetze verabschiedet worden, nicht als Anti-Diskriminierungsgesetze per se.
Die weitreichendsten dieser Quotenregelungen sehen 30 Prozent der Kandidatinnenplätze auf den Listen der politischen Parteien für Frauen vor. Eine solche Regelung findet sich beispielsweise in Argentinien. Im November 1991 wurde hier das Gesetz Nr. 24.012 verabschiedet, welches vorschreibt, daß “die Liste der Kandidaten für ein öffentliches Amt mindestens 30 Prozent Frauen enthalten muß. Listen, die dieses Kriterium nicht erfüllen, dürfen nicht veröffentlicht werden.”
Auch in der Dominikanischen Republik gibt es seit diesem Jahr ein vergleichbares Gesetz, welches fordert, daß ein Minimum von 30 Prozent der KandidatInnen aller politischen Parteien und Gruppierungen für das Nationalparlament und die Provinzparlamente Frauen sein müssen. In Brasilien gibt es seit 1996 eine 20 Prozent Quote bei der KandidatInnenaufstellung, die von einem Zusammenschluß aller Parlamentarierinnen durchgesetzt wurde.
In Chile wurde dieses Jahr dem Parlament ein Gesetzesvorschlag über eine Frauenquote von 20 Prozent vorgestellt. Er wurde allerdings bisher noch nicht verabschiedet. In Mexiko dagegen ist schon im letzten Jahr ein Gesetzesvorschlag, der eine 30 Prozent Quote vorsah, an den Stimmen der Abgeordneten der Partido Revolucionario Institutional (PRI) gescheitert.

Freiwillige Quoten

Zusätzlich finden sich in anderen Ländern Frauenquoten als freiwillige Verpflichtungen einzelner Parteien. So garantieren zum Beispiel die Sozialistische Partei in Uruguay, die Partido Colorado in Paraguay und die Partido de la Revolución Democrática (PRD) in Mexiko eine Quote von 30 Prozent für Frauen. Die Partido por la Democracia (PPD) in Chile hat eine 20 Prozent Quote eingeführt. Auch die PT in Brasilien hat nach langen Auseinandersetzungen eine Quote von 30 Prozent für alle Parteiämter eingeführt. “Es war ziemlich schwer, diese Quote in der Partei einzuführen”, so Benedita da Silva, Gründungsmitglied der PT und seit 1994 im Brasilianischen Senat. “Einige Männer meinten, es gäbe gar keine Diskriminierung in der Partei und alle Frauen könnten hohe Parteiämter erlangen, wenn sie nur kompetent seien. Wir Frauen haben dagegengehalten: ‘Was denkt ihr eigentlich? Wir haben schon lange genug gezeigt, daß wir kompetent sind, erhalten aber nicht die entsprechende Anerkennung dafür’. Wir mußten sie also erst überzeugen, daß eine Quote notwendig ist, weil Diskriminierung der Grund ist, daß keine Frauen in hohen Positionen waren.”

Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg

Die Diskussionen um Quoten haben in allen Ländern dazu geführt, daß sich Frauen – teilweise auch Männer – aus verschiedenen politischen Gruppen oder unterschiedlichen Richtungen, aus Parteien und sozialen Bewegungen, in mehr oder weniger losen Koalitionen zugunsten der Quotenforderung zusammengeschlossen haben. Nur dort wo Zusammenschlüsse von Frauen mit massiver Unterstützung in der Öffentlichkeit eine Quotenforderung gestellt haben, waren diese auch erfolgreich, wie das argentinische Beispiel verdeutlicht.
Obwohl dort zwei unterschiedliche Versionen des Quotengesetzes zuerst von Abgeordneten der Unión Civica Radical, Senator Margarita Malharro, Norma Allegrone und Florentina Gomez Miranda im Senat und im Repräsentantenhaus vorgestellt wurden, erhielt es sofort Unterstützung von Vertreterinnen der anderen Parteien. Und obwohl die Stimmung vorher gegen das Quotengesetz gewesen war, wurde es überraschenderweise schon im September 1990 vom Senat verabschiedet. “An jenem Tag haben wir alle unsere Kollegen mobilisiert und um ihre Unterstützung gebeten”, so die Senatorin Malharro, “trotzdem hatten wir nicht viel Hoffnung und waren sehr überrascht, als die Abstimmung positiv verlief. Das war eher eine Frage des Glücks für uns.”
Ganz anders der Entscheidungsprozeß im Repräsentantenhaus: Als das Gesetz am 6. November 1991 debattiert werden sollte, war eine große Gruppe von Frauen als Beobachterinnen auf der Galerie, in den Fluren und auf den Straßen und Plätzen in der Nähe des Kongresses. Sie verliehen ihren Forderungen durch Rufe, Gesang und teilweise durch direkte verbale Angriffe auf die männlichen Abgeordneten während der Debatte Ausdruck. Frauen aus unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppen und Vertreterinnen unterschiedlicher Ideologien waren sich einig in der Unterstützung des Gesetzes. Es war ihnen außerdem gelungen, die weiblichen Abgeordneten, die das Gesetz nicht unterstützten wenigstens dazu zu bringen, es nicht öffentlich zu kritisieren.

Nicht einmal Frauentoiletten im Parlament

Die Brasilianerin Benedita da Silva erzählt ähnliches über ihre Zeit als Abgeordnete: “Als ich zuerst gewählt wurde, waren nur 26 von 599 Abgeordneten Frauen. Das war so eine Männerwelt, daß es nicht einmal Frauentoiletten gab. Und die Männer behandelten uns mit einem unglaublichen Paternalismus! Sie wollten auch, daß Frauen nur über Frauenangelegenheiten sprechen und versuchten, uns aus allen anderen Diskussionen rauszuhalten. Ich als Vertreterin der PT interessierte mich aber für die Agrarreform und die Rechte der ArbeiterInnen. Um gegen ihre Vorurteile anzugehen, fing ich also an, über “Frauen und die Agrarreform” zu reden, oder über “Frauen und Rechte am Arbeitsplatz”, Frauen und alles mögliche, bis sie mich endlich in allen diesen Bereichen ernst genommen haben.”
Gegen diese männliche Übermacht sind die Frauen aller Parteien in Brasilien dann zusammengekommen und haben eine nationale Kampagne gestartet, um eine Frauenquote von 20 Prozent bei allen KandidatInnen zu verlangen. “Das war ein tolles Beispiel dafür, wie Frauen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen, gemeinsam mit der Frauenbewegung aus allen Teilen des Landes, zusammenkommen können. Wir haben gemeinsam alle Parteien zwingen können, den Frauenanteil in ihren Reihen zu erhöhen.”

Allheilmittel gegen Machismo…

Dabei ist allen Beteiligten vollkommen klar, daß es sich bei der Quotenregelung keinesfalls um ein Allheilmittel gegen Machismo oder jede Art von Benachteiligung handelt. Eine Quote von 30 Prozent bei der Aufstellung der KandidatInnen erhöht ja nur in den seltensten Fällen den Frauenanteil wirklich auf 30 Prozent. Sie sagt an sich ja noch nichts darüber aus, ob Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen landen. Selbst wenn Frauen auf jedem dritten Listenplatz stehen, führt das vor allem bei kleineren Parteien, die nicht viele Sitze gewinnen, am Ende auch wieder zu einer weitaus geringeren Repräsentation von Frauen.
Letztlich haben Quoten bei der KandidatInnenaufstellung aber doch in allen Ländern dazu geführt, daß mehr Frauen in die Parlamente gelangen. In Argentinien beispielsweise halten Frauen seit den Wahlen 1994 ein Viertel der Sitze im Parlament, der höchste Frauenanteil in der Geschichte Argentiniens.
Schlechter sieht es dann allerdings bei der Verteilung von Plätzen im Kabinett aus, wo in keinem lateinamerikanischen Land eine Quotenregelung praktiziert wird. In Argentinien hat die erhöhte Anzahl von Parlamentarierinnen nicht dazu geführt, daß nun Frauen auch tatsächlich mehr Regierungsämter bekleiden und sich in den Rängen mit hoher politischer Verantwortung wiederfinden. Im Vergleich dazu finden sich mehr Frauen auf ministerieller Ebene in Ländern, die keine gesetzlich geregelte Quote bei der KandidatInnenaufstellung, haben so zum Beispiel in Chile und Venezuela. Und in den karibischen Staaten bekleiden Frauen bis zu 20 Prozent der Ämter auf Ministerialebene. Auch ohne daß die Listen der KandidatInnen quotiert sind, halten Frauen in der Karibik im Durchschnitt 18 – 20 Prozent der Sitze im Parlament.

… oder Gnade der Mächtigen?

Was eine Quote real für Frauen bringt, ist umstritten. Selbst in den Ländern, in denen Quotenregelungen bestehen, sind sich die KommentatorInnen uneins, ob die Quoten den Frauen denn nun auch tatsächliche politische Handlungsmöglichkeiten verschaffen oder ob Frauen – mit oder ohne Quote – nur nach oben gelangen, weil sie durch Partei-Patriarchen unterstützt werden oder anders von Männern abhängig sind. Diese “Quotenfrauen”, so wird erwartet, machen sowieso keine progressive Politik.
Die Bolivianerin Sonia Montaño beobachtet zum Beispiel, daß “die wenigen Frauen, die nach oben kommen, eine solch große Bringeschuld gegenüber den parteipolitisch Mächtigen haben, daß sie fast immer nur zustimmend die Hand heben, mit der Mehrheit der Partei stimmen, um Konflikte zu vermeiden oder plötzlich blind werden für Menschenrechtsverletzungen.” Sie fügt deshalb unmißverständlich hinzu: “Von solchen Frauen wollen wir nicht mal 15 Prozent.”

Verändern Quoten Politik?

Forderungen nach Quoten wurden in der Öffentlichkeit manchmal so wahrgenommen, als ob sie nur den Partikularinteressen der parteipolitisch aktiven Frauen entgegenkommen, aber keine Relevanz für Normalbürgerinnen haben. Das hat einerseits die Vehemenz von Quotenforderungen geschwächt. Andererseits aber hat es dazu geführt, daß die Politikerinnen nur in intensiven Diskussionen über Politikstile und -inhalte die Unterstützung für Quoten durch Frauen der sozialen Bewegungen gewinnen konnten und ihr Verhalten im Parlament stärker beobachtet wurde. “Es war schwierig, dieses neue Konzept von Gleichheit durchzusetzen”, so die argentinische Abgeordnete der Frente Grande, Cecilia Lipczik, “nicht nur gegenüber der männlichen Welt, sondern auch der weiblichen Welt gegenüber.”
Die Diskussionen um Quoten spiegelten so die Debatte der Frauenbewegungen weltweit wider: Gibt es allen Frauen gemeinsame Interessen, die nur von Frauen vertreten werden können, und praktizieren Frauen als solche einen anderen Politikstil?
Insgesamt blieb es jedenfalls bisher eine Wunschvorstellung, daß sich feministische Überzeugungen, soziales Engagement und progressive politische Inhalte und Stile in einer Machtposition vereinigen. “Wenn auch Frauen anders als Männer sein mögen, so muß doch auch klar sein, daß nicht alle Frauen automatisch auf die Bedürfnisse anderer Frauen achten oder auf Gender-Fragen im allgemeinen. Mehr Frauen in wichtigen Positionen bedeuten deshalb noch lange nicht, daß auch mehr Aufmerksamkeit auf die Diskriminierung von Frauen gelegt wird”, so die Journalistin Anna Fernandez Poncela. Deshalb wäre es trügerisch, es als Erfolg zu werten, daß in Ecuador die Vizepräsidentin inzwischen eine Frau ist. Alexandra Vela bezeichnet sich selbst weder als Feministin noch hat sie besonderes Interesse an der Verbesserung der Situation von Frauen geäußert, auch wenn sich das mittlerweile ein wenig zu ändern scheint.
Auch das Beispiel Violettá Chamorros, der ehemaligen Präsidentin Nicaraguas, zeigt, wie wenig sich positive Veränderungen des Geschlechterverhältnisses einstellen müssen, nur weil eine Frau politische Entscheidungsträgerin ist.
Insgesamt scheint sich aber die Meinung durchzusetzen, daß sich die “Qualität der Debatte” durch die Anwesenheit von Frauen verbessert habe und daß eine “Erweiterung des demokratischen Raums offensichtlich geworden sei, weil “das Thema Frauendiskriminierung” notwendigerweise behandelt werden mußte, auch von Politikern und Parteien, die sich sonst nicht damit beschäftigt hätten”, betont die brasilianische Feministin Graciela Rodriguez.
Quotenregelungen können also reale Möglichkeiten schaffen für mehr Pluralismus und für die Ausübung von Kritik und Kontrolle durch Frauen – im Parlament und von außen. Formal müssen Frauen dann jedoch überhaupt erst das Recht erhalten, genauso schlechte Politiker zu sein wie die Männer. Unter den “Quotenfrauen” werden dann hoffentlich auch so manche dabei sein, die andere politische Inhalte vielleicht sogar mit anderen Politikstilen verbinden und streitbare Alternativen innerhalb des politischen Systems formulieren.
Die nicaraguanische Feministin Sofía Montenegro drückt das so aus: “Der Kampf um die Rechte von Frauen muß aus dem Inneren des Systems heraus stattfinden. Sonst werden weiterhin andere Entscheidungen treffen ohne uns zu fragen. Irgendeine von uns muß jetzt hier ihr Kleid schmutzig machen, um für uns alle neue Wege zu eröffnen.” Die Erfahrung mit Frauenquoten und institutionalisierter Gleichstellungspolitik in anderen Ländern wie zum Beispiel hier in der Bundesrepublik hat allerdings gezeigt, daß Quotendiskussionen die Energien der Frauenbewegungen eher aufsaugen und zum Verlust feministischer politischer Kreativität zu führen scheinen. Die Frage ist also noch offen, ob die Machtumverteilung und Politikveränderung durch Quoten, in Lateinamerika wie anderswo, die Frauenbewegung zum zahnlosen Tiger macht.

“Herkules-Quasimodo” im Hinterland Bahias

Die Broschüre erschien 1993. Hundert Jahre zuvor kam die Pilgerschaft des Antonio Vicente Mendes Maciel im Sertâo von Bahia zum Stehen. Der frühere Kaufmannsgehilfe aus Quixeramobim in der Provinz Ceará war seit etwa 20 Jahren in den trockenen Inlandsgebieten des brasilianischen Nordostens bekannt als ein wandernder Eremit und Prediger. Durch seine Taten wie sein Auftreten – er baute verfallene Friedhöfe und Kirchlein wieder auf und predigte von Sünde und Erlösung – erwarb er sich den Respekt vieler der bäuerlichen sertanejos und den Ehrentitel Conselheiro – der Ratgeber. Ebenso erwarb er sich den Zorn der Amtskirche und das Mißtrauen der Behörden. 1893 zog sich Antonio mit einer noch kleinen Schar von Anhängern in einen Winkel des Sertâo Bahias zurück. Seine Wahl fiel auf den Weiler Canudos, etwa 400 km nordöstlich der Hauptstadt des Bundesstaates Bahia, Salvador gelegen, zwar im Fadenkreuz einiger regionaler Straßen, doch in unwegsamem, bergigem Gelände und abseits der einzigen Eisenbahn- und Telegraphenlinie im Nordwesten des Bundesstaates. Daß in Rio vier Jahre zuvor eine Koalition von Politikern und Militärs die Monarchie zu Fall gebracht und die Republik auf den Thron gesetzt hatte, hatten im Sertâo wahrscheinlich noch nicht einmal alle mitbekommen. Gesellschaftliche Veränderungen dort brachte der staatspolitische Umsturz nicht mit sich.
Die Bewegung von Canudos wurde bald zur regionalen und überregionalen Attraktion. Ein steter Strom armen Landvolks bewegte sich durch die Caatinga, die dornig-struppige Vegetation des Sertâo, auf den Ort zu. Innerhalb von drei Jahren schwoll Canudos auf viele tausend Bewohner an, eine Großstadt inmitten des von extensiver Viehwirtschaft und spärlicher Besiedelung gekennzeichneten Sertâo. So abgelegen und uninteressant die Gegend auch immer für die Eliten gewesen sein mochte, dieses Phänomen konnten sie nicht länger ignorieren. Nicht nur, weil der Conselheiro und sein Gefolge längst als kriminelle Vereinigung stigmatisiert waren, in die sich viele der gefürchtetsten Banditen der Region geflüchtet hätten (und sich, Zeitzeugen zufolge, alsbald vom Conselheiro bekehren ließen, ihre Sünden bereuten und hinfort dem Rauben und Morden abschwörten).

Canudos gegen die Großgrundbesitzer

Nicht nur, weil Canudos als “Unruhestifter” zur strategischen Masse eines inneroligarchischen Konflikts um die Macht im Bundesstaat Bahia geworden war. Sondern vor allem, weil Canudos in der Tat den regionalen Eliten ein echtes Problem bereitete: Den Fazendeiros, den Großgrundbesitzern, liefen in Scharen die Arbeitskräfte weg, vor allem Menschen, die als Tagelöhner oder als kleine Viehhirten wenig zu verlieren hatten. Es machten sich aber auch solche nach Canudos auf, die über Besitz und Auskommen verfügten, Einzelne und ganze Familien, die Haus und Garten verkauften, um sich der Bewegung anzuschließen. Messianische Strömungen und religiöse Führer, die sie lenken, hat der Sertâo immer wieder gekannt; in dieser Region, die nach ihrer Kolonisierung und der “Pazifierung”, sprich Ausrottung der indianischen Ursprungsbevölkerung über Jahrhunderte kaum sozialen Wandel kannte, hat das “Mittelalter” in der feudalen Besitz- und Machtstruktur ebenso wie in der mentalen Disposition noch lange nachgewirkt. Und manche dieser Bewegungen brachten die politisch-ökonomische Ordnung des Coronelismo durcheinander. Diese basiert darauf, daß die wenigen mit viel Land die vielen ohne Land nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und juristisch kontrollieren, d.h. sie durch feudale Arbeitsverhältnisse und klientelistische Beziehungen an sich binden, die Gerichtsbarkeit über sie ausüben und sie als “Stimmvieh” auf sich verpflichteten – sofern sie wählen durften, was in der Ersten Republik in Brasilien Analphabeten und damit 90 Prozent der Bevölkerung verwehrt war.
Die Repression konnte nicht ausbleiben. Auf “ordnungswidrige” Massenbewegungen der einfachen Bevölkerung hatte der Sklavenhalterstaat Brasilien nie anders als repressive Antworten gegeben; “das Volk” war formal-rhetorische Referenz, aber kein Gegenüber, mit dem man etwa verhandelt hätte.
Ein Polizeibataillon wird Ende 1896 ausgesandt, mit Canudos aufzuräumen. Ohne den Ort selbst zu erreichen, muß der Trupp bewaffneten Widerstand vergegenwärtigen, der sie zum Rückzug zwingt. Tote bleiben zurück, die meisten sind Conselheiristas, doch auch zehn Polizisten sind darunter. Einer zweiten, größeren Expedition, widerfährt das gleiche Schicksal. Die Aufregung ist groß, auch in der 2.000 Kilometer entfernten Bundeshauptstadt Rio de Janeiro. Ein Heer wird aufgestellt unter Führung eines berüchtigten Kriegshelden aus dem Krieg gegen Paraguay mit weit über tausend Soldaten und Polizisten, die dieses Mal auch Kanonen aus Kruppschen Schmieden mit sich führten. Canudos verteidigt sich mit Mitteln, die Jahrzehnte später unter dem Namen “Guerilla” auf dem Kontinent berühmt werden. Die Arroganz der Küste gegenüber dem Hinterland mündet in einer erstaunlichen Ignoranz, und die Armee macht ungefähr alles falsch, was man für einen Krieg unter den logistisch-topographischen Gegebenheiten des Sertâo falsch machen konnte. Es gelingt den Soldaten nicht, den Verteidigungsring zu knacken. Als der berühmte Befehlshaber César höchst unnötigerweise ums Leben kommt, ist die Moral der Truppe gebrochen. Zum Schluß fliehen sie in Panik durch die Caatinga, verfolgt von den Conselheiristas. Der Rückzug gelingt nur mit Mühe.
Canudos, mittlerweile ein nationaler “Skandal” erster Ordnung, forderte die Republik als selbsternannte brasilianische Moderne, existentiell heraus. “Canudos” geriet zum diskursiven Ereignis, das die veröffentlichte Meinung vor allem im Jahr 1897 durchgängig beschäftigte. Das Gemeinwesen im Sertâo wurde spätestens nach der Niederlage der dritten Expedition diskursiv zum “von ausländischen Mächten unterstützten monarchistischen Aufstand” aufgeblasen. Die Barbarei habe sich gegen die Zivilisation aufgelehnt, der Atavismus gegen die Moderne. Der Diskurs zu Canudos setzte sich in solchen Fundamentaloppositionen seinen Rahmen.

