Die Ewiggestrigen

Im Juli dieses Jahres bot sich den PassantInnen im Stadtzentrum von Ribeirão Preto, im Bundesstaat São Paulo, ein Spektakel der besonderen Art. Eine kleine Gruppe geschniegelter junger Männer, die über ihren Anzügen rote Capes trugen, stand da in Formation und strammer Haltung. Einige trugen rote Standarten mit einem goldenen Löwen darauf. Gelegentlich riefen sie in martialischem Tonfall: „Lang lebe Maria, Mutter Gottes!“ und „Plínio Corrêa de Oliveira!“. Dann gingen sie umher, verteilten Informationsmaterial und sammelten Unterschriften.
Die jungen Männer sind Mitglieder der Organisation Tradition, Familie, Privateigentum (TFP) und mit ihrem öffentlichen Auftritt wollten sie aufmerksam machen auf die „religiöse Verfolgung“ in Brasilien. Glaubt man der TFP, so beinhaltet der im Dezember vergangenen Jahres von der brasilianischen Regierung verabschiedete Dritte Nationale Menschenrechtsplan (PNH-3) (siehe LN 429) staatliche Repression von strenggläubigen KatholikInnen. In einem Pamphlet der TFP wird sogar ein Vergleich zwischen dem Menschenrechtsplan und der Christenverfolgung unter den römischen Kaisern Nero und Diokletian gezogen – komplettiert mit einem Bildchen von ChristInnen im Kolosseum von Rom, die gerade Löwen zum Fraß vorgeworfen werden.
Die Mitglieder von TFP sehen sich in ihren religiösen Rechten eingeschränkt. Besonders kritisieren sie die Legalisierung von Abtreibung und Sexarbeit sowie die rechtliche Gleichstellung von Lesben, Schwulen und Transsexuellen. Strenge ChristInnen würden nun per Gesetz gezwungen, so die Schriften von TFP, „sexuell Abartige“ in ihren Betrieben, ja, in ihren Wohnungen zu akzeptieren. Die Legalisierung von Abtreibungen und von Prostitution würde gegen die menschliche Würde verstoßen.
Die neuen Regelungen des PNH-3 bezüglich der Landreform bezeichnet die rechts-katholische Organisation als ersten Schritt in Richtung Kommunismus. Der Menschenrechtsplan sieht vor, dass LandbesetzerInnen erst öffentlich angehört werden müssen, bevor es zu Räumungen kommt. Landlosenorganisationen wie die MST begrüßen diese Neuregelung, die von Seiten der Agrarindustrie vehement kritisiert wird. Zudem missfallen der TFP neue Bestimmungen, die es indigenen Gemeinschaften erleichtern sollen, ihr Land zu demarkieren und ihre bisherige Lebensweise fortzuführen.
Liest man die 24-seitige „Analyse des PNH-3“ der TFP jedoch aufmerksam, so wird schnell deutlich, dass hier wenig mehr getan wird, als die Doktrin dieser Organisation zu wiederholen und auf den Dritten Nationalen Menschenrechtsplan zu beziehen. Verfasst wurde diese Doktrin vom TFP-Gründer Plínio Corrêa de Oliveira, der bis heute von den Mitgliedern der Organisation als Vordenker und -kämpfer verehrt wird. Auch ihr aktuelles Pamphlet kommt nicht ohne längere Zitate aus dem Werk ihres Idols aus.
Seine wichtigsten Ideen entwickelte Plínio Corrêa de Oliveira bereits vor der offiziellen Gründung der TFP in seinem Buch Revolution und Gegenrevolution, das 1959 publiziert wurde. Darin heißt es: „Wenn die Revolution die Unordnung ist, dann ist die Konterrevolution die Wiederherstellung der Ordnung. Und unter Ordnung verstehen wir den Frieden Christi im Reich Christi. Anders gesagt, die christliche Zivilisation, streng und hierarchisch, fundamentalistisch, sakral, anti-egalitär und anti-liberal.“ Oliveira romantisiert das Mittelalter als einzige gottgefällige Ordnung und stellt damit alle historischen Ereignisse, die von dieser Ordnung wegführten, als negativ dar. Als Schlussfolgerung sieht Plínio Corrêa de Oliveira die Revolution in den verschiedensten historischen Phänomenen verkörpert: in der kulturellen Entwicklung der Renaissance, in der Reformation, der französischen Revolution und schließlich den kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Diese vereinfachte Sichtweise lässt alle Unterschiede verschwinden. Protestantismus und Kommunismus erscheinen als Aspekte einer Bewegung, die die göttliche Ordnung bedroht. Und so wird der Antikommunismus folglich zu einem der Hauptanliegen der TFP, die Corrêa de Oliveira offiziell 1960 in São Paulo gründete.
Seitdem wuchs die Organisation beständig und hat heute zwar noch immer eine recht kleine, dafür aber überzeugte und wohlhabende Anhängerschaft. Insbesondere während der brasilianischen Militärdiktatur hatte die TFP bedeutenden Einfluss auf die Politik und galt als eine der Stützen des Regimes.
Den Putsch von 1964 begrüßte Plínio Corrêa de Oliveira von Grund auf. Sein Buch Revolution und Gegenrevolution kann sogar als eine diskursive Vorbereitung des Staatsstreiches gesehen werden, denn immerhin beschreibt er darin, warum für die Ordnung des Staates ein autoritärer Putsch notwendig sei, wenn die aktuelle Regierung sich der Revolution verschrieben habe. Unzweifelhaft war dies auch ein verbaler Angriff auf die Versuche der damaligen Regierungen, eine Agrarreform durchzuführen. Der Militärputsch machte diesen Reformversuchen schließlich den Garaus.
Die Verhinderung einer Agrarreform in Brasilien ist seit jeher eines der Hauptanliegen der TFP. Diese verstoße, so die Mitglieder der Organisation, gegen das göttliche Recht des Eigentums. Der Versuch gegen Eliten und den Großgrundbesitz zu rebellieren, kommt nach TFP-Sichtweise einer Rebellion gegen Gott gleich. Dass ungleiche Landverteilung zu ungleichen Machtverhältnissen führt, begrüßt die TFP explizit und verteidigt eine hierarchische und aristokratische Gesellschaft. Eliten, so die Argumentation, wären am besten in der Lage, das größte Wohl aller durchsetzen. In den GroßgrundbesitzerInnen Brasiliens sah Corrêa de Oliveira eine solche Aristokratie.
Eben dieses aristokratische Auftreten sowie die mittelalterlich anmutenden Rituale der TFP machen für viele Mitglieder offenbar den Reiz der Organisation aus. Wer hier mitmacht, darf sich als Elite fühlen. Und so überrascht es nicht, dass einer idealen Gesellschaftsordnung in den Augen der TFP ein König oder Kaiser vorsteht. Die TFP gehört zu den wenigen monarchistischen Organisationen Brasiliens, die eine Rückkehr zur Herrschaft der 1888 gestürzten Königsfamilie Bragança verlangt. Das aktuelle Oberhaupt der Braganças, Luís Gastão von Orleans und Bragança, ist ein aktives und zahlungskräftiges Mitglied der TFP.
