Zersplitterung der Linken

Man kann sich vieles schönreden. Der paraguayische Senator Arnoldo Wiens versuchte im Januar zum Beispiel die zweifelhafte Vergangenheit seines Parteikollegen Horacio Cartes mit historischen Vergleichen zu relativieren: „Es gab viele Menschen, die im Gefängnis waren und später etwas Positives für die Gesellschaft gemacht haben, zum Beispiel der südafrikanische Ex-Präsident Nelson Mandela“, sagte der mennonitische Pastor Wiens der Presse. Das öffentliche Hohngelächter folgte sofort. Horacio Cartes, der Präsidentschaftskandidat der rechtskonservativen Colorado-Partei ANR (Asociación Nacional Republicana), verbrachte in den 1980er Jahren für Devisenvergehen und Veruntreuung von Staatsgeldern mehr als ein Jahr im Gefängnis. Die politischen Gegner_innen Cartes‘ weiden diesen Umstand genüsslich aus.
Der Wahlkampf in Paraguay ist in der heißen Phase, und er läuft mit großer Härte. 2008 wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine Regierungspartei durch freie Wahlen und nicht durch einen Putsch abgelöst. Lugos Amtsenthebung im Schnellverfahren, viele sprachen von einem „sanften Staatsstreich“, durch die Legislative am 22. Juni 2012 spaltete die Gesellschaft: in die Gegner_innen des Staatsstreiches, auf Spanisch anti-golpistas genannt, und die „Souveränen” (soberanos), die Lugos Verurteilung gutheißen und die Sanktionen der Nachbarländer gegen Paraguay ablehnen.
Für den 21. April stehen also die ersten Wahlen nach dem Parlamentsputsch gegen Lugo an. Die wichtigsten politischen Vereinigungen, also die Colorado-Partei, die liberale Partei PLRA (Partido Liberal Radical Auténtico) und die Links-Koalition Frente Guasú (Guaraní für „große Front“), haben ihre Präsidentschaftskandidaten bestimmt. Das Ergebnis ist so ungewiss wie selten zuvor in der paraguayischen Geschichte.
Doch zumindest ein Kandidat ist eindeutig aus dem Rennen. Lino Oviedo lebte nicht lang genug, um seinen Traum erfüllen und Präsident Paraguays werden zu können. Am 2. Februar kam er bei einem Absturz mit seinem Privathubschrauber in der dünnbesiedelten Chaco-Region ums Leben. Direkt danach kamen Gerüchte auf, dass der Helikopter manipuliert worden war. Die Ergebnisse einer entsprechenden Untersuchung wurden bis Redaktionsschluss nicht bekannt.
Feinde hatte der General a.D. Lino Oviedo genug. An dem Putsch gegen den Diktator Alfredo Stroessner am 3. Februar 1989 war er beteiligt. 1996 drohte er als Armeechef mit einem Putsch, wofür er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, die er aber nicht antrat. 1999 soll er den Mord an Vizepräsident José María Argaña angestiftet haben. In den folgenden Unruhen haben seine Anhänger_innen ein Massaker an Demonstrant_innen begangen. Doch als Präsidentschafts­kandidat seiner Partei Nationale Union Ethischer Bürger (UNACE) war er eher ein Außenseiter. Nach den letzten Wahlumfragen hätte er höchstens 10,7 Prozent der Stimmen erhalten. Diese Stimmen könnten jetzt entscheidend werden.
Die aktuellen Wahlumfragen zu Redaktionsschluss entstanden alle vor Oviedos Tod und zeigen die unklare Situation. Je nach Umfrage wollen zwischen 21,8 und 31,5 Prozent dem Kandidaten der derzeit regierenden Liberalen Partei PLRA, Efraín Alegre, ihre Stimme geben. Dem Kandidaten der Colorados (ANR), Horacio Cartes, wollen zwischen 31,5 oder gar 37 Prozent der Wähler_innen ihre Stimme geben und dem Kandidaten des linken Bündnisses Avanza País, Mario Ferreiro, zwischen 8,1 und 11,7 Prozent. Auf den Kandidaten der linken Frente Guasú, Aníbal Carrillo, fallen zwischen 2,9 und 11,6 Prozent der Stimmen. Einige Umfragen zeigen den Liberalen Alegre knapp vorn, die meisten aber sehen den Kandidaten der Colorado-Partei, Horacio Cartes, als Sieger.
In dieser Lage könnten die Reste der Oviedo-Partei, die außer dem General kaum Personal von politischem Gewicht aufwies, nun zum Zünglein an der Waage werden. Die Führungsriege der Oviedisten könnte einen Wahlpakt mit den Liberalen schließen. Wahrscheinlicher allerdings ist, dass sich die meisten UNACE-Anhänger_innen wieder jener Partei zuwenden, von der sie sich 2002 abgespalten hatten: den Colorados.
Horacio Cartes hat sich bei der parteiinternen Vorwahl im Dezember 2012 mühelos als der Kandidat durchgesetzt, der den ANR in die kommende Präsidentschaftswahl führen wird. Dass der Politik-Neuling Cartes die Colorados so vereinigt, erscheint ungewöhnlich. Doch die Colorado-Partei brauchte nach dem Verlust der Regierungsmacht 2008 jemanden, der Geld mitbringt. Bevor Cartes in die Politik eintrat, galt er als einer der mächtigsten Unternehmer Paraguays. Sein Vermögen stammt aus Firmen der unterschiedlichsten wirtschaftlichen Bereiche. So ist er verbunden mit Sportunternehmen, mit der Amambay-Bank und verschiedenen Landwirtschafts- und Viehzuchtunternehmen. Ihm gehört auch das Tabakunternehmen Tabacos del Paraguay S.A. und der Getränkehersteller Bebidas del Paraguay S.A..
Doch mutmaßlich sind nicht alle Geschäftsbereiche Cartes‘ legal. Neben der Anklage wegen Devisenbetrugs und Veruntreuung lasten noch andere schwere Vorwürfe auf seiner Kandidatur. Nach Angaben der paraguayischen Presse hat die Antidrogeneinheit SENAD im März 2000 ein Flugzeug sichergestellt, das auf Cartes‘ Farm Nueva Esperanza gelandet war. Es transportierte 343 Kilo Marihuana und 20 Kilo Kokain. Cartes versuchte, sich aus der Affaire herauszuwinden, indem er erklärte, der Pilot sei auf seiner Farm notgelandet. Auch die US-Diplomatie sieht Horacio Cartes eng mit Drogenproduktion und -schmuggel verbunden. In einer von Wikileaks veröffentlichten geheimen Kabelnachricht der US-Botschaft in Asunción vom 5. Januar 2010 wird er beschuldigt, Drogengelder zu waschen. Die Informationen stammten von Agent_innen der US-amerikanischen Antidrogeneinheit DEA, die angeblich das Geschäftsnetzwerk Cartes‘ infiltriert haben.
Diese Vorwürfe versuchen Cartes‘ politische Gegner_innen zu nutzen. Sein größter Konkurrent Efraín Alegre zeigt sich siegesbewusst und sagte kürzlich, dass am „21. April das größte Narco-Päckchen fallen wird“. Fakt ist, dass Cartes von einem unbedeutenden Zigarettenhändler in den 1990er Jahren zum millionenschweren Tabakunternehmer wurde.
Die liberale Partei (PLRA) hat es gegen die Colorados, die das Land von 1954 bis 2008 regierte, nicht leicht. Das Selbstverständnis der PLRA hat sich aus der Opposition gegen die Diktatur des Colorados Alfredo Stroessner (1954-1989) entwickelt. Zwar agierten die beiden Parteien am 22. Juni 2012 gemeinsam gegen Lugo, doch eigentlich sind sie traditionelle Kontrahenten. In der liberalen Partei findet sich ein großer Teil von Paraguays Oligarchie Seite an Seite mit bedeutenden Intellektuellen. Ständige Streitigkeiten der Mitgliederschaft haben in der sehr heterogenen liberalen Partei Tradition.
Efraín Alegre, Präsidentschaftskandidat der PLRA, gewann ausgerechnet Rafael Filizzola von der Demokratischen Fortschrittspartei (PDP) als Kandidaten für die Vizepräsident­schaft. Filizzola war Innenminister unter Präsident Fernando Lugo und stand im Zentrum der Kritik von Liberalen und Colorados gegen die Regierung, die schließlich zur Amtsenthebung am 22. Juni führten.
Die einstige Gegnerschaft scheint nun der gemeinsamen Feindschaft zu den Colorados zu weichen. Gemeinsam hoben Alegre und Filizzola die Bewegung Paraguay Alegre aus der Taufe – das Wortspiel „Fröhliches Paraguay“ macht der Name des Präsidentschaftskandidaten möglich. Es dürfte sich dabei um die einzige politische Kraft handeln, die in der Lage ist, die Colorados zu besiegen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Regierung des Liberalen Federico Franco sie tatkräftig unterstützt. So wurden etwa die Preise im öffentlichen Nahverkehr gesenkt, um Stimmung für die PLRA zu machen. Die Liberalen wissen nur zu gut, dass sie die Unterstützung einer anderen politischen Kraft oder von deren Wählerschaft benötigen. Eine Neuauflage des Bündnisses von linken Kräften und PLRA, das 2008 den Erfolg brachte, ist allerdings schwer vorstellbar. Die PLRA gilt vielen Progressiven als Hauptverursacher der Absetzung von Lugo. Aus linker Sicht haben die Liberalen den geschlossenen Pakt verraten und sich als die führenden Putschisten erwiesen.
Doch nicht nur die Allianz zwischen Liberalen und Linken ist dahin. Auch die verschiedenen linken Bewegungen sind gespalten. Unter der Bezeichnung Frente Guasú waren sie schon 2008 gemeinsam angetreten. Bereits vor dem Parlamentsputsch im Juni zeichnete sich eine Kandidatur des ehemaligen Fernseh- und Radiomoderators Mario Ferreiros ab. Maßgeblich war dabei, dass ihn die wichtigsten politischen Parteien innerhalb der Frente Guasú unterstützten, etwa die Partei der Bewegung zum Sozialismus (P-MAS) und die Partei Solidarisches Land (PPS). Zudem ist Ferreiro sehr beliebt bei den jungen Paraguayer_innen, die die Bevölkerungsmehrheit stellen.
Allerdings stand Fernando Lugo dem Kandidaten Ferreiro, dem er mangelnde politische Erfahrung vorwarf, eher kritisch gegenüber. So spaltete sich die Frente Guasú nach der Absetzung des Präsidenten in zwei Strömungen. Auf der einen Seite bildete sich Paraguay Resiste, unterstützt von Fernando Lugo. Diese Gruppe firmiert weiterhin als Frente Guasú, auch wenn der Name Frente Mirî (Guaraní für „kleine Front“) nach der Spaltung passender wäre. Ihr Präsidentschaftskandidat ist Aníbal Carrillo.
Auf der anderen Seite fand sich das Bündnis Avanza País, das Mario Ferreiro zum Kandidaten kürte. Mitglieder dieses Bündnisses übten auch harsche Kritik an Lugo. So bemängelte Camilo Soares, ehemaliger Minister und Chef der Avanza-País-nahen Partei P-MAS, öffentlich Fernando Lugos fehlende Entscheidungsfreudigkeit: Im Grunde habe der ehemalige Bischof Lugo eine „romantische und nostalgische Sicht der Dinge”, fern jedes revolutionären Anspruchs.
Die Zersplitterung der Linken kommt auch in den Wahllisten für den Kongress zum Ausdruck: viele Listen mit wenig Aussicht darauf, gewählt zu werden. Die schlimmste Folge davon wird sein, dass aus Paraguays Legislative praktisch ein Zweiparteien-Parlament wird. Am Ende werden voraussichtlich nur die Colorados und die Liberalen in den beiden Kammern Gewicht haben.
Die Kandidat_innen aller Parteien versuchen, Nähe zum Volk und Verständnis für die dringendsten Anliegen zu vermitteln. Eines fehlt im paraguayischen Präsidentschaftswahlkampf allerdings fast vollständig: politische Inhalte.

Vorwärts oder zurück?

Die Cafeteria Vivalto liegt in Badalona, einem Vorort von Barcelona. Sie ist José Cornejo Ventocillas und Rocio Muguruza Díaz‘ ganzer Stolz. Vor zwei Jahren, im Juli 2011, haben die beiden Peruaner_innen sie eröffnet. Rocio arbeitete damals nur noch stundenweise, in ihrer Freizeit klapperte sie Banken und gemeinnützige Organisationen ab, auf der Suche nach Unterstützung. Irgendwann fragte sie auch beim Roten Kreuz an und stieß dort auf das Proyecto Impuls@.
Dieses Projekt wurde 2004 vom Roten Kreuz ins Leben gerufen. Eine Initiative, die sozial benachteiligte Unternehmensgründer_innen unterstützen soll. In erster Linie richtet diese sich an Immigrant_innen, da diese in der Regel mehr Schwierigkeiten im Berufsleben haben. Aber natürlich werden auch Spanier_innen beraten und unterstützt, wenn sie um Hilfe bitten.
Das Rote Kreuz fördert die zukünftigen oder jungen Unternehmer_innen mit Schulungen und gibt Hilfestellung bei den Anträgen für Mikrokredite an die Banken. Seit 2001 werden in Spanien solche Mikrokredite von bis zu maximal 25.000 Euro vergeben, mit deren Hilfe für viele Unternehmensgründer_innen die Selbstständigkeit ermöglicht werden kann. Die Zahl der Unternehmensgründer_innen im Projekt Impuls@ sei in den letzten Jahren gleichwertig geblieben, so Sandra Camús, eine der Mitarbeiterinnen des Projektes, da habe die Krise keine bedeutenden Veränderungen hervorgerufen. Allerdings habe sich die Krise auf die Vergabe der Mikrokredite ausgewirkt, diese werden inzwischen nur noch selten bewilligt. Außer­dem wird das Projekt im nächsten Jahr von Kürzungen betroffen sein, wie auch sonst überall im spanischen Sozialwesen eingespart wird. Für das Jahr 2013 sind im Projekt Impuls@ Kürzungen von 43 Prozent geplant. Noch ist nicht bekannt, wo die Einsparungen ansetzen, wie viele Arbeitsstunden, oder Arbeitsplätze betroffen sind. Noch weiß man im Roten Kreuz deshalb nicht, welche Weiterbildungen und Förderungen im nächsten Jahr angeboten werden können.
Das Projekt endet jedoch nicht mit der erfolgreichen Geschäftsgründung, sondern begleitet die Unternehmer_innen auch noch nach den ersten Schritten. Mindestens die ersten zwei Jahre werden sie vom Roten Kreuz beraten und betreut, denn dies ist der Zeitraum, in dem viele neugegründete Unternehmen wieder schließen müssen. Im Jahr 2011 waren es zirka 120 Personen, die das Projekt Impuls@ aufsuchten. 14 von ihnen konnten ihr Projekt letztendlich mit Hilfe des Roten Kreuzes umsetzen. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl sogar um mehr als das Doppelte gestiegen, von sechs auf 14. Die Statistiken für das Jahr 2012 sind noch nicht bestätigt, doch es waren wohl um die acht bis neun Personen, so Sandras Schätzung. Zu den 14 erfolgreichen Unter­nehmer_innen aus dem Jahr 2011 gehören Rocio und José mit ihrer Cafeteria.
Als Rocio und José den Entschluss eine Cafeteria zu eröffnen fassen, sind sie bereits einige Jahre in Spanien. Rocio kam 2001 illegal nach Spanien. Später folgt ihr José. Da ihm ein Touristenvisum verweigert wird, heiraten die beiden kurzerhand, denn Rocio ist inzwischen legal in Spanien. Das war 2007. José findet schnell Arbeit, auch wenn er stark überqualifiziert ist. Doch mit der Wirtschaftskrise wird die Situation schwieriger. Früh fangen beide an zu sparen und machen sich als Subunternehmer_innen für Josés Arbeitgeber selbstständig. Doch als dieser seine Firma schließen muss, lohnt sich das Geschäft nicht mehr – auch wenn sie es bis heute nebenbei betreiben. Rocio arbeitet zu dem Zeitpunkt zwölf Stunden am Tag in einer Cafeteria für 900 Euro im Monat. Der Entschluss, eine eigene Cafeteria zu eröffnen festigt sich. Und Rocios damaliger Chef, den beide als guten Freund bezeichnen, unterstützt sie sogar in dieser Entscheidung.
Eine der wenigen Initiativen des spanischen Staates, Bürger_innen aus der Arbeitslosigkeit zu helfen, ist die „Capitalización del paro“. Dies bedeutet, dass die_der Betroffene sich zur Gründung eines Unternehmens sein Arbeitslosengeld auszahlen lässt. Rocio geht diesen Weg und lässt sich ihr Geld auszahlen. Die beiden legen alles Ersparte zusammen und bitten sogar ihre Eltern in der Heimat um Unterstützung. 60 Prozent des benötigten Geldes können sie aufbringen. Was jetzt noch fehlt bekommen sie als Mikrokredit, den sie mit Unterstützung des Roten Kreuzes beantragen und in erstaunlich kurzer Zeit zugesagt bekommen. Abgesehen von der „Capitalización del paro“, gibt es noch eine weitere Hilfe des Staates, eine einmalige Erstattung bereits getätigter Ausgaben der ersten Monate. Dieses Geld ist Rocio im Dezember 2011 bewilligt worden. „Ich habe noch gesagt, das ist unser Weihnachtsgeschenk“, lacht José. 5.000 Euro sollen ihnen ausgezahlt werden. Bis jetzt haben sie keinen Cent gesehen.
Man sagt, dass man nach drei bis fünf Jahren erkennt, ob sich ein Geschäft durchgesetzt hat. Ob es ein Verlustgeschäft war, oder Gewinn bringt. Rocio und José sind mit ihrer Cafeteria noch keine zwei Jahre selbstständig. Die Kosten werden inzwischen vom Geschäft getragen, „Aber wir verdienen keinen Euro extra für uns, alles wird sofort von den Ausgaben geschluckt.“ Rocio wirkt ein wenig abgekämpft. Jeden Tag arbeiten die beiden von morgens bis abends. „Manchmal verkaufen wir lediglich einen Kaffee den ganzen Tag“, so José. Aber sie stehen zu ihrer Entscheidung, bereuen nichts und blicken entschlossen in die Zukunft. „Man muss jetzt weiterkämpfen“, so Rocio. Trotzdem: “Wenn ich deutsch könnte, hätte ich mich schon längst auf den Weg gemacht!”, meint sie. Und auch José sind solche Gedanken nicht fremd: “Da ist diese Stimme in meinem Kopf, dass ich jetzt in Peru leicht Arbeit als Ingenieur finden könnte”.
So oder ähnlich denken viele Immigrant_innen und auch Einheimische. Laut dem Nationalen Statistikinstitut (INE) haben zwischen Januar und September dieses Jahres 420.150 Personen Spanien verlassen. Am stärksten war die Abwanderung in Katalonien, aus dem 149.000 Personen ausgewandert sind, 138.000 davon waren Immigrant_innen. Viele wandern in Nordeuropäische Länder aus, wo sie sich bessere berufliche Chancen ausrechnen.
Seit dem Beginn der Krise zwischen 2008 und 2011 sind in Spanien 2,2 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen, so die Studie „Auswirkungen der Krise auf die Immigrantenbevölkerung“ von der Internationalen Organisation der Migra­tionen (OIM). Doch während 11,5 Prozent der spanischen Arbeiter_innen ihre Stelle verloren, war die Migrant_innenbevölkerung stärker betroffen. 15 Prozent der Lateinamerikaner_innen und der Immigrant_innen aus dem restlichen Europa verloren ihren Arbeitsplatz, unter den afrikanischen Immigrant_innen waren es 21 Prozent. Die Arbeitslosigkeit betrifft 18,4 Prozent der Spanier_innen, ist dagegen bei den Afrikaner_innen mit 39,1 Prozent doppelt so hoch. Die Lateinamerikaner_innen sind mit 28,5 Prozent Arbeitslosigkeit die am schwächsten betroffene Gruppe unter den Immigrant_innen.
Trotz der deprimierenden Situation für viele Spanier_innen hat der Rassismus nicht in auffälliger Weise zugenommen. „Die Leute haben verstanden, dass weder die Krise noch die Arbeitsmarktprobleme die Schuld der Immigrant_innen ist, die ihnen die Arbeit wegnehmen, sondern dass das wirtschaftliche System, die Banken und die großen Firmen verantwortlich sind“, meint Javier Bonomi, Präsident von Fedelatina (Federación de Entidades Latinoamericanas de Cataluña) und Koordinator des Programms für die Freiwillige Nachhaltige Rückkehr. Aber den Immigrant_innen bietet sich noch eine andere Möglichkeit: die Rückkehr in die Heimat. Seit einigen Jahren werden von staatlicher Seite Anreize für eine Rückkehr in die Heimatländer angeboten. Man kann hier die „Capitalización del paro“ beantragen und sich sein Arbeitslosengeld auszahlen lassen, wenn man sich im Gegenzug verpflichtet, Spanien zu verlassen. Auf den ersten Blick ein verlockendes Angebot, aber wenn man sich zu diesem Schritt entschließt, muss man alle spanischen Papiere, wie Krankenversicherung und Führerschein abgeben und man darf für mindestens drei Jahre nicht wieder einreisen.
Die Räume von Fedelatina sind im Altstadtviertel von Barcelona zu finden. Schon an der Tür auf der Straße weist ein Schild auf die Informationsveranstaltung an diesem Nachmittag hin. Wenn man durch die große Tür von der Straße hereinkommt betritt man einen langen Flur. Auf der linken Seite ist eine kleine Rezeption, rechts gegenüber stehen ein paar Stühle. Die Stühle sind alle besetzt, einige Besucher_innen stehen auch. Ein gutes Dutzend Lateinamerikaner_innen sind gekommen, um sich über den Retorno Voluntario Sostenible, die “Freiwillige Nachhaltige Rückkehr“ zu informieren. Ein Paar ist mit ihren zwei kleinen Töchtern gekommen. Sie alle suchen nach Auswegen aus der schwierigen Situation in Spanien.
Nach einer Weile wird die Gruppe von Jara Esbert-Pérez, Leiterin des Projektes, in den kleinen Vortragsraum am Ende des Flurs gebeten. Jara begrüßt die Gruppe und stellt Javier und sich selbst vor, bevor sie beginnt über die „Freiwillige Rückkehr“ zu reden.
Zuerst erklärt Jara die verschiedenen Programme, die es in Spanien und Katalonien gibt, und die Immigrant_innen verschiedenster Nationen die Möglichkeit einer Rückkehr in die Heimatländer bieten. Denn nicht jeder erfüllt die Kriterien für die Freiwillige Nachhaltige Rückkehr, und so sollen den anderen weitere Möglichkeiten und die dazugehörigen Kontaktdaten angeboten werden, damit sie das Treffen nicht ratlos verlassen müssen. Und wirklich kommen die Nachfragen. Der Vater der beiden kleinen Mädchen möchte wissen, welche Programme für ihn und seine Familie in Frage kämen, da seine Frau Italienerin sei. Und ein junger Mann erkundigt sich, ob sich seine erworbene spanische Staatsangehörigkeit auf die Freiwillige Rückkehr auswirke.
Jara kommt auch auf psychologische Betreuung zu sprechen, die bei den wenigsten Programmen gewährleistet ist. Denn oft fühlt sich die rückkehrende Person als Versager. Wollte man nicht etwas erreichen, Geld verdienen, die Familie in der Heimat unterstützen? Und nun die erfolglose Rückkehr? „Ganz genau!”, flüstert eine Kolumbianerin in der letzten Reihe zustimmend.
Es gibt vieles, auf das man achten muss, wenn man die Freiwillige Rückkehr als Möglichkeit in Betracht zieht. Man muss sich der Konsequenzen bewusst sein, vor allem, dass einem die Wiedereinreise für drei Jahre verwehrt wird. Aber auch technische Dinge müssen bedacht werden, denn bei vielen Programmen muss man das Land innerhalb kurzer Zeit verlassen und gleichzeitig selbst für das Flugticket aufkommen, was viele Rückkehrer_innen auf einmal vor nicht bedachte finanzielle Probleme stellt. Das Projekt der Freiwilligen Nachhaltigen Rückkehr wird in diesem Jahr zum ersten Mal durchgeführt. Es wird von der Europäischen Union und der Organisation der Iberoamerikanischen Staaten für Bildung, Wissenschaft und Kultur (OEI) getragen und in vier europäischen Ländern – Spanien, Portugal, ltalien und England – durchgeführt, wiederum in Zusammenarbeit mit sechs Lateinamerikanischen Ländern: Bolivien, Ecuador, Brasilien, Kolumbien, Peru und Paraguay. Die Antragstellerin oder der Antragsteller muss also aus einem dieser sechs Länder sein. Sie_Er muss sich in einer situacion irregular befinden, was bedeutet, dass sie_er weder Arbeit hat noch Arbeitslosengeld bekommt, zwischen 25 und 45 Jahre alt ist, und über ein gewisses Bildungsniveau verfügt.
Die Ausgewählten durchlaufen einen strengen Auswahlprozess. Nachdem sie die Informationsveranstaltung besucht haben, können sie gleich im Anschluss ein Antragsformular ausfüllen. Wenn sie die Kriterien erfüllen, werden sie zu verschiedenen persönlichen Gesprächen und Treffen eingeladen. Sind alle Hürden genommen, beginnt die dreimonatige Ausbildung in Barcelona, die online geplant ist, wobei Fedelatina auch Präsenzveranstaltungen bieten möchte. Schließlich dann die Rückkehr ins Heimatland. Das Projekt kommt hierbei für das Flugticket auf. Vor Ort dann sind weitere zwei bis drei Monate Online-Ausbildungen geplant, bis man mit Hilfe des Ministeriums für Arbeit und verschiedenen anderen Organisationen in den Arbeitsmarkt eingegliedert wird. Die Ausbildungen werden in Sektoren wie Konstruktion, Technologie und Kommunikation, Tourismus und Gastronomie, Handel, Kundenbetreuung, Kinderbetreuung, Altenpflege und Hauswirtschaft angeboten, sowie Kleingewerbe. „Kundenbetreuung zum Beispiel“, so erklärt Jara, „wir alle hier wissen, dass unsere Anrufe an diverse Callcenter nach Lateinamerika weitergeleitet werden. Da sind diejenigen von euch im Vorteil, die hier ein wenig Katalanisch gelernt haben. Denn wenn ihr dort mit ‚Bon dia‘ statt ‚Buenos Días‘ antwortet, habt ihr schon mal einen Pluspunkt.“
„Wichtig ist die Nachhaltigkeit!“, erklärt Jara später, „alle Ausbildungen sind auf die Sektoren ausgerichtet, in denen Arbeitskräfte fehlen“. Doch nicht nur beruflich werden die Rückkehrer_innen weitergebildet, auch auf die Situation in ihrem Heimatland werden sie vorbereitet. Wie zum Beispiel dort inzwischen das Gesundheitssystem funktioniert, oder wie hoch die Lebenshaltungskosten sind. Das Projekt klingt vielversprechend. Jara und Javier routieren zurzeit, das Auswahlverfahren läuft noch und da das Projekt noch in den Kinderschuhen steckt gibt es natürlich besonders viel zu tun. 30 Personen sollen in ganz Spanien in das Programm aufgenommen werden, die Anlaufpunkte sind Madrid und Barcelona. Im März 2013 sollen die Projektteilnehmer_innen voraussichtlich in ihre Heimatländer zurückkehren. Wo sie hoffentlich schnell und erfolgreich reintegriert werden, denn die Rückkehr nach Europa wird ihnen vorerst verwehrt sein.