Vom “Sieg der Republik” am 5. Oktober 1897…

Aus dem ganzen Land wurden Soldaten zusammengekratzt; Über 10.000 von ihnen, weit über die Hälfte der brasilianischen Streitkräfte, wurden zwischen April und Oktober 1897 in Canudos eingesetzt, dazu Unmengen an Waffen und Munition. Die “Niederschlagung des Aufstands” übersetzte sich in einen Vernichtungskrieg, ein wochenlanges Massaker. Als Canudos am 5. Oktober, nach dreimonatiger Belagerung endlich fiel, waren nicht nur in den Ruinen der Stadt keine Überlebenden mehr zu finden. Auch von den männlichen Gefangenen sollte kaum einer überleben. Ihnen wurde, einer im kürzlichen beendeten Bürgerkrieg im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul aufgekommenen Mode folgend, die Kehle durchgeschnitten; passar gravata vermelha, die rote Krawatte anlegen, hieß es im Soldatenjargon.
Der “Sieg der Republik” wurde enthusiastisch gefeiert. Es dauerte Monate, bis kritische Stimmen laut wurden, die die Grausamkeiten des Massakers und die Rolle der Sertanejos für Brasilien anfragten. Doch es dauerte fünf Jahre, bis das Bild von der Armee als heldenhafter Retterin der Nation einen den Diskurs drehenden Schlag erhielt. 1902 erschien “Os Sertôes” des Ingenieurs Euclides da Cunha, der die Schlußphase des Krieges (allerdings nicht die allerletzten Tage) als Kriegsberichterstatter des O Estado de Sâo Paulo miterlebt hatte. Das Werk ging schon kurze Zeit nach seinem Erscheinen in die Liste der brasilianischen Literaturklassiker ein. Berthold Zilly, Dozent am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, hat 1994 seine hervorragende Übersetzung (“Krieg im Sertâo”) fertiggestellt. Os Sertôes beschreibt ausführlich in einer Mischung aus wissenschaftlicher Analyse und fiktionaler Erzählung die Region, ihre Bewohner und den Krieg von Canudos. Stark beeinflußt von positivistischen und darwinistischen Theorien, schildert da Cunha die Sertanejos von Canudos als Produkt ihrer Rassenmischung und ihrer geologischen, klimatischen und sozialen Umwelt. Das Ergebnis sei “Herkules-Quasimodo”, eine eigene Rasse geistig minderbemittelter und der Modernisierung letztlich unfähiger Menschen, rückständiges Volk im rückständigen Hinterland und dennoch stark, weil homogen, und deshalb wertvoll für die Entwicklung der brasilianischen Nation zum Besseren. Die Zukunft der Nation angesichts ihrer “gemischtrassigen” Zusammensetzung war um die Jahrhundertwende eine Hauptsorge vieler brasilianischer Intellektueller, die sich beständig den europäischen Spiegel vorhielten. Das Buch endet mit einer Grossen Anklage an die Armee. Da Cunha bezichtigt sie des Verbrechens an den Sertanejos. Ausführlich schildert er die Degolamentos, die Abkehlungen der Gefangenen. Die Soldaten, resümiert er, hätten eine größere Barbarei begangen als die angeblichen Barbaren.
Canudos gehört zweifelsohne, wie der Präsident des Abgeordnetenhauses in Brasília bei der Eröffnung der Sondersitzung zum Zentenarium von Canudos am 21. Oktober 1993 feststellte, zu den “umstrittensten Episoden der ganzen Geschichte unseres Vaterlandes”.

…zum nationalen Trauma

Os Sertôes hat in Brasilien eine bis auf den heutigen Tag nachhaltige Wirkung verbreitet. Das Militär haßte es über Jahrzehnte, weil es die Kriegsverbrechen (und die Unfähigkeit) des Militärs anprangerte. Dutzende von Schriften aus der Feder von Offizieren sind erschienen, die alle belegen wollen, warum die “Fanatiker” von Canudos damals die Republik bedrohten und deshalb mit Krieg überzogen werden mußten.
Die Historiker und Sozialwissenschafter liebten es, weil es ihnen scheinbar die Arbeit einer eigenen Forschung abnahm und sie über Generationen hinweg ihre Interpretationen zu Canudos immer wieder und immer nur mit Os Sertôes unterfütterten, statt die Quellen zu studieren.
Canudos ist eines der großen Traumata der Geschichte der brasilianischen Republik und einer der großen Mythen vor allem der brasilianischen Linken. In der Auseinandersetzung “Küste versus Hinterland” gleich “Modernität versus Anachronismus” sehen konservative Gruppen bis heute einen Fanatismus am Werk, der die Republik bedroht habe. Von anderer Seite ist Canudos als verwirklichte sozialrevolutionäre Utopie gekennzeichnet worden, die auf die Brechung der Macht des Großgrundbesitzes gezielt und in urkommunistischer Manier in reinem Gemeineigentum gelebt habe. Auch die linken Interpretationen gehen wohl an der Realität vorbei, ohne daß bis heute Klarheit herrschte über den Charakter der Gemeinde von Canudos. Die Quellenlage zum Internen von Canudos ist mehr als dürftig. Viel spricht jedoch dafür, daß das Leben in Canudos sich von dem anderer Orte im Sertâo nicht wesentlich unterschied. Nicht alle nahmen beständig am religiösen Leben teil. Nicht alle blieben bis zum Schluß, viele flohen vor dem Krieg. Ob der Ratgeber tatsächlich unumschränkte Autorität besaß oder nicht zunehmend die militärischen Führer die Zügel in die Hand nahmen, ist ungewiß. Gewißlich war Canudos nicht “demokratisch” verfaßt. Es gab Privateigentum; auch die Häuser durften verkauft werden. Es gab einen regen Handel mit umliegenden Orten und Fazendeiros, deren Eigentum nicht angetastet wurde. Das Acker- und Weideland nutzten die Conselheiristas gemeinsam. Weideland in Gemeineigentum ist eine Tradition des Sertâo, und der Landkonflikt in der Region von Canudos heute besteht weniger darin, daß die einzelnen Familien Parzellen für sich fordern als darin, daß der Fundo de Pasto von Großgrundbesitzern nach und nach als Privateigentum reklamiert, eingezäunt und von Pistoleiros verteidigt wird. Dieses seit Generationen gemeinsam genutzte Weideland ist existentiell wichtig für die Haupteinnahmequelle der Gegend, die Ziegenzucht.
Religiöse Motive und nicht die Landfrage bewegten den Conselheiro und sein Gefolge. Dennoch war Canudos eine auch wirtschaftliche und gesellschaftlich Alternative. Die Bewegung wird heute in der Forschung als “sozio-religiös” gekennzeichnet: Canudos, obwohl vom Conselheiro als religiöse Gemeinschaft gegründet, deren konservative Sündentheologie nichts “Befreiendes” aufwies, prägte Züge eines gesellschaftlichen Gegenmodells aus. In Canudos wohnten viele ehemalige Sklaven; der Conselheiro war immer ein Gegner der Sklaverei gewesen. Es gibt Hinweise darauf, daß Indios in Canudos wohnten und mitkämpften. Es gab in der Tat keinen Großgrundbesitzer, keine Abgaben, keine Unterstellung unter seine Gerichtsbarkeit. Es gab ein System des Ausgleichs bei Gütern des Bedarfs; wer nicht selbst genug Nahrungsmittel produzieren konnte, dem wurde geholfen. Canudos, aus und auf Religion gegründet, verursachte erhebliche sozio-ökonomische Turbulenzen in der Gesellschaftsformation des Sertâo und repräsentierte für die gesamte brasilianische Elite ein Mikromodell einer politisch-ökonomischen Autarkie jenseits des elitär-autoritären Gesellschaft, das nicht hinzunehmen war.
Hinzu kommt: Im Krieg von Canudos kristallieren sich Grundkonflikte der brasilianischen Gesellschaft bis heute: Der zwischen den Großstädten an der Küste und den Dörfern des Hinterlands; die enorme Diskrepanz von Arm und Reich, die sich bis heute ungebrochen an der Frage der Verfügung über Land offenbart und Konflikte entzündet. Brasilien hat – aller Rhetorik zum Hohn – bis heute keine Agrarreform erlebt. Es kann daher nicht verwundern, wenn sich der MST, der Gewerkschaftsverband CUT oder die befreiungstheologisch orientierten Pastoralinstitutionen der katholischen Kirche schon seit vielen Jahren auf das vermeintlich sozialrevolutionäre Erbe des Conselheiro beziehen. Dieser wäre heute vermutlich kein Führungsmitglied, aber ein Sympathisant des MST.

“Canudos” im Aufschwung

In Brasilien erlebt “Canudos”, immer verknüpft mit Euclides da Cunha und seinem Buch, im Zusammenhang des Doppeljubiläums 1893/97-1993/97 (Gründung/Zerstörung von Canudos) einen Aufschwung in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Vor allem in diesem Jahr jagen sich die wissenschaftlichen Symposien, Debatten, Videovorführungen. Ein Kinofilm – die teuerste brasilianische Produktion aller Zeiten – ist gedreht worden. Im Sertâo hat die Landesuniversität von Bahia einen archäologischen Park angelegt, in dem die wichtigsten Kampfstätten in der Caatinga besichtigt werden können. Die Ruinen von Canudos selbst und das in ihnen neuentstandene, zweite Canudos sind hingegen Ende der 1960er Jahre in einem Staudamm versunken, den die Militärregierung anlegen ließ – ob aus rein topographischen Gründen oder um das kollektive Gedächtnis der Region zu ertränken, sei dahingestellt. Das dritte Canudos ist 1985 in den Rang einer Kommune aufgestiegen. Auf deren 3.000 Quadratkilometer wohnen etwa 14.000 Menschen. Dort verdient eine Schullehrerin oft weniger als einen Mindestlohn (ca. 180 DM monatlich). Außerhalb der Stadt Canudos haben viele der Bewohner weder Strom noch fließend Wasser. Die Straßen sind nicht asphaltiert, bei Regen sind die entlegeneren Weiler im Munizip abgeschnitten. In der Sozialindikatoren-Tabelle des nicht gerade hochentwickelten Bundesstaates Bahia rangiert die Kommune zwischen Platz 200 und Platz 360 – von 415 Munizipien. Der Park ist nur eine der Unternehmungen des “Centro de Estudos Euclides da Cunha” der Landesuniversität, mit denen in Canudos die aktuelle soziale Situation verbessert und die Erinnerung an den Krieg und seine Bedeutung für die brasilianische Geschichte wachgehalten werden soll, zum Beispiel durch die Einrichung eines “Canudos-Hauses” mit Bibliothek im heutigen Canudos. Lange Zeit redete im Sertâo aus Angst vor Repressalien niemand über den Krieg – eine Schwierigkeit, auf die die wenigen interessierten Forscher noch in den 50er und 60er Jahren stießen. Heute sind die, die als Kinder oder Enkel von überlebenden Conselheiristas noch die Geschichte erzählten, nahezu alle weggestorben. Die Jugend hört nicht mehr zu. Fernsehen und Videogame sind heute auch im Sertâo vitale Absauger oraler Traditionen. Nicht zur Pflege des steingewordenen kollektiven Gedächtnisses, sondern in der Hoffnung auf Touristen wird die Bar “Zum Conselheiro” in Bendegó gerade renoviert. Dennoch ist die Existenz dieser – und anderer, ähnlich benannter- Kneipen ein Beleg für die Lebendigkeit des Mythos Canudos. Daß dieser Mythos unmittelbar anschlußfähig ist, stellten im Jubiläumsjahr 1993 zwei Spitzenpolitiker unter Beweis. Im Wahlkampf für die Präsidentenwahl zog der Spitzenkandidat der Arbeiterpartei PT, Lula da Silva, mit einer Karawane durchs Hinterland. In Canudos teilte Lula eigenhändig Brot unter den Menschen aus. Gebete wurden gesprochen und Lula rief, in überraschender Abwandlung des üblichen materialistischen Diskurses seiner sozialistischen Partei, den Menschen zu: “Das Rot der Fahne der PT ist das Blut von Jesus Christus am Kreuz.” Auch der Soziologe Fernando Henrique Cardoso wußte, was der Mythos wert ist, und ließ es sich nicht nehmen, seine Wahlkampf tour durch Bahia in Canudos zu eröffnen. Er brachte kein Brot mit, sondern das Versprechen, auf der von Salvador kommenden Bundesstraße ein 80 km langes Teilstück bis nach Canudos zu asphaltieren. Das Versprechen auf Modernisierung gewann die Wahl gegen das Versprechen auf mehr soziale Gerechtigkeit. Canudos erhält – die Straße ist jetzt tatsächlich im Bau – seinen Asphalt und wartet weiter auf Landreform, eine funktionierende Justiz und Ärzte.

Krieg im Sertâo

Jenseits der politischen Konjunkturzyklen sind es vor allem Intellektuelle und Wissenschaftler, die sich für Canudos interessieren. Dieses Interesse ist nicht mehr auf Brasilien beschränkt. In den USA, wo bereits 1947 eine Übersetzung von Os Sertôes erschien, steht das Ereignis zumindest für die Studierenden der Latin American Studies auf dem Lehrplan. Vargas Llosas Canudos-Roman La Guerra del Fin del Mundo, 1981 erschienen1, sorgte auch anderswo für erste Kenntnisnahme. In Deutschland errang “Krieg im Sertâo”, passend zur Frankfurter “Brasilien”-Buchmesse 1994 erschienen, eine erstaunliche Aufmerksamkeit und viele Spalten in allen großen deutschsprachigen Feuilletons. 1995 wurde Canudos auf zwei Symposien im Berliner Haus der Kulturen thematisiert. Im Mai diesen Jahres schließlich veranstaltete das Zentrum Portugiesischsprachige Welt an der Kölner Universität den wohl bisher in Europa größten wissenschaftlichen Kongreß zu Canudos, mit 20 geladenenen Referentinnen und Referenten aus Brasilien, dazu aus Italien und Frankreich. Dieses Interesse ist zum einen sicherlich konjunkturell erzeugt von Buchmesse und Zentenarien. Doch hat dieses Interesse am Ereignis und seiner Interpretation durch Euclides wohl auch zu tun mit dem heutigen Faible für die Auflösung von Gattungsgrenzen, für die Genrewanderung zwischen Literatur und Wissenschaft, die da Cunha ja unternimmt.

Canudos ist überall

Es hat auch zu tun mit der erschreckenden Aktualität von Kriegen, die im Namen von “Rassen” oder wie wir heute sagen “Ethnien” geführt werden. Das hat zu tun mit der ambivalenten Modernitätseuphorie und Modernitätskritik, die da Cunhas Werk kennzeichnete und heute wieder den Zeitgeist. Die Frage etwa, ob die Barbarei als Entartung oder Wesensmerkmal der Moderne zu betrachten ist, führt – im Zusammenhang mit der Shoah – fortgesetzt zu erregten Debatten. Die Frage “Sind die Sertanejos Brasilianer und was heißt das für unsere Nation?” stellt sich heute als die Frage nach der sogenannten “Identität” Europas. Und sie stellt sich mit Vehemenz, wenn an den Hauptbahnhöfen Kerneuropas massenhaft zerlumpte Gestalten auftauchen, die fatal an die Bilder aus der Dritten Welt erinnern, aber darauf pochen, als Rumänen oder Ukrainer zu “uns” zu gehören. Der jugoslawische Bürgerkrieg schließlich hat endgültig die Illusion zerstört, im Herzen der europäischen Zivilisation sei die Barbarei besiegt. Über den europäischen Rand hinausgespäht, geraten, während alles über Globalisierung redet, unentwegt Retribalisierungen in den Blick, politisch-geographische Sezessionen, ethnisch begründet, ökonomisch schwachsinnig, fundamentalistisch verteidigt. Und schon heben jene den Finger, die vom Kampf der Kulturen als dem Konfliktmuster der Zukunft reden.
Ähnlich wie die irritierten Beobachter heute fragte da Cunha Ende des letzten Jahrhunderts, ob die Bewegung von Canudos unter die Opfer eines Modernisierungsprojektes zu zählen sei. Canudos repräsentierte eine fragmentierte Identität, die sich religiös begriff und sich gesellschaftlich vollzog. Damit geriet sie in Gegensatz zur in Konstruktion befindlichen “nationalen Identität” Brasiliens. Diese wurde den Leuten in Canudos deshalb auch konsequent verweigert; sie galten auf dem Höhepunkt des Krieges der öffentlichen Meinung nicht als “Brasilianer”, sondern irgendwie als “Ausländer”. Im Hirngespinst der ausländischen Kriegsberater und Wafffenlieferanten, die Canudos gehabt haben soll, fand dieser Diskurs sein Spielbein.
Euclides da Cunha analysierte ein Ereignis, das er in den Zusammenhang des Konfliktes Zivilisation versus Barbarei eingestellt sah. Und er entdeckte, daß die Barbarei auch auf Seiten der Zivilisation heftig wuchert. Die Europäer sind mit der Erkenntnis konfrontiert, daß ihre Barbarei nicht zu den historischen Akten gezählt werden kann. Tatsächlich helfen die Kategorien Zivilisation und Barbarei weder heute noch damals sonderlich weiter. Aber Canudos liefert uns Europäern des späten zwanzigsten Jahrhunderts ein Beispiel dafür, daß die Bestrebungen des modernen Nationalstaats zur Standardisierung und Homogenisierung nicht nur von Gesetzen und Industrienormen, sondern auch von “Identitäten” als Zuschreibungen, von gesellschaftlichen Verhaltens- und politischen Sichtweisen ein universelles Phänomen ist, das den Sertâo Bahias mit Berlin verbindet.