Bei der hohen katholischen Hierarchie wird die TFP nicht gern gesehen. Sicher gibt es etliche erzkonservative Priester, die mit ihnen sympathisieren, doch offiziell distanzieren sich auch diese von der TFP. Aber das Verhältnis ist durchaus ambivalent. Die TFP unterscheidet sich nur wenig von rechten katholischen Organisationen, so wie Opus Dei oder die Legionäre Christi; lediglich ihre Radikalität hebt sie hervor. Verschämt duldet die katholische Kirche die TFP, versucht aber auch möglichst wenig Aufhebens um sie zu machen.
Viele Priester und Bischöfe dagegen, die der Theologie der Befreiung nahe stehen, sind der TFP explizit feindlich gesinnt. Besonders das Hauptthema der TFP, eine Verhinderung der Landreform, führt zu großen Differenzen. Hier geriet die TFP sogar in einen offenen Konflikt mit der Nationalen Brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB), die sich an der Theologie der Befreiung orientierte und sich bereits in den 1950er Jahren politisch für die Durchführung einer Agrarreform einsetzte.
Die TFP sah in der politischen Haltung der CNBB den Beweis dafür, dass die katholische Kirche von kommunistischen Elementen unterwandert sei und einer Reinigung bedürfe. Deshalb „engagierten“ sich TFP-Mitglieder bei linken katholischen Vereinigungen und verrieten deren Mitglieder dann an die Militärs. Zahlreiche AktivistInnen der Befreiungstheologie wurden auf Grund solcher Denunzierungen gefoltert und verbrachten Jahre im Gefängnis.
Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 begann der Einfluss der TFP zu schwinden. Öffentlich tritt sie in Brasilien nur gelegentlich auf und protestiert gegen Agrarreform, Schwulenrechte und Filme, die sie als anti-katholisch einstuft. Dabei wirkt sie skurril und harmlos, ist es aber nicht. Auch wenn ihre Anhängerschaft zahlenmäßig nicht besonders bedeutend erscheint, so ist doch ihre internationale Vernetzung ausgezeichnet. Im Laufe der letzten Jahrzehnte formierten sich Ableger der TFP überall auf der Welt. Inzwischen sammeln sich anti-kommunistische und rechtsradikale KatholikInnen unter anderem aus Kolumbien, Paraguay, Peru und den USA unter den roten Bannern der TFP. Auch in Deutschland und Österreich gibt es Vertretungen.
Die weltweite TFP hält sich dabei geradezu sklavisch an die Lehren von Plínio Corrêa de Oliveira. Viele Mitglieder wirken an Universitäten und versuchen so, ihre Ideen in die Gesellschaft zu tragen. Auch aus diesem Grund ist in den letzten Jahren ein Wachstum der Gruppe zu beobachten. Zudem verfügt die TFP über weitreichende finanzielle Mittel. Nicht nur der brasilianische Hochadel gehört zu ihren Förderern. Chef der deutschen TFP ist Paul Herzog von Oldenburg und hinter ihm sammeln sich auch hierzulande etliche Adlige, die sich in der heutigen Gesellschaft um die Rolle betrogen fühlen, die sie sich selbst gerne zukommen lassen würden. Diese zumeist sehr wohlhabenden Leute sichern die Existenz der TFP und ihren Kampf für die Erneuerung einer mittelalterlichen Ordnung.

Arbeiten für den Schulbesuch

Sie ist 14 Jahre alt und Reporterin. Im Kommunikationsprogramm des Jugendclubs „Club Infantil“ ihrer Heimatstadt Jinotega im Norden Nicaraguas macht Francis Estefania Zeas jeden Nachmittag drei Stunden lang Radio-, Fernseh- und Zeitungsjournalismus. „Mich fasziniert die Technik. Ich möchte später Kommunikationswissenschaften studieren“, sagt sie mit Blick auf ihre Zukunft. Und ebenso klar, wie sie über ihre beruflichen Ziele spricht, organisiert sie ihren Alltag heute: um sechs Uhr aufstehen und Hausarbeit, Schulbesuch bis zwölf Uhr, Mittagspause bis um eins. Nach der Pause nimmt sie teil am Kommunikationsprogramm des Jugendclubs, ab vier Uhr arbeitet sie eine Stunde, um Geld zu verdienen: etwa 40 Cent pro Tag. Dann macht sie Hausaufgaben. „Danach habe ich Zeit zum Spielen und Entspannen, ebenso wie an den Wochenenden. Ich kenne meine Rechte“, so Francis. Dabei spricht sie klar und entschlossen und mit einem Selbstbewusstsein, das keine Spur der „Opferrolle“ zulässt, die mancher Journalist vielleicht erwartet, wenn zu einer Pressekonferenz mit einem „arbeitenden Kind aus Nicaragua“ geladen ist. „Die Situation in Nicaragua ist schwierig, viele Menschen leben ohne Dach über dem Kopf oder in einer Baracke. Aufgrund der Armut haben Kinder und Jugendliche keine Alternative als zu arbeiten. Ich rede dabei auch über mich, denn auch ich arbeite. Ich liefere Tortillas aus und mache Besorgungen und Einkäufe für die Nachbarschaft. Aber gleichzeitig gehe ich zur Schule und habe auch Zeit für mich.“
Francis arbeitet, seit sie 10 Jahre alt ist. Das ist laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verboten. Zumindest bis sie zwölf war, verstieß Francis gegen das ILO-Übereinkommen 138, das ist auch für „leichte Arbeit“ das festgesetzte Mindestalter (siehe auch Informationen im Kasten). Doch wie die meisten Kinder in Nicaragua muss Francis mithelfen. Ihre Mutter ist alleinerziehend. Francis und ihre vier Geschwister wuchsen vornehmlich bei der Tante auf, die Mutter arbeitet auf dem Markt. Um eine vierköpfige Familie zu ernähren, benötigt man in Jinotega zurzeit rund 140 Euro im Monat. Im informellen Sektor verdient eine erwachsene Person durchschnittlich jedoch gerade einmal 20 Euro. Deshalb müssen alle Familienmitglieder zum Einkommen beitragen. Auch in Francis‘ Familie. Ihre älteren Brüder arbeiten auf dem Bau. Sie selbst liefert Tortillas aus und verrichtet anstehende Hausarbeiten.
