Integrationsfieber

“Die große ökonomische Lehre diese Jahrhunderts ist, daß der Protektionismus den Fortschritt verhindert und daß der freie Markt Wachstum und Entwicklung gewährleistet”, meinte George Bush, Präsident des Landes, welches laut einer OECD*-Studie die meisten und höchsten Handelsbarrieren in der Welt aufweist. Doch dieser neoliberale Exkurs war nur die Einleitung seiner “historischen” Rede am 27. Juni, mit der er eine “neue” Politik der USA gegenüber Lateinamerika ankündigte.
Eine gesamt-amerikanische Freihandelszone schlug er seinen NachbarInnen vor, damit “Amerika der erste völlig freie und demokratische Kontinent wird”. Drei Standbeine hat diese “Bush-Initiative”: 1) Reduzierung eines Teiles der lateiname­rikanischen Schulden bei der US-Regierung 2) Schaffung eines “Entwicklungs­fonds” zur Förderung der Auslands-Investitionen in Lateiname­rika und 3) völlige Liberalisierung des Handels in der Region, also Abbau aller Zölle und Handels­schranken (Freihandelszone). So weit, so einfach. Interessant wird es bei den Zahlen: Die US-Regierungsforderungen gegenüber Lateiname­rika betragen 12 Mrd. US-Dollar. Das sind 2,4 % der Gesamtschuld Lateinameri­kas, die nach neuesten Zahlen 437 Mrd. US-Dollar beträgt. Und davon sollen 7 Mrd. erlassen werden… Der “Entwicklungstopf” für Lateinamerika soll sage und schreibe 300 Millionen US-Dollar für die ersten fünf Jahre zur Verfügung haben, wobei sich die USA, Japan und die EG in gleichem Maße beteiligen sollen, so zumindest Bush’s Idee. Zum Vergleich: Die zur Investitionsförderung und für Strukturmaß­nahmen geschaffene Entwicklungsbank für Osteuropa hat ein Volumen von 12 Mrd. US-Dollar für fünf Jahre. Allein im Jahr 1989 hat Latein­amerika 25 Mrd. US-Dollar durch Zinszahlungen ins Ausland transferiert, daß sind 84 mal mehr als der vorgesehene Betrag für den Lateinamerika-Topf. Dar­überhinaus betonte der US-Regierungschef, daß natürlich nur die Länder in den “Genuß” der Freihan­delszone kommen könnten, die sich vorher einer Liberalisie­rungskur mit Unter­stützung des IWF unterziehen.
Dennoch ist der Optimismus der Regierungen Lateinamerikas bei ihren Reaktio­nen auf den Bush-Plan kaum zu bremsen: “Ein guter Schritt vorwärts”, kommen­tierte der argentinische Präsident Menem. “Der Plan ist geeignet, die Entwick­lung und die Lösung der Probleme Lateinamerikas ein gutes Stück voranzubrin­gen”, sagte ein Sprecher der UNO-Wirtschaftsorganisation für Lateinamerika CEPAL und Chiles Finanzminister meint gar: “Lateinamerika kann mit Optimis­mus in die Zukunft sehen”.