1 Euclides da Cunha, “Krieg im Sertâo”. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Berthold Zilly, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994.
2 Auf Deutsch erschienen als Mario Vargas Llosa, “Der Krieg am Ende der Welt”, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987

Nach dem großen Schwindel

In seiner nur sechs Monate dauernden Amtszeit hatte der Präsident Abdalá Bucaram – “el loco” – des populistischen Partido Roldosista Ecuatoriano PRE alle Rekorde gebrochen: Keiner vor ihm hatte derart dreist in die eigene Tasche gewirtschaftet und seinen Clan in die Schlüsselpositionen des Landes gehievt. Keiner hatte so selbstherrlich regiert und dabei über den kurzen Publikumserfolg hinaus so wenig an längerfristigen Konzepten eingebracht. Keiner hatte so unverhohlen die Presse- und Meinungsfreiheit in Frage gestellt und so inkohärente, aber entgegen allen Wahlversprechen drastische wirtschaftliche Maßnahmen durchgesetzt.
Und so reichte ein halbes Jahr, um auch die Teile der Bevölkerung gegen sich aufzubringen, die in Bucaram in der Stichwahl Anfang Juli 1996 im Gegensatz zu dem Kandidaten des konservativen Partido Social Cristiano PSC, Jaime Nebot, das kleinere Übel gesehen hatten. Sie hatten damals seinen Wahlsieg mit 54 Prozent der Stimmen möglich gemacht – trotz der ihm von den Medien bescheinigten Irrationalität und “Verhaltensauffälligkeit”. “O nos salvamos o nos hundimos”: Entweder wir retten uns, oder wir gehen unter. Alles oder nichts.

Nichts als Ablabla

Aber Bucaram ließ seine Versprechen platzen wie Seifenblasen: von einer Milderung der neoliberalen Anpassung keine Spur, paternalistische und inszenierte Almosen statt struktureller Hilfe, Großaufträge gingen außer Landes, keinerlei Investitionssicherheit, und das versprochene Ministerio Étnico kränkelte ebenfalls vor sich hin. Als Inbegriff des Neureichen von der Küste, der sich gegen die alteingesessenen Eliten aufbäumt und seinen Platz beansprucht, konnte er mit seinem discurso vulgar und seinem machistischem Gehabe eine Zeit lang von seiner Planlosigkeit ablenken. Mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein schaffte es Bucaram, gegen ihn gerichtete Kritik und Attakken in Stärken umzudeuten, sein selbstgebasteltes Image als loco machte ihn geradezu immun: nicht-endenwollende kitsch-triefende Auftritte als Sänger, Fußballspieler oder “Freund der Armen”, mit denen er um die Gunst der breiten Massen warb. Die staunende ecuadorianische Mittel- und Oberschicht sah darin den letzten Rest an nationaler Würde dahinschwinden. Abdalá, róbate el país, ¡pero no cantes! steht in großen Lettern auf einer Häuserwand in der Neustadt von Quito: Plündere ruhig das Land, aber sing bitte nicht!
Präsident Abdalá Bucaram wurde am 5. Februar wegen “geistiger Unfähigkeit” seines Amtes enthoben. Erst unmittelbar vor seinem politischen Ende dämmerte es ihm, daß seine Show zu Ende war, daß er die Massen nicht länger hinter sich, sondern gegen sich hatte, daß Gewerkschaften nicht mit kleinen Häppchen zufriedenzustellen sind und die Indígena-Bewegung nicht mit schnöden Versprechungen. Bucaram hatte sich selbst in einem atemberaubenden Schwindel in die absolute politische Isolation manövriert, “einsamer als die Charaktere von García Márquez” und unfähig, die Tatsachen um sich herum richtig zu deuten. Bereits seit Anfang Januar wurde im Kongreß eigentlich nur noch darüber diskutiert, wie man Abdalá am besten loswerden könnte. Daß ausgerechnet Parlamentspräsident Fabian Alarcón, der nur mittels eines Paktes mit Abdalá in den Kongreß und in sein Amt gelangt war, dessen Amtsenthebung vorantrieb und schließlich zum Interimspräsidenten ernannt wurde, lindert die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens nicht gerade. Dennoch wurde die Entscheidung des Kongresses im Nachhinein bestätigt: Am 25. Mai befürworteten in einer Volksabstimmung rund 76 Prozent der Bevölkerung die Amtsenthebung Bucarams. Für die Ernennung Alarcóns als Übergangspräsidenten stimmten aber gleichzeitig nur 68 Prozent.

Fürs Fotoalbum mit weißer Weste

Alarcón ist seit jeher das Fähnlein im Winde, stets auf Allianzen zum eigenen Vorteil bedacht. Nun selbst im höchsten Amt, scheut er klare Entscheidungen und ist als Interimspräsident abhängig vom Kongreß beziehungsweise vom den Kongreß dominierenden PSC. Innenpolitisch ist sehr wenig passiert seit dem Rausschmiß Bucarams. Alarcón hält sich bedeckt und setzt auf Schadensbegrenzung, so weit das Erbe Bucarams dies erlaubt. Viele Bestimmungen der Regierung Bucaram wurden ausser Kraft gesetzt, wie zum Beispiel der drastische Wegfall von Subventionen zum Beginn des Jahres, in anderen Fällen wurde bei bereits unterzeichneten Verträgen nachverhandelt.
Zwar wurde eine Antikorruptionskommission ins Leben gerufen, und immerhin schloß der Kongreß siebzehn Abgeordnete wegen dringenden Korruptionsverdachts aus den eigenen Reihen aus. Aber es ist nicht schwer, Korruption mit Bucaram gleichzusetzen und selbst die Hände in Unschuld zu waschen. Auch bei seinem ersten Staatsbesuch in Paraguay zu Gesprächen über einen möglichen Beitritt Ecuadors in den Mercosur und das Protokoll von Rio de Janeiro war Alarcón ganz der Saubermann: eifrig bemüht, seinen rechtmäßigen Status zu unterstreichen und das Image Ecuadors zu kitten. Und was machen da schon die eine oder andere Anklage wegen Mißbrauchs öffentlicher Gelder im eigenen Lande…

Asamblea Light

Auch auf die zentrale Forderung der Massendemonstrationen vom 5. Februar war Alarcón vordergründig eingegangen: Die Einberufung eines Organs zur Überarbeitung der Verfassung war beschlossene Sache und durch die Volksabstimmung Ende Mai für dieses Jahr bestätigt. Doch dann ging die Diskussion um den Namen des Organs los: Asamblea Constituyente oder Asamblea Nacional? Dahinter verbirgt sich der Status der juristischen Kompetenz gegenüber Kongreß und Interimspräsidenten, und letztendlich wurde mit der Namensgebung Asamblea Nacional aus der Asamblea Constituyente eine Asamblea Light. In Ecuador ist es unter Velasco Ibarra bereits einmal dazu gekommen, daß eine verfassungsgebende Versammlung kurzerhand das Parlament aufgelöst hat, und da gingen die Abgeordneten doch lieber auf Nummer sicher.
Aber das war erst der Anfang. Während die sozialen Bewegungen auf eine schnelle Durchführung drängten, schienen die etablierten Parteien überhaupt keine Eile zu haben: lieber warten bis nach den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr, um den schönen Wahlkampf nicht zu beeinträchtigen, und wer weiß, vielleicht ist die Zusammensetzung dann ja auch eine ganz andere… Entgegen der durch die Volksabstimmung bestätigten Fristen wurde im Kongreß ein Termin für Ende nächsten Jahres festgesetzt.

Entscheidungshilfen für Alarcón

An dieser Stelle war nun Alarcón gefragt, der gegen die Vorlage des Kongresses Veto einlegen und den mehrheitlich festgelegten Ablauf der Dinge hätte durchsetzen können. Mit einem landesweiten Streik am 11. und 12. August tat die CONAIE, die nationale Konföderation der Indígenas, ihren Unmut über die Verschleppungstaktiken kund und versuchte so, Alarcón, welcher sich hinter dem Meinungsbild im Kongreß versteckte, zu einem Veto zu zwingen. Letztendlich bedurfte es jedoch eines radikalen Sinneswandels von Jaime Nebot. Der Kopf des konservativen PSC setzte sich – auch zum Erstaunen seiner eigenen Parteikollegen – auf einmal vehement für die sofortige Durchführung der Nationalversammlung ein, um so Alarcón zu einer eindeutigen Stellungnahme, “dem Veto”, zu bewegen.
Nach einem weiteren vorläufigen Termin ist die Asamblea Nacional – derzeit – auf den 20. Dezember angesetzt, mit einer strikten Befristung auf drei Monate. Sie verfügt über weite Befugnisse zur Verfassungsreform, und die von ihr beschlossenen Änderungen werden direkt – ohne weitere Einflußmöglichkeiten seitens des Interimspräsidenten oder des Kongresses – übernommen. Die Mitglieder der Versammlung werden Mitte November gewählt, und da sie auch über die Zukunft des Kongresses und das präsidiale System befinden kann, hat der erbitterte Kampf um diese Ämter nun begonnen. Die Versammlung soll sich aus 70 Vertretern der Provinzen und 20 nationalen Vertretern zusammensetzen. Die von dem neomarxistischen Movimiento Popular Democrático MDP vorgeschlagene gemischte Personen- und Listenwahl soll die im Kongreß vorherrschenden Parteistrukturen aufbrechen und die Vertretung von Minderheiten gewährleisten. Als Wahlmodus innerhalb der Asamblea wurde die sogenannte autoregulación beschlossen, was bedeutet, daß das Organ selbst entscheidet, in welchen Fällen es mit einer einfachen oder mit einer zwei Drittelmehrheit beschlußfähig ist. Im schlimmsten Fall also langwierige Abstimm-Marathons über den Modus einer Abstimmung.

Was denn, Inhalte?

Dann ist ja jetzt alles in Ordnung: Die Versammlung hat einen Namen, ein Datum und einen Wahlmodus, die notwendige Gesetzesänderung zur Wahl der Abgeordneten ist auch schon fast auf dem Weg, aber halt – was war noch gleich mit den Inhalten? Fast drei Monate hat sich die Diskussion um technische Angelegenheiten hingezogen, und wenn die Erarbeitung von inhaltlich – programmatischen Vorlagen auch nur annähernd so vor sich hinkriecht, sind die drei Monate der Asamblea um, bevor es zur ersten Abstimmung gekommen ist. Lange Zeit hatte nur die Indígena-Organisation CONAIE ein regelmäßiges Forum, in denen mögliche Tagesordnungspunkte der Nationalversammlung und Stellungnahmen diskutiert werden. Außerdem hat die CONAIE im Rahmen der Koordinierung sozialer Bewegungen zusammen mit den Gewerkschaften für Oktober ein eigenes Vorbereitungsgremium angekündigt. Auch die anderen Parteien fangen jetzt langsam an, schon mal Schlagworte zu verbreiten. Die Vorstellungen reichen von leichten Korrekturen bis zu einer radikalen Überarbeitung der Verfassung, zum Beispiel im Hinblick auf das Präsidialsystem. Die öffentliche Debatte um die Agenda der Asamblea aber ist im Gerangel um die technischen Daten vollkommen zu kurz gekommen.
Dabei steht die Verfassungsreform seit langem auf der Tagesordnung und ist besonders im Präsidentschaftswahlkampf vergangenen Jahres durch den von Indígenas und Gewerkschaften unterstützten Kandidaten Freddy Ehlers zu einem zentralen Thema geworden. Ehlers’ Hauptforderungen waren zum einen die Anerkennung Ecuadors als plurinationaler Staat und zum anderen die sogenannte “Unberührbarkeit” der als strategisch erachteten Sektoren wie Erdöl, Telekommunikation und Elektrizität. Die Debatte um den plurinationalen Staat, die 1990 während des ersten landesweiten Indígena-Streiks noch mit separatistischen Tendenzen und der Auflösung des ecuadorianischen Nationalstaates in einen Topf geworfen wurde, hat in den vergangenen Jahren breiten Rückhalt – auch in Teilen der nicht-indigenen Bevölkerung – bekommen. Eine Änderung der Verfassung in diesem Sinne würde für Ecuador einen riesigen Schritt in Richtung Anerkennung von Minderheiten und politische Partizipation bedeuten. Eine starke Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen sowie der Privatisierungsprozeß und im besonderen die Sozialversicherung werden wahrscheinlich weitere Hauptthemen der Asamblea Nacional sein.

Dieselben Kulissen

Nach Meinung des Soziologen Hernán Ibarra vom Centro Andino de Acción Popular CAAP wird sich in der Asamblea die Zersplitterung der politischen Parteien widerspiegeln, die auch den Kongreß immer wieder manövrierunfähig macht. (Ecuador verfügt über siebzehn Parteien bei rund fünf Millionen WählerInnen.) Damit bleibt das grundsätzliche Problem bestehen: Wie kann durch die Veränderung der Konstitution eine Veränderung der Politik erreicht werden? Zwar können größere Spielräume für Staatsbürgerrechte festgeschrieben werden, ohne politische Bereitschaft sind diese jedoch nutzlos.
Es scheint, als ob das politische System Ecuadors zu verhakt und starr ist, um sich selbst zu reformieren. Die landesweite Indígenabewegung – seit den Wahlen 1996 mit der aus ihr hervorgegangenen Partei Pachakutik-Nuevo País erstmals im Parlament vertreten – bleibt die dynamische Ausnahme im Polit-Establishment. Ihre Errungenschaften in den letzten Jahren sind zweifellos wichtige Impulse auch für andere Gruppierungen, selbst wenn es im Hinblick auf Pachakutik starke Meinungsverschiedenheiten gibt.
Die Zivilgesellschaft hat sich im Februar als mächtiger Akteur gezeigt, der nicht länger bereit ist, Clownereien auf seine Kosten durchgehen zu lassen. Mit dem Rausschmiß Bucarams ist der Showmaster außer Landes, bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Kulissen jedoch als dieselben. Armut weiter Teile der Bevölkerung, Korruption in unvorstellbaren Ausmaßen und Politiker, die in ihrem alltäglichen Klein-Klein untereinander jegliche Beschäftigung mit zukunftsweisenden Projekten für das Land aus den Augen verloren haben – diese Gründe, die Abdalás Wahlsieg als Akt der Verzweiflung möglich gemacht haben, sind nach wie vor präsent. Abdalá hat Korruption, populistisches Gehabe und die “Unregierbarkeit” des Landes auf die Spitze getrieben, erfunden hat er sie jedoch nicht.
Die großen Hoffnungen auf bahnbrechende Veränderungen und ein “Neues Land” nach der Verfassungsreform sind durch den langatmigen und schwerfälligen Prozeß der Umsetzung stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Schon jetzt werden die ersten Unkenrufe laut: der Post-Asamblea-Frust kommt bestimmt. Also vom Post-Bucaramato in die Post-Asamblea-Analyse? Wann endlich kommt der Wechsel in vorwärtsgerichtete Visionen, wann der Spielraum für die im Land vorhandenen Gesellschaftsentwürfe?

Vielfältige Bündnisse

Die Ausgangsbedingungen für feministische Bewegungen unterschieden sich allerdings von Land zu Land, denn schließlich ist der lateinamerikanische Kontinent ein Konglomerat von Rassen, Ethnien, Sprachen und Kulturen. Diese Vielfalt hat sehr ungleiche ökonomische, kulturelle und politische Entwicklungen verursacht. Sie hat außerdem die komplexen Probleme, die sich aus der spanischen Kolonisierung und später aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ergaben, noch verstärkt. Für die Entstehung der neuen Republiken nach den Unabhängigkeitskriegen hat auch das ideologische Gewicht der katholischen Kirche eine entscheidende Rolle gespielt. Denn die Kirche hat ihren Einfluß über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten können – in den Sphären politischer Macht ebenso wie in großen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Eine solche Präsenz wird in bestimmten historischen Epochen immer verhindern können, daß sich Strömungen der sozialen Erneuerung und Säkularisierung durchsetzen.
Andererseits haben auch Klassen- und Rassenunterdrückung den Republiken, die nach dem Ende der spanischen Herrschaft gegründet wurden, ihren Stempel aufgedrückt. Bis heute hat dies die Überwindung der gesellschaftlichen Ungleichheiten verhindert und jedwede Form der Integration erschwert, besonders in den Ländern wo die indigene Bevölkerung seit Jahrhunderten marginalisiert wird.

Erste Feministinnen

Als Auslöserinnen der feministischen Bewegungen Lateinamerikas können einerseits fortschrittliche Ideen und die politische Durchsetzung kapitalistischer Modernisierung benannt werden, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts besonders in Ländern mit europäischer Einwanderung oder in geographischer Nähe zu den Vereinigten Staaten auftauchten. Genauso bedeutsam ist aber auch die Bildung sozialer Bewegungen, die soziale und wirtschaftliche Verbesserungen einforderten. Sie sind hauptsächlich gewerkschaftlichen oder indigenistischen Ursprungs, mit Wurzeln im Anarchismus wie im Sozialismus.
Die Bewegungen, die sich für das Frauenwahlrecht, für gleichberechtigten Zugang zu Bildung und für die Verleihung gleicher bürgerlicher Rechte für Frauen einsetzen sind so parallel zu den sozialen Bewegungen der Arbeiter und Indígenas entstanden. Manchmal haben sie sich angesichts gemeinsamer Ziele auch miteinander verbündet. Der Kampf um den Acht-Stunden-Tag und Protestbewegungen von LandarbeiterInnen und ethnischen Gruppen zum Beispiel, wurden durch einen Teil der frühen Frauenbewegung unterstützt.
Forderungen nach weiblicher Emanzipation gab es bereits 1836, als eine Gruppe mexikanischer Frauen die Zeitschrift El Semanario de las Senoritas Mexicanas gründete, in der feministische Ideen diskutiert wurden. Die Argentinierin Juana Manso, die heute als Vorläuferfigur der feministischen Bewegung in ihrem Land gilt, veröffentlichte 1852 in Brasilien O’Jornal das Senhoras, eine Zeitschrift “für die gesellschaftliche Verbesserung und die Emanzipation der Frau”. Es war die erste Zeitschrift, die ausschließlich von Frauen geleitet und hergestellt wurde. Ebenfalls in Brasilien initiierte die Feministin Nisia Floresta (1809-1885) eine Reihe von Konferenzen zu Frauenfragen. Sie übersetzte auch Mary Wollstonecraft ins Portugiesische, während die Chilenin Martina Barros de Orrego ihrerseits 1874 John Stuart Mill “Über die Unterdrückung der Frauen” ins Spanische übersetzte.
Zwei Jahre später, also 1876, trug sich eine Gruppe chilenischer Frauen in das Wahlregister eines Bezirks von Santiago ein, und lenkten so die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Empört verhinderte die Mehrheit der männlichen Politiker die Teilnahme der Frauen an der Wahl, nicht ohne klarzustellen, daß die chilenische Verfassung, wenn sie von “Bürgern” spricht, “Männer” meint.