Lydia Palacios Chiong kennt viele Kinder wie Francis. Sie leitet den Jugendclub Jinotegas. Ziel der Einrichtung ist die Unterstützung arbeitender Kinder. „Wir sind kein karitatives Zentrum“, so Lydia über das Selbstverständnis des Jugendclubs. „Vielmehr möchten wir bewirken, dass Kinder und Jugendliche nicht länger als eine Art ‚Persönchen‘ gesehen werden. Wir stellen die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder in den Mittelpunkt unserer Arbeit. Sie sollen ihre Rechte kennen und mit ihren eigenen Meinungen und Forderungen gehört werden.“ Deshalb bietet der Jugendclub neben Tanzen, Theater, Werken und Hausaufgabenhilfe auch das Kommunikationsprogramm an, in dem Francis schon seit vier Jahren aktiv ist. Kinder und Jugendliche produzieren täglich Features, Reportagen, Nachrichten und Interviews für das lokale Radio und Fernsehen sowie eine eigene kleine Zeitschrift. „Es geht darum, die Erwachsenen für die Belange der Kinder zu sensibilisieren“, erklärt Lydia Palacios Chiong. „Wir möchten die Gesellschaft aufklären und den Kindern eine Stimme geben – aber eben ihre eigene Stimme, nicht unsere.“
Um die Gesellschaft aufzuklären, richten sich die Programme der JungreporterInnen vornehmlich an Erwachsene. Sie sollen die Rechte der Kinder achten, deren Arbeit würdig gestalten und angemessen entlohnen sowie ihnen Zeit für Spiel und Schule lassen. Auch Kampagnen gegen sexuellen Missbrauch und Kindesmisshandlung haben die Kinder schon gemacht. Immer steht dabei deren Meinung im Vordergrund. „Es geht uns darum, die Perspektive der Kinder einzunehmen. Wir müssen auf diejenigen hören, um die es geht,“ betont Lydia immer wieder.
Das ist auch das Anliegen von Manfred Liebel. Der Soziologe hat in den 1990er Jahren in Nicaragua und anderen Ländern Lateinamerikas mit Kindern gearbeitet und forscht seitdem zum Thema Kinderarbeit. Seine Forderung nach einer differenzierteren Betrachtung von Kinderarbeit sowie seine kritische Haltung gegenüber den Positionen der ILO begründet er durch Erfahrungen und Gespräche mit den Betroffenen. „Anfangs war Kinderarbeit für mich ein Tabu, so wie das wohl für die meisten Menschen der Industrieländer ist“, so Liebel über seinen Werdegang. „Doch die Kinder selbst haben mich eines besseren belehrt. Man muss viel mehr Aspekte ihres realen Lebens beachten, statt ihre Arbeit pauschal zu verbieten.“ Grundproblem der ILO sei, dass Arbeit von Kindern in einer ausschließlich negativen Weise definiert würde. Fast nie sorge jedoch ein Arbeitsverbot für eine verbesserte Lebenssituation der Kinder, erklärt der Jugendsoziologe. Statt ihre Lebenssituation zu verbessern, treibe man Kinder und Jugendliche in die Illegalität und kriminalisiere sie, so würden sie noch leichter ausbeutbar. Das sieht die Bewegung der arbeitenden Kinder Lateinamerikas und der Karibik (MOLACNATS) ebenso. In ihrer jüngsten Erklärung macht sie auf die ernsthaften Konsequenzen der ILO-Konvention 182 aufmerksam (siehe Infokasten) und zeichnet auf, dass es in Ländern wie Kolumbien, Peru, Paraguay und Guatemala immer wieder zu repressiven Maßnahmen gegen Kinder kommt, die unter Verweis auf die ILO-Konvention gegen die „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“ stattfinden. Dort landen Jugendliche nach „sozialen Säuberungen“ häufig im Gefängnis oder sie werden Opfer von Schutzgelderpressungen.
„Solange die Eltern so miserabel bezahlt werden und das System es zulässt, dass sie nicht alleine dazu in der Lage sind, eine Familie zu ernähren, solange haben Kinder keine Alternative zur Arbeit. Das System ist das Problem, nicht die Kinderarbeit – sie ist Folge des Systems.“ Manfred Liebel hat mit vielen arbeitenden Kindern gesprochen und widmet sich auch nach seiner Emeritierung als Professor ganz ihren Rechten. Keinesfalls möchte er die Arbeit von Kindern pauschal gut heißen. „Natürlich muss jede Form der Ausbeutung unterbunden werden. Da stimme ich der Position der ILO durchaus zu“, stellt er klar. „Das sollte allerdings selbstverständlich für alle Menschen gelten – für Kinder wie für Erwachsene. Und wir müssen unterscheiden zwischen Arbeit und Arbeitsbedingungen. Wir dürfen nicht das Gewissen des Nordens damit beruhigen, Kinderarbeit zu verbieten, wenn wir gleichzeitig dulden, dass die Eltern ausgebeutet werden. Solange das System ist, wie es ist, muss es darum gehen, Kindern würdige Arbeit zu ermöglichen.“ Aus diesem Grund unterstützt er Projekte wie den Jugendclub Jinotega aber auch Kooperativen in Peru und Kolumbien, in denen Kinder selbstbestimmt Produkte für den fairen Handel herstellen. Das mutet im ersten Moment fast paradox an: fair gehandelte Produkte von Kindern. Johanna Fincke von der Christlichen Initiative Romero kennt die Vorbehalte gegen solche Produkte. „Ein Großteil derer, die in Eine-Welt-Läden einkaufen, tun das, um sicher zu gehen, dass die Produkte nicht aus Kinderhand stammen“, berichtet sie. „Wenn Kinder und Jugendliche sich zusammen schließen und unter würdigen Bedingungen etwas herstellen, das ihnen ihren Lebensunterhalt sichert und gleichzeitig ermöglicht, die Schule zu besuchen, dann müssen wir doch solche Konzepte, die direkt aus dem Süden kommen, ernst nehmen, statt sie als Kinderarbeit pauschal zu verurteilen.“
Ebenso wie Manfred Liebel kritisiert Johanna Fincke die Positionen der ILO, weil sie die Betroffenen nicht einbezieht. Als ILO und niederländische Regierung im Mai in Den Haag zur Global Child Labour Conference luden, war unter den TeilnehmerInnen der Konferenz kein einziger Vertreter der Kinder und Jugendlichen. Die ILO verabschiedete ihren neuen Fahrplan zur völligen Abschaffung der „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“ bis 2016, ohne die Stimme der Betroffenen anzuhören. In Zukunft soll durch engere Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Geschäftswelt keine Lücke mehr gelassen werden für Kinderarbeit. Verbote und Kontrollen dienen als Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.