Das achtzehnte Opfer

„Was geschah in Curuguaty?“ Als De-facto-Präsident Federico Franco zum Wallfahrtsort Caacupé fuhr, um am 8. Dezember der Nationalheiligen Paraguays seine Reverenz zu erweisen, wollte er sicherlich nicht mit dieser Frage konfrontiert werden. Doch unter den tausenden von Gläubigen, die jedes Jahr an diesem Datum zur riesigen Kathedrale pilgern und ihre Gebete an die Jungfrau von Caacupé richten, befanden sich auch einige Aktivist_innen, die die scheinbare Harmonie trübten. Sie hielten ein großes Transparent mit eben dieser Frage hoch, um deutlich zu machen, dass lange noch nicht aufgeklärt ist, wie es genau zum Massaker auf der Farm Marina Cué nahe Curuguaty kam, bei dem elf landlose Kleinbauern und sechs Polizisten ums Leben kamen.
Mit dem Massaker von Curuguaty am 15. Juni diesen Jahres begründete die rechtsliberale Partei PLRA und die konservative ANR (die Colorados) das umstrittene Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Fernando Lugo, das im Eilverfahren Federico Franco zum Präsidenten des Landes machte (siehe LN 457/458). Die politischen Gegner_innen des linken Präsidenten Lugo behaupteten, dass er die Landlosen unterstütze und für die Gewalt verantwortlich sei. Doch was in Curuguaty genau geschah, ist alles andere als klar.
Dass diese Frage schnell geklärt wird, ist nun noch unwahrscheinlicher. Am 1. Dezember wurde Vidal Vega umgebracht. Er war einer der Anführer der landlosen Kleinbauern und -bäuerinnen, die die Farm Marina Cué besetzten und ihre Enteignung forderten. Vega galt als einer der Schlüsselzeugen für ein Gerichtsverfahren zu dem Massaker.
Am 1. Dezember fuhren zwei Männer auf Motorrädern zum Haus von Vidal Vega. Sie verlangten Einlass von dessen Lebensgefährtin und als sie dem Bauernaktivisten gegenüber standen, eröffneten sie das Feuer vor den Augen seiner Familie. Vidal Vega wurde von mehreren Revolverkugeln und einem Schrotflintenschuss getroffen und verstarb an Ort und Stelle. Einer der Mordverdächtigen wurde noch am selben Abend gefasst; es handelt sich um den Auftragsmörder Panfilo Franco Toledo, nach dem wegen anderer Morde bereits seit Jahren gefahndet wurde.
Der zuständige Staatsanwalt erklärte schnell, dass es sich vermutlich um einen privaten Racheakt handelte. Dieser Version widersprachen sofort die Freund_innen und Kolleg_innen von Vidal Vega. Sie vermuten, dass das Ziel des Anschlags war, die Aufklärung der Geschehnisse von Curuguaty zu verhindern. Vidal Vega selbst sprach immer wieder davon, dass hinter der Gewalteskalation im Juni dieses Jahres bewaffnete Gruppen stünden, die mit Großgrundbesitzer_innen und der Marihuana-Mafia verbündet seien. In der östlichen Grenzregion zu Brasilien wird unter dem Schutz korrupter Netzwerke viel Marihuana produziert.
Der Mord an einem so wichtigen Zeugen wie Vidal Vega nährt weiter die Zweifel an der bisherigen Regierungsversion für die Geschehnisse von Curuguaty. Der Regierung zufolge ging die Gewalt von den Landlosen aus, die die umstrittenen Ländereien besetzten. Resultat waren sechs tote Polizisten und elf getötete Landlose. Doch die offizielle Untersuchung zieht sich immer noch hin – in die Kritik an dieser Verschleppung mischt sich immer mehr der Verdacht, dass wichtige Informationen verschleiert werden sollen.
Bereits im Oktober publizierte die Plattform zur Untersuchung von Landkonflikten PEICP einen Bericht, demzufolge die offizielle Darstellung des Massakers in Curuguaty unhaltbar ist. Die Untersuchungen von PEICP ergaben zum Beispiel, dass die Schüsse, mit denen die sechs Polizisten getötet wurden, aus Schnellfeuergewehren stammten. Derartige Waffen fanden sich aber nicht im Camp der Besetzer_innen und wurden auch nicht bei den inhaftierten Landlosen konfisziert. Vidal Vega wäre ein wichtiger Zeuge gewesen, um derartige offene Fragen aufzuklären. Die Vermutung, dass eine Mafia aus Großgrundbesitzer_innen und Politiker_innen das Massaker inszenierte, um das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo zu legitimieren und Proteste gegen die Agrarindustrie zu kriminalisieren, wird nun noch glaubwürdiger. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission verurteilte den Mord und verlangte von der paraguayischen Regierung, den Fall aufzuklären. Auch der UN-Gesandte in Paraguay, Lorenzo Jiménez verlangte umgehende Aufklärung.
Am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, riefen Gewerkschaften, soziale Bewegungen, linke Parteien und befreiungstheologisch inspirierte Kirchenvertreter_innen zu einer Demonstration für Menschenrechte in Asunción auf. Nach Angaben der Veranstalter_innen folgten etwa 5.000 Menschen dem Aufruf und demonstrierten damit auch gegen die De-facto-Regierung Francos. Zahlreiche Teilnehmer_innen trugen Transparente mit der Aufschrift des Mottos der Demonstration: „Was geschah in Curuguaty?“. Die Demonstrant_innen erinnerten auch an Vidal Vega und bezeichneten ihn als das 18. Opfer von Curuguaty. Die Demonstration endete vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft. Die Demonstrierenden forderten, dass dem zuständigen Staatsanwalt, Jalil Rachid, der Fall Curuguaty entzogen wird, da sie ihn für voreingenommen halten. Rachid soll enge Verbindungen zur Familie Riquelme haben, die die umstrittene Farm Marina Cué in Curuguaty besitzt. Der inzwischen verstorbene Blas Riquelme soll als Mitglied der Colorado-Partei das Landgut von Diktator Alfredo Stroessner illegal geschenkt bekommen haben.
Im Vorfeld der Demonstration hatte der De-facto -Innenminister Carmelo Caballero bereits Stimmung gegen sie gemacht. Er kündigte eine starke Polizeiüberwachung an, da er befürchtete, es könnten Gewalttäter_innen in die Demo „infiltriert“ werden. Diese Kommentare wies der ehemalige Innenminister der Regierung Lugo, Carlos Filizzola, scharf zurück: „Es ist eine Barbarei, so zu reden, das hörte man nur in der Diktatur. Das ist eine autoritäre Regierung, ohne Respekt für Menschenrechte. Sie kennt nur Freunde und Feinde, die verfolgt werden müssen“, erklärte er gegenüber dem Internetportal paraguayresiste.com.
Wirkliche Demokratie wird es in Paraguay nur geben, wenn der Filz zwischen Justiz, Agrarindustrie und Marihuana-Mafia entwirrt wird. Doch dafür sehen die Chancen schlecht aus. Für die Präsidentschaftswahlen im kommenden April wird ein Sieg der konservativen Colorado-Partei ANR vorhergesagt. Bei den Vorwahlen der ANR setzte sich der Geschäftsmann und Agrarindustrielle Horacio Cartes als Präsidentschaftskandidat durch. In einem von Wikileaks publizierten Kabel der US-Botschaft in Asunción werden ihm enge Verbindungen zu Marihuanaschmuggel und Geldwäsche nachgesagt. Er würde als Präsident wohl eher die Kreise repräsentieren, die nicht daran interessiert sind, dass aufgeklärt wird, was in Curuguaty wirklich geschah.

„Ein abgekartetes Spiel“

Was halten Sie von den Ereignissen vom 21./22. Juni diesen Jahres, als das Parlament Präsident Fernando Lugo im Eilverfahren des Amtes enthob?
Wir, das heißt die Mitglieder von ASAGRAPA, sehen darin einen Staatsstreich. Der wurde angezettelt von den Abgeordneten der beiden legislativen Kammern, im Interesse der Großgrundbesitzer und der Sojaindustrie. Sie haben in Curuguaty eine Falle aufgestellt. Dort gab es am 15. Juni einen gewaltsamen Zusammenstoß, oder besser gesagt, es handelte sich um eine Hatz auf eine soziale Bewegung. Dabei wurden einige Kleinbauern umgebracht und auch Polizisten kamen ums Leben. Dies wurde von den Parlamentariern ausgenutzt, um das zu tun, was sie ohnehin wollten: Fernando Lugo absetzen.

Lugo wurde beschuldigt, für die Gewalteskalation verantwortlich zu sein, ohne dass richtige Beweise vorgelegt wurden. Bis heute gab es keine umfassende Untersuchung des Vorfalls. Was, glauben Sie, ist wirklich in Curuguaty passiert?
Das war ein abgekartetes Spiel. Kleinbauern haben Land besetzt, das sich der Großgrundbesitzer und ehemalige Funktionär der konservativen Colorado-Partei Blas Riquelme illegal angeeignet hatte. Die Besetzer haben dann bei der Agrarbehörde INDERT eine Enteignung beantragt, und das wollten die Großgrundbesitzer nicht. Ich bin mir sicher, dass da Leute infiltriert wurden, um die Gewalt eskalieren zu lassen. Augenzeugen berichteten von Scharfschützen, die aus dem Hinterhalt das Gefecht begannen, bei den Besetzern fand man aber nur einige rostige Flinten.

Eine der Hauptanschuldigungen gegen die Regierung Lugos war, dass er die Guerilla Volksheer Paraguays (EPP) unterstützt habe. Was können Sie mir dazu sagen?
Das hängt eng mit dem Vorfall von Curuguaty zusammen. Ich halte die EPP nur für eine weitere Erfindung, um die Bewegung der Kleinbauern anzugreifen. Die Leute, die als EPP auftreten, sind eine Mafia, gestützt von den Marihuanapflanzern in der Region.

Aber Alcides Oviedo, der inhaftierte selbsternannte Führer der EPP, gibt sich als Marxist und erklärt, die Rechte der Armen in Paraguay verteidigen zu wollen…
Das sagt er nur. Die EPP ist eine Erfindung, nicht mehr! Wenn es die EPP gäbe, würde ich dazugehören, nur weil ich mich gegen die Sojaindustrie wende!

Sie kommen aus der ländlichen Region im Osten des Landes, an der Grenze zu Brasilien. Dort gibt es ja viele Konflikte zwischen Kleinbäuerinnen und -bauern und Großgrundbesitzer_innen. Hat sich durch den Machtwechsel etwas für Ihren Widerstand gegen den Sojaanbau geändert? Verhält sich die Polizei nun anders?
Ja, das hat sich schon gewandelt. Die Polizei, die Richter, die Staatsbeamten, sie treten uns gegenüber nun viel arroganter auf. Sie fühlen sich von der obersten Regierungsebene gestützt, wenn sie gegen uns agieren. Außerdem gibt es ein Antiterrorismusgesetz, mit dem jeder soziale Protest verboten werden kann. Dieses Gesetz stammt noch aus der Zeit von Lugo, auf Grund des Drucks aus der Legislative hat er es erlassen. Die Regierung Federico Francos benutzt es nun gezielt, um soziale Bewegungen zu kriminalisieren.

In Canindeyú gibt es derzeit einen sehr ähnlichen Konflikt wie den in Curuguaty, auch dort haben Kleinbäuerinnen und -bauern angekündigt, Ländereien besetzen zu wollen, die illegal an Großgrundbesitzer_innen verteilt wurden. Glauben Sie, dass dieser Konflikt auch so eskalieren könnte wie der in Curuguaty?
Nein, das glaube ich nicht. Die Sojapflanzer haben ja nun die Unterstützung der Regierung und müssen nicht befürchten, dass der Staat sich das gestohlene Land zurückholt. Sie sind Lugo schon losgeworden, es gibt keinen Grund mehr für sie, solche Gewaltausbrüche zu provozieren.

Was hat sich sonst durch den politischen Machtwechsel für Euch verändert?
Konkret bedeutet der Machtwechsel einen Schlag für die arme Bevölkerung. Der neue Präsident Federico Franco, der ehemalige Vizepräsident von Lugo, hat als Erstes die meisten Sozialprogramme abgeschafft. Das kostenlose Gesundheitssystem, das Lugo eingeführt hatte, gibt es nicht mehr. Auch das Programa Abrazo (ein soziales Hilfsprogramm, um die Kinderarbeit abzuschaffen, von Lugo 2010 eingeführt, Anm. d. Red.) wurde stark eingeschränkt. Außerdem griff die Regierung die Arbeiter direkt an, indem sie den Mindestlohn senkte. Franco ist mit der zynischen Bemerkung aufgefallen, dass ja eineinhalb Millionen Guaraníes (etwa 255 €, Anm. d. Red.) im Monat reichen würden, um eine Familie zu ernähren, was natürlich völliger Unsinn ist. Das reicht nie!

Der neue Präsident Federico Franco hat das Kabinett völlig umgekrempelt. Der Umweltminister Oscar Rivas, der aus der Umweltbewegung kam, wurde sofort entlassen. Es ist von mehreren tausend politisch motivierten Entlassungen in den Behörden die Rede. Was bedeutet das für die Kleinbäuerinnen und -bauern und die sozialen Bewegungen in Paraguay?
Das bedeutet konkret, dass die sozialen Bewegungen, die sich für die Gesundheit der Bevölkerung und die Umwelt einsetzen, kaum noch eine Chance haben. Unter Lugo konnten wir wenigstens etwas Einfluss geltend machen. Das ist jetzt vorbei! Der Staat unterstützt nur noch die industriellen Landwirte, die Sojaproduzenten, die brasiguayos (in Paraguay ansässige Großfarmer aus Brasilien, Anm. d. Red.). Uns bleibt nur noch, die Arme zu kreuzen und zuzusehen. Aber das können wir nicht tun! Wir müssen etwas bewegen, aber wir wissen noch nicht, wie.