Die Themenpalette erweitert sich

Der Kampf um das Wahlrecht dauerte noch lange an und umfaßte viele Aktionen in zahlreichen Ländern des Kontinents. Bald schon ging es jedoch nicht mehr nur um das Wahlrecht. Im Jahr 1910 fand in Buenos Aires der Erste Internationale Frauenkongress (Congreso Femenino Internacional) statt, und zwischen 1914 und 1915 fand der Feministinnenkongress von Yucatan in Mexiko statt. Die Debatten über Themen wie Prostitution, Scheidung oder die Situation der Arbeiterinnen begannen auf diesen Kongressen.
In den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts dann wurden erste lateinamerikanische Frauenparteien gegründet, die ihre Aufgabe darin sahen, die Forderungen von Frauen in die Tagespolitik einzubringen. So etwa die Partido Feminista Nacional de Argentina und die Partido Civico Femenino de Chile, beide 1919 gegründet. 1921 wurde auf einem Frauenkongress in Havanna die Gründung der Partido Nacional Feminista vereinbart.
Sicherlich hatten diese Aktionen nicht die gleiche Wirkung wie die angelsächsischen Bewegungen für das Frauenwahlrecht. Oft handelte es sich nur um sehr kleine Gruppen oder Einzelpersonen, die ihren Kampf über den Journalismus oder in den Konferenzsälen von Kultur- und Wohltätigkeitseinrichtungen austrugen. Die lateinamerikanischen Mentorinnen und ihre Anhängerinnen waren intellektuelle Frauen der Mittelschicht, die meist einen bürgerlichen Beruf erlernt hatten. Der sufragismo, der Feminismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vertrat also mehrheitlich eine politisch liberale Ideologie, die den sozioökonomischen status quo nicht in Frage stellte. Angesichts der frühnationalen und kolonialen Züge der lateinamerikanischen Gesellschaften muß der frühen Frauenbewegung aber zugutegehalten werden, daß sie in der Lage war, eine wichtige Gruppe von Frauen zu mobilisieren und daß er für seine Zeit sehr progressive Ziele vertreten hat.

“Proletarierinnen aller Länder…”

Während sich die von den Anarchisten und Sozialisten verbreiteten Ideen in Gewerkschafts- und Parteigründungen kristallisieren, betrat eine neue Spielart des Feminismus die Bühne, die ihre Ursache der wachsenden Eingliederung von Frauen in die Lohnarbeit hatte: Man könnte sie als proletarischen Feminismus bezeichnen. Insbesondere der Anarchismus unterstützte die Organisierung der einfachen Arbeiterinnen und auch die Formierung von Frauen mit Führungsqualitäten. Ihre Diskussionen kreisten um die Thematik von Klasse und Gender, wie wir heute sagen würden. Hervorzuheben wäre hier die Kolumbianerin Maria Cano, die als Arbeiteraktivistin ihre sozialistischen Überzeugungen mit ihrem Engagement für die Emanzipation der Frauen verband. Sie organisierte nicht nur Streiks in den Bergbau – und Erdölregionen sowie in den Bananenanbaugebieten, wo sie stets von einer kämpferischen Menge begleitet wurde; sondern attackierte auch gleichzeitig scharf ein Gesellschaftssystem, das sie aus Sicht der Frauen für höchst ungerecht hielt. Sie betonte zum Beispiel 1925, daß Frauen nicht an den Universitäten zugelassen wurden, “wo sie sich die Stellung, die ihnen zusteht, erarbeiten könnten. Nicht einmal das Recht zu denken, das Recht, ihre Meinung zu sagen, gesteht man den Frauen zu. Eingeschlossen wie in einem eisernen Ring müssen sie schweigen, sich wie Wesen ohne eigenes Bewußtsein unterwerfen, während auf ihrem Heim Unterdrückung und Unrecht lasten…”.
In manchen Fällen hat sich der Kampf der sufragistas direkt mit dem Klassenkampf verbunden. Beispielsweise beteiligen sich 1991 einige sufragistas aus der von der Schriftstellerin Zoila Aurora Caceres gegründeten Gruppe Feminismo Peruano an der Organisation einer Frauenversammlung, die die Forderung nach “Verbilligung der Lebenskosten/Grundnahrungsmittel(??)” erhob. Die Versammlung mündete in einem “Marsch gegen den Hunger”, der durch die Straßen von Lima zog. Später gründete Caceres, die als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht in ihrem Land gilt, die erste Telefonistinnengewerkschaft.

Errungenschaften der ersten Feministinnen

Was hat der frühe Feminismus in Lateinamerika und der Karibik erreicht? Er hat weite Teile der öffentlichen Meinung auf die defizitären bürgerlichen und politischen Rechte der Frauen, auf ihre Situation der gesetzlich verankerten Unmündigkeit aufmerksam gemacht. Viele Veröffentlichungen, Reden, Bücher und Zeitschriften aus dieser Epoche zeugen von dieser Sensibilisierungsarbeit. Feministinnen wie Juana Manso in Argentinien, Paulina Luisi in Uruguay, Serafina Davalos in Paraguay, Adela Zamudio in Bolivien, Francisca Senhorina da Motta Diniz in Brasilien, Luisa Capetillo in Puerto Rico, Amanda Labarca in Chile, Maria Jesus Alvarado Rivera in Peru und viele andere setzten sich vehement für den Zugang zu Bildung für Frauen und die Änderung diskriminierender Gesetze ein. Natürlich beschränkte sich der Einsatz für diese Sache nicht allein auf die sufragistas, auch Sozialistinnen und Anarchistinnen organisierten Kerngruppen und Schauplätze für den Kampf um Gleichberechtigung. Hier trafen Feministinnen, Gewerkschafterinnen, Parteiaktivistinnen, Berufstätige und Intellektuelle aufeinander. Gemeinsam übten sie erfolgreich Druck aus und erreichten schließlich auch die Unterstützung einiger männlicher Politiker für bestimmte Gesetzesänderungen. Dieser langwierige Kampf wurde 1929 in Ecuador das als erste Land der region Frauen das aktive Wahlrecht zusprach zum ersten Mal von Erfolg gekrönt.
Später wurden dann auch andere Gesetze verändert, die Scheidung, den Zugang zu den Universitäten, das Recht auf Berufsausübung und auf bezahlte Beschäftigung regelten. Diese Errungenschaften hingen auch mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und dem beschleunigten Verstädterungsprozeß zusammen, der Lateinamerika vor allem seit den 50er und 60er Jahren bestimmte. Paradoxerweise war aber gerade im letzteren Zeitraum der organisierte Feminismus eher schwächer, was in erster Linie mit dem Aufstieg der politischen Parteien und der Gewerkschaftsbewegung zu tun hatte.
Die Zweite Welle des Feminismus in Lateinamerika und der Karibik fand ihren ersten Auftritt vor einem sehr spezifischen Hintergrund: dem antiimperialistischen Kampf der Linken. Die 60er Jahre waren von intensiven ideologischen Debatten der Linken, besonders innerhalb der orthodoxen stalinistischen Parteien bestimmt, insbesondere nach dem Triumph der kubanischen Revolution und den Guerrilla-Aufständen in Bolivien, Kolumbien, Peru und Venezuela. Die romantische Figur des Guerrilleros, die Stilisierung des bewaffneten Kampfes zum “Wahren Weg” in Richtung Sozialismus prägten den Alltag einer ganzen Generation. Tiefgreifende Veränderungen und Mobilisierung kennzeichneten die lateinamerikanischen Gesellschaften: LandarbeiterInnenaufstände in den Andenstaaten, Migration vom Land in die Metropolen, die dort wiederum in Basisbewegungen mündete. LandarbeiterInnen und SlumbewohnerInnen trugen die politische Radikalisierung bis in Gruppen der Mittelschicht, wie StudentInnen, Intellektuelle und FreiberuflerInnen. Auch die Revolution vom Mai ’68 wirkte als ein weiterer Faktor von außen besonders auf Sektoren der marxistischen Linken ein, in denen sich nach dem Scheitern der Guerrilla-Bewegungen eine gewisse Unzufriedenheit breitgemacht hatte.
In dieser Zeit kanalisierte sich das Engagement von Frauen für Veränderungen besonders in den linken Parteien. Figuren wie Haydee Santamaria (Kuba), Lolita Lebron (Puerto Rico), Domitila Chungara (Bolivien), aber auch Tania La Guerrillera, die Gefährtin Che Guevaras in Bolivien, waren die Modelle feministischen politischen Engagements.
Um 1970 aber tauchte das Bild des Feminismus als Importprodukt auf. Die Massenmedien zeigten das Bild nordamerikanischer Feministinnen, die scheinbar nichts anderes zu tun hatten, als sich ihrer BHs zu entledigen. Der Begriff “Feministin” wurde zum Synonym für eine verbitterte Frau, einer Art Anti-Mann, und der aktive Feminismus wurde zur Gefährdung des Klassenkampfes stilisiert. Schon Fidel Castro hatte den Feminismus für schädlich erklärt, da er einer gut durchdachten Strategie des internationalen Kapitalismus gehorche. So litten die ersten Versuche feministischer Aktionen unter den Angriffen und der Ablehnung der Linken – auch der in linken Parteien organisierten Frauen.

Institutionalisierung des Feminismus

Als 1975 die “Frauendekade” der Vereinten Nationen ausgerufen wurde, intensivierten sich die Diskussionen über die “Frauenfrage”, den Feminismus, die Beziehungen zwischen Feminismus und Klassenkampf und Formen der Selbstbestimmung. Neue Gruppen traten auf den Plan, die den ersten Zusammenschlüssen aus den Jahren zwischen 1970 und 1973 folgen. Die erste Konferenz des Internationalen Jahres der Frau, die von den Vereinten Nationen im Juni 1975 ausgerichtet wurde, geriet zum ersten großen Treffen der lateinamerikanischen und angelsächsischen Feministinnen. Gleichwohl – bedingt durch das Engagement der meisten Delegierten in sozialen und parteipolitischen Organisationen – räumte das Schlußdokument auch dem Klassenkampf und umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen eine zentrale Bedeutung ein. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete die bolivianische BergarbeiterInnenanführerin Domitila Chungara den Feminismus als bourgeois und realitätsfern. Die Zeit war noch nicht reif für einen Dialog zwischen Feministinnen und Aktivistinnen der Linken.
Andererseits durchlebte der lateinamerikanische Kontinent eine schwierige und sehr schmerzhafte Etappe: Neben die bereits institutionalisierten Diktaturen in Brasilien und Paraguay traten die Militärherrschaften in Argentinien, Chile und Uruguay. Mord, Folter, Verfolgung, die Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Exil und – in dessen Folge – die Auflösung familiärer Bezüge waren die Folgen. Vor diesem Hintergrund reduzierte sich der Handlungsspielraum des Feminismus auf ein Minimum; nur in Ländern mit einem formaldemokratischen System konnten feministische Aktivitäten überhaupt überleben, etwa in Selbsthilfegruppen oder den ersten Frauen-NGOs (1978-1980). Dennoch war gerade das Exil auch Auslöser eines Bewußtwerdungsprozesses bei argentinischen, chilenischen, uruguayischen und brasilianischen Frauen. Viele erlebten die Realität des europäischen Feminismus und gründeten während des Exils eigene Gruppen. Die Rückkehr der ersten Exilierten in ihre Heimatländer fiel so mit dem Erscheinen unabhängiger feministischer Gruppen seit 1980 zusammen.
Außerdem begannen Frauen in der politischen Linken aufzubegehren, die bezüglich ihrer Parteizugehörigkeiten ein neues Selbstbewußtsein entwickelt hatten – schließlich hatte sich ihre Rolle zuvor auch innerhalb ihrer Organisationen auf die “häusliche Arbeit” beschränkt.
Die Abspaltung eines Sektors dieser Parteiaktivistinnen ist in etwa zeitgleich mit dem Auftreten eines “sozialistischen Feminismus”, einer Spielart besonders klassenbewußter Prägung, die sich erst im Laufe der Zeit starrer Schemata entledigte und Konzepte von Patriarchat und Sexualität in ihre Gesellschaftsanalyse einbezog. Manche Ausprägungen des lateinamerikanischen Feminismus lehnten sich stark an den Feminismus des Nordens an, insbesondere in ihrer Betonung von “Bewußtwerdungsprozessen”, dem radikalen Anspruch auf Separatismus bezüglich der Parteien und indem sie die Betonung einer spezifisch weiblichen Sexualität (und auch eine sehr schüchterne Kritik von Zwangsheterosexualität) in den Status politischer Fragen erhoben.

Vielfältige Feminismen und Bewegungen

In den letzten Jahren sieht sich der lateinamerikanische Feminismus neuen praktischen und konzeptuellen Herausforderungen gegenüber. Vor dem Hintergrund der aktuellen neoliberalen Umwälzungen in den Gesellschaften des Kontinents ist seine Situation schwieriger geworden. Die unterschiedlichen Formen des Feminismus wurden nun dazu gezwungen, umfassendere Analysen zu erarbeiten und – beispielsweise – ethnische Fragen zu thematisieren, die in der Region von entscheidender Bedeutung sind. War die Bewegung in ihren Anfängen von akademisch gebildeten Frauen der Mittelschicht und von emanzipierten Berufstätigen dominiert, so stellt sich das feministische Universum heute als ein Konglomerat aus Frauen und Strömungen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Ansätzen dar. In dem oft als movimiento amplio de mujeres bezeichneten Gesamtzusammenhang finden sich so verschiedene Ausdrucksformen, wie zum Beispiel der feminismo popular (in Organisationen der Armenviertel, der Landarbeiterinnen oder Indígenas), die corriente autonoma (der “Feminismus per se”), der Feminismus in den linken Parteien, in Gewerkschaften und Berufsverbänden, der Feminismus im akademischen Bereich, der NGO-Feminismus und nicht zuletzt der “Regierungs-Feminismus” von Frauen, die in Regierungsinstitutionen beschäftigt sind.
In jedem dieser Bereiche können die Forderungen, die erhoben werden, Elemente aus der liberalen Strömung, Teile des Radikalfeminismus oder aber einer klassenbezogenen Ausrichtung enthalten. Bei bestimmten Gelegenheiten, etwa in Wahlkämpfen oder während internationaler Konferenzen, hat sich gezeigt, daß die zu den jeweiligen Anlässen gebildeten Plattformen eine strategische Kombination aus reformerischen und radikalen Forderungen wählen. Allianzen müssen eingegangen werden, die von vornherein die spezifischen Unterschiede wahrnehmen und respektieren. Es ist dementsprechend unmöglich, weiterhin von nur einem Feminismus zu sprechen, der in der Theorie einheitliche Forderungen vertritt und sich auch in der Praxis homogen darstellt. Neuere Beiträge des postmodernen Feminismus zielen in diese Richtung. Um mit den US-Amerikanerinnen Nancy Fraser und Linda J. Nicholson zu sprechen: Die feministische politische Praxis “wird immer mehr zu einer Angelegenheit von Allianzen. Es gibt keine Einheitlichkeit mehr in bezug auf ein Interesse oder eine Identität, die von allen geteilt werden”. Eine solche Praxis “funktioniert nur in der Form vielfältiger Bündnisse. Keines davon läßt sich auf einen Wesensgehalt festlegen. Vielleicht wäre es besser, immer nur im Plural, von einer Praxis der Feminismen zu sprechen…”. Auch für Lateinamerika ist das ein wichtiger Denkanstoß kurz vor dem Jahr 2000.

aus: Perspectivas 3/1996, Isis Internacional

Das vielstimmige Lied Paraguays

Roa Bastos, Bankangestellter, Journalist, schließlich und vor allem Schriftsteller, ist in Deutschland durch seine Ro­mane Hijo de Hombre (1960, dt.: “Menschensohn”) und Yo el Supremo (1974, dt.: “Ich, der Allmächtige”) bekannt gewor­den. In Lateinamerika wurden Literaturfreunde schon einige Jahre früher auf ihn aufmerksam, nämlich nach der Veröffentli­chung seines Erzählbands El trueno entre las hojas (Der Donner zwischen den Blättern) Anfang der 50er Jahre. Damals lebte er schon nicht mehr in Pa­raguay. Sein Exil beginnt nach der gescheiterten Revolution 1947, die dem Voranpreschen der Militärdiktatur nicht Einhalt gebieten konnte. In Buenos Aires findet er ein vorübergehendes Zuhause, wird von der Gesell­schaft Argentinischer Autoren zum Präsidenten ernannt und be­reist mit Jorge Luis Borges und Miguel Angel Asturias als la­teinamerikanischer Literaturbot­schafter Europa. Mitte der 70er Jahre läßt er sich im südfranzösi­schen Toulouse nieder, wo er an der Universität lateinameri­ka­ni­sche Literatur und Guaraní unter­richtet, neben dem Spanischen wich­tigste Sprache Paraguays.

Der Blick des Exilanten

Die Biographie Roa Bastos’ steht, wie bei vielen Künstlern und Intellektuellen Lateinameri­kas, unter dem Zeichen des Exils, dem Verbot von Heimat, dem Blick von außen auf das ge­liebte, gepeinigte Land. Auch seine Jugend beginnt ähnlich wie die anderer Literaten des Konti­nents. Wie Mario Benedetti ar­beitet er zunächst als eine Art Buchhalter oder Bankangestell­ter, gerade mal 16 Jahre war er da alt, und wie viele seiner Kol­legen kam er über den Journa­lismus, gelegentliche Artikel, Sozialreportagen und Kriegsbe­richterstattung aus Europa, zur literarischen Fiktion. Ort seiner Romanhandlungen ist stets Para­guay, Thema stets die Ge­schichte, die Allgegenwart der Unterdrückung.
Sohn eines Brasilianers fran­zösischer Abstammung und einer Guaraní könnte er als typisches Beispiel der paraguayischen Me­stizen gelten, die auf dem Lande Guaraní, in der Stadt Guaraní und Spanisch sprechen, oder vielmehr Jopará, die spanisch-paraguayische Umgangssprache. Allerdings war sein Vater weder campesino noch Gele­genheitsarbeiter, sondern ein an­gesehener Ingenieur, der den Sohn in die Hauptstadt zur Schule schicken konnte. Die Mutter erfüllte ihm die Ohren und die Phantasie mit den Le­genden, Mythen und der Gegen­wart des Guaraní.

Lied des Volkes

Roa Bastos ist nicht getrennt von Paraguay und seinen zwei­sprachigen Kulturen denkbar. Die mündliche Tradition des Guaraní, der immer wieder er­zählten Geschichten und Legen­den, die doch jedesmal anders klingen, jedesmal neu erfunden werden, spiegelt sich in seinen spanischen Texten wider. Immer sind verschiedene Stimmen zu hören, der Erzähler läßt die ande­ren zu Wort kommen, Unter­drücker wie Unterdrückte. Nicht die Chronologie ist vorrangig, nicht das Übereinstimmen, son­dern das vielstimmige Lied eines Volkes, ausgedrückt durch die Melodie der hörbaren Stille, das Donnern zwischen den Blättern, die Gitarre des toten Gaspar Mora, der Lärm der Trommler­pfeife und der wirbelnden Trommeln, das Kreischen der Nachteule Suindá. Die Musik des Erzählten, verwoben mit Mythen und immer wieder dem Gehörten, formt die imaginäre Welt Augusto Roa Bastos’. Sein Landsmann Rafael Barrett for­mulierte Ende der 20er Jahre, was auch Roa Bastos sich zu ei­gen macht: “Die Wurzeln des Volkes sind, wie die des Bau­mes, unter der Erde. Es sind die Toten. Die Toten sind lebendig. Unsere Nöte sind die Verzwei­gungen früherer Nöte, die weder aufgehalten, umgeleitet, noch in ihrem Keim erstickt werden konnten”.
Diese Nöte, dieses Nicht-Le­ben, sind für den Autor Aus­druck jener Irrealität, zu der die Ge­schichte seines Landes unter dem Joch der Unterdrük­kung ge­ron­nen ist. Der Schatten auf einem vergessenen Stück nächt­li­chen Brachlands, der sich zu ei­nem wimmerndem Körper wan­delt, der starblinde Marcario, Ein­siedler und Bildschnitzer von Itaipé, die unschuldige Mätresse des deutschstämmigen Diktators, my­thische Realitäten oder reale Fiktionen, erhalten von Roa Bas­tos ihren Platz in der Ge­schichte.
Der, dem es ein Anliegen ist, die Stimme des kollektiven Ge­dächtnisses zu formulieren und das Echo des Echos der Geschichte niederzuschreiben, ist vor einem Jahr dauerhaft in seine Heimat zurückgekehrt. Noch zu Beginn der 80er Jahre war Roa Bastos in Paraguay zur persona non grata geworden. Bleibt zu wünschen, daß ihm ein sol­ches Schicksal in Zukunft erspart bleibt.