Wohin das manchmal führen kann, erfährt Lydia Palacios Chiong von vielen Kindern ihres Jugendclubs. „In Jinotega arbeiten viele Familien einmal im Jahr einige Wochen bei der Kaffeeernte. Die Erntezeit fällt in die Schulferien und es ist oft die einzige Möglichkeit, in kurzer Zeit relativ viel Geld zu verdienen, um so den Schulbesuch der Kinder und andere notwendigen Ausgaben decken zu können. Durch das Verbot von Kinderarbeit verbieten neuerdings viele Plantagenbesitzer den Eltern, ihre Kinder mitzubringen.“ Viele ihrer AltersgenossInnen fühlten sich durch das Arbeitsverbot entwürdigt, berichtet Francis. Als Jungreporterin spricht sie täglich mit ihren AltersgenossInnen. „Bei einer Umfrage haben die meisten Kinder es als ihr Recht angesehen, arbeiten zu dürfen“, erzählt sie. „Es ist unsere einzige Möglichkeit, die Dinge zu kaufen, die wir für uns brauchen.“ Sie selbst kauft mit ihrem verdienten Geld ebenfalls zumeist Dinge für ihren eigenen Bedarf: Kleidung, Schulmaterial, aber auch schon mal Reis und Bohnen für die Familie. „Wenn hier Menschen fordern, dass Kinderarbeit abgeschafft wird, dann haben sie die notwendigen Mittel zum Leben. Aber wenn ich zur Schule gehen will, dann brauche ich eine Uniform. Und die muss ich selbst verdienen. Wenn ich kein Geld verdiene, kann ich nicht zur Schule gehen“, erklärt Francis. Die Forderung der ILO „Schule statt Arbeit“ mag sicher gut klingen und auch als Ziel plausibel sein, doch sie geht an der Realität vieler Kinder vorbei, in der manchmal das eine das andere bedingt.
Francis hat einen Weg gefunden, um Schule, Arbeit und Freizeit miteinander zu verbinden. Sie weiß, dass das längst nicht allen Kindern möglich ist. Besonders als Hausangestellte und MarktverkäuferInnen erleben Kinder in ihrem Heimatort häufig Ausbeutung und Misshandlungen. „Viele Kinder klagen, dass sie schlecht behandelt werden. Am liebsten möchten wir Kinder selbstständig arbeiten und nicht abhängig von Erwachsenen sein, die uns oft ausbeuten.“ Sie selbst widmet sich jeden Tag einige Stunden der Arbeit im Kommunikationsprogramm. Damit möchte sie auf die Belange der Kinder aufmerksam machen und die Erwachsenen zum Umdenken bewegen. Von der Regierung fordert Francis vor allem bessere Arbeitsbedingungen für die Eltern. „Dann müssen wir Kinder nicht arbeiten, wir tun das schließlich aus einer Notwendigkeit heraus und nicht zum Spaß. Aber wenn wir schon arbeiten, dann unter würdigen Bedingungen. Sie müssen endlich damit beginnen, uns anzuhören.“

Kasten:
Umstrittene ILO-Positionen zum Thema Kinderarbeit
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen und hat 182 Mitgliedstaaten. Sie erarbeitet rechtsverbindliche Konventionen sowie Empfehlungen an die Mitgliedstaaten.
Die ILO-Konvention 138 erlaubt Kindern „leichte Kinderarbeit“ ab einem Mindestalter von zwölf Jahren, wenn die Kinder gleichzeitig zur Schule gehen können. Das Mindestalter für eine Vollzeitbeschäftigung ist auf 15 Jahre festgesetzt.
Das Übereinkommen 182 aus dem Jahre 1999 definiert vier „schlimmste Formen“ von Kinderarbeit, die unverzüglich zu beseitigen seien. Darunter fallen Sklaverei und Zwangsarbeit, Zwangsrekrutierung für bewaffnete Konflikte, Kinderprostitution und -pornographie, Einsatz von Kindern im organisierten Verbrechen sowie jede Form der Arbeit, die „voraussichtlich schädlich für Gesundheit, Sicherheit und Sittlichkeit“ ist.
Kritik an der ILO-Position ist vor allem die der einseitig negativen Definition von Kinderarbeit sowie ein „tunnelartig begrenzter“ Blick auf das Phänomen. Statt über Verbote zu agieren, solle die Frage nach einer möglichen Verbesserung der Situation arbeitender Kinder im Mittelpunkt stehen, ihre Organisationen müssten stärker einbezogen werden. Zudem müsse unterschieden werden zwischen Arbeit und Arbeitsbedingungen.
Kritik löste auch die ILO-Konvention 182 aus, da dort „als schlimmste Formen der Kinderarbeit“ betrachtet wird, was eigentlich als „Menschenrechtsverletzungen“ oder „Verbrechen“ bezeichnet werden müsse, wie zum Beispiel Rekrutierung von Kindern zu Prostitution, Pornographie und Drogenhandel.

Räuber und Gendarm

Vier Monate sind nun vergangen seit der entführte Viehzüchter Fidel Zavala nach Zahlung eines Lösegeldes von der Guerilla Streitkräfte des Paraguayischen Volkes (EPP) freigelassen wurde. Die Suche nach den TäterInnen brachte nur dürftige Resultate. Zwar konnte die Polizei recht bald medienwirksam die ersten Verdächtigen festnehmen, jedoch bezogen sich die gegen sie erhobenen Vorwürfe auf eine frühere Entführung. Erst Ende März, also rund zwei Monate nach der Freilassung, wurden mit dem 22-jährigen Diosnel Gill und der 20-jährigen Graciela Samaniego die ersten und bisher einzigen Verdächtigen zum Fall Zavala gefasst. Beide werden dem logistischen Bereich der auf insgesamt nur etwa 30 Personen stark geschätzten Guerilla zugerechnet.
Mitte April ereignete sich jedoch im nördlichem Departamento Alto Paraguay, das zum trockenen Chaco Gebiet gehört, eine Schießerei zwischen dem 38-jährigem Severiano Martinez und einer Gruppe PolizistInnen. Martinez gilt als Gründungsmitglied der EPP und einer der Drahtzieher der sechs Jahre zurückliegenden Entführung und Ermordung von Cecilia Cubas, Tochter des ehemaligen Präsidenten Raúl Cubas. Er soll sich jedoch inzwischen von der Gruppe entfernt haben. Sowohl Martinez als auch die Polizeikräfte erlitten bei der Auseinandersetzung Schussverletzungen, ebenso wie der Verwalter einer nahegelegenen Ranch. Martinez gelang dennoch die Flucht in die Berge. Trotz eines Aufgebots von etwa 150 Polizeikräften gelang es in der Folge nicht, ihn aufzufinden. Es wird vermutet, dass er sich mit Hilfe von AnwohnerInnen nach Brasilien abgesetzt habe. Zwei Bauern der Gegend wurden deswegen verhaftet. Nur vier Tage später brachte eine erneute Schießerei in Arroyito im Departamento Concepción vier Menschen den Tod. Ein Polizist sowie mehrere Sicherheitsleute der Estancia „Santa Adelia“ waren bei einem Erkundungsritt aus Anlass eines Viehdiebstahls aus dem Hinterhalt heraus angegriffen worden. Die Täter seien etwa fünf bis sieben mit Sturmgewehren bewaffnete Männer gewesen, wobei nicht klar ist, ob es sich dabei um Mitglieder der EPP gehandelt hat.