Von hier aus ist es schwierig einzuschätzen, was wirklich im Land geschieht, da die Medien Paraguays von Unternehmen kontrolliert werden, die mit der Agrarindustrie zusammenarbeiten. Was macht der Widerstand gegen Franco?
Für uns ist es vor allem wichtig, neue Bevölkerungsgruppen für den Widerstand zu gewinnen. Wir versuchen gerade, neue Strukturen aufzubauen und neue Führungspersönlichkeiten zu suchen. Das ist die Grundlage, um effektiven Widerstand überhaupt möglich zu machen. Im Augenblick ist der Widerstand sehr schwach und fragil. Aber wir arbeiten daran, das zu ändern!

Im nächsten Jahr werden im April Präsidentschaftswahlen stattfinden. Was erwarten Sie als Ergebnis?
Oh, das ist ein Drama! Dadurch dass Lugo abgesetzt wurde, hat er ein schlechtes Bild hinterlassen. Der demokratische Wandel ist unterbrochen worden. Ich sehe keine Chance für Lugos linkes Parteienbündnis. Ich bin sicher, dass bei den Wahlen die Colorados wieder gewinnen werden.

Wie sehen Sie eigentlich die Präsidentschaft Lugos? Ich habe diesen Satz von einem Unterstützer des Präsidenten gelesen: „Lugo war mehr Bischof, als dass er regiert hätte!“ Damit war gemeint, dass Lugo zu sehr versucht hat, es allen Gesellschaftsschichten recht zu machen und der Konfrontation mit der Oligarchie aus dem Weg gegangen ist. Wie sehen Sie das?
Genau so. Er hätte viel härter gegen die alten Eliten vorgehen müssen und dafür hatte er auch das Mandat der Bevölkerung. Er hätte eine neue Verfassung anstreben müssen, um wirklich eine Veränderung im Land herbeizuführen. Aber das hat er nicht getan. Und auch als der Parlamentsputsch stattfand, hätten ihm viele zur Seite gestanden, wenn er gewollt hätte. Er sagte aber: Ich bin nicht Allende, nicht Chávez, ich bin Lugo. Und so übergab er einfach die Präsidentschaft, um Blutvergießen zu verhindern. Was wirklich fehlt, ist eine neue Verfassung.

In der Verfassung von 1992 bekam die Legislative viel mehr Rechte gegenüber der Exekutive. Dass die beiden Kammern von konservativen Kräften dominiert sind, war die Grundlage für die Amtsenthebung von Lugo. Woran liegt es, dass diese Abgeordneten, die nur die Interessen der Großgrundbesitzer vertreten, immer gewählt werden?
Das liegt an dem sehr geringen Bildungsstand in Paraguay. Die Leuten denken nicht an die langfristigen Folgen, sondern sind mit ihrer unmittelbaren Not beschäftigt. Das begünstigt Stimmenkauf. Und die Leute erhoffen sich Schutz von einem einflussreichen Politiker, wenn sie für ihn stimmen.

Haben Sie irgendwas an die Leute in Deutschland zu sagen?
Auf jeden Fall. Ich möchte die Deutschen darum bitten genau zu schauen, was sie essen. Ob das Fleisch, das sie essen aus Massentierhaltung stammt, in der genetisch verändertes Futter aus Paraguay verfüttert wurde. Die meisten wissen hier ja nicht, wie das Soja in Paraguay hergestellt wird. Die schlechte Ernährung in Europa und die Vergiftung und Zerstörung der Natur in Paraguay hängen unmittelbar zusammen.

Infokasten:

Gerónimo Arevalos
ist etwa 55 Jahre alt und kommt aus der Region Caaguazú, nahe Asunción. Als landloser Arbeiter zog er mit seiner Familie jahrelang durch das Land. In den 1980er Jahren begann er mit anderen Landlosen Besetzungen in Alto Paraná im Osten Paraguays zu organisieren. Daraus entstand die Organisation ASAGRAPA, in der sich Kleinbäuerinnen und -bauern in ganz Alto Paraná politisch und genossenschaftlich organisieren. Diese Organisation bemüht sich auch um Kontakte zu ähnlichen Gruppen in Brasilien und Argentinien. Gerónimo Arevalos‘ Sohn arbeitet derzeit bei einer ähnlichen Gruppe in Argentinien. In dem Film Raising Resistance werden die Proteste von ASAGRAPA gegen den industriellen Sojaanbau ausführlich gezeigt. Im Oktober war Gerónimo Arevalos auf einer Rundreise in Europa, um von den Folgen des Sojaanbaus in Paraguay zu berichten.

Raising Resistance
Der Film Raising Resistance zeigt die weltweiten Zusammenhänge des Sojaanbaus und seine Folgen für Menschen und Umwelt in Paraguay (Siehe LN 453). Er hat bereits zahlreiche Preise erhalten, unter anderem 2011 den Preis der schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG-SSR für den besten schweizerischen Film und den Deutschen Umwelt- und Nachhaltigkeitsfilmpreis des Festivals NaturVision 2012. Der Film erscheint demnächst auf DVD.
Mehr Informationen unter www.raising-resistance.com

Vorerst auf nur einem Hektar

„Wir sind bereit für unser Land zu sterben“, schrieben 30 indigene Familien der Gemeinde Pyelito Kuê in einem Brief, in dem sie an die Regierung appellierten, die am 1. Oktober in Kraft getretene Räumungsanordnung zurückzunehmen. Nachdem der Katholische Missionsrat CIMI den Brief im Internet gepostet hatte, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. In Blogs und auf Facebook erklärten sich viele unter dem Motto „Wir sind alle Guarani-Kaiowá“ mit den Indigenen solidarisch. Tausende hängten die Endung Guarani-Kaiowá an ihre Facebooknamen. Onlinepetitionen gegen die Räumung machten die Runde – und Tausende begingen für einen Tag einen symbolischen facebookcídio – einen Facebook-Selbstmord.
Medien weltweit interpretierten die in dem Brief geäußerte Bereitschaft, lieber zu sterben als das Gebiet verlassen zu wollen, als Androhung kollektiven Selbstmords. CIMI bemühte sich um die Klarstellung des Missverständnisses. Die Guarani-Kaiowá sprächen vor dem Hintergrund des Kampfes um Land von kollektivem Tod – und nicht von kollektivem Selbstmord. Da von Justiz und den Viehzüchtern angeheuerte Sicherheitskräfte darauf beständen, sie von ihrem Land zu vertreiben, seien sie bereit, dort zu sterben. In dem Brief heißt es wörtlich: „Wir haben uns entschieden, hier nicht wegzugehen, ob lebendig oder tot, denn anscheinend haben wir keine Chance in Würde auf unserem Gebiet zu bleiben. Wir haben bereits Massaker erlitten und sterben in wachsendem Tempo. Wir wissen, dass wir bald von Sicherheitsbeamten der Justiz hier weggebracht werden, aber wir werden uns vom Fluss Hovy nicht wegbewegen. Wir haben uns entschieden, hier zu bleiben und hier gemeinsam zu sterben. Denn aufgrund der Entscheidung des Gerichts bleibt uns nichts anderes übrig“.
Die in Pyelito Kuê lebenden Kaiowa wurden zuletzt mehrfach bedroht und von bewaffneten Sicherheitskräften des Viehzüchters der Ranch umzingelt. Sie hatten nur geringen Zugang zu Nahrung oder Gesundheitsversorgung. Am 1. November hatten Sicherheitskräfte der Justiz zudem bereits mit der Räumung einer Kaiowá-Gemeinde in Porto Murtinho begonnen und 60 Familien dazu gezwungen, ihr Gebiet zu verlassen.
Facebook wird in Brasilien deutlich mehr benutzt als andernorts, hat dort ein weitaus größeres Mobilisierungspotential für symbolische Aktionen – und wird deshalb von den dortigen Medien und der Regierung ernst genommen. So sah sich die brasilianische Regierung angesichts der Tausenden von Guarani-Kaiowá-Namenssendungen bei brasilianischen Facebook-Nutzer_innen schließlich gezwungen, mit den Kaiowá über ihren Verbleib auf dem Land zu verhandeln, das bereits 1984 als ihr Eigentum registriert worden war. Nach einwöchigen Gesprächen mit Vertreter_innen der Indigenen in Brasília verkündete Brasiliens Justizminister, José Eduardo Cardozo, am 30. Oktober, das Gericht in São Paulo habe entschieden, die einstweilige Verfügung über die Räumung des Landes zurückzunehmen. Die bis zur Klärung der Besitzverhältnisse geltende Regelung, gemäß der sich die fast 200 Kaiowá auf einen Hektar Land quetschen müssen, während die Viehzüchter_innen des Agrobusiness 170 Hektar des Landes bewirtschaften dürfen, spiegelt allerdings die Machtverhältnisse in dem erbitterten Kampf um Land wider.
„Wir sind erleichtert darüber, dass wir nun nicht von unserem Land verwiesen werden, aber es ist eine Schande, dass sie uns auf einem Hektar einsperren wollen“, kommentierte der Kazike Lide Lopes die Entscheidung gegenüber CIMI. Die Abgeordnete Érica Kokay kritisierte die Bestimmung des Gerichts als „Gefangenschaft“. Aus Sicht des Vorsitzenden der Kommission für Guarani-Kaiowá des Menschenrechtsrats CDDPH, Eugenio Aragão, kümmert sich die brasilianische Regierung nur dann um Angelegenheiten der Indigenen, wenn Katastrophen drohten.
Rund 30 Prozent des 580.000 Hektar großen Gebiets, auf das die Agrarlobby von Mato Grosso do Sul Anspruch erhebt, wird bereits seit den 1950er Jahren für großflächige Rinderzucht genutzt. Nie erkannten die Großgrundbesitzer_innen die Registrierung des indigenen Landes an. Über ihren Widerspruch gegen die Entscheidung von 1984 hat der Oberste Gerichtshof jedoch bis heute nicht entschieden. Anstatt sich für die Rechte der Indigenen einzusetzen, verpachteten der Dienst für den Schutz Indigener SPI und seine Nachfolgeinstitution, die Nationale Stiftung für Indigene, Funai, laut der CIMI zudem Land an die Viehzüchter_innen. Und dies, obwohl das gesamte Gebiet bereits im 19. Jahrhundert den Kaiowá zugesprochen worden war. Als Belohnung für ihre Verteidigung des brasilianischen Territoriums im Krieg gegen Paraguay hatte König Dom Pedro II es den „tapferen Kriegern“ vermacht.
Auf Proteste der Kaiowá hin hatte das Justizministerium ihnen im Jahr 2002 40 Hektar des umstrittenen Landes zugesprochen. Der Eigentümer des Landguts Cambará legte abermals Widerspruch vor Gericht ein. Der Richter Henrique Bonachela gab ihm Recht und ordnete im Oktober die Räumung des von den Kaiowá vor einem Jahr erneut besetzten Landes an. Die Bewohner_innen von Pyelito Kue mussten sich daraufhin an den Rand des Flusses Hovy zurückziehen, wo sie abgeschnitten von der Straße lebten.
Auch in den Kaiowá-Gemeinden Potrero Guasu, Arroio Korá und Laranjeira Nhanderu hat es in letzter Zeit Repressionen gegen Kaiowá gegeben. „Wir befinden uns in einer komplizierten Situation der Abgrenzung indigenen Landes, denn in der Region gibt es viel politischen und wirtschaftlichen Widerstand“, erklärte die Generalstaatsanwältin Deborah Duprat anlässlich der Gespräche mit den Kaiowá in Brasília Ende Oktober. Die Gewalt gegen die Indigenen und deren ausweglose Situation bleibt nicht folgenlos: Zwischen 2003 und 2010 begingen laut dem CIM 555 Guarani-Kaiowá Selbstmord (siehe LN 439). „Damit die Gewalt aufhört, muss das Land abgegrenzt werden. Denn der Bundesstaat respektiert unser Recht auf das Land nicht und erkennt uns nicht als Bürger an. Die Regierung unseres Bundesstaates hat ziemlich deutlich gemacht, dass sie uns nicht unterstützen wird“, erklärte Otoniel Ricardo, Mitglied des „Kontinentalen Rats der Guarani“ gegenüber dem CIMI.

Chávez ist ein „Stabilitätsfaktor in Lateinamerika“

Die Ära Chávez geht weiter. Trotz Krebserkrankung und der offensichtlichen Bürokratisierungserscheinungen seiner bolivarianischen Revolution hat Präsident Chávez es wieder geschafft, aus den Wahlen am 7. Oktober erneut als Sieger hervorzugehen und sich ein Mandat bis 2019 zu sichern. Zu eindeutig repräsentierte der Kandidat der Rechten, Ex-Bürgermeister Henrique Capriles Radonski, die traditionellen Eliten, die auch nach 13 Jahren Linksregierung über unglaublichen Reichtum verfügen und der übrigen Bevölkerung überwiegend mit Verachtung begegnen. Capriles, der von brasilianischen Wahlkampfexpert_innen beraten wird, bemühte sich zwar um eine sozialdemokratische Rhetorik und versprach, an den bestehenden Sozialprogrammen festzuhalten. Trotzdem ist absehbar, welche Veränderungen ein Sieg der Opposition nach sich ziehen würde: Venezuela würde sich wieder stärker den ökonomischen und geopolitischen Interessen der USA unterordnen (das heißt auch eine deutlich geringere Beteiligung an den Öleinnahmen akzeptieren) und zur neoliberalen Privatisierungspolitik zurückkehren.
Ein wesentliches Problem für die bürgerlichen Parteien ist weiterhin, dass sie – anders als etwa die Rechte 1990 in Nicaragua – nicht auf den Angstfaktor zählen kann. Bei der Abwahl der sandinistischen Revolution 1990 spielte die Furcht, ein neuerlicher Sieg der Linken könnte den Contra-Krieg neu aufflammen lassen, eine entscheidende Rolle. In Venezuela heute ist es umgekehrt: Ungewiss ist die Zukunft ohne Chávez. Denn eine Rechtsregierung müsste mit heftigem Widerstand aus der Bevölkerung und Teilen des Staatsapparates rechnen. Vieles spricht dafür, dass ihr die Lage dabei außer Kontrolle geraten könnte.
Doch was macht Chávez – der schon jetzt mehr Wahlen gewonnen hat als fast alle europäischen Politiker_innen (selbst Helmut Kohl wurde nur dreimal im Amt bestätigt) – eigentlich so erfolgreich? Eigentlich gäbe es ausreichend Gründe für eine Abwahl des Präsidenten: Obwohl in der Verfassung vom Aufbau einer Beteiligungs- und Rätedemokratie die Rede ist, erweist sich der Klientel-Staat in Venezuela als quietschlebendig. Die im ganzen Land gegründeten Nachbarschaftsräte (Consejos Comunales), die eigentlich die lokale Selbstregierung sicher stellen sollten, sind heute in erster Linie damit beschäftigt, sich untereinander um den Zugang zu Geldern zu streiten. Gleichzeitig ist im und beim Staat eine neue, aufstrebende Oberschicht entstanden, die berüchtigte „Boli-Bourgeoisie“. Anders als viele Linke unterstellen, hat das weniger mit „Verrat“ als mit der staatlichen Struktur selbst zu tun: Da der gesellschaftliche Reichtum in Venezuela von den Öleinnahmen abhängt und diese über den Staat verteilt werden, bilden Staatsbeamt_innen und Privatunternehmer_innen immer wieder von Neuem einen unauflösbaren polit-ökonomischen Filz aus. Oder wie es beim frühen Marx so schön heißt: Wenn sich Idee und Interesse begegnen, blamiert sich in der Regel die Idee.
Auch der Umbau Venezuelas in Richtung einer weniger vom Rohstoffexport abhängigen sozialistischen oder wenigstens gemischten Ökonomie ist kaum vorangekommen. Der chavistische Ökonom Victor Álvarez hat das in einer aktuellen Studie skizziert: Der Anteil der verarbeitenden Industrie ist seit 1987 von 22,1 % des Bruttoinlandsprodukts auf 14,4 % gefallen. Zwar ist die Wirtschaft im gleichen Zeitabschnitt stark gewachsen, doch davon haben vor allem Handel und Bausektor profitiert, die sich in den Händen der Privatwirtschaft befinden. Dank der Sozial- und Beschäftigungspolitik der Regierung ist zwar die Armut deutlich zurückgegangen und auf den Straßen sind kaum noch Menschen zu sehen, die im Müll nach Verwertbarem suchen. Doch der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen ist nicht gestiegen. Er liegt mit 37% auf dem gleichen Niveau wie 1997 (während das Einkommen aus Kapitalbesitz weiterhin bei 42% liegt). Die Kooperativen schließlich, denen in der demokratisch-sozialistischen Umgestaltung eine Schlüsselrolle zugedacht war, sind ebenfalls kaum von der Stelle gekommen: Gerade einmal 2% der ökonomischen Aktivitäten gehen auf das Konto des Genossenschaftssektors.
Dramatisch ist die Gewaltsituation: Auch wenn die genauen Zahlen umstritten sind, lässt sich nicht leugnen, dass Caracas eine der höchsten Mordraten in Lateinamerika hat. Stadtteil-Aktivist_innen weisen in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass die „bolivarische Revolution“ einen großen Teil der Jugendlichen offensichtlich überhaupt nicht erreicht. Das soziale Ansehen des mit Konsumgütern ausgestatteten Kriminellen ist höher als das eines Jugendlichen, der seinen Abschluss an einer der vielen neu gegründeten Fachhochschulen macht und zwar einen Job, aber eben keinen besonderen Reichtum erwarten kann.
So bleiben als große innenpolitische Errungenschaften der letzten Jahre vor allem die Misiones – eine Reihe von Sozialprogrammen, die 1998 von Chávez einberufen wurden und der Armutsbekämpfung und der sozialen Sicherheit der Bevölkerung dienen sollen. 40 Milliarden US-Dollar hat der staatliche Erdölkonzern PDVSA allein 2011 in die Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Entwicklungsprogramme investiert. Ermöglicht wurde das nicht nur durch die hohen Ölpreise, sondern auch durch die Bereitschaft der Regierung, die Öleinnahmen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu verwenden. In Zeiten neoliberaler Raubideologie wahrlich keine Kleinigkeit. Doch es gibt auch noch ein zweites wichtiges Argument, warum die arme Bevölkerung mehrheitlich nach wie vor hinter Chávez steht.
Die Veränderungen in Venezuela werden von Gegner_innen wie Anhänger_innen Chávez meist ausschließlich mit dem Präsidenten selbst erklärt. Dabei wird ausgeblendet, dass die Bevölkerung seit 1989 immer wieder gegen die politische Klasse rebelliert und dem Neoliberalismus schon vor Chávez‘ Amtsantritt eine entscheidende Niederlage zugefügt hatte. Der konstante, kaum von Organisationen getragene Widerstand machte das Land in den 1990er Jahren faktisch unregierbar. Der Soziologe Andrés Antillano spricht in diesem Sinne vom Entstehen einer „plebejischen Macht“, die seiner Meinung nach den entscheidenden Motor der Veränderungen im Land darstellt.
Antillano zufolge ist das Verhältnis dieser gesellschaftlichen Kraft zur Regierung durchaus komplex. Viele Venezolaner_innen würden präzise zwischen Oficialismo und Chavismo unterscheiden: Man verweigere sich jeder politischen Repräsentation, auch der der Regierungspartei PSUV, aber man sei für den Präsidenten. In den Worten Antillanos: „Chávez wird als Negation der Repräsentation betrachtet: der Kommandant, der die Abwesenheit eines Chefs gewährleistet, der Caudillo als Garant der Selbstbestimmung. Oder wie es in einer Parole heißt: ‚Mit Chávez regiert das Volk‘.“
Das mag bizarr klingen – doch richtig daran ist, dass Chávez, obwohl alle Entscheidungen im Land über ihn laufen, immer wieder für ein Machtvakuum sorgt, in dem Slum-Bewohner_innen und Kleinbäuer_innen zum ersten Mal in der Geschichte etwas zu bestimmen haben.
Auch außenpolitisch würde eine Niederlage des Präsidenten in der Region Einiges zum Schlechteren drehen. Dabei sind die Prinzipien der venezolanischen Außenpolitik in vieler Hinsicht skandalös. Das Gerede von der „antiimperialistischen Schwesterrevolution im Iran“ oder die demonstrative Freundschaft mit Despotien in der ganzen Welt können einem – auch wenn man die Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik von EU und USA nicht minder abstoßend findet – nur den Magen umdrehen. Die Chávez-Regierung hält offensichtlich entschlossen an der ebenso simplen wie unsinnigen Position fest, dass gut sein muss, was Washington für schlecht befindet.
Doch selbst wenn es daran nichts zu verteidigen gibt, stimmt auf der anderen Seite eben, dass die Außenpolitik Venezuelas in Lateinamerika zu einer Verschiebung der Kräftekonstellation beigetragen hat. Die US-Dominanz scheint gebrochen. Selbst treue Verbündete wie Kolumbien, das in den vergangenen 15 Jahren zu den wichtigsten Empfängern von US-Militärhilfe in der Welt gehörte, sind ein Stück von Washington abgerückt.
Tatsächlich war die lateinamerikanische Politik im vergangenen Jahrzehnt von einer bemerkenswerten Arbeitsteilung zwischen Brasilien und Venezuela bestimmt: Während die Chávez-Regierung „für´s Grobe“ zuständig war – antiimperialistische Rhetorik, Bündnisse mit „Schurkenstaaten“ und der Aufbau eines sozialistischen Lagers mit Kuba, Bolivien und Ecuador –, hat Brasilien den Aufbau eigenständiger lateinamerikanischer Strukturen vorangetrieben: Mit der UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) existiert heute eine amerikanische Staatengemeinschaft, in der Washington nichts mehr zu melden hat. Auf die Staatsstreiche und Umsturzversuche in Honduras, Paraguay und Bolivien hat die Staatengemeinschaft dementsprechend, anders als früher, mit einer Isolation der Putschist_innen reagiert. Handels- und Entwicklungsvereinbarungen trifft man heute lieber vor Ort. Ob sich dadurch etwas Grundsätzliches ändert, mag dahingestellt sein. Brasilianisches Kapital treibt die Erschließung von Erdölvorkommen in Regenwaldregionen, die Ausweitung von Soja-Plantagen oder den Bau von Super-Häfen entschlossen voran. Die Entwicklungsmodelle bleiben die alten, nur die Staatsangehörigkeit der Investor_innen ändert sich. Immerhin: Wenn man bedenkt, mit welcher Aggressivität Lateinamerika von Europa und den USA ausgeplündert wurde, stellt ein solcher Perspektivwechsel wahrscheinlich doch einen Fortschritt dar.
Die Chávez-Regierung ist noch in weiterer Hinsicht außenpolitisch erfolgreicher, als es auf den ersten Blick scheint. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos, Vertreter der traditionellen Oberschicht seines Landes, überraschte die Öffentlichkeit vor einigen Monaten mit der Aussage, Chávez sei ein Stabilitätsfaktor in der Region. Viele glaubten kaum, was sie da hörten: Ausgerechnet Chávez, der von Washington der Unterstützung von Guerillas und islamischen Netzwerken bezichtigt wird, soll ein Stabilitätsfaktor sein?
Offensichtlich kommt es auf die Perspektive an. Dass bewaffnete Aufstände heute in Lateinamerika diskreditiert sind, hat auch mit Venezuela zu tun. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der eher einer Renaissance des Wohlfahrtsstaates als einem Sozialismus ähnelt, verweist auf die Möglichkeit, dass sich durch Wahlen bisweilen doch etwas verändern lässt.
Nicht zuletzt für Kolumbien ist die Perspektive interessant. Es ist kein Zufall, dass die Chávez-Regierung eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung der Friedensverhandlungen zwischen Bogotá und der FARC-Guerilla (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) gespielt hat. Schon vor Jahren ist Venezuela auf Distanz zu den kolumbianischen Guerillas gegangen und hat diese zu einer Beendigung des bewaffneten Kampfes aufgefordert.
Das Schicksal der südamerikanischen Nachbarstaaten ist miteinander verwoben. Wie erwähnt, ist die Lage in Venezuela durchaus explosiv – und zwar nicht aufgrund „chavistischer Sabotage“, sondern wegen der sozialen Widersprüche im Land selbst. Vor allem im Westen Venezuelas haben Großgrundbesitzer_innen, kolumbianische Paramilitärs und Drogenhändler_innen, korrupte Einheiten der Nationalgarde sowie – untereinander teilweise verfeindete – Guerilla-Gruppen aus Venezuela (FBL – Bolivarische Befreiungskräfte) und Kolumbien (FARC und ELN – Nationale Befreiungsarmee) parallele Machtstrukturen aufgebaut. Ohne Chávez, der ein gewisses Gleichgewicht garantiert, könnte daraus schnell ein Flächenbrand werden. Man muss keine prophetischen Fähigkeiten besitzen, um zu begreifen, dass ein solcher Konflikt an den Landesgrenzen nicht halt machen würde.