KASTEN

Nicht ganz ein Roman

In seinem jüngsten Buch “Madama Sui”, das noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, erzählt Augusto Roa Bastos die Geschichte einer jungen Frau, die zwei Jahre lang die Geliebte Stroessners war.

Roa Bastos erklärt im Vor­wort von “Madama Sui”, er habe versucht, seine Erzäh­lung aus der Sicht einer Frau niederzu­schreiben: mit der uns eigenen Sensibilität und Wahr­nehmung, unserer natürlichen Intuition, al­les zu wissen, ohne uns dessen bewußt zu sein. Die Welt mit den Augen einer Frau zu sehen, ist der Versuch, gegen den auto­ritären, dominanten, “männ­li­chen” Diskurs, die Schwin­gun­gen zwischen der Di­chotomie von Gut und Böse auf­zufangen.
In diesem Sinne ist es Roa Bas­tos gelungen, das Leben von “Ma­dama Sui” in eine “weib­li­che” Form zu bringen. Die Hel­din ist nicht gut oder böse, schul­dig oder unschuldig, sondern ein jun­ges Mädchen, Kind und Frau, die Geliebte des Diktators und eines Guerilleros, Hure und Jung­frau. Das Buch selbst ist weder Roman noch Be­richt, keins davon und beides. “Wer ist Madama Sui? Gab es diese seltsame Persönlichkeit wirklich oder nur als erfundene Er­zäh­lung? Diese Geschichte, dem Na­tür­lichen entnommen, mit re­alen und authentischen Personen, ist weniger als ein Be­richt und mehr als eine Erfin­dung”, gibt Roa Bastos den Le­serInnen mit auf den Weg.
Eine hybride Erzählung, in der der Autor durch Gespräche mit Signore Ottavio Doria, Freund und Mentor von Sui, und durch ihre Tagebuchaufzeich­nun­gen ihr kurzes Leben zu be­greifen versucht. Lágrima Gon­zá­lez Kusugüe, genannt Sui, wurde nur zwanzig Jahre alt. Sui, wie Suindá, die Eule aus den pa­raguayischen Wäldern, die ihre Beute durch ihre gellenden Rufe anlockt; Sui, wie viele Frauen aus Japan, der Heimat ihrer Mutter.
Sui wächst in dem kleinen Ort Manorá auf, ihre Eltern sterben früh, einige Jahre später stirbt auch ihre Großtante. Eine kleine Vagabundin, auf sich selbst ge­stellt, lebensfroh und glücklich, weil es ihr niemals in den Sinn gekommen ist, unglücklich zu sein. Dafür wird sie von Signore Ottavio Doria, dem Architekten, der seine Resignation gegenüber der Welt in unvollendeten Ar­chitekturprojekten ausdrückt, verehrt und beneidet. Mit fünf­zehn Jahren zieht sie in die Stadt, um Anwältin zu werden. Der einzige Mann, den sie liebt, ER, geht in die Wälder und schließt sich der Guerilla an. Mit der juri­stischen Ausbildung wird es nichts. Sui gewinnt einen Schön­heitswettbewerb, und von da an ist der Übergang zur Geliebten des Diktators fließend. Nach zwei Jahren kehrt sie nach Manorá zurück – mit achtzehn Jahren ist sie zu alt für die Vor­lieben des Diktators -, wo sie zwei Jahre später stirbt. In die kurze Biographie von Madama Sui sind viele Episoden einge­webt, so ihre Reise nach Japan, ihre Begegnung mit der Ver­mittlerin des Diktators, vor allem aber Gespräche zwischen Sui und der Vermittlerin, Roa Bastos und Ottavio Doria, wodurch der Text eher eine gewisse Annähe­rung an die Person, als eine Chronologie der Ereignisse wird.

Schneller, breiter, größer, besser?

Fünf Länder sind an dem Projekt beteiligt: Bolivien, das über einen Kanal mit dem Rio Paraguay verbunden ist, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien. Ausgangspunkt ist der bolivianische Ort Cáceres, der Zielhafen am Atlantik ist Nueva Palmira in Paraguay.
Als infrastrukturelles Rückgrat des Mercosur soll die Mega-Wasserstraße die Wettbewerbsfähigkeit des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses auf dem Weltmarkt stärken. Verkürze sich, wie geplant, die 45-tägige Schiffsfahrt von Caceres nach Nueva Palmira um die Hälfte – so die beteiligten Regierungen – würden die Exportprodukte preislich attraktiver und die Region für Investoren lukrativer. Geltend gemacht werden zudem noch länderspezifische Interessen: Bolivien hätte endlich freie Bahn zum Meer, Argentinien verspricht sich Exportverbesserungen, für Brasilien bieten sich geopolitische Vorteile (bessere Kontrollmöglichkeit über die Nachbarländer) und auch Paraguay lockt ein besserer Meereszugang. Ein zwischenstaatliches Hidrovía-Komitee koordiniert die Vorhaben und Studien und beteiligt sich außerdem an der Suche nach Finanzquellen. Zugleich fungiert es als Ansprechpartner für Nichtregierungsorganisationen (NROs) und als Organisator von sogenannten Partizipationstreffen.

Flüsse für die Schiffe statt Schiffe für die Flüsse ?

Bisher besteht das Projekt aus 90 Einzelvorhaben, wie Eindeichungen, Begradigungen, Stillegung von Seitenarmen, Hafenbau, Baggerarbeiten zur Vertiefung und die Sprengung störender Felsformationen. Die Kosten werden sich (nach Berechnungen von 1989) auf 1,3 Mrd. US-Dollar belaufen, mit danach folgenden Unterhaltungskosten von ca. 3 Mrd. US-Dollar jährlich. Wer das finanzieren soll, ist zur Zeit noch unklar; gerechnet wird mit Geldern der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), der Weltbank und verschiedener bilateraler Geber, die sich teils mit Projekten, teils mit Exportbürgschaften beteiligen. Auch von der EU sind – als zukünftigem Handelspartner – Hilfen zu erwarten.
Aus den selben Töpfen finanzierten sich die in den letzten zwei Jahren unter Beteiligung von norwegischen und nordamerikanischen Beratern durchgeführten Umwelt- und Durchführbarkeitsstudien.Zur Zeit werden die Studien von verschiedenen Gruppen und Institutionen evaluiert. So untersucht der World Wildlife Fund for Nature (WWF), ob die ökologischen Folgen realistisch abgesehen wurden, die holländische Regierung schätzt Kostenpläne ein, Nichtregierungsorganisationen vor Ort untersuchen die Verläßlichkeit der Studien. International anerkannte Hydrologen, die von der Interamerikanischen Entwicklungsbank herangezogen wurden, beschrieben die Durchführbarkeits- und Verträglichkeitsstudien in einem vorläufigen Dokument als “simplifizierend” und kritisierten, daß die komplexen Wasser- und Strömungsverhältnisse nicht ausreichend beachtet wurden. Sie forderten dazu auf, “die Schiffe den Flüssen anzupassen und nicht die Flüsse den Schiffen”.
Trotz der aufkommenden Protesten haben die Präsidenten der Länder im Februar 1997 eine pressewirksame “Eröffnung” des Projektes inszeniert, um Tatsachen zu schaffen. Diese Eröffnung, die mit Ausschreibungen von Ausbaggerungsarbeiten einhergeht, steht im Widerspruch zu den Versprechungen des Hidrovía-Komitee, nicht vor Ende der Studien- und Evaluierungen mit der Umsetzung zu beginnen und eine ausreichende Partizipation der Bevölkerung zu gewährleisten.
Bei den Auswirkungen des Projekts muß man zwischen jenen unterscheiden, die sich unmittelbar aus dem Flußausbau ergeben und solchen, die als mittelbare Folgen abzusehen sind. Beide Flüsse zusammen haben ein Einzugsgebiet von ca 720.000 km2 (entspricht etwa der doppelten Fläche der Bundesrepublik). Auf diesem Gebiet leben 40 Millionen Menschen direkt an den Flüssen, 14 Millionen sind in ihrer Lebensweise eng an die Flüsse gebunden. Unter ihnen sind zahlreiche indigene Gemeinden.

Ein Feuchtgebiet liegt auf dem Trockenen

Eine ökologische Katastrophe wartet auf das Pantanal. Hier, im größten Feuchtgebiet der Erde, leben zahlreiche Menschen vom Fischen, Sammeln, Jagen, Ökotourismus und kleiner Landwirtschaft. Sie alle würden Land und ihre Erwerbstätigkeit verlieren. Für die inianischen Völker bedeutet die Terstörung ihrer Umwelt darüber hinaus den Verlust einer kulturellen Umwelt. Von einer Kompensation wurde bisher nicht gesprochen. Die geplanten Sprengungen während des Baus der Hidrovía würden sozusagen den “Pfropfen” aus dem Gebiet ziehen. Das Zukunftsszenario: Weite Teile des Feuchtgebietes trocknen aus, umliegende Strömungsverhältnisse verändern sich, da das Pantanal seine Funktion als Wasserschwamm verliert. Im Unterlauf ist dann entsprechend mit riesigen Überschwemmungen zu rechnen. Veränderte Strömungsverhältnisse bedeuten aber auch Versalzung, Versandung und Erosion in der Umgebung der Flußufer. Fischbestände und Fischreichtum werden beeinflußt. Der bisherige Transport, Einnahmequelle für tausende, wird gefährdet, statt dessen wächst mit den Riesenfrachtverbänden die Unfallgefahr.
Offiziell soll im Pantanalgebiet nicht gearbeitet werden, der Hafen von Descalvados soll aus den Planungen herausgenommen werden. Zweifel kommen jedoch auf seit oberhalb des Pantanals am bolivianischen Tamengokanal ausgebaggert wird. Diese Arbeiten sind nicht zu erklären, wenn die Schiffe nicht auch Fahrterleichterungen durch das Pantanal bekommen.
Weitreichendere Folgen sind abzusehen: geplant ist eine Vergrößerung und damit ein Heranrücken der Agrarfront an die Flußufer. Die Landspekulation beginnt bereits. Dank ungesicherter Eigentums- und Verfügungsrechte der Kleinbauern und indigenen Gruppen, vertreiben Großfirmen in den betreffenden Gebieten die Menschen mittels Gewalt, Druck oder Geld mit Leichtigkeit von ihrem Land. Die erhofften Arbeitsplätze werden ausbleiben: Großplantagen wie die geplanten, die Frachtverbände bis zu 16 Schiffen füllen sollen, sind hochmechanisiert. Dazu kommt die Wasserbelastung durch den Transport, den Pestizideinsatz, die Abwässer aus Minen und aus Häfen. Es werden Straßen in umliegende Waldgebiete getrieben und damit indianische Gebiete zerstört.

…. auch die sozialen Unterschiede werden tiefer

Die Nachhut bilden in solchen Fällen weitere Entwaldung, Brandrodung, Erosion, Aufgabe der Subsistenzwirtschaft, die Anlage illegaler und legaler Minen, die Ausbreitung von Krankheiten und sozialen Konflikten durch die Zunahme Landloser und WanderarbeiterInnen – und führt letztendlich zu einer weiteren Konzentration produktiver Ressourcen in den Händen weniger.
Von den offiziellen Stellen werden der Zusammenhang Hidrovía und nachfolgende Entwicklung ignoriert. Partizipative Planungsmethoden existieren höchstens als selektive Alibiauslese, die Betroffenen wissen in der Mehrheit kaum um das Projekt.

Soja für Europa

Problematisch ist Hidrovía allerdings nicht nur als Einzelprojekt. Bei einer Betrachtung der Hintergründe wird deutlich, daß sich die ganze wirtschaftliche Struktur der Region verändern wird. Geplant sind Agrar-, Holz- und Bergbauprojekte in der gesamten Region, privat, staatlich oder durch Entwicklungshilfe finanziert. Drei Ölfirmen haben ihre Kapazitäten verdreifacht, und es gibt neue Holzeinschlagskonzessionen in Formosa. Die Produkte sollen auf der Hidrovía bzw. Zugangsflüssen,-kanälen und Zügen transportiert werden. Ziel der Transporte: die EU, mit der Mercosur zur Zeit ein Sonderabkommen aushandelt. Absurd erscheint in diesem Zusammenhang, daß in weiteren Teilen Südamerikas Flüsse in Wasserstraßen umgewandelt worden sind oder werden sollen, also eine direkte Konkurrenz darstellen. Darunter sind die beiden Wasserstraßen Madeira-Amazonas und Toncantins-Araguaia in Brasilien, die den Norden des Landes nach Westen öffnen.
Die einseitige Exportorientierung von Produkten, die sowieso schon von mehreren Ländern in Masse exportiert werden, wird zum Preisverfall auf dem Weltmarkt führen. Kommt noch der – allerdings schleppende – Subventionsabbau in der EU, und das Aufholen der osteuropäischen Staaten bei der Agrarproduktion.
Exportiert werden soll vorrangig eins: Soja. Schon seit Jahren gehört Brasilien zu den drei größten Sojaproduzenten der Welt – Spitzenreiter sind die USA. Als Exportschlager, um Devisen zur Schuldenreduzierung zu bekommen, um Importe zu ersetzen, und um billiges Sojaöl zur Verfügung zu haben, ist die Sojaproduktion in Brasilien mit Subventionen und Krediten massiv gefördert worden. Paraguay, stets wachsam angesichts der Konkurrenz, hat das Programm des Nachbarn importiert, große, kapitalkräftige brasilianische Firmen ins Land gelockt und ebenfalls mit Soja expandiert.
Auch im Osten Boliviens soll der Sojaanbau massiv ausgeweitet werden. Dazu wird die Hafenkapazität in Caceres verdreifacht – mit Hilfe der größten Agrarfirma der Welt, Cargill aus den USA, die 51 Prozent am Hafen besitzt. Ab März 1997 sollen über den oben erwähnten Transportweg Madeira-Amazonas 750 Tonnen Soja pro Tag verladen werden – das ist eine LKW-Ladung alle 2 Minuten.

Widerstand – die Rios-Vivos Koalition

Gegen das Projekt wenden sich mittlerweile viele NRO. Gegen HPP haben sich über 300 Gruppen aller fünf Länder, darunter indigene Organisationen, soziale NROs und Umweltorganisationen zu einer Koalition namens Rios Vivos zusammengeschlossen. Sie versuchen, das Projekt und die Bandbreite der Folgen in der Bevölkerung bekannt zu machen, organisieren Seminare, auf denen sich zum Beispiel Indígenas aus mehreren Ländern treffen, um gemeinsame Positionen zu überlegen. Sie bündeln und koordinieren die Kritik der NROs und haben international Kontakt mit Organisationen aufgenommen, um von außen Druck auf Regierungen und Finanzinstitutionen auszuüben. Zu Rios Vivos gehören daher mittlerweile auch eine europäische und eine amerikanische Organisation.
In der Bundesrepublik halten mehrere Organisationen ständigen Kontakt zu Rios Vivos und arbeiten mit ihnen zusammen. So waren im Frühjahr 1996 fünf Vertreter von Rios Vivos in der Bundesrepublik und haben das BMZ und andere Institutionen der Entwicklungshilfe besucht und über die fehlende Vorabinformation und Einbeziehung der Bevölkerung in das Projekt aufgeklärt.

Kein Fortschritt ohne Aufklärung

Rios Vivos ist nicht grundsätzlich gegen den Transport auf den Flüssen, da diese seit Jahrhunderten genutzt werden. Die Organisation wendet sich aber dagegen, daß ohne jede Mitwirkung und voraussichtlich ohne jeden Nutzen für die regionale Bevölkerung ein Megaprojekt durchgezogen wird. Sie fordern daher eine umfassende Information über HPP und alle angekoppelten Projekte. Sie fordern eine Beteiligung und Einbeziehung der Menschen und eine Diskussion über das mit HPP vorgegebene Entwicklungsmodell. In den Worten einer Resolution, die 70 VertreterInnen von 22 indianischen Gruppen im Mai herausgegeben haben, sieht das so aus: “Erlaubt uns, den Regierungen zu mißtrauen angesichts der Gleichgültigkeit, die sie uns bei anderen Großprojekten entgegengebracht haben, die sie uns immer als positive Projekte dargestellt haben und die uns nie etwas Positives gebracht haben. Wir wissen, daß der Fluß vertieft wird, und wir fürchten, daß unser Land austrocknet. Wir wollen, daß die Regierung uns garantiert, daß sich die Flüsse nicht verändern und wir wollen wissen, was getan wird, um unser Leben zu verbessern. Wir verlangen, daß mit HPP nicht eher angefangen wird, als bis gründliche Umweltstudien fertig sind, die die Belange der Anwohner und unsere miteinbeziehen. Wir wollen, daß unsere Territorien bestätigt werden. Wir empfinden HPP als Angriff auf das sozioökonomische und kulturelle System der indigenen Völker, weil es uns ein Entwicklungsmodell auferlegt, daß einem adäquaten Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen fremd ist.”

Hidrovía und Deutschland

Die Bundesrepublik ist bisher nicht direkt an der Finanzierung und den Bauvorhaben beteiligt, wird aber als “reiches Land” als eine potentielle Finanzquelle betrachtet. Finanzierungen könnten dabei über die offizielle Entwicklungshilfe oder Exportbürgschaften laufen. In Betracht gezogen werden muß dabei, daß es nicht nur um die Finanzierung der Flußarbeiten geht, sondern auch um Anschlußprojekte wie Bergbau und Agrobusiness.
Indirekt ist die Bundesregierung allerdings schon jetzt an dem Projekt beteiligt – und zwar über ihre Beteiligung an der Interamerikanischen Entwicklungsbank, dem UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (8,9 Prozent Beitragsanteil 1993) und der EU. Letztere hat für Studien zur Modernisierung mehrerer Häfen entlang der Flüsse 850.000 ECU zur Verfügung gestellt. Die Durchführung der Studien, die bis September 1997 fertiggestellt werden sollen, obliegt der deutschen Consulting Rogge Marine in Bremerhaven. Innerhalb der EU ist die Bundesrepublik ausserdem der wichtigste Handelspartner für Lateinamerika, besonders für Agrarimporte: 28 Prozent aller Agrareinfuhren stammen aus der Region, davon sind 30 Prozent Futtermittel, also auch Soja. Vor dem Hintergrund wachsender Handelskontakte zwischen EU und Mercosur würden nicht nur substantielle Handelsinteressen der EU befriedigt, sondern wären auch millionenschwere Aufträge für europäische Firmen zu erwarten. Nur einige, durch die Erfahrung mit dem Erzabbauprojekt Grande Carajas in Brasilien mißtrauisch gewordene EU-ParlamentarierInnen haben sich vorsorglich in einer informellen Hidrovía-Arbeitsgruppe zusammengeschlossen.
Auf Nichtregierungsebene haben sich ca. 15 deutsche Umwelt- und Entwicklungsorganisationen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, darunter der WWF, KoBra (Koordination der Brasiliengruppen) und Pro Regenwald. Die Gruppen machen in der Bundesrepublik und auf EU-Ebene Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. Gesucht wird auch der Kontakt zu Gruppen, die sich in Deutschland mit der Problematik Wasserstraßen, also dem geplanten Ausbau der letzten Kilometer freifließender Flüsse und dem Rückbau kanalisierter Flüsse beschäftigen, um den Partnern in Lateinamerika Vergleichsmöglichkeiten und Kritikpunkte bieten zu können.
Ob HPP in der jetzigen Form verhindert werden kann, hängt zu einem grossen Teil davon ab, ob und wie europäische und dabei besonders deutsche Gruppen und Personen anfangen, Öffentlichkeit zu schaffen und Druck auf PolitikerInnen auszuüben. Die weltweite Degradierung von Flüssen zu Verkehrswegen auf Kosten der AnwohnerInnen und der Natur führt in eine Sackgasse. Transport muß nicht billiger und schneller werden, sondern anders: vermieden, wo nicht notwendig und vor allem so teuer wie es den ökologischen und sozialen Schäden entspricht, die er verursacht.