Da auch bei dieser Auseinandersetzung niemand der Verdächtigen gefasst werden konnte, sah sich der einst als sozialer Hoffnungsträger angetretene Präsident Fernando Lugo unter Zugzwang. Sein Vorgänger Nicanor Duarte beispielsweise nannte die erfolglose Suche einen Beweis dafür, dass Lugo selbst der Kopf der Guerilla sei, ein Vorwurf, den die generell konservative, zum Klatsch neigende paraguayische Presse schon lange verbreitet. Aus Argentinien lästerte es, dass sich Paraguay auf der Suche nach dem Jasy Jatere befinde, einer populären Figur der Guaraní Mythologie, die der Sage nach unsichtbar von Dorf zu Dorf zieht. Wie um es also seinen KritikerInnen zu zeigen, griff Lugo auf das stärkste sicherheitspolitische Instrument zurück, das ihm zur Verfügung steht: Den Ausnahmezustand. Dieser ermöglicht es den Sicherheitskräften in Fällen starker Bedrohung der öffentlichen Ordnung auf Zustimmung des Parlaments Personen ohne richterlichen Haftbefehl festzunehmen, sowie öffentliche Versammlungen und Demonstrationen einzuschränken oder ganz zu verbieten. Eine zeitgleich auf den Weg gebrachte Änderung des Verteidigungsgesetzes soll künftig der Regierung außerdem ermöglichen, Militär auch ohne den Ausnahmezustand gleichberechtigt neben Polizeikräften im Land einzusetzen.
Der Erlass gilt nur für die nördlichen Departamentos von Amambay, San Pedro, Concepción, Villa Hayes und Alto Paraguay, die das Zentrum der Guerilla und das Armenhaus des Landes sind. Mit Ausrufung des Ausnahmezustandes wurden mit der unter dem Namen Py‘a Guapy („Ruhe“ auf Guaraní) firmierenden Operation 3.300 SoldatInnen und etwa 300 PolizistInnen dorthin verlegt. Die Dauer des Einsatzes wurde erst durch eine Intervention des Parlaments um die Hälfte auf die in der Verfassung vorgesehenen 30 Tage gekürzt. Auf dem Treffen der UNASUR fand die Entscheidung zwar Rückendeckung durch die südamerikanischen Regierungschefs, bereitet jedoch dennoch vielen Menschen im Land Kopfschmerzen. Zum einen, da während der jahrzehntelangen, 1989 zu Ende gegangenen Diktatur von General Alfredo Stroessner eben solch ein Ausnahmezustand nahezu durchgehend galt. Zum anderen, weil soziale Organisationen fürchten, dass der Terrorismus lediglich als Vorwand diene, um gegen ihre Arbeit vorzugehen und reiche GroßgrundbesitzerInnen in Sicherheit zu wiegen.
Paraguay, in dem die Armee traditionell eine besonders starke innenpolitische Rolle spielt, steuert jedoch nicht erst seit dieser Entscheidung in Richtung Militarisierung. Bereits im Laufe der Entführung Zavalas kam es zu einer engen Zusammenarbeit mit Kolumbien, das ja bereits einige Erfahrung im Antiterrorkampf gesammelt hat. Die dort beheimatete FARC soll in engem Kontakt mit den Mitglieder der EPP stehen und diese ausgebildet haben. Seit Mitte vergangenen Jahres hat Kolumbien bereits mit einer Reihe mittelamerikanischer Länder wie Mexiko, Guatemala, Honduras, Panama und El Salvador Kooperationsabkommen geschlossen, die technische BeraterInnen in der Aufstandsbekämpfung sowie dazu passendes Kampfgerät in das jeweilige Land bringen. Auch von der US-amerikanischen Botschaft wird diese sicherheitspolitische Ausbildung unter anderem durch die Entsendung von Personal gefördert. Sie selbst brachten dieses Konzept damals im Rahmen des Plan Colombia nach Kolumbien. Nun hat Paraguay ein eben solches Abkommen geschlossen und lobt die Beziehungen zu Kolumbien infolgedessen als die besten des Kontinents.
Dies stößt jedoch nicht nur bei linken Kräften auf Widerspruch. Auch beim paraguayischen Verteidigungsminister Luis Bareiro Spaini regte sich Protest, da er sich durch die Maßnahmen hintergangen sah. Doch dessen Zeit dürfte bald gekommen sein, da er ferner hinter Lugos Rücken einen Brief an die US-Botschaft geschickt hat und darin über seinen Vorgesetzten herzog. Auch wird seiner fehlenden Organisation ein Zusammenstoß zwischen Militärs und Polizei im Rahmen des Ausnahmezustands angelastet. Bei einem Zugriff in Hugua Ñandu hielten Armeeangehörige nicht nur die Geburtstagsfeier einer Fünfzehnjährigen für ein mafiöses Zusammenkommen, sondern außerdem hiesige PolizistInnen für Mitglieder der EPP. Nach einem kurzem Schusswechsel wurden sie mit Gewalt überwunden. Ein wahres Meisterstück an Misserfolg, bei dem es nur dank großen Glücks keine Toten gab.
Der Innenminister Rafael Fillizzola nennt die bisherige Bilanz des Ausnahmezustandes aber dennoch erfolgreich, und verweist auf rund 150 Verhaftungen. Er verschweigt dabei jedoch, dass fast alle Festnahmen wegen fehlender Dokumente, Betrug oder sexuellem Missbrauchs erfolgten. Mit Julián de Jesús Ortiz konnte lediglich ein Guerillero gefasst werden, wobei jedoch auch ihm keine Mitwirkung an der Entführung Zavalas angelastet wird. Seine Festnahme fand außerdem kurioserweise im Departamento Boquerón statt, in dem der Ausnahmezustand eben gerade nicht gilt. Außerdem scheint mit dem Osten des Landes ein Brennpunkt nun völlig vergessen zu werden. In diesem Grenzgebiet zu Brasilien floriert die organisierte Kriminalität und just drei Tage nach Ausrufung des Ausnahmezustandes kam es dort zu einem Mordversuch auf den Senator Roberto Acevedo. Dieser überlebte und sieht die Schuld bei der Polizei, die mit den Narcos unter einer Decke stecken würde. Gleiches lässt auch die brasilianische Seite verlauten, die sich häufig Schusswechsel mit korrupten paraguayischen Militärs liefere, welche die Drogenschmuggler bei der Grenzüberquerung schützen würden. Die EPP sei gegen dieses Vorfälle lediglich ein „Kinderspiel“.