Musik machen gegen den Hirnräuber

Draußen vor dem Gemeindehaus von Caacupé riecht es nach Grillfleisch und Feuer. Blauer Dunst hängt über der Villa 21-24, einem der Armenviertel von Buenos Aires. Aus den Häusern, die wie Schachteln übereinander gestapelt sind, dringen Cumbia-Klänge und Gesprächsfetzen. Drinnen im Hof des Kirchenhauses spielen ein paar Jugendliche Volleyball, mit einem quer gespannten Seil als Netz. „Wären sie nicht hier, würden sie jetzt Paco rauchen“, sagt Padre Toto. Er ist der Priester der Gemeinde Caacupé. Und er kennt den Paco. Seit dreizehn Jahren lebt er Tür an Tür mit ihm.
Der Paco, das ist Pasta Básica de Cocaina, Kokain-Basispaste, in Europa als Crack bekannt. Die südamerikanische Version der Droge kostet nicht viel, ein paar Pesos die Pfeifenfüllung. Denn sie ist mit Kerosin oder Putzmitteln gestreckt, oder mit gemahlenen Glassplittern. Wenn kein Tabak da ist, wird sie mit Stahlwolle geraucht, in einer kleinen Pfeife aus Korken, Blechdosen oder Aluminiumrohren, oder mit Marihuana gemischt. Der Rausch dauert nicht länger als ein paar Minuten, dafür ist das Herunterkommen umso härter: Depressionen und schmerzhafte Krämpfe wegen der giftigen Substanzen in dem Stoff. Nur der nächste Trip macht den Kater erträglich. Der Paco verursacht schwere Organ- und vor allem Hirnschäden. Er zerstört das gesamte Nervensystem. Doch die meisten Junkies sterben an Unterernährung, denn sie spüren keinen Hunger mehr. Und selbst wenn, sie könnten sich nichts zu essen kaufen, weil das Geld für den Stoff draufgeht. Die Abhängigen verkaufen ihre Kleidung und beklauen erst ihre eigenen Familien, dann andere, um die 100 bis 300 Dosen am Tag bezahlen zu können, die sie brauchen. Die Porteños wechseln die Straßenseite, wenn ihnen ein auffällig dünner Jugendlicher entgegenkommt, vor allem, wenn er dunkle Haut hat. Der latente Rassismus in Argentinien wird durch den Paco manifest.
Nach der Wirtschaftskrise 2001, sagt Padre Toto, sei der Konsum in den Villas Miserias enorm gestiegen. In einigen von ihnen leben heute doppelt so viele Menschen als noch im Jahr 2000. Trotz aller populistischen Worte: Die Ärmsten haben vom „argentinischen Wirtschaftswunder“ wenig gemerkt. Und das bewährteste Mittel gegen das Gefühl der Macht- und Perspektivlosigkeit ist immer noch der Rausch.
Padre Toto ist einer von denen, die den Sisyphuskampf gegen den Paco aufgenommen haben. In Jeans und Turnschuhen sitzt er in seinem Büro. Die Tür zum Hof, auf dem die Jungen Volleyball spielen, steht offen. An der Wand hängt neben dem Kreuz eine Karikatur von Padre Toto als Fußballspieler, gegenüber ein bunter Sombrero. Er bietet Mate an, während er über seine Arbeit berichtet. Über die Initiativen, die die Jugendlichen von der Straße und damit aus den Fängen des Paco holen sollen: eine weiterführende Schule, eine Berufsschule, Fußballgruppen, Gemeinschaftskantinen, Nachhilfeunterricht, eine Pfadfindergruppe, eine Musikschule. Etwa 1.000 Jugendliche, meint er, könnten sie damit erreichen. In der Villa 21-24 wohnen mehr als 45.000 Menschen, fast die Hälfte davon ist unter 30 Jahren alt. Wie viel die Prävention bringt, das sei schwer zu sagen, meint Padre Toto: „Es gibt kein Vorher-Nachher-Foto.“
Wegen restriktiver Gesetze zur Einfuhr von Chemikalien in Peru und Bolivien, die den Drogenhandel schwächen sollten, haben sich die Produktionsstätten nach Argentinien, Uruguay und Brasilien verlagert. Jetzt ist die Mafia direkt vor der Haustür und kann ihre Waren ohne größere Umwege an die Leute bringen. In den Villas Miserias von Buenos Aires wohnen Konsument_innen, Produzent_innen und Dealer_innen in unmittelbarer Nachbarschaft. Rund die Hälfte der jugendlichen Villa-Bewohner_innen, so wird geschätzt, raucht den ladrón de cerebros, wie sie ihn nennen, den Hirnräuber.
Die Villas von Buenos Aires sind Nicht-Orte. Kein Mittelschichts-Argentinier setzt seinen Fuß hier hinein. Auch nicht die Polizei. Bei googlemaps sind die Armenviertel weiße Flecken auf der Landkarte, und genauso werden sie von der Regierung behandelt. 2009 prangerte Padre Totos Vorgänger, Padre Pepe, das Drogenproblem in den Villas erstmals öffentlich an. Von der Regierung forderte er ein aktiveres Vorgehen. Kurz darauf erhielt er Morddrohungen von der Mafia. Heute lebt er ein paar tausend Kilometer weit weg im Norden Argentiniens. Padre Toto stellt bloß fest: „Wir sind keine Konkurrenz für den Paco.“ Über Probleme mit der Mafia mag er nicht reden.
Camila und Miriam proben heute für einen besonderen Anlass: Camila feiert bald ihren 15. Geburtstag, sie ist Quinceañera, in Lateinamerika ein symbolisches Alter für den Eintritt ins Erwachsenenleben. Es wird eine große Party geben, in einem Pavillon auf einem extra dafür angemieteten Grundstück, erzählt sie freudestrahlend, und natürlich werden sie und ihre dreizehnjährige Schwester vorsingen. Seit drei Jahren nehmen die beiden Gesangsunterricht in der Musikschule. Doch seit einem Jahr wohnen sie nicht mehr in der Villa. Eines Tages im Morgengrauen bekam die Familie Besuch von bewaffneten Schlägertypen, die ihnen mit Konsequenzen drohten, sollte der ältere Bruder tatsächlich aussteigen. Aussteigen aus dem Drogenhandel, das war damit gemeint. Meistens bedarf es keiner Drohungen. Die Jugendlichen in der Villa haben die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit, Kartonsammeln oder Drogen verticken. Letzteres ist bei weitem am lukrativsten, die Mafia zahlt gut. Von einem Tag auf den anderen zog Camilas Familie um. Der Bruder wurde dank der Kirche zum Entzug aufs Land geschickt – auch das ist Teil des Drogenpräventionsprogramms von Caacupé. Dort hat er Arbeit gefunden und eine Freundin, erzählt Camila, und die beiden kommen jetzt zu ihrem Geburtstagsfest. Santiago, der Lehrer, kommt herein und die Gesangsstunde fängt an. Begleitet von einem verstimmten Klavier üben Camila und Miriam die schwierigsten Parts der Lieder wieder und wieder. Es ist kühl im Klassenzimmer, es gibt keine Heizung. Während die Sonne untergeht, belebt sich die Straße draußen, die Cumbia-Klänge werden lauter. Ein Auto fährt vorbei, ein schwarzer, glänzender Mercedes, der hier in diesem Viertel wie von einem anderen Stern wirkt. Doch die Villeros gucken dem Auto nicht einmal hinterher. Die Mafia gehört zum Alltag.
Bei der kleinen Kapelle Jesus vive sind die Straßen eng, vom letzten Regen verschlammt und viel dunkler als beim großen, hell erleuchteten Gemeindehaus. Trotzdem spielen ein paar Dutzend Kinder Fußball, Erwachsene sitzen vor ihren Häusern und unterhalten sich. „Als wir hier vor ein paar Jahren anfingen, war es noch viel schlimmer“, erzählt Santiago, der Gesangslehrer und Gründer der Musikschule. „Noch viel marginalisierter und gefährlicher.“ Dann wurde die kleine Kapelle eröffnet, das gehörte zum Konzept des Padre Pepe: „öffentliche Räume schaffen, an denen sich die Menschen treffen können.“ Mit einem kleinen Chor begann Santiago damals. Er wuchs schnell: Jugendliche kamen, weil das Singen die Langeweile vertrieb, und sie brachten ihre kleinen Geschwister mit, damit die Mutter zu Hause ihre Ruhe habe. Die Tür zum Kirchenraum ist heute verschlossen, doch im Hinterhaus brennt Licht. Zwei Frauen sind am Aufräumen. „Cómo va? Wie gehts?“, fragt Santiago. „Schlecht, Professor, siehst du nicht?“, sagt Esther. „Schau, die Decke, die ist seit dem Sturm von neulich völlig marode, die kann jeden Moment einfallen, aber es würde 5.000 Pesos kosten, sie wieder zu reparieren. Wir können im Kirchenraum keine Gottesdienste mehr machen, das ist viel zu gefährlich!“
Aus Platzmangel zog der Chor in das größere Gemeindehaus. Dort gab es die nötigen Räume, Klassenzimmer für die verschiedenen Bildungsangebote. Nach und nach fand Santiago mehr Lehrer, und bald konnte er auch Klavier- und Gitarrenunterricht anbieten, Trommeln und Blasinstrumente. Auch eine Band gibt es. Die Musikschule ist kein Pflichtprogramm für die etwa 60 Schüler_innen zwischen fünf und 24 Jahren. Da ist keine ehrgeizige Mutter dahinter, die meint, es würde ihrem Sprössling gut tun, ein Instrument zu lernen. Die Schüler kommen freiwillig. Und manchmal auch auf eigene Faust. So wie die zehnjährige Bianca, die mit ihrer gelben Puppe im Arm plötzlich die Tür zum Klassenzimmer aufmacht und sich neben Santiago auf die Klavierbank setzt. Später wechselt sie ohne ein Wort zu sagen in den Keyboardunterricht nebenan, zu Jazmín, die hinterher begeistert auf Santiago einredet. Er solle die Mutter unbedingt dazu bewegen, Bianca regelmäßig zu bringen, sie habe ein erstaunliches Talent. Ob das was nützen wird, ist fraglich. Bianca ist allein hier, stellt sich heraus. Santiago muss sie nach dem Unterricht nach Hause fahren, damit sie nicht allein durch die dunklen Gassen läuft. Die Eltern kümmern sich offensichtlich nicht darum. „Drogenhändler, bestimmt“, sagt Santiago, auf deutsch, damit sie es nicht versteht. Er hat zwei Jahre Musik in Karlsruhe studiert.
Auf dem Rückweg zum Gemeindehaus erzählt er von einem kleinen Jungen, der von seinem Vater missbraucht wurde. Als die Mutter sich endlich dazu durchringen konnte, dem Priester davon zu erzählen, war die Familie am nächsten Tag verschwunden. Vermutlich auf dem Weg zurück nach Paraguay. Was tut man, um solche Geschichten auszuhalten? „Beten“, sagt Santiago. „Reden, mit den anderen, mit Padre Toto.“ Auch Jazmín erzählt verstörende Geschichten. „Letztes Jahr“, sagt die 25jährige Klavierlehrerin, „sahen wir aus dem Haus gegenüber eine Frau auf die Straße laufen, vermutlich eine Prostituierte, mit durchgeschnittener Kehle. Sie blutete wie ein Schwein. Doch da kam kein Krankenwagen, die trauen sich hier nicht rein. Höchstens mit einer Eskorte von vier Streifenwagen, aber wenn grad keine verfügbar sind, dann kommen sie eben nicht.“ Sie erzählt von einem Schüler, dessen Vater mit neun Schüssen im Körper tot in seinem Wagen gefunden wurde. Von dem Mädchen, das von ihrem Vater missbraucht wird, und der Mutter, die nichts dagegen tun kann. Dann sagt sie erschrocken: „Ich höre mich ziemlich abgebrüht an, oder?“ Und fügt entschuldigend hinzu: „Man gewöhnt sich daran, irgendwie.“ Jazmín kommt aus La Boca, einem anderen „marginalisierten“ Stadtteil von Buenos Aires. Sie kennt die Welt ihrer Schüler_innen. „Das Musikstudium hat mir Spaß gemacht, aber mich nicht ausgefüllt“, sagt sie. „Die Arbeit hier, die schafft das.“ Momentan studiert sie Soziologie, weil sie ein Werkzeug brauchte, wie sie sagt, mit dem sie diesen heftigen Geschichten begegnen kann. Wie die meisten der acht Lehrer, die außer Santiago alle nicht viel älter sind als sie, arbeitet sie ehrenamtlich in Caacupé. Santiago würde sie gerne bezahlen, aber dazu fehlt das Geld.
Die Musikschule ist Teil eines größeren Projekts, das von Padre Pepe gegründet wurde. Hogar de Cristo heißt es, und es zielt darauf ab, die Paco-Abhängigen wieder zurück zu holen in die Gesellschaft. „Der Paco ist das blutigste Gesicht der Ausgrenzung“, hat Padre Pepe einmal gesagt. In verschiedenen Stadtteilzentren werden die Abhängigen psychologisch und medizinisch versorgt. Und wenn sie soweit sind, werden sie zum Entzug auf kleine Farmen auf dem Land geschickt. „Den Sinn des Lebens wiederfinden“, so beschreibt Fabiola, worum es für die Abhängigen geht. Sie arbeitet als Freiwillige im Zentrum Padre Carlos Mugica in der Villa 31. Dort und auch in anderen Villas wurde das Programm von Padre Pepe übernommen. Und dort wie überall gibt es kaum Geld. Die Kirche gibt ein bisschen, das meiste kommt von privaten Spendern. Doch ohne die Kirche wäre gar nichts da. Dann könnte nicht einmal denen geholfen werden, die immerhin noch die Kraft haben, auf einen Ausweg zu hoffen.
Während die Musiklehrer auf Santiago warten, der oben noch die letzten Instrumente wegschließt, beendet Padre Toto nebenan in der Kapelle die tägliche Messe. Seine weiße Soutane hat er schon ausgezogen, als er herauskommt. Nun trägt er wieder Jeans und T-Shirt. „Alles gut, Schwester?“, fragt er, und gibt mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange. „Ja“, sage ich. Aber das Lächeln will mir nicht so richtig gelingen.

// Straße in die Vergangenheit

„Diese Straße hat eine transzendentale Bedeutung!“ Die Zukunft Boliviens hinge davon ab, sie zu bauen, schreibt der Regierungsangestellte weiter. Nur gute Kommunikationswege gewährleisteten die Kontrolle des Staates über die peripheren Regionen des Landes. Die Trennung zwischen Hochland und Tiefland könne überwunden werden. „Dieser Weg wird eine echte Verbindung der beiden Teile Boliviens herstellen und einen unschätzbare Wert für die wirtschaftliche Entwicklung haben.“

Nein, hier wird nicht eine aktuellen Äußerung eines bolivianischen Beamten zur umstrittenen Straße durch das Indigene Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro Securé (TIPNIS) zitiert. Der Text ist über 80 Jahre alt. Es handelt sich um das Schreiben des ehemaligen Regierungsabgeordneten für den Chaco, Julio A. Gutiérrez, an den Verteidigungsminister Boliviens vom 12. Mai 1931. Die geforderte Straße sollte nicht durch das TIPNIS führen, sondern die Stadt Tarija mit Villa Montes im Chaco verbinden. Die Begründungen von damals sind aber fast identisch mit den Argumenten, die heute vorgebracht werden, um den Straßenbau zu legitimieren.

Am 10. September 2012 endete die Volksbefragung über die umstrittene Überlandstraße durch das TIPNIS. Zu Redaktionsschluss war das Ergebnis noch nicht bekannt, aber den Umfragen zufolge gibt es eine Mehrheit für das Regierungsprojekt. Verlief das Plebiszit wirklich fair, wie die Regierung beteuert? Oder beschaffte sich die Regierung die Mehrheit nur über Wahlgeschenke und die Behinderung der Gegner_innen des Projekts, wie Kritiker_innen glauben und die deshalb die Abstimmung boykottierten? Diese Fragen sind schwer zu beantworten. Zu undurchsichtig ist die Lage, zu polarisiert die Stimmung im Land. Doch die aktuelle hitzige Debatte um die Straße TIPNIS verschleiert, dass hinter dem Konflikt ein Problem steht, das Bolivien schon lange beschäftigt.