Argentiniens Kampf gegen die Haare

Summa summarum war Ar­gen­tinien in den letzten 20 Jah­ren die er­folg­reichste la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft. Zweimal Welt­meister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist al­ler­dings der Wurm drin. Bei der Qua­lifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 ge­gen Kolumbien die höchste Heim­schlappe in der Länder­spiel­geschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Do­pings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den ver­letz­ten Caniggia bereits im Ach­tel­fi­nale aus. Der Trainer Al­fredo Ba­sile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Da­niel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeister­trup­pe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Welt­mei­ster­ka­pitän von 1986. Der Grund: Pas­sarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als er­ster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spie­len durfte er indes nicht, sei­ner Meinung nach we­gen Mara­do­na, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswe­gen für José Luis Brown als Li­bero plädierte. Je­denfalls stellte Trainer Carlos Bi­lardo Brown auf, Argentinien wur­de Weltmei­ster und die In­tim­feindschaft Passarella-Mara­do­na nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas er­ste Amtshandlung war denn auch ziel­gerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hät­ten in der Nationalmannschaft fort­an nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in er­ster Linie galt: dem ohrbe­ring­ten Maradona und dessen lang­mäh­nigem Freund Caniggia. Ei­ne glatte Überreaktion, war doch Ma­radona wegen seines Do­ping­ver­gehens ohnehin 15 Mo­nate ge­sperrt und damit für die Na­tio­nal­mannschaft kein Thema. Ca­nig­gia wiederum war in Europa wie­der einmal auf Ver­einssuche un es war äußerst un­klar, ob er über­haupt weiter für die Aus­wahl spielen wollte. Über­re­ak­tion aber insbesondere des­we­gen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mann­schaft, Mittelfeldspieler Fer­nando Redondo und Torjäger Gab­riel Batistuta lange Mähnen zier­ten.

Der Trainer als Frisör

Die Reaktionen fielen un­ter­schiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einle­gen, Redondo machte klar, daß sei­ne langen Haare ein Teil sei­ner Persönlichkeit seien und er un­ter diesen Bedingungen nicht wei­ter spielen würde, Batistuta be­suchte hingegen flugs den Fri­sör und ließ sich die Haare schnei­den. Für ihn stand auch am mei­sten auf dem Spiel. Schließ­lich war er auf dem besten We­ge, Maradona als Rekordtor­schütze der Nationalmannschaft zu verdrän­gen, Pausen à la Ca­nig­gia kämen da ungelegen.

Die Krise geht weiter

Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wur­de zum Fehlschlag. Mara­do­na ließ sich von seinem Feri­enort ein­fliegen, begutachtete die Spie­le und lästerte über die Dar­bie­tungen. Vor allem die bla­mab­le 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Muni­tion. Das unglückliche Aus­schei­den gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Hausse­gen hing schief. Nur noch ein knap­pes Jahr bis zur Qualifika­tion und der argentinische Fuß­ball in der großen Sinnkrise. Zwei Tur­nie­re hintereinander frühzeitig ge­scheitert, die ein­stige Tur­nier­mann­schaft par ex­cellence be­gann an sich zu zwei­feln.

Ein haariger Kompromiß

Maradonas Sperre war unter­des­sen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Eu­ro­pa, Benfica Lissabon, war Ca­nig­gia wegen unmotivierten Auf­trit­ten bei den Fans derart in Un­gna­de gefallen, daß er auf of­fener Straße eine Abreibung ver­paßt be­kam. Daraufhin kehrte er der eu­ropäischen Diaspora den Rük­ken, zumal Maradona bei Boca Ju­niors sehnsüchtig auf seinen er­klärten Lieblingsmit­spieler war­tete. Wenn sie zu­sammen spiel­ten, harmonierten sie wie Zwil­linge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, be­ziehungsweise wegen roter Kar­ten gesperrt. Titel blie­ben so für Argentiniens populär­sten Club Boca Juniors de Bue­nos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zu­neh­mend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifi­ka­tionsspiel gegen Bolivien be­nen­nen und Caniggia spielte im­mer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fuß­ball­fan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unver­zicht­bar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kom­pro­miß­bereit. Um ganze drei Zen­ti­me­ter ließ er sich die Haare schnei­den. Passarella konnte an die­ser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Ca­nig­gia ins Aufgebot. Alles in But­ter, da sich das Problem Re­don­do wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Ar­gentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Fa­vo­rit schien wieder auf den Er­folgs­pfad zurückgekehrt zu sein.

Ecuadors bolivianische Taktik

Nach dem Heimspiel in Bue­nos Aires stand das Auswärts­spiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Welt­meisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Boli­vien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flach­landbewohner aus Argenti­nien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und kli­matischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Me­ter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella be­zeichnete die Höhe als zusätz­li­chen Spieler Ecuadors. Mit 20 Li­tern Sauerstoff sollte dieser zu­sätzliche Spieler bekämpft wer­den. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Car­los Morales behielt Recht: “Ba­tistuta und Caniggia werden Schwindel­anfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen kön­nen”. Das argentinische Stür­mer­duo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Nieder­lage die logische Konsequenz. Ecua­dor hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bis­herigen fünf Heimspiele ge­won­nen, nur gegen die Allklima­spie­ler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Aus­wärts­bilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vier­ten Platz.

Zurück in der Krise

Das nächste Auswärtsspiel Ar­gentiniens war nun in Perus Haupt­stadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Ar­gen­tinier ein torloses Unent­schie­den retten. Neben dem Tor­wart Burgos war Abel Balbo der auf­fälligste Spieler Argenti­niens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer hal­ben Stunde duschen gehen. Ca­niggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schä­me mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht ge­spielt habe. Ich suche keine Ent­schul­digungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Ent­schuldigun­gen suchen.” Vor­erst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Ver­ein in Europa und befindet sich nun wieder in Ver­hand­lun­gen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturm­partner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im näch­sten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länder­spiel­torrekord von 34 zu über­bie­ten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch ge­stoh­len. Im Tor Para­guays steht nämlich José Luis Chi­la­vert, Torhüter und Torjäger in ei­ner Person. Der Keeper des ar­gen­tinischen Vereins Velez Sars­field hatte vor dem Spiel an­ge­kün­digt, einen Treffer zu ver­sen­ken. Nichts ungewöhnliches für Chi­lavert, der schon über 30 Elf­meter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnapp­te sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit ei­nem Freistoß zum 1:1 Endstand. Ar­gentinien war schwer getrof­fen. Ausgerechnet der Gastar­bei­ter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punkt­spiels eine leichte Tätlich­keit begangen, die nun schwer ge­ahndet wurde. Mehrere Mo­na­te Ausschluß vom Spielbetrieb lau­tete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kün­dig­te seinen Weggang aus Ar­gen­ti­nien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chi­la­vert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich ver­lor er seinen Nimbus als unfehl­ba­rer Elfmeterschütze und ver­sieb­te gleich deren zwei in einem Punkt­spiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Ab­schluß der Vorrunde hinter Ko­lum­bien an zweiter Stelle steht, punkt­gleich mit dem Ersten und ge­radezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußt­sein war heftig angeknackst, ge­gen Mannschaften wie Peru und Pa­raguay nicht zu gewinnen, war reich­lich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das vene­zo­lanische Team kein Länder­spiel gewinnen können, von Punk­ten bei Qualifikationsspie­len ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zu­rücktrat. Gegen Argentinien lang­te es immerhin zu einem Füh­rungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Vene­zolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Tref­fer nicht, das Ziel Selbstbe­wußt­sein für die anstehenden Spie­le zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brach­ten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmei­chel­hafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letz­ten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellen­füh­rer Kolumbien. Unterdessen glänz­te der wiedergenesene Re­don­do beim designierten spani­schen Meister Real Madrid wäh­rend Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch eini­ge Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball be­zeich­net, jammerte er nun ge­gen­über dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Ar­gentinien haben kei­nen Mara­dona mehr, das ist viel schlim­mer.” Maradona zu be­rufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war die­ser vereinslos und zudem hatte er in seiner vor­erst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich auf­merksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elf­meter hin­tereinander ver­schos­sen hatte. Von den gegnerischen Fans ver­spottet, von Selbst­zwei­feln ge­plagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Er­ho­lung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Ver­tragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Re­don­do. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er sei­ne Haare mindestens um drei Zen­timeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem we­gen einer Formkrise nicht mal be­rufen worden, so daß Argenti­nien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damali­gen langhaarigen Leistungsträger Re­dondo, Batistuta und Caniggia an­trat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen ste­hen seitdem wieder auf Kurz­haar­schnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.

Die Gewerkschaften und der MERCOSUR

Der MERCOSUR birgt viele Ge­fahren für die Bevölkerungen der sich integrierenden Län­der. Der Druck der Welt­markt­kon­kurrenz veranlaßt die Re­gie­run­gen der MERCOSUR-Staa­ten, die nationale Wirt­schafts­po-litik maximal auf die Be­dürfnisse der inländischen Un­ternehmen aus­zurichten. Die In­teressen der ar-beitenden Be­völ­kerung fallen so wieder ein­mal unter den Tisch. Die Aus­gangs­situation war schon bei Vertragsabschluß nicht rosig: So sind alle Mit­gliedsstaaten von ho­her Arbeits­losigkeit betroffen. Schwarzar­beit und das Vorent­halten von So­zi­alleistungen ste­hen ebenso auf der Tagesord­nung wie un­sichere Arbeitsplätze und Ein­stellungen außerhalb der ta­rif­li­chen Bestimmungen und Ar­beits­gesetzgebungen.
In Argentinien beträgt die Ar­beitslosigkeit heute fast 20 Pro­zent. Die Regierung Menem hat mit Über­nahme liberaler Pro­gram­ma­tik die traditionelle Funktion der Peronisten, die so­zialen In­teressen der Bevöl­kerung zu ver­treten, aufgegeben. Große Be­völ­ker­ungsgruppen ver­fügten somit über keinerlei Mittel mehr, die Ver­schlechterung ihrer Lebens­be­dingungen aufzuhalten. Die Regierung verschärft die­se Ent­wicklung zur Zeit noch im Zu­sammenspiel mit den ar­gen­ti­ni­schen Großunternehme­rIn­nen. So unterstützt die Regie­rung das von UnternehmerInnen­seite ge­for­derte Arbeitsflexibili­sie­rungs­pa­ket. Inhalt ist die Auf­hebung von flächendeckenden Tarifver­hand­lun­gen und -verträgen. Diese sollen zu­künf­tig in­ner­halb einzelner Un­ternehmen ge­führt werden. Zu­dem werden die Entschädigungs­re­gelungen bei Ent­lassungen mo­difiziert. Die Verwirklichung des MER­CO­SUR ist Teil der neo­liberalen Wen­de der Regie­rung Me­nems, die insbesondere auch mit um­fas­senden Privatisie­run­gen ar­gen­tinischer Staatsun­ter­nehmen einhergeht. So ent­stan­den in den letzten Jahren neue privat­wirt­schaftliche Mo­nopol- und Oligo­pol­gruppen, die häufig mit aus­län­dischen Unter­nehmen ver­floch­ten sind. Diese Gruppen pro­fi­tieren in erster Li­nie von der Au­ßenöffnungspoli­tik, da sie am ehesten in der Lage sind, sich den neuen Bedingungen anzu­pas­sen.
Für den MERCOSUR insge­samt gilt, daß durch die unter­schiedlichen Lohnniveaus der Mit­gliedsländer (zum Beispiel lag der Mindest­lohn in Argen­tinien 1995 bei 250 US-Dollar, in Brasilien jedoch nur bei 122 US-Dollar) Stand­ort­verla­ge­rungen und Sozial­dump­ing zu erwarten sind. Dazu kommt, daß sogenannte Wander­ar­beitneh­merInnen nicht nur aus den Mit­gliedsstaaten kommen, son­dern auch aus den Anrainer­staaten wie zum Beispiel Peru. Hier sind keine bilateralen Sozi­alabkommen in Sicht. Auch die Ar­beit im Informellen Sektor wird eine immer größere Rolle spie­len. In diesen werden viele verstärkt gedrängt, da der offi­zielle Arbeitsmarkt keine Per­spektive und da­mit keine Existenzgrund­la­ge mehr bietet. Diese Ent­wick­lung wird durch die wachsende Konkurrenz zwi­schen den Un­ter­neh­men noch verschärft. Ent­las­sungswellen und Betriebs­schlie­ßungen bezie­hungsweise -ver­le­gun­gen sind als Folge dieser Markt­konstellation absehbar.

Gegenmacht durch Gewerkschaften?

Nach einer derartigen Analyse stellt sich schnell die Frage nach ge­sellschaftlicher Gegenmacht. Die Gewerkschaften in Argenti­nien sind eine der gesellschaftli­chen Gruppen, die überhaupt Stel­lung zur Wirtschaftspolitik ihrer Regierung und zu Zielen und Strategien des MER­CO­SUR-Projektes genommen ha­ben. Indes sind die wirtschaft­li­chen und politischen Bedin­gun­gen, die den argentinischen Syn­dikalismus entstehen ließen, im Lau­fe der Zeit fast vollstän­dig ver­schwunden.
Das grundlegende Modell der Ge­werk­schaftsbewegung ent­stand mit der Regierung Peróns in den vierziger Jahren und war darauf angelegt, die sozialen Kämpfe innerhalb des Landes zu regulieren. Die Entstehung von großen Industrien und Fabriken förderte gewerkschaftliches Den­ken und Handeln nach euro­pä­ischem Vorbild. Es entstanden branchenbezogene Gewerk­schaf­ten, die sich in großen Dach­verbänden zusammen­schlossen.
Die Einflußnahme der Ge­werk­schaften schlug sich bei den Tarifverträgen vor allem in höhe­ren Löh­nen und sozialen Absi­cherungen nieder. Und das in ei­nem wirt­schaftlichen Sze­nario, in dem die Löhne mit ihrer Wir­kung auf die effektive Nachfrage als dynamischer Ent­wick­lungsfak­tor erachtet wur­den, da sie, inmitten einer binnenmarkt­orien­tierten Öko­nomie, in die “eigenen” Unternehmen zurück­flos­sen. Zu­sätzlich zeichnete sich Ar­gen­tinien bis in die sieb­ziger Jahre infolge wachsender Indu­stria­lisierung durch eine sehr ge­ringe Arbeitslosigkeit aus.
Die argentinische Gewerk­schafts­bewegung hatte aufgrund ihrer Beziehungen zum Staat und zu den Peronisten immer eine star­ke und mächtige institutio­nelle Funktion. Trotz der Staats­streiche in den Jahren 1955, 1969, 1976 sowie der wieder­holten Zeiten der Repression hat die­se vom Peronismus geschaf­fene Struktur fast unverändert bis zum heutigen Tage überlebt.
In den letzten zwei Jahrzehn­ten hat sich die politische und wirt­schaftliche Landschaft im Co­no Sur verändert. Nicht zu­letzt die Schaffung des MER­COSUR macht deutlich, daß sich die Südländer auf den Weltmarkt orientieren und eine Öff­nung ih­rer Ökono­mien für ausländ­ische Produkte und ausländ­isches Ka­pital an­streben. Die Löhne wer­den nun nur noch als Kosten­faktor gese­hen, die Bedeutung als Nachfra­ge­faktor wird ver­nachlässigt. Die so­zialen Kosten der Wirtschafts­politik der Regie­rung Menem sind enorm: Die Reallöhne in In­dustrie und Bau­gewerbe sind im Vergleich zu 1988 um 26,3 Pro­zent gefallen. Der Wohlfahrts­staat wurde de­mon­tiert: Schul­bil­dung und die Gesundheitsver­sor­gung sind für gro­ße Bevölke­rungsschichten un­erschwinglich ge­worden. Kein Wun­der, wenn die ärmsten 20 Prozent gerade mal 5 Prozent des nationalen Einkommens bezie­hen.
Infolge dem Schrum­p­fen der Produktions­sek­to­ren in den letz­ten Jahr­zehnten, verkleinerte sich die Klasse der In­dustriearbeiterIn­nen, die in ab­soluten Zahlen und im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung Ar­gentiniens immer weniger Be­deutung hat.
In Argentinien war in den letz­ten 40 Jahren der Dachver­band CGT ohne Konkurrenz und pfleg­te immer sehr enge Bezie­hungen mit den Regierungen. Jahr­zehntelang galt der argenti­nische Gewerkschaftsbund CGT als Inbegriff des staatskonfor­men, kooperativistischen, par­tei­ab­hängigen Gewerk­schafts­mo­dells in Lateinamerika.Heute existieren schon zwei große offi­zielle Gewerkschafts­verbände neben der CGT. Zum einen die 1992 gegründete CTA (Congreso de Trabajadores Ar­gentinos), die als kritikfreudiger gegenüber dem Menemismus gilt. Zumin­dest auf formeller Ebene verläßt sie das klassische Kon­zept der Interessengruppen­ver­tre­tung, in­dem sie sogenannte In­dividualmitglieder, zum Bei­spiel Arbeitslose, akzeptiert.
Zum anderen gründete sich 1993 die MTA (Movimiento de los Trabajadores Argentino), die sich als Opposition zum CGT ver­steht.
Des weiteren existieren heute mehr als 30 Gewerkschaften auf nati­onaler Ebene und dutzend­weise Un­ter­gliederungen im Landesin­nern.
Bis in die 80er Jahre organi­sierten sich die Gewerkschaften im Cono Sur nur auf nationaler Ebene. 1985 wurde nun die CCSCS gegründet (Coordi­na­do­ra de los Centrales Sindicatos del Cono Sur), die die zentralen Ge­werk­schaftsver­bände Argen­tini­ens, Boliviens, Brasiliens, Chi­les, Paraguays und Uruguays um­faßt.
Im Hinblick auf die zu er­wartenden sozialen Folgen ver­ur­sachte der MERCOSUR große Ver­unsicherung: Welche Ar­beits­markteffekte, welche Loh­n­entwicklung würde es geben und wie würde sich die soziale Lage breiter Bevölkerungs­schichten ver­ändern? In Argenti­nien sind vor allem wesentliche Teile der Massenkonsum- und der Ka­pi­tal­gü­terindustrie durch den MER­COSUR betroffen. Die CCSCS einigte sich An­fang der 90er Jahre auf folgende Forderungen: 1. Einrichtung eines Sozial- und Strukturfonds zum Aus­gleich struktureller Ungleichge­wich­te,
2. Aufwertung der Funktion der ArbeitsministerInnen als Haupt­vertreterInnen in den MER­COSUR-Institutionen
3. Angleichung der rechtli­chen Bestimmungen aller Länder an das internationale Ar­beits­recht, sprich die Normen der In­ter­na­tionalen Arbeits­orga­ni­sa-tion ILO. Angestrebt wird eine So­zi­alcharta, die Grundrechte wie Tarifautonomie, gewerk-schaft­li­che Organisationsfreiheit und so weiter festlegen soll.
4. Erhöhung des Wissens- und In­formationsstandes über den MER­COSUR.
Entweder gehen diese Aussa­gen und Forderungen an den ge­sell­schaftlichen Problemen vor­bei oder sie sind so allgemein ge­halten, daß die Gewerkschaf­ten keine Alterantive mehr gegen die Politik ihrer Regierungen (nicht nur gegen den MER­CO­SUR) zu bieten scheinen. Das ist nur zum Teil darauf zurück­zu­führen, daß die Schnelligkeit des Integrati­onsprozesses die ver­schie­denen Gewerkschafts­ver­bän­de über­rascht und deshalb über­fordert hat.
Der Zusammenschluß CCSCS be­stand bei Verhandlungsbeginn zum MERCOSUR erst seit kur­zem und verfügte über keine kon­kreten gemeinsamen Hand­lungs­strategien. Bis heute be­wah­ren die Gewerkschaftsver­bän­de ihre nationale Ausrich­tung.
Entscheidend für die Schwä­che der Gewerkschaften ist au­ßerdem, daß sie unter fehlender An­erkennung in der Bevölke­rung leiden. Im Falle Argentini­ens wird der CGT-Spitze, des einzigen argentinischen Dach­ver­bandes, der in der CCSCS or­ganisiert ist, Korruption, unde­mokratische Strukturen und das Verfolgen eigener Machtinteres­sen vorgeworfen.