Ein weiteres Problem stellt die Tatsache dar, dass vieles über die EPP immer noch im Dunkeln liegt und so der Spekulation und Denunziation alle Türen geöffnet sind. So wurde ein vermeintlicher Diebstahl von Polizeigewehren erst der Guerilla zugeschrieben, um dann die TäterInnen doch in den eigenen Reihen auszumachen. Selbiges passierte einem Landarbeiter, der einen Überfall auf eine Estancia zur Anzeige brachte, die vermissten Lebensmittel jedoch selbst unter seinem Bett gehortet hatte. Dies nahm die Presse sofort als Anlass, ihn selbst der Guerilla zuzurechnen. Präsident Lugo sitzt trotz all diesem Theater sowie Kritik von links und rechts derzeit relativ fest im Sattel. Aus dem Parlament werden zwar immer wieder Stimmen nach einem Amtsenthebungsverfahren laut, was jedoch inzwischen aufgrund der Häufigkeit schon als typische politische Folklore des Landes gelten kann. Da im November Kommunalwahlen anstehen und das Bündnis Frente Guasu erstmals in der Geschichte die linken Kräfte des Landes bündelt, wird sich dies in den folgenden Monaten sicherlich noch verstärken. Dabei bleibt nur zu hoffen, dass Lugo dagegen nicht weiter auf die Politik der harten Hand setzt.

Das Versprechen der Revolution

Um die lateinamerikanische Unabhängigkeitsbewegung zu Anfang des 19. Jahrhunderts ist es auf dem Buchmarkt lange ruhig gewesen. Anders als zur US-amerikanischen oder zur Französischen Revolution wurde über die Revolutionsbewegungen in Lateinamerika für das breite Publikum nur im Rahmen von Gesamtdarstellungen der lateinamerikanischen Geschichte geschrieben, und das fiel notwendigerweise eher knapp aus. Nun – daran haben die 200-Jahr-Feiern ihren Anteil – ist ein Überblickswerk erschienen, das diesen Mangel beheben will.
Der am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin lehrende Stefan Rinke sieht die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsrevolutionen strikt im atlantischen Zusammenhang. Dabei ist klar: Die Zusammenhänge zu anderen Revolutionen, insbesondere der US-amerikanischen, der Französischen und der Haitianischen, werden herausgearbeitet, aber nicht überbewertet.
So gab es ein transatlantisches Kommunikationsnetz, an dem nicht zuletzt Persönlichkeiten wie Simón Bolívar oder Francisco de Miranda eifrig mitgeknüpft haben. Und die Erfahrungen aus Nordamerika und Frankreich zeigten den kreolischen Führungsschichten in Caracas oder Buenos Aires ebenso wie den rebellierenden Sklaven in Saint-Domingue (Haiti), „dass ein revolutionärer Umbruch möglich war“. Dennoch unterstreicht Rinke, dass Eigenheiten, Ungleichzeitigkeiten und Unebenheiten deutlich sichtbar sein sollen und nicht als Ausnahmen weginterpretiert, sondern als wesentlich beachtet werden müssen.
Folgt man wie Rinke dieser Auffassung, dann muss eine Überblicksdarstellung ins Detail gehen. Eine gewaltige Herausforderung, denn gerade das macht den Zugang zu den Vorgängen in Lateinamerika zwischen 1806 und 1830 so problematisch. Die Fülle an Personen, Gruppierungen, Zielen, Proklamationen, Kämpfen ist unüberschaubar und viel schwieriger zu verstehen als etwa die doch einigermaßen geradlinige Unabhängigkeitsrevolution in den 13 nordamerikanischen Kolonien. Die Qualität von Stefan Rinkes neuem Buch liegt genau darin, diese Herausforderung angenommen und bravourös bewältigt zu haben: Die Genauigkeit in der Darstellung steht in einem hervorragenden Verhältnis zum großen Bogen des Geschehens.
Die Unabhängigkeitsbewegungen sind durch die spanischen Reformmaßnahmen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Gang gekommen. Da wegen mangelnder Kontrolle, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, auch die erwünschten Erträge ausblieben, entschied sich die Krone, die Kolonien engmaschiger zu verwalten. Da dies bedeutete, verstärkt Spanier auf die Posten zu setzen, zu denen sich Kreolen bereits den Zugang verschafft hatten, boten die Reformmaßnahmen reichlich Angriffsfläche für Kritik – und es häuften sich Aufstände. Ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung rückte die Frage nach der Legitimität der Kolonialherrschaft. Die Antwort auf diese Frage war bei den Kreolen, die Amerika längst schon als etwas von Europa grundsätzlich Verschiedenes begriffen, zunehmende Distanzierung. Über die Form dieser Distanz jedoch, das zeigt Rinke deutlich, bestand lange Zeit eine viel größere Unsicherheit, als die in der Öffentlichkeit verbreiteten Gründungsgeschichten der lateinamerikanischen Staaten ahnen lassen. Denn für die jungen Nationen war es von entscheidender Bedeutung, eine Folgerichtigkeit zu konstruieren und die eigene nationale Existenz so legitimieren zu helfen.
Zu der Unentschiedenheit in der Anfangsphase trugen mindestens drei Faktoren wesentlich bei: Erstens die warnenden Erfahrungen aus der jakobinischen Phase der Französischen Revolution. Der Terror von 1793/94, der mit tiefgreifenden Einschnitten in Besitz- und Machtverhältnisse verbunden war, ließ die kreolische Oberschicht in Mexiko oder Bogotá generell eher vorsichtig vorgehen. Dazu war zweitens die für die spanisch-kolonialen Sklavereigesellschaften schockierende Revolution in Haiti gekommen: Zu einem so radikalen Umsturz wie der Abschaffung der Sklaverei, gar zur Vertreibung der weißen Oberschicht, durfte es erst recht nicht kommen. Drittens haben die Machtverhältnisse in Spanien nach der napoleonischen Invasion von 1808 die Lage in den Kolonien zusätzlich verkompliziert. Denn der spanische König Fernando VII. hatte, um nicht auch noch die Kolonien an Napoleon zu verlieren, weitreichende Reformversprechen gemacht und die Kolonialbewohner geradezu aufgefordert, sich zu organisieren – selbstverständlich im Namen des Königs. So ist die erste Welle der Unabhängigkeit eher provisorisch und zwischen königsnahen und –fernen Konzepten zerstritten gewesen. Es hat gelegentlich etwas Komisches an sich, dass die großen 200-Jahr-Feiern in den verschiedenen lateinamerikanischen Staaten mit Bezug auf 1809 und 1810 begangen werden – als man sich eben noch gar nicht wirklich für unabhängig erklärt hatte, sondern „nur“ die ersten, wenn auch wichtigen Schritte in diese Richtung gegangen war. Es dürfte aus dieser Perspektive spannend werden, wie man 2016 in Argentinien, 2019 in Kolumbien oder 2021 in Mexiko dann die definitive Unabhängigkeit feiert, wenn man sie doch 2010 schon einmal abzelebriert hat. Denn erst als Fernando VII. die Macht in Spanien zurückgewann, die Reformmaßnahmen rückgängig machte und die Kolonien mit Ausnahme der La-Plata-Provinzen zurückeroberte, begannen die eigentlichen Unabhängigkeitskriege.