Schwindende Hegemonialmacht bekommt Torschlußpanik

Der eigentliche Grund für diesen US-Vorschlag dürfte weniger im Interesse an einer Entwicklung des Subkontinents als vielmehr an den Problemen im eigenen Landes liegen. Das chronische Außenhandelsdefizit der USA braucht eine Lö­sung, soll die Wirtschaft nicht noch weiter den Bach runter gehen. Für die Löcher in der Handelsbilanz werden natürlich Absatzmärkte gesucht. Die USA sind für Lateinamerika immer noch der wichtigste Handelspartner. 1989 gingen 52% der lateinamerikanischen Exporte in die Vereinigten Staaten, während 59% der Importe Lateinamerikas aus den USA kamen. Dennoch ist die US-Handelsbilanz mit Lateinamerika extrem negativ: in den letzten fünf Jahren hat sich ein Saldo von 48 Mrd. US-Dollar angesammelt. Es geht den USA also offensichtlich nicht darum mehr zu kaufen, sondern mehr zu verkaufen. “Neue Märkte für US-Pro­dukte und mehr Arbeit für nordamerikanische Arbeiter” verspricht der Präsident dann auch unverhüllt seinen Landleuten. Gleichzeitig könnte es dem Weißen Haus darum gehen, durch eine gezielte Intervention die lateinamerikanischen Integrationsbemühungen zu unterminieren und zu vereinnahmen, zielt der Plan doch hauptsächlich auf Länder, die sich zum einen bereits einer weitgehenden Liberalisierung unterzogen haben und zum anderen eine regionale Integration anstreben.
Die USA geraten darüberhinaus angesichts der sich anbahnenden wirtschaftli­chen Machtkonzentrationen in Europa und Asien in Zugzwang , wollen sie ihre Hegemonie in der Welt nicht gänzlich verlieren. Eine Rückbesinnung auf den traditionellen “Hinterhof” und eine noch stärkere wirtschaftliche Dominierung des Kontinents könnten dieses “Defizit” ausgleichen. So ist es nicht verwunder­lich, daß Bush diese Initiative wenige Tage vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston (G7) aus dem Hut zauberte. Stärke zeigen! Doch die dort Anwesenden waren zwar nicht angetan von Bushs Plan, lamentierten allerdings weniger über eine ökonomisch gewendete Monroe-Doktrin, als daß sie vielmehr sofort ihre Chancen, in Amerika einen größeren Absatzmarkt zu finden, kalkulierten.

“Die Zukunft Lateinamerikas liegt im freien Markt…”

In Lateinamerika findet Bush mit seiner Initiative einen guten Nährboden vor. Die Länder stehen wirtschaftlich fast alle mit dem Rücken zur Wand. Nicht, daß sie, wie noch in den 70er Jahren durch Militärdiktaturen zur neolibearlen Anpas­sung á la IWF gezwungen werden müßten: Heute führen die demokratisch ge­wählten Präsidenten genau dieselbe Wirtschaftspolitik durch wie ihre Vorgänger in Uniform. Die Wirtschaftspläne von Collar, Menem Fujimori und wie sie alle heißen gleichen sich dabei fast aufs Haar. “Es ist eine neue Art von Führung ent­standen, die sich auf das Mandat des Volkes berufen kann und versteht, daß die Zukunft Lateinamerikas in der freien Regierung und im freien Markt liegt”, zollt Bush dieser Entwicklung Beifall.
Was dieser “freie Markt” für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet, wird am tagtäglich wachsenden Elend in der Region deutlich. Mehr als ein Drittel der städtischen und fast zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung des Kontinents le­ben unterhalb der Armutsgrenze. Die Verelendung in Lateinamerika hat gerade in den 80er Jahren, in denen in fast allen Ländern die neoliberale Politik trium­phierte erschreckende Ausmaße angenommen und zeigt sich in allen Bereichen des sozialen Lebens. Doch diese Bevölkerungsmehrheit wird natürlich nicht ge­fragt, wenn von “Wachstum und Entwicklung dank des freien Marktes” gespro­chen wird.
Nach den ersten euphorischen Reaktionen aus Lateinamerika wurde der Bush-Plan nun erst einmal zur weiteren Begutachtung an verschiedene Ausschüsse und Organisationen übergeben, die den genauen Inhalt prüfen sollen. SELA (Sístema Económico Latinoamericano, lateinamerikanisches Wirtschaftssystem) legte Anfang September einen ersten Zwischenbericht vor, in dem zwar der Wandel in der US-Politik gegenüber Lateinamerika von der militärischen zur ökonomischen Motivation begrüßt, der Plan an sich allerdings eher skeptisch betrachtet und kritisiert wird. Der Versuch der USA, einen neuen Block zu bil­den, stelle einen “Handel zwischen sehr ungleichen Partnern dar” und könne leicht in ein Instrument zum einseitigen Nutzen der USA umgewandelt werden. Dennoch sehen die Wirtschaftsexperten in dem Plan eine Möglichkeit, IWF und andere Gläubigerinstitutionen zu beeinflussen und zu einer Reduzierung der Auslandsschulden zu bewegen.