Unkoordinierte Proteste

Im Zusammenspiel mit dem Ver­sagen traditioneller Gewerk­schafts- strategien scheinen ange­sichts des freien Spiels der Markt­kräfte, der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und der wirtschaftlichen Außen­öffnung kaum erfolgreiche Kon­zepte für Gegenmacht in Sicht. Eine Auseinandersetzung mit der steigenden Armut, der Beschäf­tigung im Informellen Sektor so­wie deren fließenden Grenzen zum formellen Arbeitsmarkt fehlt. Dies läßt die Gewerk­schaf­ten zunehmend zu ständi­schen Ver­tretungen immer klei­ner wer­dender Interessensgruppen wer­den.
Die Angst der Bevölkerung in Ar­gentinien, insbesondere vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, ist etwas sehr Greifbares gewor­den.
Die Gewerkschaften setzen der offiziellen Politik und der Durchsetzung von Unterneh­mens­interessen nur sehr schwa­chen Widerstand entgegen. Nichtsdestotrotz bleiben die Ge­werk­schaftsmitglieder eine mo­bili­sierbare Basis, wie sich unter an­derem in dem Generalstreik am 8. August 1996 gegen den So­zi­al­abbau gezeigt hat. Aufse­hen hat auch die einige Minuten dau­ernde “Dunkelheit” in Bue­nos Aires erregt, ausgelöst durch das kollektive Licht-Ausschalten in Privathaushalten. Diese Pro­testmomente sind in Argentinien in den letzten Jahren eher unko­ordiniert und entfachen sich meist regional und in punktuel­len Aktionen. Schon in den Zei­ten der Hyperinflation 1990 kam es zu beträchtlichen sozialen Un­ruhen, die jedoch nicht in eine gezielte oppositionelle Strategie, sondern in Überfällen und Plün­derungen von Supermärkten mün­deten. Diese Form von Pro­test wiederholte sich im Juli 1996, als über 400 RentnerInnen und Arbeitslose verschiedene Supermärkte in der argentini­schen Hauptstadt plünderten. Ei­ne Protestaktion, die durch die An­kündigung erneuter Kündi­gungs­wellen und Rentenkürzun­gen durch Präsident Menem aus­gelöst wurde.
In der Bevölkerung besteht al­so Widerstand gegen die sozialen Einschnitte, die durch den MERCOSUR auf­grund seiner Durchsetzung “von o­ben” nur ver­schärft werden kön­nen. Ein neu­er Ansatzpunkt, diese Kräfte zu organisieren, kön­nte bei den (gewerkschaftlich ori­entierten) Gruppen liegen, die sich in den letzten Jahren in Ar­gen­tinien ge­bildet haben und die ein ständi­sches Interessenver­tre­tungs­konzept abzulehnen be­ginnen.

KASTEN

MERCOSUR

Anders als frühere Integrati­onsprojekte in La­tein­amerika, die hauptsächlich auf den Ab­schluß ei­ner Freihandelszone ab­zielten, ist der MER­CO­SUR aus­drücklich nicht als Instrument eines de­fen­siven Regionalismus kon­zipiert. Am 26. März 1991 unterzeichneten die Präsidenten aus Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Para­guay und Uruguay in As­un­c­ión, Paraguay, den Vertrag, der den MER­CO­SUR (Mercado Común del Cono Sur) ins Leben rief. Hauptziel des MERCOSUR soll­te die suk­zes­sive ökonomi­sche Integration der beteiligten Staa­ten über die Etap­pen Frei­han­dels­zone, ge­mein­same Zollunion und ge­mein­sa­mer Markt sein. Mit dem Ver­trag von Asunción ent­stand ab dem 1. Januar 1996 der Bin­nen­markt für den freien Waren-, Diens­tleistungs- und Ka­pi­tal­ver­kehr. Jedoch offe­riert der Ver­trag jedem Land ei­ne Schutzklausel, um zeit­wei­lig Im­portquoten für bestimmte Güter fest­zu­setzen, falls eine Branche durch den drastischen An­stieg der Einfuhren aus ande­ren Mit­gliedsländern schwere Schä­den bei Produktion und Be­schäftigung erleiden würde. Da­mit soll den unterschiedlichen Gegebenheiten der MER­CO­SUR-Mitgliedsländer Rech­nung ge­tragen wer­den: An dem gemeinsamen Bruttoinlandspro­dukt im Entstehungsjahr hat Bra­silien einen An­teil von fast 80 Pro­zent, Ar­gentinien 18 Prozent, der Rest entfällt auf die beiden kleinen Länder. Sehr unter­schiedlich strukturierte Volks­wirt­schaften treffen aufeinan­der: Während Kapital­gü­ter und lang­lebige Kon­sumgüter vor al­lem aus Bra­silien und Agrar-, Verbrauchsgüter sowie Le­bens­mittel aus Argen­tinien kommen, sind Para­gu­ay und Uruguay über­wiegend Rohstoffexpor­teu­re. Die Parlamente al­ler vier Mitgliedsstaaten ha­ben den TRATADO DE ASUNCION in­ner­halb von acht Monaten nach seiner Unter­zeich­nung ratifiziert, so daß er am 28.11.1991 in Kraft tre­ten konnte. Seit diesem Zeit­punkt haben die Ins­titutionen des MER­COSUR ihre Arbeit aufge­nom­men. Das oberste politische Gremium ist der “Rat des Ge­meinsamen Marktes” CMC. Exe­ku­tiv­organ ist die “Gruppe des Gemeinsamen Mark­tes” GMC. Die Bearbeitung “fach­lich-tech­ni­scher” Aspekte des In­tegrationsprozesses findet auf Expertenebene in elf ver­schie­den­en Arbeits­gruppen statt. Diese AGs erar­beiten Vor­schläge, welche für die GMC jedoch nur Empfeh­lungs­charakter haben. Nur in der 11. Ar­beits­gruppe (“Arbeitsbezieh­ung­en, Beschäf­ti­gung, Soziale Si­cherheit”), die den ab­surden An­schein erweckt, daß diese An­ge­legenheiten un­ab-hän­gig von den 10 Fachge­bieten (wie zum Bei-spiel Land­wirtschaft und Steuerpolitik) be­trachtet werden könnten, haben die Gewerk­schafts­ver­bän­de ein formelles Rede- und Vorschlags­recht. Als fünf­tes Land des ame­rikanischen Südhälfte ist 1996 Chile dem MER­COSUR beige­treten. Da­durch wird die direkte Öffnung zur Pazifikküste und damit zum Südost-Asien-Handel geschaf­fen. Außer­dem wird zur Zeit der Beitritt Boliviens vorbe­reitet.”Neu” am MERCOSUR ist, daß im Ge­gensatz zu früheren wirt­schaftlichen Inte­gra­tions­pro­jek­ten in Latein­amerika die Ziel­setzung sich nicht nur auf Zoll­präferenzen beschränkt, son­dern auch die politi­schen Gren­zen am Schluß überflüssig ge­worden sein sollen – ganz nach Vorbild der EU. Je­doch hat – weder im voraus noch innerhalb des ge­schaf­fenen Institutionen­gebäudes – eine Kon-sul­tierung gesell­schaftlicher Kräfte jenseits von Staat und Unternehmensfüh­run­gen stattgefunden. Die Schaf­fung ei­nes gemeinsamen Gremi­ums, wie zum Beispiel ein ge­meinsames Parlament, das eine gewisse Kontrollfunktion ein­neh­men könn­te, ist auch länger­fristig für den MER­COSUR nicht geplant. Der MERCOSUR ist die süd­amerikanische Ant­wort auf die weltweite kapitali­stische Dynamik, in der sich zur Zeit re­gionale wirtschaftliche Blöcke bilden, die so die natio­nalen Unternehmen für den in­ternationalen Wettbewerb stär­ken sollen, nicht zuletzt durch die Entwicklung weltmarktfähi­ger kosten­sen­ken­der Produkti­onskonzepte. Besonders großen An­reiz bietet die neue Freihan­delszone den mul­ti­na­ti­onalen Kon­zernen. Diese können nun ihre Pro­duktionen zentralisieren und dabei den kos­tengünstigten Standort wählen. Innerhalb der welt­weiten kapitalistischen Ar­beitsteilung kommt dem MER­COSUR eine ganz bestimmte Rolle zu. So sind die Länder des Cono Sur insbesondere auf stei­gende Exporte in die Indu­strienationen an­ge­wiesen. Sie er­füllen die Funktion eines “Hin­ter­hofes”, in denen die Multis profitabler pro­duzieren kön­nen. Der MERCOSUR, des­sen Mit­gliedsstaaten in ihren Handelsbeziehungen tra­di­ti­onell stark mit den USA verflochten sind, be­deutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Da­raus erklärt sich auch die sehr wach­same Hal­tung der Europäischen Union, die schon erste Ver­handlungen mit MERCOSUR-Ver­tre­terInnen zwecks der Schaffung einer Freihandelszone MER­COSUR-EUROPÄISCHE UN­ION geführt hat. Die EU entdeckt Lateinamerika als noch nicht voll genutzten Ab­satz­markt. Den USA soll das Feld nicht allein überlassen wer­den.

Paraguay – Am Nasenring durch die Arena

So einfach schien das Spiel für General Lino Oviedo zu sein. Man rebelliert gegen den Präsidenten, macht ihm deutlich, daß die Streitkräfte mehrheitlich auf der anderen Seite stehen, und schon tut der düpierte Präsident öffentlich kund, den Putschisten demnächst als Verteidigungsminister in Amt und Würden sehen zu wollen. Beinahe wäre es genauso gekommen, hätten sich nicht die mehrheitlich oppositionellen ParlamentarierInnen einer solchen Manifestation politischer Peinlichkeit entgegengestellt. Worauf Präsident Wasmosy verlauten ließ, er habe die Stimme des Volkes vernommen, die Ernennung Oviedos zum Minister sei damit hinfällig. Was Satire scheint, ist Realität.
Juan Carlos Wasmosy hatte nie den Ruf, ein besonders starker Präsident zu sein, und niemand in Paraguay dürfte daran gezweifelt haben, daß die Streitkräfte nach wie vor eine Bastion politischer Macht im Lande darstellen. Trotzdem ist die Offensichtlichkeit atemberaubend, mit der Oviedo den Präsidenten als machtlos vorführt. Daß Militärs auch in den parlamentarischen Demokratien Lateinamerikas im Hintergrund die Fäden ziehen und wesentlichen Einfluß besitzen, ist nicht neu. Aber kaum einmal ist, seit dem Ende der Diktaturen in Lateinamerika, ein Präsident von einem ihm “untergebenen” General so am Nasenring durch die Arena gezogen worden, im Publikum die durch das Stichwort “Putsch” alarmierte Weltpresse.
Lino Oviedo dürfte vor seiner Rebellion gewußt haben, daß ein Militärputsch nach klassischem Muster das Land in die Isolation geführt hätte. Die negative Reaktion der übermächtigen Mercosur-Partner Argentinien und Brasilien war abzusehen, ebenso der Protest der Clinton-Administration. Es spricht für sich, daß sich Oviedo schon nach wenigen Tagen auf das Arrangement mit Präsident Wasmosy einließ. Aber innenpolitisch hat er klargestellt, daß die paraguayischen Streitkräfte auf ihrer Machtposition bestehen.
Der “Putschversuch” wirft ein deutliches Licht auf den Zustand so mancher parlamentarischen Demokratie in Lateinamerika. Einerseits läßt der internationale Kontext keine Alternative zu: Die parlamentarisch-demokratische Fassade muß stehen, um sowohl von den USA als auch von den regionalen Mächten anerkannt zu werden.
Andererseits sind durch die innenpolitischen Machtverhältnisse die Möglichkeiten begrenzt, demokratische Grundprinzipien wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit oder Kontrolle der Regierung durch die Opposition tatsächlich durchzusetzen und im Konfliktfall auch beizubehalten. Daß das Militär derjenige politische Faktor ist, der am wenigsten zur Aufgabe seiner Machtstellung bereit ist, gilt in Paraguay mehr als anderswo.
Oviedo scheint diese ambivalente Stellung der Armee sehr genau begriffen zu haben und verkörpert sie gewissermaßen in seiner Person. Er stand 1989 an der Spitze jener Rebellion, die General Stroessner stürzte und hatte, zumindest bis zum jüngsten “Putschversuch”, den Ruf eines loyalen, die demokratische Fassade achtenden Militärs. Aber er war es auch, der als Armeechef 1993 die Kandidatur seines Parteikollegen Wasmosy unterstützte und höchstwahrscheinlich auch mit unsauberen Methoden bei dessen Wahl nachhalf. Wasmosy ist kein unabhängiger Präsident, und nicht zu letzt Oviedo hat dafür gesorgt, daß er es nicht sein kann.
Dem General werden seit Jahren Ambitionen auf den Präsidentensessel nachgesagt, und es ist durchaus möglich, daß er mit seinem Image des starken Mannes breite Wählerschichten für sich gewinnen kann.
Sollte so wie in anderen lateinamerikanischen Ländern auch in Paraguay die Unzufriedenheit mit dem parlamentarisch-demokratischen Alltag groß genug sein, spricht nichts dagegen, daß sich eine Mehrheit der WählerInnen für einen Kandidaten Oviedo entscheiden könnte. Die Ereignisse der letzten Wochen wären dabei eher ein Plus als ein Minus für Oviedos Position in der Wählergunst. Gar so eindeutig gegen die Militärs muß die “Stimme des Volkes” nicht schallen.
Auch wenn der direkte Durchmarsch Oviedos ins Verteidigungsministerium gestoppt zu sein scheint, die nächste Präsidentschaftswahl kommt bestimmt. Man wird Lino Oviedo bei dieser Gelegenheit wohl wiedersehen und darf gespannt sein, ob die demokratischen Spielregeln dann eine Rolle spielen. Denn Artikel 236 der paraguayischen Verfassung läßt die Präsidentschaftskandidatur von Putschisten nicht zu.

Deutsches Exil in Lateinamerika

Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlin­gen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller Emi­grantInnen fanden dort zumin­dest für eine gewisse Zeit Zu­flucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Latein­amerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chrono­logie der Emigration in die mittel- und südamerikani­schen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutsch­land eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Ein­wan­derungsländer bevorzugten Staa­ten des “Süd­gürtels”, also Argen­tinien, Chile, Uruguay und das südliche Bra­silien, waren bis etwa 1937 eine Art Ge­heimtip für Emi­grantInnen, während in die übri­gen Län­der nur verein­zelte Personen­kreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeit­raum von einigen Staaten unter­nommenen Aktionen zur Auf­nahme von EmigrantInnengrup­pen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzel­fällen die 100 überschrit­ten, – so die An­siedlung saarländi­scher Emi­grantInnen in Para­guay.
Die Erklärung für dieses Phä­nomen liegt darin, daß Latein­amerika kaum im Motivations­spek­trum von Hitler-Flücht­lin­gen angesiedelt werden konn­te. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herr­schaft nach Deutsch­land zurückkehren woll­te, blieb nach Möglichkeit in einem Nach­barland, jedenfalls in Eu­ro­pa. Wer als Jude Deutsch­land den Rücken kehrte und end­gültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Aus­reise nach Palästina. Auch Emi­grationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach La­teinamerika emigrierte, war trotz des poli­tischen Hinter­grundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Be­drohungen und Repressalien freie Existenz auf­bauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typi­schen Einwande­rungsländer des Süd­gürtels be­stätigt diese Beob­ach­tung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restrik­tionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr auf­nehmen konnten oder woll­ten, begann die Massen­emigra­tion in überseeische Länder, vor­zugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegs­bedingten Un­terbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikani­schen Staaten daraufhin die Ein­wanderung bremsten und zeit­wei­lig die Grenzen völlig sperr­ten oder nur unter besonderen Be­dingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlings­strom auch in “we­niger at­traktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Hon­duras oder Bolivien, ob­wohl er eigentlich nach Palä­stina oder Nordamerika emigrieren wol­lte. Man­che Länder nahmen den Cha­rakter von Wartesälen an, in de­nen Flüchtlinge bis zu ihrer mög­lichen Weiterreise vor­über­ge­hend Zuflucht nahmen. Wer in Ku­ba oder in der Domini­kanischen Republik Asyl ge­funden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Para­guay oder Bolivien ver­schla­gen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uru­guay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deut­sche Flüchtlinge nach Lateinamerika ge­langten, wurden im wesentli­chen vom Zeitpunkt der Emigra­tion und von den Emigrations­motiven bestimmt. Es gab vom Feb­ruar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime ge­dul­dete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenver­hält­nis zur fluchtartigen Emi­gration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhält­nis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen Emi­grantInnen dieses Jahres gin­gen etwa 13.000 nach Latein­amerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantIn­nen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französi­schen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges än­derten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französi­sche Atlantik-Küste be­setzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Aus­reisehafen, gefolgt von Lissa­bon, das aber nur über Spa­nien er­reicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort wei­ter nach Shanghai in die USA und nach Lateiname­rika. Ab No­vem­ber 1941 durften Juden aus dem deutschen Macht­bereich nicht mehr ausreisen – die Ent­scheidung über die so­genannte “End­lösung” war ge­fallen. Mit der Besetzung Süd­frankreichs durch deutsche Trup­pen im No­vem­ber 1942 wurden die letzten Aus­reisemöglich­kei­ten blockiert. Die Emigra­tions­be­wegung kam fast voll­ständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse ver­dienen in diesem Zusammen­hang die Organisatio­nen, durch deren Aktivitäten die in der Re­gel mittellosen Flüchtlinge über­haupt nach Lateinamerika gelan­gen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Doku­menten, die Bezahlung der Schiffspassa­gen und sonstigen Reiseko­sten, Quartiere und Klei­dung, Kurse zur beruflichen Um­schulung so­wie die Ausrü­stung mit Werk­zeug – alles dies waren Pro­ble­me, die die EmigrantInnen ge­wöhn­lich aus eigener Kraft nicht be­wältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier be­trächtliche Summen auf­gebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stamm­ten. Zu nen­nen sind vor allem die jüdische Hilfs­organisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachver­band an­derer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distri­bution Commit­tee”. Diese beiden Organisa­tionen hat­ten für die Flucht­hilfe und für die Start­hilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Da­gegen rich­te­ten sich die Unter­stüt­zungen an­derer Hilfsorga­ni­sa­tio­nen nur auf einen kleinen und spe­ziel­len Teil der Emi­gra­tion. An­dere wich­tige Ver­ei­ni­gun­gen wa­ren die so­zial­de­mo­kra­tische Flücht­lingshilfe, so­wie die von der Liga für Men­schen­rech­te ge­tra­ge­ne Demo­kra­ti­sche Flücht­lings­fürsorge (beide wa­ren bis 1938 in Prag, da­nach in Lon­don).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gele­gentlich auch solche Organi­sationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren ei­gentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigra­tion zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Associ­ation) verfolgte ursprünglich den Ge­danken jüdischer landwirt­schaftlicher Siedlungen in Ar­gentinien und Brasi­lien, ver­mittelte aber – teil­weise im Rah­men der HICEM – zahlreichen be­drohten Juden eine Zuflucht in Lateiname­rika. Der St. Rapha­elsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische Aus­wanderInnen durch soziale und seel­sorgerische Betreuung, kon­zentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutsch­land, ins­besondere auf die soge­nannten “ge­tauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesell­schaft für Siedlung im Ausland” er­möglichte vielen katholischen Hitler-GegnernIn­nen eine Aus­wanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Gren­zen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der ge­nannten Orga­nisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und huma­nitäre Vereinigungen, die inner­halb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leiste­ten; der Hilfs­verein der Juden in Deutschland, die Quäker und an­dere. Dagegen war die Hilfstä­tigkeit ein­zelner Staaten, zwischen­staatlichen und in­ternationalen Ein­rich­tungen wie dem Völker­bund erbärmlich ge­ring. Emi­gran­tInnen, die sich nach Über­see retten konnten, ver­dankten dies fast ausschließ­lich pri­vater Initiative.
Die Anzahl der deutschen be­ziehungsweise deutsch­sprachi­ge Emigrant­Innen in Lateiname­rika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grob­schätzung von rund 100.000 aus­gehen. Es besteht allenfalls weit­gehend Klarheit in der quan­titativen Reihenfolge der Auf­nahmeländer:

Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200

Die übrigen Länder, ange­führt von Paraguay nahmen Emigran­tInnen nur in drei­stelliger, einige karibische und mittelamerikani­sche Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zu­flucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach San­tiago de Chile er­streckt. Dort la­gen daher auch die wichtigen Emi­grantInnenzentren. Einen Son­derfall bil­dete Mexiko, das zwar hin­sichtlich der Auf­nah­mezahl eines der Schluß­lichter bil­dete, aber wegen der hoch­karätigen politischen und lite­rarischen EmigrantInnen so­wie wegen der von ihnen ge­tragenen Ver­lage, Zeitschrif­ten und Ver­einigungen ein Exil­zentrum von be­sonderer Bedeu­tung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifika­tion der EmigrantInnen in Lateiname­rika war nicht auf die Gesell­schaften der Asyl­länder zuge­schnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Pro­bleme ver­ursachte. Exakte Zah­len lie­gen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen da­rauf, daß kaufmännische und an­dere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, Hand­wer­ker­Innen, ArbeiterInnen und Land­wirte unterrepräsen­tiert wa­ren. Aber gerade sie, insbeson­dere die Landwirte, waren be­son­ders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu land­wirt­schaftlicher Siedlung er­teilt, worauf aber die wenig­sten vor­be­reitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Paraguay, Bo­li­vien, Ecuador und Santo Do­min­go kleine Bauernhöfe grün­de­ten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Be­rufe stießen deswegen auf be­sondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinameri­ka­ni­sche Gesellschaften seit lan­gem no­torischen Unterbeschäf­tigung in Handel und Dienst­leistung bil­de­ten die Emi­grant­Innen eher ei­nen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenz­neid und Frem­den­feindlichkeit, nicht selten mit an­tisemitischem Ak­zent. Einige Län­der verboten oder behin­der­ten die Ausübung be­stimmter Be­ru­fe. Leichter hat­ten es Fach­ar­beiterInnen und Hand­werker­In­nen, die wegen ih­rer im all­ge­mei­nen beträchtli­chen Überle­gen­heit an Berufs- und Allge­mein­bil­dung gefragt waren. Da­ge­gen standen Vertre­terInnen künst­lerischer und geisteswis­sen­schaftlicher Berufe vor be­son­deren Schwierigkeiten, weil ih­re Tätigkeiten nicht ge­fragt und teilweise engstens auf die deut­sche Sprache fi­xiert wa­ren.
Die soziale Integration aus ei­nem Abstand von 50 Jahren be­trachtet zeigt, daß nach ei­ner mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirt­schaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten auf­gerückt sind.
Die Gründe für diese über­wiegend gelungene so­ziale Inte­gration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvor­sprung der meisten EmigrantIn­nen vor ein­heimischen Arbeits­kräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der Emi­gran­tInnen über gemeinsame Zeit­schriften, Clubs, Vereinigun­gen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation er­mög­lichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Ge­meinden, Verbände und Ins­ti­tu­tio­nen erwähnt werden, die – so­weit Informationen vorlie­gen – oft einen hohen Organi­sa­tions­grad hatten. Ihre Arbeit dürf­te in hohem Maße soziale Not­fäl­le aufgefan­gen und eine Mar­gi­na­lisierung und Verelen­dung von EmigrantInnen verhin­dert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisa­tio­nen deutscher EmigrantInnen wa­ren, gemessen an der Zahl ih­rer aktiven Mit­glieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentli­chen Rampen­licht und bean­spruchten einen höheren Re­präsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportver­eine. Aus der Perspektive der deut­schen Geschichte sind sie frei­lich interessanter, weil sie gewis­ser­ma­ßen “mit dem Blick nach Deutsch­land” ar­beiteten, wäh­rend ein großer Teil der jüdi­schen Emigran­tInnen mit ihrer al­ten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. An­de­rerseits wurden rund 50 von den Organisationen herausge­ge­be­nen Blätter und Zeit­schriften, von denen aller­dings einige nur ein­mal oder nur sehr selten er­schienen oder aber über das For­mat hektographierter Rund­brie­fe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spek­trum innerhalb der Emi­gration gele­sen; sie bezogen so­mit auch po­litisch weniger enga­gierte Per­sonen in die Diskussio­nen und Kontrover­sen ein. Wie in der ge­samten Exilszenerie wa­ren die Emi­grantInnen in Latein­amerika untereinander heillos zerstrit­ten und befehdeten sich aufs heftig­ste. Die Bedingungen für politi­sche Aktivitäten va­riierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhält­nissen ab­hängig. So wa­ren ir­gend­welche Aktivi­täten un­ter der blut­rünstigen Herr­schaft des do­mi­nikani­schen Diktators Rafael Tru­jillo über­haupt nicht und in dem von Ge­tulio Vargas auto­ri­tär regierten Brasilien nur ein­ge­schränkt möglich. Dage­gen bo­ten demo­kratische Länder wie Chi­le und Uru­guay, das ge­mä­ßigt autoritäre Argentinien so­wie das nachrevolutionäre Mexi­ko gün­stige Voraussetzungen. Wäh­rend aber in Chile auf amtli­chen Druck die politischen Emigran­tIn­nenverei­nigungen fu­sionieren muß­ten, blühte in Bo­livien ein Chaos der Ver­bände, Clubs und Organisa­tionen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen ein­teilen. Die älte­ste von ih­nen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auf­trat: die Stras­ser-Bewegung. Be­reits 1934 war ein Netz von Or­ganisationen in fast allen latein­amerikani­schen Staaten nach­weisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Pa­raguay. In Buenos Aires er­schien ab 1935 das Zentralorgan der Be­wegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mit­glieder der gleichnamigen Or­ganisation waren größtenteils dis­sidente Nazis sowie antinazi­stische, aber gleichwohl rechts­extreme Kreise – Auslandsdeut­sche wie auch EmigrantIn­nen.
Zu den bedeutenden politi­schen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika ge­hörten Zeitschrift und Bewe­gung “Das An­dere Deutsch­land”. 1938 aus ei­nem gleich­namigen Hilfsko­mi­tee in Bu­enos Aires hervorge­gan­gen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zu­nächst breiten linken und de­mokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründe­ten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schrift­leitung des Gründers und Her­ausgebers August Siemsen ver­einigten sich im “Anderen Deutsch­land” in immer stärke­rem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Grup­pen. Aus Lesezirkeln ent­stan­den in mehreren Län­dern La­tein­amerikas kleinere Grup­pie­rungen und Vereini­gungen, die in loser organi­satorischer Ver­bin­dung zur Zentrale in Bue­nos Ai­res standen und im we­sent­lichen nur durch die Zeit­schrift zu­sammengehalten wur­den. Die­se lockere Orga­nisations­form hat­te den Nachteil, daß die Be­we­gung “Das Andere Deutsch­land” in nur einge­schränktem Maße eine regel­mäßige Ver­bands­arbeit lei­sten konnte; sie hat­te den Vor­teil, daß sie nicht von politisch dissi­denten Emi­gran­tInnengrup­pen un­ter­wandert und um­funktioniert werden konn­te. Ihre Schwer­punkte hatte die Bewegung im südlichen La­tein­amerika, also in Argenti­nien, Uru­guay, Chile, Brasi­lien, Para­guay und Boli­vien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeit­raum eine Mehrheit der politisch den­kenden deut­schen Emigran­tIn­nen zu verei­nen.

Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewe­gung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Stras­sers “Frei-Deutschland-Be­wegung” ver­wech­selt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen Emi­grantInnengruppen gespalten, wo­bei die der KPD angehö­renden oder nahestehenden Mit­glieder in der Regel eigene Gruppierun­gen bildeten. Diese Spaltun­gen blieben, auch als mit dem Überfall auf die So­wjetunion ihr äußerer Grund ent­fallen war. Die Gruppierungen wa­ren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und ver­einigten in sich auch bürgerli­che, christliche, konservative, ja so­gar monarchistische EmigrantIn­nen. Ihre Pro­grammatik und Phraseologie war verschwom­men antifa­schistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, je­doch blieben die Schlüssel­positio­nen fest in den Händen von KPD-FunktionärIn­nen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frank­reich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer Schrift­stellerInnen und Funktio­närInnen niedergelas­sen hatte und wo sich mit ei­ner kleinen Ausnahme keine anderen deut­schen Exil-Orga­nisationen bil­deten, wurde im November 1941 die Zeit­schrift “Freies Deutsch­land” gegründet. Um dieses poli­tisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichna­mige Ver­einigung mit Ablegern in ande­ren Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Mon­tevideo, wurde unter Führ­ung der mexikanischen Emi­grant­Innen­organisation das KPD-ge­lenkte “Latein­ameri­ka­ni­sche Komitee Freies Deutsch­land” gegründet, dem in der Folge­zeit kleinere Organisatio­nen beitra­ten. Man hatte Hein­rich Mann für das Amt des Ehren­präsidenten und für den Vor­stand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konser­vativen böh­misch-österreichi­schen Schrift­steller Karl v. Lu­stig-Prean ge­wonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Lud­wig Renn als amtie­render Präsi­dent, Anna Seg­hers sowie der KPD-Funktio­när Paul Mer­ker als General­sekretär. Der Name des Ko­mitees und andere Indizien ver­weisen auf die Be­wegung “Freies Deutschland” in euro­päischen Exil­ländern sowie auf das gleich­na­mige Natio­nalkomitee in Mos­kau und lassen es als In­strument der damaligen sowjeti­schen Deutsch­land-Poli­tik erschei­nen.

In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikani­schen und karibischen Repu­bliken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominie­rende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkur­renz. In Uruguay und Chile fusionier­ten die beiden Bewe­gungen, in Chile aufgrund staat­lichen Drucks, in Uruguay auf frei­williger Basis. Insgesamt wa­ren die “Freien Deutschen” er­folgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dür­fen Vereinsattrappen und Brief­kastenorganisationen vor allem in einigen mittelameri­kanischen Staaten nicht über ihre tatsächli­che Stärke hin­wegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie ge­gen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland über­nahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostge­biete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorga­nisa­tionen auf heftig­sten Wider­spruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerika­nische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben die­sen überregiona­len po­litischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von Emi­grantInnen, die sich auf ein­zelne Länder oder Städte be­schränkten und sich auch nicht einer der genannten Or­ganisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisatio­nen deut­scher EmigrantInnen gab es noch weitere Betäti­gungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-Geg­nerInnen aktiv werden konn­ten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit gerin­gem propagan­distischem Auf­wand einen großen Teil der in Lateiname­rika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleich­ge­schaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das aus­landsdeutsche Vereinsleben so­wie Schulen und Presse be­herrschten und durch Hetz­propaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die Emigran­tInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diploma­tischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen ob­servierten und zu diesem Zweck meistens ortskun­dige auslandsdeutsche Spitzel mo­bilisierten. In einigen Län­dern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einhei­mischer Nazi-SympathisantInnen in Poli­zei, Militär und Wirtschaft über einigen Ein­fluß. Es lag da­her im ureige­nen Interesse der EmigrantIn­nen, sich gegen diese Bedro­hung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regie­rung durch Sprach- und Sach­kenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Ab­bruch der diplomatischen Beziehungen zwi­schen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikani­schen Staaten wurden die mei­sten NS-Organisatio­nen ver­bo­ten. In einigen Ländern al­ler­dings hatte es nie eine nen­nens­werte Fünfte Kolonne ge­geben.
Ein weiteres Aufgabenge­biet, an dem sich auch nicht­organisierte EmigrantInnen be­teiligten, waren Nach­kriegs­kon­zeptionen für Deutsch­land. Ei­ni­ge der inter­essantesten Über­le­gun­gen stam­men vom früheren li­be­ralen Reichsinnen- und -ju­stiz­minister Erich Koch-We­ser, der im brasi­lianischen Bundes­staat Paraná sein Asyl gefunden hat­te. Die der Be­wegung “Freies Deutschland” nahestehenden Emi­grant­Innen äußerten sich nur sehr allge­mein über Ver­fas­sungs­fragen und wollten ne­ben recht ver­schwommenen For­de­run­gen nach Ausrottung von Na­zis­mus und Antisemitismus die kon­krete Gestaltung Deutsch­lands den Alliierten überlassen. Ver­breitet war eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Grundstim­mung und die Ab­sicht, mit einer weitgehenden So­zia­li­sierung auch die ge­sell­schaft­lichen Ursa­chen an­tidemo­kra­tischer Ent­wicklung zu besei­ti­gen. Die mei­sten Konzep­tionen hiel­ten am Na­tionalstaat fest, plä­dierten aber für eine Aus­söh­nung der ehemaligen Kriegs­gegner und für einen losen Ver­bund der eu­ropäischen Staa­ten. In den Be­reich der politi­schen Akti­vitäten gehören auch größ­tenteils die kulturellen Lei­stungen der deut­schen Emi­grantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmit­telbar politische Fragen an­sprachen, indirekt darauf eingin­gen. Das war deutlich in der Presse und in den von ei­nigen Emigrant­Innen­or­ganisationen regelmäßig ge­stal­teten Rund­funksendungen der Fall, vor al­lem aber in den von Or­ga­ni­satio­nen unabhän­gi­gen Zeit­schriften und Ver­lagen. Zu er­wähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile heraus­ge­ge­be­ne, auch in Nord­amerika und Eu­ropa ge­lesene Monatsschrift Deut­sche Blätter, deren hohes Ni­veau und solide Aufmachung von allen po­litischen Richtun­gen res­pek­tiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Drit­ten Reiches endeten we­der Exil noch Folgeprobleme der Emi­gration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von Emi­grantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jü­dische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an ei­ner Rückkehr. Sie hatten in La­tein­amerika Wurzeln ge­schlagen oder aber bemühten sich um eine Wei­terwande­rung nach Palä­stina/Israel oder in die USA. Die Faustre­gel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zu­rückkehren wollten, die jüdi­schen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Latein­ame­rika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etli­che Anfragen an den SPD-Vor­sitzenden Kurt Schumacher er­halten, ob man als Jude inzwi­schen wieder nach Deutsch­land zu­rückkeh­ren dürfe. Und umge­kehrt ent­schlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kin­der und teil­weise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objek­tive Schwie­rigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alli­ierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommu­nisten, die – so­fern sie ge­braucht wurden – mit sowjeti­scher Hilfe in die Sowje­tische Besatzungszone zurück­kehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund be­stimmter politischer Ereig­nisse zurück – so Boris Gol­denberg aus dem in­zwischen kommuni­stisch gewor­denen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben ent­schlossen, war es aber eine un­angenehme ワber­raschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emi­gration” ehema­liger NS-Funk­tionäre nach La­teinamerika einsetzte. De­ren Vertreter – wie beispiels­weise Eichmann oder Men­gele – woll­ten unter anderem Namen unter­tauchen und teil­weise aber auch mit Hilfe ein­heimischer Ge­sin­nungs­freunde ih­re un­rühmlichen Ak­tivitäten fortset­zen.
In den Jahren 1946-1949 lö­sten sich aber die meisten der po­li­tischen Organisatio­nen auf. Un­ter­schiedliche Auffassungen über die Zu­kunft Deutschlands und voll­ends der Kalte Krieg ent­zo­gen ihnen die gemeinsame Platt­form. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Me­xiko, Bra­silien und Bolivien – Nach­fol­georganisationen als so­zi­al­de­mo­kratische Landesver­bän­de konstituierten, nach­dem während der NS-Zeit die SPD als Par­tei oder als parteina­her Ver­band im lateinamerikani­schen Exil über­haupt nicht existiert hatte. Diese Organisa­tionen be­mühten sich einerseits um mate­rielle Hilfe für ihre aus­geblutete frühere Heimat, und veranstal­teten – wenigstens im Falle Bra­siliens – Sammlun­gen. Sie be­kämpften nach wie vor re­aktionäre Strömungen un­ter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die jun­ge Bundesrepu­blik, weil sie die diplomati­schen und kon­su­la­ri­schen Missionen in Lateiname­rika hauptsächlich mit erzkonser­vativem Personal be­setzte.
Lateinamerika hat die deut­sche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexi­kanisches bzw. dominikani­sches Exil aus­führlich be­schrieben; Anna Seg­hers griff gelegentlich latein­amerikani­sche Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffent­lichte noch in Mexiko eine bril­lant geschrie­bene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Ge­schich­te und Paul Zech gab In­dianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfin­dung herausstell­ten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differen­ziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjäh­rige Süd­amerikakorrespon­dent der Frank­furter Rund­schau in Mon­tevideo, Her­mann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantIn­nen sind aber auch be­deutende Wis­sen­schaftlerInnen und Ver­tre­terInnen des öffentli­chen Le­bens in ihren Exilländern her­vor­ge­gangen. Der gegensei­tige Kul­tur­trans­fer bildet viel­leicht den er­freulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.

Newsletter abonnieren