Rinke zeigt in übersichtlicher Kapitelfolge, wobei Haiti und Brasilien jeweils eigenständig abgehandelt werden, welche übergreifenden Gemeinsamkeiten zu erkennen sind. Sein Schwerpunkt liegt indes auf der Würdigung der jeweiligen regionalen Unterschiede und deren Interpretation. Dass die Vorgänge abseits der großen Zentren, etwa in Chile, in Zentralamerika oder in Paraguay, noch auf angemessene Weise einbezogen werden, passt zu dem Anspruch, ein auf lange Zeit gültiges Standardwerk zu schreiben – ein Anspruch, den Rinke zweifellos eingelöst hat.
Gleichwohl bleiben dabei drei Wünsche offen: Zum einen ist das Kartenmaterial so wenig detailgenau, wie man es aus anderen Werken kennt; zum anderen wird die materielle Grundlage, also die Quellensituation, zu wenig systematisch angesprochen. Vor allem aber wäre es wichtig, einmal gründlich die Forschungslage mit ihren Kontroversen darzustellen. Rinke präsentiert zwar im Einleitungskapitel knapp die großen Stationen der Interpretationen. Worüber man sich im Moment streitet, wird nur sporadisch sichtbar. Das umfangreiche Literaturverzeichnis ist allerdings bis 2009 geführt, und immer wieder lässt der Autor jüngste Positionen einfließen. Das könnte Stoff für einen weiteren Band dieser Art sein, den man sich in dieser – auch sprachlichen – Qualität nur erhoffen kann.

Stefan Rinke Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit // C.H.Beck // München 2010 // 29,90 Euro // 392 Seiten.

Ein kleines Land mit großen Visionen

Der ehemalige Blumenzüchter und Stadtguerillero ist Präsident. In Anwesenheit von sieben lateinamerikanischen Staatschefs, darunter Hugo Chávez, Cristina Fernández de Kirchner, Luiz Inácio Lula da Silva, Rafael Correa, Evo Morales und Fernando Lugo, sowie der US-Außenministerin Hillary Clinton legte der 74-jährige José „Pepe“ Mujica vor dem uruguayischen Parlament, in dem in beiden Kammern das Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio die Mehrheit stellt, den Amtseid für seine fünfjährige Präsidentschaft ab. Im Gegensatz zu Chile, wo die Mitte-Links-Regierung durch einen rechten Präsidenten abgelöst wurde, steht Uruguay insofern für linke Kontinuität. Dabei gibt es aber auch im 3,4 Millionen EinwohnerInnen zählenden Land am Rio de la Plata auf den ersten Blick verwunderliche Widersprüche. In internationalen Wirtschaftskreisen wird das Investitionsklima in Uruguay gelobt und der Luxusreiseanbieter Art of Travel preist Uruguay als Jetset-Destination. Auf der anderen Seite wird ein ehemaliger Tupamaro-Guerillero und unkonventioneller, sich selbst als Anarchist bezeichnender Autodidakt zum Staatspräsidenten gewählt. Jetset und Pepe Mujica sind (und bleiben es mit Sicherheit auch) ein unauflösbarer Widerspruch, aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich auch an. Dafür ist auch Guido Westerwelle ein Beispiel. Der liberale Bundesaußenminister, der sich im März 2010 für wenige Stunden auf Staatsbesuch in Montevideo aufhielt, zeigte sich beeindruckt vom ehemaligen Stadtguerillero, der in den 1960er Jahren Banken ausraubte, und will die bilateralen Beziehungen ausbauen. Ausländische Investoren haben vom neuen Staatspräsidenten jedenfalls nichts zu befürchten. Dafür sorgt auch Mujicas Vize Danilo Astori, der mächtige ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister unter der Regierung Tabaré Vázquez, der die ökonomischen Leitlinien des Landes bestimmt und durchgesetzt hat, dass die entsprechenden Schlüsselministerien mit seinen Getreuen besetzt wurden.
Der Präsident selbst will sich dagegen vor allem um die Außen-, die Innen- und die Sozialpolitik kümmern. Und in allen drei Bereichen hat er schon in seinen beiden Antrittsreden am 1. März klare Signale gesetzt. Einmal in seiner Rede vor beiden Kammern des Parlamentes, als er sichtlich bewegt von seiner Ehefrau Lucía Topolansky, der amtierenden Parlamentspräsidentin, ins Amt eingeführt wurde und danach bei der erstmals in der Geschichte des Landes unter freiem Himmel durchgeführten Übergabe der Präsidentenschärpe vor dem Denkmal für den Staatsgründer José Gervasio Artigas auf dem Unabhängigkeitsplatz im Herzen von Montevideo.
In Bezug auf die Außenpolitik ist für ihn die Stärkung des Mercosur, des gemeinsamen Marktes von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay (und demnächst auch Venezuela) eine Herzensangelegenheit, für die er kämpfen will „bis dass der Tod uns scheidet“. Zudem will er im „Bicentenario“-Jahr, in dem 200 Jahre Unabhängigkeit in Lateinamerika gefeiert wird, den Traum von der „Patria Grande“, der Einheit Lateinamerikas wieder beleben.
In der Innenpolitik skizzierte er für seine Amtszeit vier Schlüsselbereiche: Bildung, Energie und Infrastruktur, Umweltschutz und Innere Sicherheit. Bei diesen Themen will er auch die Opposition einbeziehen und schon vor dem 1. März wurden vier parlamentarische Kommissionen eingerichtet, in denen Mitglieder aller vier im Parlament vertretenen Parteien und Bündnisse im Konsens Leitlinien erarbeiten sollten. Etwas, das bis auf den Komplex Innere Sicherheit auch schon im Vorfeld der Amtsübergabe gelungen ist.