…und die Vergangenheit auch

Anders urteilte die lateinamerikanische Linke auf ihrem Anfang Juli in Sao Paulo abgehaltenen Kongress: “Der Bush-Plan zielt darauf ab, unsere nationalen Öko­nomien für den unlauteren und ungleichen Wettbewerb mit dem ökonomischen Hegemonieapparat komplett zu öffnen, uns ihrer Hegemonie völlig zu unterwer­fen und unsere produktiven Strukturen zu zerstören, indem er uns in eine Frei­handelszone integriert, organisiert und bestimmt von den nordamerikanischen Interessen.” So wahr wie einfach, aber aus dem Dilemma der wirtschaftlichen Krise hilft ein solches Anprangern des US-Imperialismus auch nicht heraus.
Kubas Staatschef Fidel Castro setzt noch einen drauf: Eine gemeinsame Verteidi­gungsfront gegen diesen imperialistischen Angriff der USA solle gebildet wer­den, um eine noch größere Penetration durch die nordamerikanischen Multis zu verhindern.
Die ist allerdings auch ohne Freihandel schon viel zu groß: 7 Mrd. US-Dollar Reingewinn zogen die US-amerikanischen Multis allein 1989 aus dem strangu­lierten Kontinent. Das Lamentieren darüber, daß der Plan lediglich dazu dient, die lateinamerikanischen Märkte für ein besseres Vordringen der US-Industrie zu öffnen, hilft ebenfalls wenig weiter, denn die Märkte der meißten Länder sind be­reits in den letzten Jahren auch ohne die Freihandelszone durch den Druck des IWF sperangelweit aufgerissen worden. Klar ist allerdings, daß die nationalen lateinamerikanischen Industrien in der Konkurrenz mit den US-Produkten in den wenigsten Fällen eine Chance haben. Die USA versuchen eher Lateinamerika weiterhin auf die Rolle des billigen Rohstofflieferanten für die eigene Industrie und als Absatzmarkt für ihre Produkte festzuschreiben. “In den letzten zehn Jah­ren haben die USA einen Großteil ihrer traditionellen Märkte verloren”, gesteht dann auch der US-Finanzsekretär David Mulford freimütig ein.

Menem und Collor heben ab

Zehn Tage nach der Offensive des US-Präsidenten warteten der argentinische Präsident Carlos Menem und sein brasilianischer Amtskollege Collor de Mello mit einem etwas kleiner dimensionierten Plan auf: Schaffung eines gemeinsamen argentinisch-brasilianischen Marktes zum 1.1.1995 “In dieser Zeit der Krisen ist es gut, daß wir große Dinge tun können”, kommentierte Menem schlicht und ergrei­fend. Großes haben die beiden Regierungen vor, wollen sie bis Anfang 1995 alle Voraussetzungen für die Einführung eines gemeinsamen Marktes nach dem Vorbild der EG geschaffen haben.
Die Idee fußt auf den Integrationsprotokollen der vorhergehenden Präsidenten Alfonsín und Sarney, die 1986 einen ökonomischen Integrationspakt unterzeich­neten, der die Grundlage für die spätere Einführung eines gemeinsamen Marktes bilden sollte. Im Januar 1987 wurden dann 20 Integrationsprotokolle unterzeich­net, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit für einzelne Sektoren regelten. Im April des darauffolgenden Jahres legten sie den Termin für einen gemeinsamen Markt auf das Jahr 2000 fest. Mit der wirtschaftlichen Integration der beiden Ländern tat man sich allerdings in den letzten Jahren erheblich schwerer, als er­wartet wurde. So stieg der Handel zwischen beiden Ländern seit 1985 zwar um 81% an, besitzt allerdings am jeweiligen Gesamtexport der beiden Länder gemes­sen immer noch eine sehr geringe Bedeutung.
Collor und Menem wollen nun dieser Integration mehr Schubkraft verleihen und zogen den Termin für den gemeinsamen Markt kurzerhand fünf Jahre vor. Gleichzeitig soll eine Komission, die seit Anfang September tagt, alle Weichen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche und Problemfelder stellen und konkrete Maß­nahmen ausarbeiten, um den Termin einzuhalten. Mit der Unterzeichnung dieses Plans wurden außerdem die bestehenden Integrationsprotokolle um mehrer hundert Produkte ausgeweitet, so daß eine Erhöhung des Handelsvolumens um 530 Millionen Dollar allein in diesem Jahr ermöglicht werden soll. Gleichzeitig wurden die Quoten für die bisherigen Produkte erhöht und die Schaffung von bi-nationalen Unternehmen soll forciert werden.
Bezüglich des Bush-Plans merkten die beiden Staatschefs an, daß “die Integration des Cono Sur mit der Bush-Initiative vereinbar ist” und schufen eine gemeinsame Komission zur Beratung über den Plan. Das lateinamerikanische Vorhaben ist allerdings weitgehender, sieht es doch nicht nur Freihandel zwischen den Län­dern, sondern eben einen gemeinsamen Markt, mit gemeinsamer ökonomischer Außenpolitik, einer gemeinsamen Währung und dem vereinigten Auftreten der Delegationen im Ausland vor, um eine bessere internationale Verhandlungspo­sition zu erlangen. In der Uruguay-Runde des Gatt (Allgemeines Zoll- und Han­delsabkommen), welche den weltweiten Freihandel regeln will, werden die bei­den Länder auf jeden Fall gemeinsam ihre Interessen vertreten, die sich in erster Linie gegen den Protektionismus der EG bezüglich der Agrargüter richten.