Am Vortag des 10. September 1932 flammten die Kämpfe um das Fort Boquerón auf. Damit begann der Chaco-Krieg zwischen Bolivien und Paraguay. Bis 1935 kämpften die beiden verarmten Länder um den Besitz des Chaco Boreals, einer kargen Halbwüste im Zentrum Südamerikas. Unmittelbar vor dem Krieg versuchte Bolivien, Straßen in das umstrittene Gebiet zu bauen. Sie sollten die „Kolonisierung“ des Chaco ermöglichen und es dem Zugriff Paraguays entziehen. Der Bau von Transportwegen sollte die staatliche Souveränität in den isolierten Grenzregionen des bolivianischen Tieflandes dauerhaft sichern. Zu oft hatte Bolivien Territorien an die Nachbarländer verloren, weil keine Straßen ins Kampfgebiet führten. So auch im Chaco-Krieg. Bolivien musste den größten Teil des Chacos an Paraguay abtreten, das den logistischen Vorteil auf seiner Seite hatte.

Diese und andere historischen Erfahrungen erklären, warum Boliviens Zentralregierung so erpicht darauf ist, die Straße durch das TIPNIS zu bauen. Die Pläne für das Projekt lagen schon seit über hundert Jahren in den Schubladen. Dies zeigt aber auch, wie wenig sich die Entwicklungsstrategien der Morales-Regierung von früheren unterscheiden. Noch immer gilt kapitalistische Inwertsetzung als Grundvoraussetzung für die Souveränität über ein Territorium. Allein die Ablehnung dieser Logik wird es Bolivien ermöglichen, auf Großprojekte wie den Straßenbau durch das TIPNIS zu verzichten. Dafür ist auch ein Umdenken der Nachbarländer gefordert. Nur wenn auch auf internationaler Ebene nicht-kapitalistische Wirtschaftsweisen und Naturräume respektiert werden, kann das TIPNIS so gelassen werden wie es ist, ohne dass Bolivien befürchten muss, Grenzland zu verlieren.

Trügerischer Frieden

Zwei Monate nach dem parlamentarischen Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Paraguays, Fernando Lugo, ist es in den deutschsprachigen Mainstream-Medien still um das Land im Herzen Südamerikas geworden. Fast könnte man meinen, dass das Leben hier „normal und friedlich verlaufe“, wie es De-facto-Präsident Federico Franco gern gegenüber dem Ausland betont. Das ist aber nur eine Wunschvorstellung.
Als die damals der rechtmäßigen Regierung angehörende Radikal-Liberale Partei (PLRA) gemeinsam mit der Colorado-Partei (ANR) vom früheren Diktator Stoessner und der rechtsgerichteten Partei UNACE das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo auf den Weg brachte, musste es schnell gehen. Zu groß war die Gefahr, dass es zu einem Volksaufstand kommen könnte. So wurde nach einem Express-Prozess gegen den Amtsinhaber nach nur 24 Stunden sein ehemaliger Vize als Präsident vereidigt (siehe LN 457/458). Der Rechtsanwalt Alberto Alderete, der zusammen mit Kollegen eine Klage beim Obersten Gerichtshof gegen dieses Verfahren einreichte, sagte dazu:“Während ein einfacher Hühnerdieb 18 Tage Zeit hat, seine Verteidigung vorzubereiten, gaben sie dem Präsidenten weniger als sieben Stunden.“
Doch die Rechnung der Putschisten ging nicht auf. Schon kurz nach dem parlamentarischen Putsch mobilisierten linksgerichtete und soziale Bewegungen die Massen. Sie gründeten die „Front zur Verteidigung der Demokratie“ FDD, ein Zusammenschluss aus zwölf linksgerichteten Parteien und acht sozialen Bewegungen, unter der Führung der Frente Guasú, der Partei Fernando Lugos. Auf ihrer Internetseite paraguayresiste.com werden die Aktionen koordiniert und vor allem die Menschen informiert. Denn von einer unabhängigen Medienlandschaft kann man in Paraguay kaum sprechen. Noch am Abend des Tages der Amtsenthebung Lugos wurde der Direktor des einzigen öffentlichen und unabhängigen TV-Kanals entlassen. Diese Sendeeinrichtung wurde erst zu Zeiten Lugos eröffnet und war mit seinem „Offenen Mikrofon“ eine beliebte Einrichtung der Bürgerinnen und Bürger, um an politischen Debatten teilzunehmen. In den Tagen nach dem Putsch versammelten sich täglich viele Menschen rund um das Studio des Senders in der Hauptstadt Asunción, um gegen „die Verletzung der Demokratie und der Souveränität des paraguayischen Volkes“ zu demonstrieren. Seit vor ein paar Tagen ein neuer Direktor des Senders ernannt wurde, schweigt das „Offene Mikrofon“.
Waren es in den ersten Tagen überwiegend die verarmten Bevölkerungsteile, die ihrer Empörung auf Straßen und Plätzen bei Demonstrationen und Straßenblockaden landesweit Ausdruck gaben, meldeten sich bald auch immer mehr Vertreter_innen der Mittel- und Oberschicht zu Wort. Kunstschaffende und Personen aus Wissenschaft und Presse sowie Geistliche rufen im Internet unter der Überschrift „Keine Rückkehr in finstere Zeiten“ zum friedlichen Widerstand gegen die De-facto-Regierung auf. „Besorgt über die Zukunft unserer Nation, verpflichten wir uns, für immer friedlich weiter zu kämpfen für den Wiederaufbau einer freien, demokratischen und integrativen Republik, für unsere und die zukünftigen Generationen“, heißt es in dem Aufruf. Auch die paraguayische Menschenrechtskoordination Codehupy spricht von einem „parlamentarischen Putsch“ und erkennt die De-facto-Regierung Francos nicht als legitim an.
Die regierungstreuen Medien ignorieren die Protestbewegung, doch können sie dadurch nicht verhindern, dass sie beständig wächst. Gegenüber brasilianischen Medienvertreterinnen und Medienvertretern sagte Lugo im August, dass „die Linke niemals einen besseren Zeitpunkt“ hatte. Und er fügte hinzu: „Die Bürger Paraguays sind polarisiert wie niemals zuvor. Wenn die Linke es schafft, auch bisher unpolitische Kräfte zu aktivieren, hat sie Chancen“. Laut Lugo ist einer der großen Vorteile der Frente Guasú, dass sie sich von den traditionellen Parteien des Landes deutlich unterscheide. „Die paraguayische Rechte fiel in kürzester Zeit aus einer Euphorie in die Depression. Sie dachten, dass es leicht sei, den Putsch durchzuziehen. Sie dachten, dass die UNASUR (Gemeinschaft südamerikanischer Staaten, Anm. d. Red.) keine Sanktionen verhängen würde, dass die internationale Gemeinschaft sie anerkennen würde. Heute sind sie komplett isoliert“, hob er hervor. Tatsächlich haben bisher nur wenige Regierungen im Ausland die neue Regierung anerkannt – zu den wenigen, die Franco und seine Anhänger unterstützen, gehören unter anderem Kanada, Panama, der Vatikan und die USA.
Und auch Kanada verfolgt eigene Interessen. Der transnationale Konzern Rio Tinto Alcan, mit Sitz in Kanada, steht mit einem Bein in Paraguay. Der Konzern möchte in Paraguay vom niedrigen Strompreis profitieren und Aluminium herstellen, wofür man viel elektrische Energie benötigt. Unter der Regierung Lugos stagnierten die Verhandlungen, da bisher keine Einigung über den Strompreis zu erzielen war. Der Konzern will die Zusicherung einer 30-jährigen Strompreisbindung, bei der Paraguay erhebliche Einbußen hinnehmen müsste. Auch forderte die Regierung Lugos, dass die Weiterverarbeitung des hergestellten Aluminiums in Paraguay erfolgen sollte. Seit dem Antritt von Franco wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen.
In einer Ansprache an die Bürgerinnen und Bürger Paraguays anlässlich des ersten Monats nach dem Putsch sagte Lugo: „Diejenigen, die den parlamentarischen Putsch inszeniert haben, blockieren die Soja-Steuer heute weiter, um dem Volk Geld zu rauben. Es sind diejenigen, die Geschäfte mit dem multinationalen Konzern Rio Tinto Alcan vorantreiben und dabei die Energiehoheit unseres Landes und die Rechte der Menschen verraten. Wir müssen verhindern, dass die Zeiten der Diktatur von Alfredo Stroessner zurückkehren, in denen die Politik von korrupten Oligarchen und Rauschgiftkartellen bestimmt wurde.“
Zum ersten Mal in der Geschichte Paraguays wurde von der „Front zur Verteidigung der Demokratie“ ein Sozialforum organisiert, das zeitgleich zum Nationalfeiertag am 14. und 15. August in der Hauptstadt Asunción stattfand. Die zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer tauschten sich in zwölf offenen Arbeitsgruppen mit dem Ziel aus, Strategien für den Widerstand gegen den parlamentarischen Putsch vom vergangenen 22. Juni zu entwickeln. Die Versammlungen fanden in Zelten statt, die auf der Plaza de Armas gegenüber dem Parlament aufgebaut waren. Die Diskussionen gingen unter anderem um die Themenbereiche Souveränität und Landreform, Menschenrechte sowie soziale Sicherheit und Mitbestimmung. Höhepunkt des Forums war eine Demonstration durch die Innenstadt von Asunción, an der sich tausende Menschen aller Altersgruppen, gesellschaftlicher und politischer Herkunft und aus allen Teilen des Landes beteiligten. Viele Demonstrierende meldeten sich zu Wort. „Ich bin eine von denen, die diese Situation jetzt im Land sehr empört“, sagte Maria del Rosario Corbalan, eine Bäuerin aus Capiatá. „Wir schienen plötzlich aufgewacht, waren vorher wie tot. Jetzt scheint das Land wieder zu sterben. Aber der Marsch heute macht mir große Hoffnung, dass unser Kampf weitergehen wird und wir die Demokratie bei der Wahl 2013 wiederherstellen werden.“
Viktor Florentin, Mitglied einer Vereinigung von bäuerlichen Kleinproduzent_innen, zeigte sich besorgt über die Agrarpolitik der De-facto-Regierung. Die dringend notwendige Bodenreform werde verschleppt und den transnationalen Gen-Saatgutherstellern Tür und Tor geöffnet. Der Indigene Joselino Fleitas verwies darauf, dass während der Regierungszeit von Fernando Lugo viele Verbesserungen für die Menschen indigener Abstammung begonnen haben. „Wir waren glücklich unter Lugo. Zum ersten Mal hatten wir Zugang zu medizinischer Versorgung“, so Fleitas.
Die schnell wachsende Demokratiebewegung geht quer durch alle Schichten und Bereiche des öffentlichen Lebens und bringt die neuen Machthaber immer mehr in Bedrängnis. Darauf reagieren sie mit zunehmenden Repressionen gegen Andersdenkende. Eine große Säuberungsaktion gegen Anhänger Fernando Lugos im öffentlichen Dienst findet statt. Ricardo Canese, Präsident der Frente Guasú, beklagte,  dass „Hunderte von Beamten und Funktionären in öffentlichen Einrichtungen entlassen wurden. Diese Entlassungen erfolgten nicht, weil sie eine schlechte Arbeit machten, sondern ausschließlich, weil sie Luguisten sind“. Allein im Wasserkraftwerk Itaipú wurden etwa 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgetauscht. Er verglich dieses Vorgehen mit der Zeit der Stoessner-Diktatur.
Auch Vertreter_innen der unabhängigen Medien werden in ihrer Arbeit behindert. Einen Fall schildert die FDD auf ihrer Internetseite paraguayresiste.com: Der Journalist Rufino Diana Barrios wollte zusammen mit einer Kollegin den alternativen Radiostationen „Voces Paraguay“ über die Vertreibung von Landlosen in Guido Almada, im Distrikt Cleto Romero berichten, als er sich massiver polizeilicher Verfolgung ausgesetzt sah. Während er mit mehreren Radiosendern telefonierte, wurden sie von etwa 30 Polizist_innen umringt. Sie nahmen ihm sein Handy ab und die Kamera, auf der etwa 300 Bilder der Vertreibung dokumentiert waren. Bei der Aktion hatten 150 Berittene und 1.000 Polizisten mehrere Unterkünfte der Landlosen in Brand gesetzt. Rufino Barrios wandte sich an den Staatsanwalt, der die Räumung beaufsichtige. Dieser verwies ihn an die örtliche Polizeidienststelle, die seine Anzeige aber nicht entgegennahm, da er keinen zweiten Zeugen präsentieren konnte. In den staatstreuen Medien werden diese Fälle totgeschwiegen. Ignacio Ramonet, Kommunikationswissenschaftler und Kritiker der Medien-Diktatur in Paraguay, sagte dazu: „In den Medien in dieses Landes herrscht Parteilichkeit, Mangel an Objektivität, Lügen, Manipulation von Informationen, oder einfach gesagt, Betrug.“
Aber die Menschen in Paraguay haben ein politisches Bewusstsein entwickelt. Sie wissen nun, dass eine Mitbestimmung nach 60 Jahren Diktatur möglich ist, auch wenn der Weg nicht geradlinig läuft. Und den Worten Fernando Lugos ist nichts hinzuzufügen: „Sie können uns aus dem Regierungspalast vertreiben, aber nicht aus den Herzen der Menschen.“

Alte Wege verlassen

Unsere Konzepte von Entwicklung und Natur sind kulturell tief verwurzelt, wie konkrete Sachverhalte zeigen. So war 1791 in der ersten Ausgabe der Tageszeitung El Mercurio Peruano, herausgeben in Lima, damals Hauptstadt des Vizekönigreichs Peru der spanischen Kolonie, zu lesen, dass der Bergbau die größte, wenn nicht gar die einzige Quelle des Reichtums von Peru sei. Mehr als zwei Jahrhunderte später scheint die Haltung im Grunde dieselbe zu sein, wenn der peruanische Präsident Ollanta Humala entgegen seinen Wahlversprechen den Bergbau erneut vorantreibt. Er tut dies im Bruch mit einem Großteil seiner Wählerbasis sowie entgegen der Empfehlungen von Fachleuten und Forderungen von Aktivist_innen aus der Linken, und verbündet sich stattdessen mit konservativen und wirtschaftsnahen Kreisen.
Peru ist dabei kein Einzelfall. Das günstige Klima für Bergbau, Erdöl- und Erdgasförderung, Monokulturen in der Landwirtschaft sowie andere Formen von Extraktivismus hat sich auf alle Länder Lateinamerikas ausgedehnt, ob nun unter den konservativen Regierungen Kolumbiens oder Chiles, oder unter progressiven wie in Argentinien, Brasilien oder Venezuela. Sie sind auf Exporte ausgerichtet, ziehen schwerwiegende soziale und ökologische Konsequenzen mit sich und folgen den hohen Rohstoffpreisen wie auch der Nachfrage Chinas und anderer asiatischer Staaten. Der größte Bergbaubetreiber ist, entgegen mancher Erwartung, Brasilien. Von 2001 bis 2011, unter der Mitte-Links-Regierung von Luiz Inácio „Lula“ da Silva, wurde der Bergbau massiv ausgebaut. Das Abbauvolumen der wichtigsten Mineralien beläuft sich auf 410 Millionen Tonnen, mehr als das aller Andenstaaten zusammen.
Die globale Gesamtsituation macht die exportorientierte Bergbau- und Agrarindustrie zu einem einträglichen Geschäft. Die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU und den USA erklärt, warum das Kapital sich vielerorts dem Primärsektor zuwendet. Selbst Staaten, die bisher nie Großbergbaubetriebe hatten, wollen heute davon profitieren, so etwa Ecuador, wo die Regierung Rafael Correas kürzlich Verträge zur Kupferförderung im großen Stil unterzeichnet hat (Lagerstätte Mirador). Oder Uruguay, wo unter Präsident José Mujica die massenhafte Extraktion von Eisenerz vorangetrieben wird (Aratirí-Projekt). In beiden Fällen sind linke Regierungen an der Macht. Das Gleiche geschieht in Kolumbien, wo der konservative Präsident Juan Manuel Santos das Bild von der „Lokomotive“ Bergbau geprägt hat, die die Wirtschaft des Landes anschieben soll.
So lässt sich eine neue Phase der Ausdehnung des Extraktivismus in ganz Lateinamerika feststellen. Der Begriff Extraktivismus beschreibt die Förderung riesiger Mengen von Bodenschätzen, die hauptsächlich für den Export gedacht sind. Die Bergbau- und Erdölstaaten streben eine Erhöhung der Fördermengen durch intensivere Ausbeutung bereits bestehender Projekte, Eröffnung neuer Förderstätten und die Förderung bisher ungenutzter Rohstoffarten an. Dazu gehören zum Beispiel Lithium in Bolivien oder Schiefergas in Argentinien. Bodenerkundungen finden in immer entlegeneren und schwerer zugänglichen Gebieten sowie unter stetig steigenden Risiken statt, etwa im Amazonas-Regenwald oder auf dem Atlantik-Schelf. Auch die Produktion von Agrarrohstoffen gewinnt einen extraktivistischen Charakter: Monokulturen werden auf riesige Flächen ausgeweitet und weitgehend unverarbeitet exportiert. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Sojaanbau in Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay.
Lateinamerika übernimmt die Rolle des Rohstofflieferanten der Globalisierung. Seit der Kolonialzeit und über die Zeit der Republiken hinweg kehrt diese Funktion immer wieder in abgewandelter Form zurück. Geändert haben sich nur die Gründe, mit denen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gerechtfertigt werden. Während sich konservative oder neoliberale Regierungen auf alte Konzepte von der Rolle des Marktes und von ökonomischem Wachstum zur „Ausschüttung“ von Gewinnen für die Gesellschaft beziehen, ist es für Linke schwieriger, den Extraktivismus zu verteidigen, hatten sie diese Form der Rohstoffausbeutung doch unlängst noch kritisiert.
Die Regierungslinke hat jedoch einen grundlegenden Wandel durchgemacht. Sie hat mit dem Extraktivismus nicht gebrochen, sondern ihn reformiert, zur Erfüllung ihrer Wünsche nach Wirtschaftswachstum und Wählerbindung.
Es stimmt, dass die Regierung von Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien sich deutlich von vorhergehenden Regierungen unterscheiden und dass sie vielfach Erfolge verzeichnen konnten, insbesondere im Kampf gegen die Armut. Man muss aber auch erwähnen, dass diese Fortschritte durch eine Erhöhung der Rohstoffexporte finanziert wurden und den hohen Weltmarktpreisen zu verdanken sind. Der Neue Extraktivismus der progressiven Regierungen geht in einigen Fällen mit einer verstärkten staatlichen Präsenz einher, beispielsweise durch nationale Erdölgesellschaften. Teilweise werden höhere Förderlizenzen oder Steuern verlangt, etwa auf Erdöl und Erdgas in Bolivien, Ecuador und Venezuela. Der Extraktivismus wird als unverzichtbar für die Finanzierung unterschiedlicher Sozialprogramme erklärt, wenngleich diese häufig nicht über monatliche Transferzahlungen hinausgehen. Zweifellos sind diese Hilfszahlungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung unabdingbar. Soziale Gerechtigkeit darf sich jedoch nicht auf derartige Zahlungen beschränken.
Soziale Auswirkungen, wie die Umsiedlung von Gemeinden oder die Zerstörung regionaler Ökonomien, sowie ökologische Folgen, wie Entwaldung und Umweltverschmutzung, werden regelmäßig klein geredet oder abgestritten. Diese Situation macht den Ausbruch von sozialen Protesten gegen den Extraktivismus verständlich. Die Konfliktlagen bestehen in allen Teilen des Kontinents, von Patagonien bis zur Karibikküste von Guyana und Surinam und unter jedweder Regierung. Die Kontinuität der Ausbeutung von Natur und des ökonomischen Wachstums ist dermaßen deutlich, dass selbst linke Präsident_innen sich über soziale und ökologische Forderungen lustig machen, Anführer_innen der Proteste kritisieren, sie mit Prozessen verfolgen oder ihre Organisationen attackieren. Man solle den Reichtum der Natur des Kontinents nicht nur wie bisher ausbeuten, sagen sie, sondern diesen Trend sogar verstärken.
Der uralte Mythos von Eldorado wird wiederbelebt, einem Kontinent voll natürlicher Reichtümer, die praktisch unendlich seien und die Nachfrage nicht nur der eigenen Bevölkerung, sondern des gesamten Planeten befriedigen könnten. Ökologische Grenzen der Rohstoffausbeutung und des Tempos, mit dem sie durchgeführt wird, werden nicht respektiert. Selbst wenn Probleme eingestanden werden, wird behauptet, diese könnten technisch gelöst werden, beziehungsweise die wirtschaftlichen Gewinne würden die sozialen und ökologischen Schäden wettmachen. Die massenweise Förderung von Rohstoffen dient einem auf materiellem Wachstum basierenden Entwicklungsmodell, das wirtschaftlichen Wohlstand und steigenden Konsum in den urbanen Zentren Lateinamerikas generiert. In den Städten gibt es riesige Einkaufszentren und marginalisierte Bevölkerungsschichten konsumieren heute in vorher ungekanntem Ausmaß.
Vor diesem Hintergrund kommen in einigen Ländern Debatten über den Ausstieg aus der Abhängigkeit vom extraktivistischen Modell auf. Miteinbezogen wird darin der veränderte politische Kontext. In den Debatten kommt die Forderung auf, dass in der Suche nach Alternativen sowohl eine tiefgreifende Diskussion über Entwicklungskonzepte enthalten sein, als auch der politische Diskurs der progressiven Regierungen eine neue Richtung einschlagen muss, der bisher Extraktivismus als notwendig für die Armutsbekämpfung darstellt. In einem Transitionsprozess werden post-extraktivistische Strategien als Alternativen zum bisherigen Entwicklungsmodell angestrebt. Dringende Maßnahmen müssen umgesetzt werden, um die schwerwiegendsten Auswirkungen von Bergbau- und Erdölprojekten zu verhindern. Dazu gehören beispielsweise die Schließung besonders umweltschädlicher Förderstätten oder die Reform der Besteuerungsgrundlagen, um die Notwendigkeit neuer extraktivistischer Investitionen auszuschließen. Weiterhin ist eine ausgewogene territoriale Nutzung notwendig, sowie die Sichtbarmachung der ökonomischen Kosten von sozialen und ökologischen Schäden. Ökologische und ökonomische, soziale und politische Maßnahmen werden miteinander verknüpft, um die Fokussierung auf den Extraktivismus zu entschärfen und tiefgreifende Veränderungen zu ermöglichen. Akute Maßnahmen müssen dabei mit langfristigen Projekten verbunden werden, um den Ausstieg aus dem gegenwärtigen Fortschrittsmodell zu erreichen.