Die “Kleinen” dürfen auch mitmachen

Ignoriert wurde bei diesen Verhandlungen allerdings der Juniorpartner Uru­guay, welcher in den vorangegangenen Integrationsbemühungen immer mitein­geschlossen war. So mokierte der uruguayische Präsident Lacalle noch am Tag des Treffens Collor-Menem, daß er nicht einmal eingeladen worden sei. Auf einer Sitzung Anfang August wurden dann allerdings nicht nur Uruguay, sondern gleich auch noch Chile mit in das Vorhaben einbezogen. Paraguay wurde als fünfter im Bunde direkt aufgefordert, sich an dem “Integrationsprogramm 1995” zu beteiligen. In einer zweiten Phase sollen dann nach der Schaffung des gemein­samen Marktes zwischen diesen fünf Ländern alle anderen Staaten der “Lateinamerikanischen Integrations-Organisation” (ALADI) miteinbezogen wer­den, also Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela. Doch dieses Wunschdenken lenkt davon ab, daß der eigentliche Kern, die Integration im Cono Sur durchaus realistische Verwirklichungschancen hat. Der gemeinsame Markt von Chile, Uruguay, Argentinien und Brasilien wäre die Heimat von zwei Dritteln der Bevölkerung Lateinamerikas mit einem jährlichen Wirtschaftsvolu­men von 280 Mrd. US-Dollar.
Voraussetzung für all diese Zukunftspläne dürfte allerdings die Bewältigung der derzeitigen Krise in Brasilien und Argentinien sein. Denn einen gemeinsamen Markt der Inflation und Armut wollen die Herren wohl kaum. Anscheinend hilft eben kein neoliberales Konzept, um die Inflation der Länder unter Kontrolle zu bekommen, sondern stürzt sie vielmehr gleichzeitig in eine tiefe Rezession.

Kasten:

Fußball-Integration

“Wir Brasilianer haben im Endspiel der Fußball-WM für Argentinien geschrien, denn die lateinamerikanische Integration vollzieht sich auch über die Zuneigung – und die Leidenschaft für den Fußball ist eine der gemeinsamen Sachen unserer beiden Länder.” (Collor de Mello) Na dann können wir ja auf eine gemeinsame argentinisch-brasilianische Auswahl bei der nächsten oder übernächsten WM gespannt sein.

Chronik eines angekündigten Ausverkaufs

Die staatliche Telefongesellschaft ENTEL wurde für den Verkauf in zwei Teile, Telco Sur und Telco Norte, aufgeteilt. Das Konsortium aus der US-Bank Citi­corp und der schweizerisch-argentinischen Frima Techint unter der Führung der spanischen Telefónica sichert sich 60% der Aktien von Telco Sur für 114 Mil­lionen US-Dollar und 2,27 Mrd. US-Dollar in Auslandsschuldscheinen. Diese Schuld­scheine Argentiniens kaufen die Firmen auf dem Sekundärmarkt für 13% ihres Nominalwertes, also für ganze 354 Millionern US-Dollar. Dept-to-equity-swaps heißt das in der Sprache der WirtschaftswissenschaftlerInnen – als Farce könnte mensch es auch bezeichnen. Für den Kauf der anderen Hälfte, Telco Norte, legte das Konsortium von Bell Atlantic und Hannover Trust, zwei US-amerikanischen Firmen legt lediglich 100 Millionen US-Dollar in bar und 300 Millionen für den Kauf von Schuldscheinen mit einem Nominalwert von 2,3 Mrd. US-Dollar auf den Tisch. Insgesamt verkauft also der argentinische Staat sein wohl lukrativstes Unternehmen für 868 Millionen Dollar, reduziert dabei allerdings seine Aus­landverschuldung um 4,6 Mrd. US-Dollar.

Ruinöser Deal als Vorbild für weitere Maßnahmen

Doch damit nicht genug der Tragödie: Der argentinische Staat garantiert den Käufern in den ersten drei Jahren einen jährlichen Reingewinn von 16%. Die Schulden von ENTEL in Höhe von 1,7 Mrd. US-Dollar(!), die in den letzten 1 1/2 Jahren angehäuft wurden, übernimmt ebenfalls der Staat. Und zu alledem sind die neuen Betreiber lediglich zu Investitionen in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar in den ersten drei Jahren verpflichtet. Das entspricht einer Installation von 620.000 neuen Telefonleitungen, bei derzeit 1,8 Millionen Anschlüssen, von denen ein Drittel seit längerer Zeit nicht funktioniert. Somit wird das, was sich die argenti­nischen TelefonbesitzerInnen von der Privatisierung versprechen, nämlich end­lich funktionierende Telefone, weiterhin auf absehbare Zeit ein Traum bleiben. Und die Menschen, die gerne ein Telefon hätten und es sich leisten könnten, brauchen sich wohl gar nicht erst um einen Anschluß bemühen. Eine über die drei Jahre hinausgehende langfristige Investitionsverpflichtung für die Käufer gibt es nicht. So dämpften die neuen Gesellschafter bereits eine Woche nach dem Verkauf allzu große Erwartungen mit der schlichten Feststellung, daß bessere Dienste frühestens in zwei Jahren zu erwarten seien. Vorleistungen für diese eventuellen Verbesserungen müssen die argentinischen TelefonbesitzerInnen allerdings schon bald in Form von saftigen Tariferhöhungen erbringen. Die 46.000 Angestellten von ENTEL werden ebenfalls mit einer Negativentwicklung zu rechnen haben: ein Teil von ihnen wird sicherlich im Zuge der Rationalisie­rung entlassen werden. Ein derart skandalöser Privatisierungs-Deal dürfte selbst in der Geschichte der “freien Marktwirtschaft” bisher einmalig sein. Wo auch sonst stürzt sich der Staat für eine kurzfristige Verringerung der Auslandsschul­den freiwillig in ein solch ruinöses Geschäft? – In den USA, dem Land mit der größten Auslandsverschuldung sicherlich nicht.
Das Fatale ist, daß dieses Privatisierungsschema von ENTEL das Modell für alle weiteren Verkäufe von Staatsbetrieben Argentiniens darstellen soll. Und diese weiteren Aus­verkäufe werden nicht lange auf sich warten lassen: 10.000 Kilometer National­straßen sind bereits an fünf ausländische Firmen vergeben, die ihre Investitions­kosten über die Einführung einer Autobahngebühr wieder reinbekommen wol­len. Die nationale Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas wird ein Konsortium unter der Führung der spanischen Fluglinie Iberia aufkaufen. Thyssen und das spanische Staatsunternehmen (!) Renfe wollen sich hingegen die profitable Eisenbahnlinie von der Pampa zum Hafen in Bahia Blanca, auf der 85% der argentinischen Getreideexporte befördert werden, unter den Nagel reißen. Das staatliche Erdölmonopol YPF lädt ausländische Firmen zwecks Bildung von Gemeinschaftsunternehmen zur Förderung der profitablen Erdölvorkommen ein…