Kalter Putsch in Paraguay

Paraguays Ausflug in die Demokratie ist nach kurzer Zeit beendet. Am 22. Juni enthob der Senat des Landes den 2008 gewählten Präsidenten, Fernando Lugo, durch einen politischen Prozess seines Amtes. Als Nachfolger bestimmten die Senator_innen den bisherigen Vizepräsidenten, Federico Franco, von der Radikalen Authentischen Liberalen Partei (PLRA), mit der Lugo lange koalierte. Franco galt intern schon länger als schärfster Widersacher Lugos. Francos Partei vertritt die Interessen der Großgrundbesitzer_innen; zu Lugos buntem Unterstützer_innenkreis gehören vor allem Arme, Landlose sowie Kleinbauern und Kleinbäuerinnen.
Begründet wurde das politische Gerichtsverfahren mit einem blutigen Zusammenstoß zwischen Landbesetzer_innen und der Staatsmacht am 15. Juni in Curuguaty, nahe der brasilianischen Grenze. Dort besetzten Aktivist_innen ein Landstück des Großgrundbesitzers Blas Riquelme. Nach einigen Wochen der Besetzung ließ Riquelme Ende Juni „sein“ Grundstück mit Polizeigewalt räumen. In mehrstündigen Kämpfen starben dabei mindestens 17 Menschen, darunter sieben Polizisten, viele andere wurden verletzt. Woher die ersten Schüsse kamen, ist bislang ungeklärt. In einem Bericht der linken Nachrichtenwebseite Toward Freedom wurde beschrieben, wie die Polizei nach den Zusammenstößen Menschenrechtsgruppen nicht auf das Gelände ließen. Zahlreiche Beweise seien vernichtet worden. Augenzeug_innen berichteten davon, dass Scharfschützen die ersten Schüsse abfeuerten. Angesichts dieser Informationen wirkt es unglaubwürdig, dass die Gewalt wirklich von den Besetzer_innen ausging.
Der Jesuit Franco Oliva sprach im Interview mit der Agentur adital von einer „gut vorbereiteten Falle“, in die Lugo gelockt wurde. Die rechtskonservative Colorado-Partei Asociación Nacional Republicana (ANR) und die Liberalen hätten gespürt, dass sich in den sozialen Bewegungen zuletzt viel tat – und zogen die Reißleine, sagte der Befreiungstheologe.
Direkt nach den Vorfällen in Curuguaty hatte Lugo den Polizeichef entlassen, sein Innenminister Fillizola trat zurück. Landesweit protestierten Tausende gegen den Vorfall. Schließlich initiierte die Legislative das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo. Es wirkt so, als hätten seine Koalitionspartner, die Liberalen der PLRA, nur auf eine Gelegenheit gewartet, um mit ihren ehemaligen Erzfeinden, den Colorados der ANR, gemeinsame Sache zu machen, und ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.
Liberale und Colorados warfen Lugo unter anderem „schlechte Amtsführung“ vor. Die Verfassung Paraguays sieht tatsächlich seit 1992 bei schlechter Amtsführung ein politisches Gerichtsverfahren vor. Was das aber bedeuten soll, ist völlig unklar. Durchgeführt wurde das Verfahren niemals – es gibt nicht einmal ein Regelwerk dafür. Am Donnerstag, dem 21. Juni, stimmten 76 von 80 Kongressmitgliedern für die Durchführung eines Amtsenthebungsverfahrens. Tags darauf hatten zwei seiner Anwälte ganze zwei Stunden Zeit, ihn vor dem Senat zu verteidigen. Danach entschieden sich die Senator_innen mit 36 zu 4 Stimmen für die Amtsenthebung. Die Mehrheit in der Kammer hat die ANR, gemeinsam mit den Stimmen der rechtsliberalen PLRA kamen sie leicht auf die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit. Nur 24 Stunden nach der Eröffnung des Prozesses schwor der ehemalige Vizepräsident Franco seinen Amtseid.
Die Vorwürfe, die Lugo gemacht wurden, wirken zusammengeschustert und konstruiert. Angeblich habe der Präsident die Guerilla Paraguayische Volksarmee (EPP) unterstützt. Die EPP weist dies zurück, gegen die absurden Vorwürfe konnte sich Lugo nie richtig verteidigen. Die International Herald Tribune kommentierte, „das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo kam kaum auf das Niveau eines Schauprozesses.“
Nun regieren die Liberalen wieder das Land, zum ersten Mal seit 1936. Pikanterweise tun sie das mit dem Segen ihrer historischen Feinde, der Colorados. Die Colorados und die Liberalen hatten sich noch 1947 in einem Bürgerkrieg bekämpft. Unter der Diktatur des Colorados Alfredo Stroessner (1954-1989) war die PLRA lange verboten. Doch eigentlich vertreten beide Parteien vor allem die Interessen der mächtigen Agrarlobby.
Der Gegensatz zwischen der armen Landbevölkerung Paraguays und den Großgrundbesitzer_innen, die mit industrieller Landwirtschaft ein Vermögen verdienen, liegt allen politischen Konflikten des Lande zugrunde. Auch bei den Zusammenstößen in Curuguaty ging es um diesen Grundkonflikt. Die Proteste richten sich gegen den ehemaligen Funktionär der ANR Blas Riquelme, dessen Partei von 1947 bis zur Wahl Lugos mehr als 60 Jahre die Regierungsgewalt innehatte. Riquelme hatte den Landstrich in den 1970er Jahren, wie so viele andere Vertraute des Regimes von Diktator Alfredo Stroessner, erhalten. Diese Art der Besitzverteilung war lange normal in Paraguay. Schätzungen sprechen davon, das Stroessner während seiner Diktatur etwa 19 Prozent der Landesfläche an seine persönlichen Verbündeten verschenkte.
Nicht zuletzt wegen der engen Bindung der Agrarindustrie an die langjährige Stroessner-Diktatur besitzen heute weniger als drei Prozent der Bevölkerung rund 80 Prozent des Bodens. Obwohl seit 1989 die Stroessner-Diktatur beendet war, konnte man nicht von einer wirklichen Demokratisierung sprechen. Die Colorado-Partei regierte weiter im Interesse der Großgrundbesitzer_innen. Ihre zahlreichen Verbrechen wurden nicht geahndet, jeder Protest gegen sie aber kriminalisiert.
Fernando Lugos Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen 2008 basierte auf diesem Umstand. Lugo war Priester und seit 1994 Bischof der verarmten Diözese San Pedro. Stark beeinflusst von der Befreiungstheologie, die Katholizismus mit sozialistischen Positionen vereinbaren wollte, entschied er sich, sein Priesteramt aufzugeben und in die Politik zu gehen. Von der Hoffnung getragen, die bestehende Ungerechtigkeit im Land und die Herrschaft der Colorados zu beenden, wurde er 2008 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt.
Doch bisher war er damit kaum vorangekommen. Gegen die Stimmenmehrheit der Opposition im Parlament und gegen die Liberale PLRA in der eigenen Regierung vermochten es Lugo und seine Getreuen nicht, eine Landreform durchzusetzen. Landbesetzungen sind an der Tagesordnung, Menschenrechtsgruppen sprechen von mehr als 100 Toten, die in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren zu beklagen waren. Zunehmend waren auch die Unterstützer_innen Lugos von seiner Regierung enttäuscht, weil keine Landreform durchgeführt wurde. Für die Wahlen im kommenden April sahen Beobachter_innen schon vor dem Putsch eher einen Wahlsieg der Colorados voraus. Doch bis nächsten August, wenn der neue Präsident vereidigt wird, wollten Liberale und Colorados wohl nicht warten und fertigten den Präsidenten im Schnellverfahren ab.
Fast alle lateinamerikanischen Staaten verurteilten den Vorgang scharf. Selbst Kolumbiens Regierung, übermäßigen Sympathien für linke Regierungen völlig unverdächtig, sprach von einem „irregulären Verfahren“.
Deutschlands Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, hingegen gehört zu den wenigen, die den Umsturz begrüßten. Der FDP-Politiker war als erster europäischer Minister vor Ort und gratulierte dem Parteifreund Franco. Während mehrere Staaten ihre Botschafter_innen abzogen und von einem verkappten Putsch sprachen, sagte Niebel laut deutschen Medien:„Es gibt keine Anzeichen dafür, dass es bei dem Regierungswechsel verfassungswidrig zugegangen ist.“ Mit der Meinung stand und steht er ziemlich alleine da, sogar das Auswärtige Amt ruderte inzwischen zurück und will die Situation eingehend prüfen.
Lugo selbst akzeptierte die Entscheidung des Senats – zunächst. Auch, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern. Denn bereits am Tag des Prozesses hatten sich etwa 5.000 Demonstrant_innen am Parlamentsgebäude eingefunden. Viele beklagten, dass das Busunternehmen die Verbindungen eingestellt hatten. Die Lizenzen für die Busse werden meist an politische Mandatsträger_innen verteilt. Nach der Verkündung der Entscheidung schlugen Polizist_innen los. Tränengas und Schlagstöcke wurden eingesetzt und die Menge auseinander getrieben. Bis zum Redaktionsschluss wurde überall im Land von Protesten gegen das neue Regime berichtet. Die Aktivist_innen vernetzen sich über die Webseite paraguayresiste.com.
Zu Treffen des MERCOSUR und des UNASUR luden die Mitglieder Lugo ein, die Regierung Franco wurde ausgeladen. Der geschasste Präsident sagte sein Kommen beim MERCOSUR-Gipfel in Mendoza zunächst ab. Die Mitglieder schlossen Paraguay bei dem Treffen aus der Staatenvereinigung vorläufig aus und nahmen dafür Venezuela auf. Genau das Land, dessen Aufnahme die paraguayische Agrarlobby stets zu verhindern wusste.
„Wir bedauern die Situation, aber es gibt zur Zeit in Paraguay keine funktionierende Demokratie“, sagte der brasilianische Außenminister Antonio Patriota. Lugo begrüßte den Entschluss. Eliten des neuen Regimes wiesen ihn zurück und brachten eine Volkabstimmung über einen Verbleib Paraguays in der Gemeinschaft ins Spiel.
Als Retourkutsche für die internationale Isolierung des Landes sucht nun der neue Außenminister Francos, Juan Fernández Estigarribia, die Nähe Großbritanniens. Dieses befindet sich mit Argentinien im Streit um die Malvinen/Falkland Inseln im Südatlantik vor der argentinischen Küste. Das Außenministerium in London kündigte an, die seit 2005 geschlossene Botschaft in Asunción wieder zu öffnen. In der Colorado-eigenen Netzzeitung El Colorado wurde bereits die Botschaft der „befreundeten Nachbarn“ begrüßt, eine eindeutige an Argentinien gerichtete Provokation.
War das Amtsenthebungsverfahren nun ein Parlamentsputsch oder nicht? Dieser Frage ging das paraguayische Verfassungsgericht am Montag, dem 25. Juni, nach. Nein, alles sei verfassungsmäßig abgelaufen. Formaljuristisch mag das stimmen, doch wenn man sich die Anklagepunkte anschaut, nach denen Präsident Lugo verurteilt wurde, bekommt man an der Legitimität der Entscheidung seine Zweifel. Wenn man bedenkt, wie schnell Lugo abgefertigt wurde, erst recht.
Dies sah auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte CIDH so. Die unabhängige Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten OAS schrieb in einer Pressemitteilung vom 23. Juni, dass „die Geschwindigkeit, mit der die Amtsenthebung durchgeführt wurde, unannehmbar“ sei. Die Kommission sehe die Rechtsstaatlichkeit in Paraguay gefährdet.
Die Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Iñigo Errejón und Alfredo Serrano attestierten im Fall Paraguay in der Zeitung El Ciudadano einen golpismo blando – einen „sanften Staatsstreich“. Dabei handele es sich um eine neue Form des undemokratischen Putsches. Zuletzt haben in verschiedenen lateinamerikanischen Staaten staatliche Institutionen versucht, einen politischen Umsturz unblutig auf diese Art zu erzwingen, analysierten sie.
Berichten zufolge könnte der Parlamentsputsch von Akteuren aus der multinationalen Agrarindustrie gestützt worden sein. Saatgutunternehmen wie Monsanto und Cargill haben sich demnach mit Großgundbesitzer_innen und der Liberalen Partei verbündet, wodurch genmanipulierte Saat in Paraguay zunächst zugelassen wurde. Vertreter_innen eines von den Unternehmen dominierten Verbandes fuhren seit Längerem eine mediengestützte Hetzkampagne gegen Lugo-treue Regierungsmitglieder, hieß es.
Das hält auch Martin Almada, Träger des Alternativen Nobelpreises und Menschrechtsaktivist für plausibel. Er fordert eine rasche Untersuchung sowohl der tödlichen Kämpfe als auch der Amtsenthebung durch eine internationale und neutrale Kommission. „Wieder einmal wurden Recht und Gerechtigkeit ausgehebelt, wieder einmal auf dem Rücken der arbeitenden Klasse und der Kleinbauern“, sagte er. Almada fürchtet einen Rückfall in diktatorische Zeiten, etwa durch das Ausrufen eines Ausnahmezustandes und zunehmende politische Isolation des Landes.
Es sieht so aus, als könne die Agrarlobby nun wieder ungestört im Lande schalten und walten. Einige Agrarunternehmer_innen begrüßten bereits gegenüber der uruguayischen Zeitung El Observador die Ankündigung der Regierung Francos, Umweltstandards zu lockern. Künftig soll es wesentlich einfacher werden, Waldgrundstücke in Viehweiden umzuwandeln.
Allerdings könnte der Fall am Ende eine ganz neue Wendung nehmen. Der Widerstand gegen die Agrarlobby mehrt sich – und auch der Parlamentsputsch provozierte zahlreiche Proteste. So einfach wie zu Stroessners Zeiten wird sich nicht gegen die Interessen der armen Bevölkerungsmehrheit regieren lassen. Egal, wer die nächsten Wahlen gewinnt.

Selbstbestimmung oder Barbarei

Die deutschen Medien verwenden das Schlagwort „indigenes Recht“ in jüngster Zeit zunehmend als Aufhänger für skandalträchtige Radiofeatures, Zeitungsartikel oder Videos. Bolivien scheint sich für solche Reportagen in besonders prägnanter Weise zu eignen. Da versieht der Zeit-Autor Ulrich Ladurner einen Artikel zum Thema mit dem Titel „Wo man Diebe verbrennt“. Er stellt die Frage, ob die formal-rechtliche Gleichstellung der staatlichen Rechtsordnung mit indigenen Rechtssystemen in Bolivien in eine „Barbarei“ münden wird – vergleichbar mit der Terrorherrschaft der Taliban im pakistanischen Swat Tal. Unhinterfragt erweckt der Text den Eindruck, indigene Rechtsausübung wäre quasi eine Form von Lynchjustiz. Oder das Deutschlandradio berichtet von einem bolivianischen Verfassungsrichter, der unter Zuhilfenahme von Koka-Blättern höchstrichterliche Urteile trifft. Titel: „Bolivianischer Richter urteilt mit Hilfe von Koka-Blättern.“ Die Radionachricht sieht von jeglicher Kontextualisierung der Information ab, hat aber noch genug Platz für den despektierlichen Beisatz, wonach Koka-Blätter dem Richter nebenbei auch helfen „mit Pflanzen, Bergen und Flüssen zu kommunizieren“. Angesichts dieser oft oberflächlichen und vorurteilsbeladenen Berichterstattung ist es nicht nur angebracht, sondern höchste Zeit, sich etwas rationaler und fundierter mit der Frage auseinanderzusetzen, worum es eigentlich geht, wenn wir von indigener Justiz in Lateinamerika reden.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Ausübung indigenen Rechts ein international anerkanntes und zunehmend auch in nationalen Verfassungen verankertes Kollektivrecht indigener Völker darstellt. Auf Protestmärschen, Dialogforen und Verfassunggebenden Versammlungen machten Vertreter_innen indigener Bevölkerungen in den vergangenen Jahrzehnten ihre Forderungen nach Selbstbestimmung laut. In Bezug auf indigene Bevölkerungsgruppen beinhaltet das Konzept der Selbstbestimmung die Möglichkeit, innerhalb der existierenden Staaten gemäß eigenen Vorstellungen von Entwicklung zu leben und sich als Gruppe selbst zu regulieren. Dazu gehört die Aufrechterhaltung eigener Formen kultureller, sozialer, wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Organisation. Auf internationaler Ebene flossen diese Forderungen in das 1991 in Kraft getretene Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ein, wo es unter anderem heißt:

Art. 8.1. Bei der Anwendung der innerstaatlichen Gesetzgebung auf die betreffenden Völker sind deren Bräuche oder deren Gewohnheitsrecht gebührend zu berücksichtigen.
Art. 8.2. Diese Völker müssen das Recht haben, ihre Bräuche und Einrichtungen zu bewahren, soweit diese mit den durch die innerstaatliche Rechtsordnung festgelegten Grundrechten oder mit den international anerkannten Menschenrechten nicht unvereinbar sind.

Die inhaltlich weiter gehende, 2007 verabschiedete Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker bestätigt das Recht auf eigene Rechtsinstitutionen gleich zweifach. An seiner Formulierung waren deutlich mehr Repräsentant_innen indigener Gruppen involviert als an der vorangegangenen ILO Konvention,

Art. 5 Indigene Völker haben das Recht, ihre eigenen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen zu bewahren und zu stärken, während sie gleichzeitig das Recht behalten, uneingeschränkt am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben des Staates teilzunehmen, sofern sie dies wünschen.
Art. 34 Indigene Völker haben das Recht, ihre institutionellen Strukturen und ihre Bräuche, Spiritualität, Traditionen, Verfahren, Praktiken und, wo es sie gibt, Rechtssysteme oder Rechtsgewohnheiten im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen zu fördern, weiterzuentwickeln und zu bewahren.