Loch in der Kasse und Strangulierung durch den IWF

Begründet werden diese Verkäufe immer wieder mit dem chronischen Haus­haltsdefizit des argentinischen Staates. 8,4 Mrd. US-Dollar beträgt dieses Loch in der Haushaltskasse – die Defizite der Staatsbetriebe haben daran einen Anteil von fast 50%. Kein Wunder also, wenn der Staat diese lästigen Firmen loswerden will. Geschieht dies allerdings wie bei ENTEL nach der Devise: Gewinne privati­sieren – Defizite verstaatlichen, geht dies an dem eigentlichen Problem vorbei.
Der IWF macht diese Verringerung des Haushaltsdefizits immer wieder zur Bedingung für eine Kreditgewährung. Den bereits im November 1989 beschlos­senen Überbrückungskredit für Argentinien in Höhe von 1,4 Mrd. US-Dollar ver­sah der Fond bei den erneuten Verhandlungen in diesem Jahr allerdings mit weiteren Auflagen. Neben der Veringerung des Defizits auf 1% verpflichtete sich Argentinien die Steuern weiter anzuheben, die Löhne zu senken, die Preise für öffentliche Dienstleistungen erneut zu erhöhen und gleichzeitig die Ausgaben für diese Staatsdienste sowie die Zuschüsse an die Provinzregierungen zu verrin­gern. Darüberhinaus mußte Argentinien Anfang Juni zum ersten Mal seit April 1988 in Umschuldungsverhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken ein­treten. Seit 1988 hat Argentinien faktisch keinen Cent an Zinszahlungen geleistet, wodurch die Zinsen für die 60 Mrd. US-Dollar Auslandsschulden auf 6,5 Mrd US-Dollar angewachsen sind. Als Geste des guten Willens tätigte Argentinien im Mai eine symbolische Zahlung von 100 Millionen US-Dollar Zinstilgung. Bei den derzeitigen Verhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken wird eine solche Summe wohl allerhöchstens als wöchentliche Zahlung angenommen werden.
Die härteste Bedingung des IWF ist allerdings die Verpflichtung, die Inflation ab August auf unter 2% monatlich zu verringern. Ein schier unmögli­ches Unternehmen. Führte die Hyperinflation im Februar und März dieses Jahres (fast 100% monatlich) zur Blockierung des schon vereinbarten IWF-Kredites, so konnte durch den neuen Wirtschaftsplan von Wirtschaftminister Gonzales (LN 192) die monatliche Inflation im April immerhin auf 11,4% gesenkt werden. Doch damit war’s auch schon wieder vorbei. Im Mai stieg die Monats-Inflation auf 13,6%, der Juni schlug mit 15% zu Buche – Tendenz steigend. Für die erste Jahreshälfte 1990 akkumuliert sich somit die Inflation auf 617%. Dennoch konnte Argentinien die Auszahlung von 240 Millionen US-Dollar des erwähnten 1,4 Mrd.US-Dollar Stand-By-Kredites erreichen – die zweite Tranche nach den 140 Millionen im November. Der IWF geht anscheinend kein Risiko ein und gibt Argentinien immer wieder kleine Häppchen des ohnehin nicht gerade großen Kuchens, um wenige Monate später eine weitere Auszahlungen mit neuen, noch härteren Bedingungen zu verknüpfen.