Die meisten lateinamerikanischen Staaten gehören sowohl zu den Unterzeichnerinnen des rechtlich bindenden ILO Übereinkommens 169, als auch zu den Ländern, die sich bei der Abstimmung der UN-Generalversammlung für die Annahme der Erklärung von 2007 ausgesprochen haben. Entsprechend haben viele dieser Staaten indigenen Bevölkerungsgruppen, die auf ihrem Territorium ansässig sind, im Zuge von Verfassungsreformen das Recht auf die Ausübung eigener Justiz zugesichert. Dazu gehören zum Beispiel Brasilien, Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Mexico, Nicaragua, Paraguay, Peru und Venezuela. Ähnlich wie in den internationalen Normen werden der Ausübung dieses Rechts jedoch Schranken gesetzt, meist durch eine Klausel, wonach diese Praktiken nicht gegen ihre nationalen Verfassung oder die Menschenrechte verstoßen dürfen.

Ein wesentlicher Aspekt im Hinblick auf indigene Justiz bezieht sich auf die Tatsache, dass es sich hierbei keinesfalls um eine homogene Praxis über alle Regionen und indigenen Bevölkerungsgruppen hinweg handelt, sondern vielmehr um eine äußerst vielfältige „Rechtslandschaft“. Rechtsanthropolog_innen in Lateinamerika betonen, dass nicht einmal eine indigene Gruppe (zum Beispiel die Mapuche in Chile) mit einem einheitlichem Rechtssystem gleichgesetzt werden darf. Die Normen und Verfahren einer lokalen Gemeinde können sich durchaus von den entsprechenden Praktiken der Nachbargemeinde unterscheiden, selbst wenn beide ein und derselben Gruppe angehören. Das macht die Suche nach übergreifenden Charakteristiken natürlich nicht einfacher. Diese ist dennoch erforderlich, nicht zuletzt, um klarer abzugrenzen, wo indigene Justiz aufhört und Lynchjustiz, die die Medien oft mit indigenen Rechtspraktiken gleichsetzen, anfängt.

Die Suche nach Elementen, die in einer Vielzahl indigener Rechtssysteme präsent sind, führt zunächst einmal zu den Autoritäten, die die Kompetenz haben, Recht auszuüben. Diese Funktion wird in indigenen Gemeinden nicht von einer beliebigen Person oder einer sich spontan versammelnden Gruppe von Anwohner_innen ausgeübt (wie bei Fällen der Lynchjustiz üblich). In der Regel übertragen Gemeinden diese Kompetenz an spezielle Gemeindemitglieder, wobei die konkreten Verfahren jeweils stark variieren. In einigen Gemeinden ist etwa die Ernennung erfahrener Personen in einen Ältestenrat üblich. Andernorts wählt die Gemeinde Mitglieder, die ein gesellschaftlich und moralisch vorbildliches Verhalten aufweisen, auf bestimmte Zeit in das Amt der Rechtsautorität.

Konflikte, die an indigene Rechtsautoritäten herangetragen werden, beziehen sich typischerweise auf Fragen des Landbesitzes, die Nutzung von natürlichen Ressourcen wie kollektivem Weideland oder Wasser, den Diebstahl von Vieh oder Sachgegenständen oder den Schaden, der durch Vieh auf benachbarten Feldern angerichtet wird. Auch Streitigkeiten zwischen Nachbar_innen und familiäre Konflikte wie Erbstreitigkeiten oder häusliche Gewalt sind Themen. Gelegentlich müssen sich Rechtsautoritäten aber auch mit übersinnlichen Phänomenen wie der Hexerei auseinandersetzen.

Während sich Lynchjustiz an spontanen Willkürakten einer aufgebrachten Menschenmenge festmachen lässt, folgt indigene Justiz Regeln und Verfahren, die meist zwar nicht in einem „Gesetzbuch“ niedergeschrieben, aber dennoch allen Gemeindemitgliedern bekannt sind. Die Verfahren umfassen verschiedene Phasen: Der Auftakt eines rechtlichen Verfahrens besteht oftmals darin, dass die zuständige Rechtsautorität einer Gemeinde von einem Problem oder Konflikt erfährt. Sie wird zunächst versuchen, alle beteiligten Konfliktparteien anzuhören und danach wichtige Details des Falls zu klären. Dies kann durch die Befragung von Zeug_innen, die Einholung von Unterlagen oder die Begehung relevanter (Tat-)Orte geschehen. Im Anschluss bemüht sich die Rechtsautorität um eine mögliche Lösung des Konflikts, wobei sie den Rat von Ältesten oder erfahrenen Gemeindemitgliedern hinzuziehen kann. Oftmals werden die Konfliktparteien selbst dazu aufgefordert, Lösungen vorzuschlagen oder Übereinkünfte zu treffen.

Akte der Lynchjustiz lassen der Suche nach alternativen Lösungsvorschlägen keinen Raum. Die Dynamik der aufgebrachten Masse zielt in der Regel einzig auf die Vergeltung des (vermeintlichen) Rechtsverstoßes durch Tötung, oder zumindest die Absicht der Tötung der Beschuldigten ab, und dies oftmals in einer brutalen und unmenschlichen Art, die der Folter nahekommt. Im Vergleich dazu zielen Sanktionen oder Resolutionen indigener Rechtsautoritäten darauf ab, den entstandenen Schaden wieder gut zu machen und so das aus den Fugen geratene Gleichgewicht in der Gemeinde wiederherzustellen. Personen, die einen Schaden angerichtet haben, sollen über ihr Fehlverhalten reflektieren, den Schaden kompensieren, aber auch die Chance erhalten, sich in die Gemeinschaft zu reintegrieren. Sanktionen werden nicht pauschal ausgesprochen, sondern richten sich nach dem Grad des begangenen Rechtsverstoßes. Zu den typischen Sanktionen im indigenen Recht gehören etwa ein öffentliches Gelöbnis der Verhaltensänderung, die Wiedergutmachung eines Schadens durch Gemeindearbeit, Vergütung in Geld oder anderen materiellen Sachleistungen oder körperliche Strafen. Dies können Bäder im kalten Wasser, aber auch Peitschenschläge mit Brennnesseln oder Viehriemen sein. Gerade letztere rufen häufig Kritiker_innen auf den Plan, die solche physischen Strafen als Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit oder als Folter interpretieren. Expert_innen im indigenen Recht argumentieren hingegen, dass diese Praktiken weder darauf abzielen, die Person ihrer Würde zu berauben, noch die Gesundheit der Person ernsthaft aus Spiel zu setzen. Vielmehr heben sie den Aspekt der spirituellen Reinigung der Person hervor, bei welcher der physische Schmerz Teil des Besinnungsprozesses ist.

Zu weiteren wichtigen Unterscheidungsmerkmalen zwischen Lynchjustiz und indigener Jusitz zählt einmal die Tatsache, dass in vielen indigenen Gemeinden die Möglichkeit besteht, sich an eine höhere Instanz zu wenden, etwa die Dachorganisation der ethnischen Gruppe. Diese kann ein Urteil überprüfen und revidieren, wenn sich dieses erste Urteil als fehlerhaft erweist. Zum zweiten können bei indigener Justiz Wiederholungstäter_innen beziehungsweise Personen, die ihre Strafauflagen nicht erfüllen, durch erneute Rechtsverfahren zur Rechenschaft gezogen werden. Oftmals hat das zur Folge, dass die Sanktionen verschärft werden oder mit der Übergabe des Falls an die staatliche Justiz gedroht wird. Im Übrigen orientieren sich auch sehr weit abgelegene indigene Gemeinden zunehmend an den nationalen Normen ihrer Staaten, weshalb Sanktionen wie die Todesstrafe, die früher in einigen Regionen durchaus bei besonders schweren Vergehen angewandt wurde, in den wenigsten Gemeinden noch zum Repertoire der Rechtsausübung gehört. Stattdessen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bei der überwiegenden Mehrheit indigener Gemeinden der Ausstoß aus der Gemeinde, und damit der Verlust der Gemeinderechte und des unmittelbaren sozialen Netzes, zur härtesten Strafe entwickelt.

Ein Punkt, bei dem die Grenzen zwischen Lynchjustiz und indigenem Recht schon eher fließend werden, ist die Frage nach den Orten oder Schauplätzen, an denen diese praktiziert werden. Wo die sozialen Netze einer Gemeinde noch dicht und die eigenen Organisationsstrukturen gut aufgestellt sind, finden wir häufig auch eine effektiv funktionierende und von den Bewohner_innen respektierte Verwaltung der eigenen Justiz vor. Allerdings sind viele ländliche Gemeinden längst von temporärer oder dauerhafter Migration gekennzeichnet. Die jüngere Generation sucht nach besseren Ausbildungsmöglichkeiten in Städten und viele Familien haben neben ihrem Standbein auf dem Land und der dort betriebenen Landwirtschaft längst ein zweites Standbein in urbanen Zonen aufgestellt, um so ihre Einkommensquellen zu diversifizieren. Vor diesem Hintergrund wird es zunehmend schwieriger, stabile Strukturen der Selbstregulierung in ländlichen Gemeinden aufrechtzuerhalten. In Regionen, in denen eigene Organisationsstrukturen geschwächt oder abhanden gekommen sind, aber ebenso in semiurbanen Zonen und städtischen Peripherien, ist Lynchjustiz daher eher anzutreffen. So wie auf dem Land, ist auch in diesen Zonen die Präsenz von Polizei und anderen Ordnungskräften minimal. Diese können oftmals nur machtlos dabei zusehen, wenn Bürger_innen „die Justiz in ihre eigenen Hände“ nehmen.

Konstellationen wie die hier beschriebene, in denen staatliches Recht und indigene Justizformen nebeneinander existieren und sich teilweise überlappen, werden gemeinhin unter dem Stichwort Rechtspluralismus diskutiert. Diese Sphären sind freilich nicht voneinander abgeschottet, sondern stehen meist in unbequemen und konfliktträchtigen Beziehungen zueinander. Die Gewichtung, die Vereinbarkeit der normativen Inhalte, aber auch konkreten Zuständigkeiten für Personengruppen, Sachverhalte und geographische Regionen sind unklar.
Eine wichtige Härteprüfung für indigene Justiz in Lateinamerika bildete der mit dem Kolonialismus einhergehende Einzug kontinentaleuropäischer und christlich geprägter Werte und Ordnungsvorstellungen. Je nach den jeweiligen politischen und ökonomischen Interessenlagen der Herrschenden in bestimmten Regionen wurde indigenes Recht geduldet, gewaltsam unterdrückt oder schlicht ignoriert. Die Aufrechterhaltung indigener Rechtsvorstellungen beziehungsweise Versuche ihrer Neukonstituierung über alle Widrigkeiten hinweg, wird heute von indigenen Bevölkerungsgruppen als eine Form von Resistenz gegen jahrhundertelange Diskriminierung verstanden. Doch hat indigene Justiz nicht nur als kulturelle Praxis überlebt, weil sie von indigenen Gemeinden als legitimer Ausdruck ihrer Selbstbestimmung angesehen wird. Sie bildet auch eine effektive Alternative zum staatlichen Rechtssystem, das in Lateinamerika mit enormen Schwächen beladen ist – hohe Kosten, lange Wartezeiten, bürokratische Verfahren, unangemessene Ausstattung, geringe flächendeckende Präsenz, Korruption und Straflosigkeit – um nur einige zu nennen.

Ohne jeglichen Zweifel ist aber auch indigenes Recht nicht frei von Problemen: Neben den bereits erwähnten körperlichen Strafen, die bisweilen schwer mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit vereinbar sind, sind auch diese Systeme nicht vor Missbrauch der handelnden Autoritäten gefeilt. Weil die Ausübung von Recht in den Händen eines Nachbarn beziehungsweise einer Nachbarin oder gar eines Familienmitglieds liegt, kann von Neutralität gegenüber den Konfliktparteien keine Rede sein. Daneben ist indigene Justiz vielerorts eine männlich dominiere Sphäre, die dazu führt, dass sich Frauen seltener mit ihren Problemen an die Rechtsautoritäten wenden, und wenn sie dies doch tun, sie sich oft mit völlig unangemessenen Urteilen konfrontiert sehen. So kann es durchaus vorkommen, dass die sexuelle Vergewaltigung einer Minderjährigen durch die Abgabe zweier Kühe oder eine Heirat mit dem Vergewaltiger beglichen wird.

Zugleich darf nicht übersehen werden, dass indigene Rechtsordnungen nicht fix und unveränderbar sind, sondern sich vielmehr im Laufe der Zeit weiter entwickelten. Sie passten sich an neu in den Gemeinden auftretende Konflikte und Gegebenheiten an. Dabei eigneten sich die jeweils handelnden Akteure auch Elemente aus dem kolonialen und republikanischen Recht an und verwendeten diese nicht zuletzt zur Legitimierung der eigenen Autorität nach innen und nach außen. Insofern besteht zumindest Grund zu der Annahme, dass indigene Rechtsautoritäten auch heute in der Lage sein sollten, Normgehalte jüngeren Datums in ihre eigene Praxis zu übersetzen, sofern sie zu der Überzeugung gelangen, dass diese dem Gemeinwohl aller dienen könnten.
Mit der rechtlichen Anerkennung indigenen Rechts in vielen lateinamerikanischen Staaten ist ein erster wichtiger Schritt zum Dialog zwischen den verschiedenen Rechtskulturen getan worden. Das klassische Nationalstaatsmodell, das dem Staat ein Monopol auf die Rechtsausübung zusicherte, wurde damit zumindest formell überwunden. Nun aber müssen weitere Schritte folgen. Staatliche Institutionen müssen sich für die Aufnahme normativer Wertvorstellungen indigener Herkunft öffnen. Wichtige Rahmengesetzgebungen wie die nationalen Strafgesetzbücher sollten im Hinblick auf die neue Rechtswirklichkeit reformiert werden. Curricula der Rechtsfakultäten sollten um das Thema indigener Justiz angereichert werden. Bei staatlichen Rechtsverfahren, in denen indigene Personen involviert sind, sollte die Hinzuziehung indigener Rechtsautoritäten oder Rechtsanthropolog_innen Standard werden. Die Koordination zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen sollte zumindest in ihren Grundzügen klar geregelt werden. (Das entsprechende Gesetz in Bolivien ist zwar das erste seiner Art, lässt aber zu viel Raum für Kritik und offene Fragen). Staatlichen und indigenen Rechtsautoritäten sollten Räume für Austausch und die Formulierung von Übereinkünften gegeben werden. Auch indigene Autoritäten sollten sich nicht vor der Verantwortung scheuen, sich auf diesen interkulturellen Dialog einzulassen. Es ist notwendig, dass sie sich über nationale und internationale Rechtsstandards informieren und Veränderungen der eigenen Rechtspraxis dort einleiten, wo die gängigen Normen, Verfahren und Sanktionen nicht mehr zeitgemäß erscheinen und Rechte schwächerer Gemeindemitglieder beeinträchtigen. Und wenn die Medien auch nur einen Teil der Energie und Ressourcen, die sie bislang in die skandalisierte Berichterstattung zu indigener Justiz eingesetzt haben, fortan in einen der eben genannten Bereiche investieren würden, wäre schon viel getan.

 

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YPF ist unser!

Jubel und tosender Applaus brachen am Abend des 3. Mai im argentinischen Kongress aus, während außerhalb des Parlamentes Feuerwerkskörper zündeten und Menschenmassen ausgelassen feierten. Grund der Freude war die Verabschiedung des Gesetzes zur Enteignung des spanischen Mineralölkonzerns Repsol, der Anteile von 57,43 Prozent an dem einstigen argentinischen Staatsunternehmen YPF (Yacimientos Petrolíferos Fiscales) hielt. Die argentinische Regierung übernimmt nun 51 Prozent der Repsol-Aktien und damit die Mehrheitseigentümerschaft an YPF.
Repsol ist nicht das erste Unternehmen, das unter der Präsidentschaft von Cristina Fernández de Kirchner enteignet wurde. Im Jahr 2008 löste die Regierung zehn private Pensionsfonds auf und überführte sie in das staatliche Rentensystem. Im selben Jahr enteignete sie die spanische Investorengruppe Marsans, die 95 Prozent der Anteile an dem Luftfahrunternehmen Aerolíneas Argentinas hielt. Doch die Teilverstaatlichung von YPF ist von weit höherer politischer Bedeutung, da es das größte Unternehmen des Landes mit rund 46.000 Beschäftigten ist. 1922 als Staatsunternehmen des Öl- und Gassektors gegründet, wurde YPF in den 1990er Jahren unter der Regierung des rechtsperonistischen Präsidenten Carlos Menem schrittweise privatisiert. 1999 schließlich übernahm Repsol 97,81 Prozent der YPF-Anteile, von denen es später rund 40 Prozent wieder abstieß. Zuletzt übernahm die argentinische Petersen-Gruppe mit Unterstützung der Kirchners zwischen 2007 und 2012 gut 25 Prozent der Anteile.
In Argentinien trifft die Teilverstaatlichung auf große Zustimmung. Drei Viertel der Bevölkerung wie auch große Teile der Opposition unterstützen diese Maßnahme. So stimmten dem Enteignungsgesetz 63 der 72 Senator_innen und 208 der 246 Repräsentant_innen des Abgeordnetenhauses zu. Es ist damit seit 2003, als Cristina Fernández Ehemann Néstor Kirchner die Präsidentschaft übernahm, das Gesetzesvorhaben mit der größten parlamentarischen Zustimmung – ein wichtiger Erfolg des kirchneristischen Flügels der peronistischen Partei (Partido Justicialista), auf den sich der Großteil der Regierungskoalition stützt. Für Verwunderung sorgte Ex-Präsident Carlos Menem, der sich ebenfalls für die Wiederverstaatlichung aussprach: „Der Fehler von Repsol war, dass sie nicht in Argentinien investiert haben. Alle Gewinne haben sie außer Landes geschafft“, begründete der heute 82-jährige Senator seinen Sinneswandel. Doch diese Biegsamkeit ist kein Menemsches Privileg. Auch Fernández und ihr 2010 verstorbener Gatte Néstor Kirchner unterstützten seinerzeit die YPF-Privatisierung – sie als Abgeordnete, er als Gouverneur der Provinz Santa Cruz.
Nun hat der Wind gedreht. Auslöser der Verstaatlichung ist die massive Zunahme der argentinischen Energieimporte, vor allem Erdgas, die die Deviseneinnahmen des Landes schrumpfen lassen. 2011 wies die Handelsbilanz mit Brennstoffen erstmals seit 17 Jahren ein Defizit auf, das dramatisch zu wachsen droht. Allein zwischen 2010 und 2011 verdoppelte sich die Importrechnung für Brennstoffe von 4,5 auf 9,4 Milliarden US-Dollar; 2004 hatte sie noch eine Milliarde US-Dollar betragen. Die Energieimporte fressen einen großen Teil des argentinischen Handelsüberschusses auf, der 2011 rund 10,3 Milliarden US-Dollar erreichte.
Die Regierung macht Repsol als einen Hauptverantwortlichen des Energiemangels aus. Als Mehrheitseigentümer hätten die Spanier_innen YPF eine radikale Politik der Renditesteigerung verordnet, die an der Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen sparte und bewusst die Brennstoffversorgung des Landes verknappte, um Preissteigerungen herbeizuführen. Im Ergebnis sanken YPF’s Öl- und Gasreserven, doch die Gewinne mehrten sich dank der Preisinflation, was üppige Dividenzahlungen an die Aktionäre erlaubte. Nach Regierungsangaben schrumpften YPF’s Ölreserven in den vergangenen zehn Jahren um 50 Prozent, die Gasreserven um 55 Prozent. Dank der „räuberischen Politik“ von Repsol habe YPF über die Jahre zwar erhebliche Gewinne eingefahren, da aber 85 Prozent davon an die Aktionäre flossen, seien Investitionen weitgehend ausgeblieben. Zu allem Überfluss habe das Unternehmen Schulden in Höhe von neun Milliarden US-Dollar angehäuft. Ziel der Regierung ist es nun, den Kapitalabfluss einzudämmen und YPF’s Investitionen in die Öl- und Gasförderung zu erhöhen.
Auf spanischer Seite indes war die Empörung groß. Industrieminister José Manuel Soria bezeichnete die Enteignung als „feindliche Entscheidung, die sich gegen die spanische Regierung richtet“. Antonio Brufau, Präsident von Repsol, drohte, die „absolut illegitime“ Enteignung werde „nicht ungesühnt“ bleiben. Repsols Aktienpaket sei 10,5 Milliarden US-Dollar wert – eine Summe, die der Konzern bei seinen Entschädigungsforderungen zugrunde legen werde. Spaniens Außenminister José Manuel García-Margallo forderte, Argentinien von den Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur (diesem Staatenbund gehören Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay an) auszuschließen.
Auch das Europaparlament gab Spanien Rückendeckung. Konservative, Sozialdemokraten und Liberale brachten eine Resolution ein, die die „einseitige und willkürliche Entscheidung“ Argentiniens geißelte, da diese „einen Angriff auf die Ausübung des freien Unternehmertums“ darstelle. Die EU-Kommission ist aufgefordert, auf Ebene der Welthandelsorganisation und der G20 zu intervenieren. Maßnahmen wie die „teilweise Aussetzung der einseitigen Zollpräferenzen“, die die EU im Rahmen ihres Allgemeinen Präferenzsystems gewährt, sollen geprüft und verabschiedet werden.
Doch faktisch hat Spanien kaum Möglichkeiten, effektiv gegen Repsols Enteignung vorzugehen. Die WTO hat in diesen Fällen keine Kompetenz, und eine einseitige Aussetzung von Handelspräferenzen oder ein Ausschluss Argentiniens von den EU-Mercosur-Verhandlungen wäre nur mit Zustimmung anderer EU-Mitglieder möglich, wofür es derzeit keine Anzeichen gibt. Die einzig realistische Maßnahme, die Repsol im Fall scheiternder Entschädigungsverhandlungen ergreifen könnte, wäre eine Klage vor dem Weltbank-Schiedsgericht für Investitionsstreitigkeiten ICSID – ein Weg, den das bilaterale Investitionsschutzabkommen zwischen Argentinien und Spanien vorsieht. Gleichwohl kann sich Repsol auch in diesem Fall keine großen Hoffnungen machen, denn diese Verfahren sind langwierig und der Erfolg ist mehr als ungewiss. Voraussichtlich wird sich Repsol darauf berufen, dass die Enteignung diskriminierend sei, da die ebenfalls private argentinische Unternehmensgruppe Petersen ihre Anteile behalten darf.
Argentinien ist das mit über 40 Fällen meist beklagte Land vor dem ICSID. In zehn Verfahren erging bisher ein Urteil, vier davon verlor Argentinien. Die in den verlorenen Fällen festgesetzten Entschädigungen belaufen sich auf rund 400 Millionen US-Dollar, doch hat die Regierung bisher in keinem Fall gezahlt. Sie begründet das damit, dass die Kläger die Vollstreckung der Urteile bisher nicht vor argentinischen Gerichten eingefordert hätten. Die Kläger halten dagegen, dass das ICSID doch gerade die nationale Gerichtsbarkeit aushebeln solle.
Was in der argentinischen Öffentlichkeit bisher eine sehr untergeordnete Rolle spielt, ist die soziale und ökologische Dimension der YPF-Verstaatlichung. Lange vor der Privatisierung des Unternehmens setzten sich Bauernhöfe, Viehbetriebe und Indigene gegen den Verlust ihrer Territorien und die erheblichen Umweltschäden durch dessen Öl- und Gasförderung zur Wehr – Kämpfe, die sich bis heute fortsetzen. So etwa in Loma de Lata in der Provinz Neuquen, wo YPF das größte Öl- und Gasfeld Argentiniens ausbeutet. Nachdem die zahlreichen Öllecks Böden und Grundwasser in dem Gebiet der Mapuche-Gemeinschaften Paymenil und Kaxipayin verseucht hatten, stellten Untersuchungen erhebliche Belastungen der Indigenen mit Schwermetallen fest. Mehrere Klagen wurden seither gegen YPF und andere Ölfirmen angestrengt, unter anderem von Mapuche-Gemeinden und von der Vereinigung ASSUPA, die patagonische Kleinbauern, Viehbetriebe und Indigene vertritt. Die von den Klägern geforderten Entschädigungen erreichen Milliardenbeträge.
Die Regierung kündigte nun an, dass auch die Umweltschäden bei der Berechnung einer etwaigen Entschädigung von Repsol berücksichtigt werden sollen. Dies löste jedoch Kritik in den Reihen der Indigenen aus. Die Mapuche-Gemeinschaft Kaxipayin etwa denunzierte „die Scheinheiligkeit der Regierenden“, denn Repsol sei nicht der einzige Schuldige an den Umweltbelastungen. Während die Mapuche gegen diese Zerstörungen ankämpften, hätten Zentral- und Provinzregierungen die extraktivistischen Aktivitäten stets verteidigt. „Das einzige, was wir von YPF und dem Staat erhalten haben, sind Anschuldigungen, Repressionen, Diskriminierung und Ignoranz.“
Die Konföderation der Mapuche von Neuquen kritisiert ferner die Pläne der Regierung, „die Ausbeutung nichtkonventioneller Öl- und Gasquellen mit Hilfe des Fracking durchzuführen“. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass diese überaus umweltschädliche Bohrtechnik verstärkt angewendet werden könnte, nachdem YPF und andere Firmen große Vorkommen an Schiefergas entdeckt haben. Beim Fracking (Hydraulic Fracturing) werden große Mengen Wasser, Sand und toxische Chemikalien in Bohrlöcher gepresst, um Risse in öl- oder gashaltige Gesteinsschichten zu treiben. Die US-Energiebehörde EIA (Energy Information Administration) schätzt, dass Argentinien die drittgrößten technisch förderbaren Schiefergasvorkommen der Welt besitzt. Besonders aussichtsreiche Lagerstätten finden sich danach in den Gesteinsformationen Vaca Muerta und Los Molles in der Provinz Neuquen. Repsol-Präsident Bufau mutmaßte, dass die kürzliche Entdeckung der Vaca Muerta-Vorkommen durch YPF – diese werden auf 22,8 Milliarden Barrel Öläquivalent geschätzt – einer der wesentlichen Gründe der Verstaatlichung sei.
Sollte Argentinien die erheblichen Mittel, die für die Förderung des Schiefergases erforderlich sind, tatsächlich mobilisieren können, woran derzeit noch viele Kommentator_innen zweifeln, drohen den Gemeinden in den Fördergebieten weitere Belastungen. Denn dass die Teilverstaatlichung von YPF zu einer verantwortungsvolleren Ressourcenpolitik führen könnte, dafür gibt es bisher keine Anzeichen. Die Zielvorgaben im Enteignungsgesetz zumindest beschränken sich auf die Maximierung von Investitionen, um nicht nur die Selbstversorgung mit Brennstoffen, sondern auch exportierbare Überschüsse zu erreichen. Schritte zur Reduzierung der Abhängigkeit von den fossilen Energieträgern hingegen sind eine Leerstelle.

So argentinisch wie Tango und Mate

„Nach mehr als 400 Jahren auf diesem Territorium werden wir immer noch gefragt, wo wir denn eigentlich herkommen. Jemandem mit europäischen Wurzeln passiert das nicht.“ Mit entschlossener Stimme fügt Marcelino Santos hinzu: „Wir sind genauso argentinisch wie Tango und Mate!“ Mit seinen Statements bringt der Aktivist vom afro-argentinischen Verband „Freunde der kapverdischen Inseln“ auf den Punkt, womit Argentinier_innen mit afrikanischen Wurzeln tagtäglich konfrontiert werden: Unwissen, Ignoranz, Diskriminierung, Marginalisierung.
Marcelino Santos spricht auf der zweiten „Nationalen Konferenz der Afrikanischstämmigen in Argentinien“, die am 16. und 17. März 2012 in Buenos Aires stattfand und deren Ziel im Untertitel formuliert wurde: „Hin zu einer Implementierung von Politik für Afrikanischstämmige“. Die Konferenz wurde von verschiedenen afro-argentinischen Verbänden organisiert. Unterstützung erhielten sie vom Ministerium für soziale Entwicklung sowie vom staatlichen Institut gegen Rassismus und Xenophobie INADI. Afro-argentinische Aktivist_innen aus zehn verschiedenen Provinzen des Landes waren angereist und verschiedene Gastredner_innen konnten für die Veranstaltung gewonnen werden. Sandra Chagas von der „Afrokulturellen Bewegung“ betonte im Gespräch mit den Lateinamerika Nachrichten: „Die Konferenz ist besonders wichtig, um uns treffen und beraten zu können. Die Konferenz ist unsere Zukunft!“ Dass diese Zusammenkunft in einem offiziellen Rahmen stattfinden kann, ist bereits ein Erfolg, der vor wenigen Jahren noch nicht abzusehen war. Die Situation der Afro-Argentinier_innen ist bis heute wenigen bekannt und ihre Geschichte wird selten erzählt.
Der Widerstand der indigenen Bevölkerung und die dünne Besiedlung von Teilen Lateinamerikas – welche auch auf Grund eingeschleppter Krankheiten aus Europa entstanden war – führte zu einem Mangel an Arbeitskräften. Daher begannen die spanischen und portugiesischen Kolonisatoren ab dem 16. Jahrhundert in großen Teilen Lateinamerikas aus Afrika entführte Menschen zu Sklavenarbeit einzuschiffen, so auch in der Region des Río de la Plata, in den heutigen Staaten Argentinien und Uruguay. Bei der Ausbeutung von Bodenschätzen und in der Landwirtschaft leisteten sie unmenschliche Schwerstarbeit. Mariela Gabriela Pérez, Künstlerin sowie Aktivistin beim INADI, warnt vor einer Verharmlosung der Geschichte bei der heutigen Betrachtung: „Der Völkermord an den Afrikanern in Amerika muss als solcher anerkannt werden. Es wird zwar von unseren Leiden gesprochen, aber das wahre Ausmaß kommt dabei auf nationaler und internationaler Ebene nicht zum Ausdruck.“
Die Versklavten spielten bei der Verteidigung Argentiniens während der Invasion Großbritanniens in den Jahren 1806 und 1807 eine wichtige Rolle. Ebenso waren sie maßgeblich am Erringen der Unabhängigkeit Argentiniens von Spanien im Jahre 1810 beteiligt. Später gingen allerdings andere als Unabhängigkeitsheld_innen in die Geschichtsbücher ein. Von einer Beteiligung der afro-argentinischen Bevölkerung wollte niemand mehr etwas wissen. Die Sklaverei wurde zwar abgeschafft, aber der soziale Status der Afrikanischstämmigen verbesserte sich kaum. Im Krieg gegen Paraguay (1865-1870) wurden sie von der Militärführung als Kanonenfutter an die Front geschickt und auch infolge von Epidemien, insbesondere des Gelbfiebers, ließen viele ihr Leben. Einige wanderten ins benachbarte Uruguay aus, da das politische Klima für sie dort angenehmer war. Durch all diese Aspekte sank die Zahl der afrikanischstämmigen Argentinier enorm.
Doch die Behauptung, dass es keine schwarzen Argentinier_innen mehr gäbe, ist schlicht falsch. Trotz ihrer bewussten Marginalisierung hinterließen die Afrikanischstämmigen in der regionalen Kultur deutliche Spuren. Unter anderem ist eines der vielleicht bekanntesten Symbole Argentiniens, der Tango, aus ursprünglich afrikanischen Zeremonien und Festen hervorgegangen. „Wir waren der Motor in der Konstruktion dessen, was sich heute Argentinien nennt“, hebt Marcelino Santos hervor. „An allen Ecken und Enden lässt sich der afrikanische Einfluss entdecken: in der Musik, im Essen, im Tanz, im argentinischen Spanisch und in vielem mehr. Das Traurige ist, dass die positiven Aspekte unserer Präsenz in fast keinem Dokument festgehalten sind. Die argentinische Geschichte muss neu geschrieben werden, damit uns der Platz zugewiesen wird, der uns zusteht.“
Die meisten Afro-Argentinier_innen, leben heute in den nordöstlich gelegenen Provinzen Santiago del Estero, Tucumán, Santa Fe, Catamarca und Corrientes. Ihre soziale Situation ist meist von Armut und Diskriminierung bestimmt. Viele der Kinder mögen aus Angst vor Beleidigungen kaum zur Schule gehen. Ein großer Teil der Gesellschaft assoziiert die Afro-Argentinier_innen lediglich mit den Berufen der Kuchen-Verkäufer_in, der Tellerwäscher_in und der Reinigungskraft. Im Kampf gegen diese Stereotype sowie gegen unwürdige Lebensbedingungen wurden jedoch in den letzten Jahren erste kleine Schritte nach vorn getan.
Seit den Präsidentschaften Néstor und Cristina Kirchners und deren starker Akzentuierung der Menschenrechtspolitik haben die Afro-Argentinier_innen mehr Möglichkeiten erhalten, sich in Debatten einzubringen und sich besser zu organisieren. Der Kirchnerismus kümmert sich mit Nachdruck um die Umsetzung von anti-diskriminatorischen Maßnahmen, die auf der Welt-Konferenz gegen Rassismus im südafrikanischen Durban im Jahre 2001 beschlossen wurden. Als einen ihrer größten Erfolge sehen die Afroargentinier_innen an, dass die Frage nach afrikanischen Wurzeln 2010 in den nationalen Zensus aufgenommen wurde. Um ihre ökonomischen, kulturellen, sozialen, zivilen und politischen Rechte in ihren jeweiligen Heimatländern zu fördern, hat die Generalversammlung der UN das Jahr 2011 zum internationalen Jahr der Afrikanischstämmigen weltweit erklärt. In diesem Kontext schuf der INADI das Programm „Afrikanischstämmige gegen Diskriminierung, Rassismus und Xenophobie“, um auf die Afro-Gemeinschaft aufmerksam zu machen und ihnen eine vollwertige Staatsbürgerschaft zu garantieren (siehe Kasten).
Doch auch wenn die jetzige Regierung mehr als jede andere zuvor auf diesem Gebiet handelt, sind die Fortschritte überschaubar. Aus Sandra Chagas Worten ist ein deutlich gedämpfter Optimismus herauszuhören: „Trotz der Verbesserungen seit 2003 bleibt die Realität weit hinter unseren Bedürfnissen zurück. Es gibt immer jemanden, der einem das Leben schwer macht, so zum Beispiel die Regierung der Stadt Buenos Aires, die uns 2009 grundlos dazu zwang, das Gebäude zu räumen, in dem unser afrikanisches Kulturzentrum beheimatet war.“
Die Afro-Argentinier_innen möchten kein Mitleid ernten, sondern fordern lediglich, die gleichen Rechte wie andere Argentinier_innen zu bekommen. Marcelino Santos macht zudem darauf aufmerksam, wie absurd es sei, sie wie anthropologische Untersuchungsobjekte und nicht wie eine soziale Bewegung zu behandeln: „Für uns ist es wichtig, dass auch alle weißen Journalisten und Wissenschaftler uns nicht wie ein Relikt der Vergangenheit behandeln. Wir brauchen hier und jetzt staatliche Instrumente, die unsere Lebenssituation verbessern.“
Um genau diese Instrumente zu verbessern und auszubauen, wurde als Ergebnis der zweitägigen nationalen Konferenz dieses Jahres ein Dokument präsentiert. Darin wurden konkrete Vorschläge an die Politik gemacht und diese wurden an die Ministerin für soziale Entwicklung, Dr. Alicia Kirchner, weitergeleitet. Aufbauend auf ihren bisher erzielten Erfolgen, werden die Afro-Argentinier_innen ihren Kampf für Anerkennung und gegen Rassismus fortsetzen. Sie wollen ihren Teil dazu beitragen, dass die alte argentinische Logik durchbrochen wird, nach der auf der einen Seite Europäer_innen die Zivilisation und Gauchos, Indigene und Schwarze die Barbarei darstellen.

Infokasten:

Zentrale Ziele der afro-argentinischen Bewegung

Schaffung und Förderung von Programmen zur Einbindung der Afro-Argentinier in den Bereichen Arbeit, Gesundheitswesen und Bildung // Strategien zur Sensibilisierung und Schulung der Gesellschaft in Bezug auf das Thema der Afro-Argentinier, besonders im Bildungsbereich // Neubewertung der geschichtlichen Rolle der Afrikaner in der Entstehung der argentinischen Nation // Schaffung eines Hauses der afrikanischen Kultur // Anerkennung der afrikanistischen Religionen durch den Staat Argentinien// Anerkennung der Candombe (traditionelle Trommel) als wichtigen Bestandteil der afro-argentinischen Kultur // Stärkung des Einflusses bzw. der Mitarbeit der Afro-Gemeinschaft in verschiedenen staatlichen Bereichen // Ausbau des internationalen Kampfes gegen Rassismus und Diskrimination, gemeinsam mit anderen sozialen Bewegungen.

Unersetzlicher Kämpfer

Bertolt Brecht muss Ernesto Kroch gemeint haben, als er schrieb: „Es gibt Menschen, die kämpfen einen Tag, und sie sind gut. Es gibt andere, die kämpfen ein Jahr und sind besser. Es gibt Menschen, die kämpfen viele Jahre und sind sehr gut. Aber es gibt Menschen, die kämpfen ein Leben lang. Das sind die Unersetzlichen.“ Es ist keine blumige Floskel, kein leichtfertig geschriebener Ausruf: Ernesto, als Ernst Julius Kroch am 11. Februar 1917 in Breslau geboren, ist ohne Zweifel unersetzlich. Am 11. März 2012 ist er in Frankfurt am Main im Alter von 95 Jahren nach monatelanger schwerer Krankheit verstorben.
Mit ihm geht einer der letzten Zeugen des 20. Jahrhunderts und es verlässt uns ein Mensch, der so viel war: Ernesto war Metallarbeiter, Gewerkschafter, Widerstandskämpfer, Schriftsteller, Basisaktivist. Ernesto war solidarisch, gerecht, bescheiden, kämpferisch, authentisch, humorvoll, tolerant. Und es geht ein Mensch, der so viel erleben musste: Mit 17 Jahren wurde er von den Nazis verhaftet, drei Jahre verbrachte er im Gefängnis und im Konzentrationslager. Mit 21 Jahren kam er – eher zufällig wegen ungültiger Papiere für Paraguay – im Exil in Uruguay an und musste dort ohne Familie, ohne Sprachkenntnisse, ohne alles sein Leben neu aufbauen. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet, wie er erst viele Jahre nach dem Krieg erfuhr. In Montevideo wurde er Mitglied der kommunistischen Partei, engagierte sich in der uruguayischen Metallarbeitergewerkschaft, war an der Gründung des Kulturinstituts Casa Bertolt Brecht beteiligt, beteiligte sich unermüdlich an Basisprojekten in verschiedenen Vierteln von Montevideo.
Während der Militärdiktatur in Uruguay wurde sein Sohn jahrelang inhaftiert und er wurde mit 62 Jahren wiederum ins Exil gezwungen, dieses Mal nach Frankfurt am Main. „Heimat im Exil – Exil in der Heimat“ lautet denn auch der Titel seiner Autobiographie, die 2004 im Verlag Assoziation A erschien. 1985 konnte er nach Uruguay zurückkehren. Und nahtlos knüpfte er an sein Engagement an: Er gründete Basiskomitees, wurde Mitglied des Linksbündnisses Frente Amplio, sammelte Geld für Projekte in Uruguay, wirkte unermüdlich in der Casa Bertolt Brecht, organisierte dort erfolgreich Kampagnen gegen den Privatisierungswahn der 1990er und 2000er Jahre und kämpfte gegen die Straflosigkeit für die Verbrechen während der Militärdiktatur. Zugleich widmete er sich intensiv dem Schreiben. Neben Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln verfasste er mehrere Bände mit Erzählungen sowie Sachbücher (die teilweise auch in Deutschland erschienen sind).
Als Ende 2004 die Frente Amplio in Uruguay die Präsidentschaftswahlen gewann und die konservativen Traditionsparteien erstmals in der Geschichte des Landes die Macht abgeben mussten, begriff Ernesto das als Ansporn und Verantwortung, noch intensiver an der Basis für eine wirkliche Veränderung mitzuwirken. Er gründete eine Stadtteilzeitung, war Delegierter seines Viertels und unterstützte kritisch die neue Regierung, hatte dabei aber immer – dank seiner politischen Erfahrung von zu diesem Zeitpunkt 87 Jahren – das große Ganze im Blick. Geduldig diskutierte er immer und immer wieder mit den Jüngeren, also fast allen, denen vieles nicht schnell genug gehen konnte und nicht radikal genug war (zu Recht oder zu Unrecht, das sei hier nicht die Frage), seine Positionen. Das machte er sich auch in Deutschland, wohin er und seine Frau Eva Weil seit den 1990er Jahren im europäischen Sommer kamen, zur Aufgabe. Unermüdlich war auch hier sein Engagement: Übervoll war sein Terminkalender zwischen Mai und Oktober, Vorträge vor Schulklassen, Lesungen, Diskussionen mit GewerkschafterInnen oder alljährlich die Attac-Sommerakademie standen auf seinem Programm. Ernesto war immer unterwegs, auch noch mit über 90 Jahren. Er kämpfte ein Leben lang.

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