Neoliberale Logik für “nicht-kapitalistische Kapitalisten”

Wirtschaftsminister Ermán Gonzales verkündete entsprechend Ende Juni mit ernster Mine gemäß dem Diktat des IWF, neben der Verlängerung des seit Juli 1989 bestehenden ökonomischen Ausnahmezustandes um ein weiteres Jahr, eine erneute Anpassung der Anpassung an seinen Wirtschaftsplan vom März…
Eine erneute Blockierung des Kredits und somit weitere wirtschaftliche “Liberalisierungsmaßnahmen” stehen gewiß schon bald wieder ins Haus, denn die Bedingung des IWF, die Inflation ab August auf 2% monatlich zu drücken ist schon jetzt zum Scheitern verurteilt. Daß Argentiniens Wirtschaft in der ersten Hälfte dieses Jahres mit 1,79 Mrd. US-Dolllar einen unerwartet hohen Export­überschuß erbracht hat, verdeckt die Tatsache, daß das Land sich in einer schwe­ren Rezession befindet. In keine Branche sind die Kapazitäten der Unternehmen auch nur annähernd ausgelastet. Stattdessen führen massenhafte Entlassungen und Betriebsschließungen zur weiteren Verstärkung der Wirtschaftskrise. Der industrielle Ausstoß verringerte sich in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 13% und das Investitionsvolumen der argentinischen Wirtschaft ist so niedrig wie nie zuvor.
Der Reallohn der ArbeiterInnen hat sich seit Januar um über 30% verringert und das in einer Situation, in der das Land mit den einst höchsten Löhnen Lateinameri­kas schon im Jahr zuvor auf ein Niveau unterhalb von Chile oder Paraguay abge­sunken ist. Entsprechend sucht ein Großteil der ArgentinierInnen, die nicht nach Europa auswandern können, sein Glück und vor allem Arbeit in den angrenzen­den Ländern und wandert aus. Die Lebenshaltungskosten steigen permanent durch die inflationsbedingten Preissteigerungen. Doch Präsident Menem argu­mentiert diesbezüglich ganz in seiner neoliberalen Logik: “Viele Grundnah­rungsmittel sind im Ausland billiger als in Argentinien. Wir werden all diese Produkte, die billiger auf dem heimischen Markt verkauft werden können importieren”. “Der Fall Argentinien hat das Interesse der weltbesten und bekanntesten Ökonomen geweckt, die immer noch nicht erklären können, was in diesem Land passiert”, äußerte kürzlich der frühere Minister für öffentliche Dienste der Regierung Alfonsín, Rodolfo Terragno. “Argentinien ist das einzige Land der Welt, wo eine schwere Rezession, die in der Theorie die Märkte stabili­siert und die Inflation beseitigt, von einer Hyperinflation begleitet ist.” Selbst die Experten des IWF und der Weltbank stehen vor einem Rätsel. Sie akzeptierten im Juli das Argument der Regierung, daß die Unternehmen in Argentinien ihre Preise enorm überhöhen und sich somit überhaupt nicht an die Regeln der “freien Marktwirtschaft” halten und zur Inflation beitragen. “Auf diesem Niveau der Inflation könnte jeglicher interne Schock oder eine externe Agitation der Auslöser für eine Hyperinflation sein”, meinte IWF-Chef Michel Camdesus im Juli. Die argentinischen Kapitalisten sind eben nicht kapitalistisch genug.
Die beginnenden Streiks in der Provinz Buenos Aires, an denen im Moment 500.000 ArbeiterInnen, unter anderem die Metalle­rInnen, beteiligt sind, sind ein Beispiel für die Herausforderungen, denen sich Präsident Menem in den näch­sten Wochen und Monaten stellen muß. Die argentinische Bevölkerung kann und will die Politik seiner Regierung nicht mehr länger ertragen. Die Plünderungen während der nächtlichen WM-Feiern in Buenos Aires Anfang Juli sind ein Indiz für die Hoffnungslosigkeit der sozialen Situation in Argentinien. Daß Menem dabei auf die repressive Karte setzt ist sehr wahrscheinlich und wird durch das Ergebnis der nächtlichen Ausschreitungen vom Juli verdeutlicht: um 3500 Mann verstärkte Polizeipräsenz in Buenos Aires, über 200 Festnahmen und mehrere Tote.

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