In der Sozialpolitik ist der „Plan Habitacional“, ein Projekt zur Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation für die armen Bevölkerungsteile das Kernprojekt seiner Politik. Mit der „Operación Solidaridad“, wie das Vorhaben auch genannt wird, will Mujica ebenso einen Schwerpunkt setzen, wie es sein Vorgänger Tabaré Vázquez mit dem „Plan Ceibal“ getan hat, durch den 390.000 SchülerInnen an öffentlichen Schulen mit einen Laptop versorgt wurden. Ein Projekt, das auch international große Beachtung fand und in das die erste linke Regierung in der Geschichte des Landes 130 Millionen US-Dollar investierte. Mit dem Vorhaben will Mujica sein Versprechen einlösen, die Armut zu bekämpfen und den Anteil der UruguayerInnen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, binnen fünf Jahren zu halbieren. Dabei will er neue Wege gehen und die Gesundheitsversorgung, die Bildungschancen und die Arbeitsbedingungen verbessern – vor allem aber eine neue solidarische Bewegung initiieren, um die soziale Kluft zu verringern. Alle Sektoren der Gesellschaft, Nichtregierungsorganisationen, StudentInnen, Gewerkschaften, Unternehmen, die Staatsbetriebe und das Militär sollen einbezogen werden. Für Lucía Topolansky, „Primera Dama“ im Staat und Senatorin für die Bewegung für die Beteiligung des Volkes (MPP), dem politischen Sektor Mujicas innerhalb des Linksbündnisses Frente Amplio, geht es dabei um viel mehr als um einen Plan für die Verbesserung der Wohnungsversorgung: „Es ist eine große Schlacht für die soziale Integration“. Vor allem an die Solidarität aller UruguayerInnen soll dabei appelliert werden und alle sollen ihren Beitrag leisten, unter anderem durch Freiwilligen-Arbeit und Spenden. Mujica selbst ist dabei schon mit gutem Beispiel vorangegangen. Über 80 Prozent seines Präsidentengehaltes will er auf das Konto einer Stiftung überweisen, die solidarische Projekte realisieren soll (mit den restlichen 20 Prozent unterstützt er bedürftige Verwandte). Durchgeführt wird das Programm vom Sozialministerium, an dessen Spitze mit der Kommunistin Ana Vignoli eine Sozialarbeiterin steht, die langjährige Arbeitserfahrungen in den Elendsvierteln gesammelt hat.
Ein weiteres Hauptanliegen Mujicas ist eine Staatsreform. Schon Tabaré Vázquez bezeichnete eine Reform des uruguayischen Staates als Mutter aller Reformen, grundlegend angegangen wurde der Umbau des sprichwörtlich bürokratischen Staatsapparates aber unter dem ehemaligen Präsidenten nicht. Bei diesem Thema hat Mujica jedoch schon in den ersten Tagen seiner Amtszeit Gegenwind verspüren müssen. Vor allem die Gewerkschaften der Staatsangestellten haben Widerstand gegen den geplanten Personalabbau angekündigt und hier wird die auch von seinen politischen Gegnern anerkannte Dialogfähigkeit Mujicas („Verhandeln, verhandeln, verhandeln! Wichtig ist, immer Brücken zu bauen und niemals Türen zuzuschlagen, sondern sie zu öffnen“, so sein Credo) vor ihre erste große Bewährungsprobe gestellt werden.
Auf Dialog setzt Mujica, der unter der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 als „Geisel des Staates“ fast zwölf Jahre eingekerkert war, auch beim Umgang mit den Streitkräften. Zusammen mit dem Verteidigungsminister Luis Rosadilla und dem Innenminister Eduardo Bonomi, beide als ehemalige Tupamaros ebenfalls viele Jahre unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert, will er die Militärs (die er für „unentbehrlich“ hält), besser entlohnen und sie stärker in gesellschaftliche Aufgaben im Land einbeziehen. Von Personalabbau wie bei den Staatsangestellten ist bei der Armee keine Rede. Dabei halten KritikerInnen des Militärs die Personalstärke von 30.000 Armeeangehörigen für ein Land mit 3,4 Millionen EinwohnerInnen für völlig überdimensioniert. Dieser versöhnliche Umgang mit seinen ehemaligen Folterern (nicht wenige Armeeangehörige, denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden, begleiten auch 25 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur noch hohe Posten) sowie seine Aussage, dass er „keine Alten im Gefängnis“ sehen will, hat ihm heftigen Widerspruch von Menschenrechtsorganisationen und der Vereinigung der Angehörigen der Ermordeten und der „Verschwundenen“ eingebracht.
Am 9. Mai 2010 wird in Uruguay wieder gewählt. In den 19 Provinzen des Landes stehen die Wahlen für die Lokalregierungen an. Erstmals werden dabei auch BezirksbürgermeisterInnen in den Städten des Landes gewählt. In Montevideo, das seit 1990 von der Frente Amplio regiert wird, gibt es dabei zwei Besonderheiten. Erstmals kandidiert für die Linke mit Ana Olivera eine Frau und ebenfalls erstmals mit der ehemaligen Vize-Sozialministerin ein Mitglied der Kommunistischen Partei als Oberbürgermeisterin. In der Hauptstadt des Landes, in der 1,5 Millionen Menschen leben und in den weiteren bevölkerungsreichsten Provinzen des Landes kann die Frente Amplio ihren Triumph von 2005, als sie in acht Provinzen gewinnen und somit über 75 Prozent der Bevölkerung regieren konnte, wiederholen. Gerade im Hinterland, das von den traditionellen Parteien immer vernachlässigt wurde, spielt der Mujica-Faktor die entscheidende Rolle. Die Lebenssituation der Menschen auf dem Land in Uruguay, das lange auch als „eine Stadt mit Bauernhöfen im Hinterland“ bezeichnet wurde, hat sich in den letzten fünf Jahren ökonomisch deutlich verbessert. Nicht zuletzt von der „Operación Solidaridad“ ihres Präsidenten „Pepe“, der ihre Sprache spricht und der sich bei der Arbeit auf seinem Feld erholt, versprechen sich die LandarbeiterInnen sowie die Kleinbauern und -bäuerinnen eine bessere Zukunft.

Solider Überblick

Wer die Gegenwart und die mögliche Zukunft gerade der neuen linken Bewegungen Lateinamerikas verstehen will, muss sich mit der Geschichte befassen. Gerade auch mit der Ökonomie. Da kommt die Kompakte Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas gerade recht. Autor Jörg Roesler befasst sich dabei mit der Entwicklung seit der Unabhängigkeit des Kontinents zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute und liefert einen gut gegliederten, soliden Überblick über mehr als 200 Jahre und zwei Dutzend Staaten. Trotz der damit verbundenen Faktenfülle verläuft sich Roesler nicht, sondern es gelingt ihm gerade auch durch eine leicht verständliche Sprache gut in das Thema einzuführen. Ärgerlich ist vor allem aufgrund des Charakters des Buches, dass eine Reihe der im Text nur kurz zitierten Quellen im Literaturverzeichnis nicht aufgelistet sind.
Inhaltlich werden Überblicksabschnitte durch Fallbeispiele vertieft, die die allgemeineren Aussagen klarer machen. Roesler setzt vor der Unabhängigkeit an und beschreibt mit knappen Worten die Wirtschaftspolitik der Conquista, die in gewisser Weise von der kreolischen Elite übernommen wurde. Rohstoffe exportieren, Fertigwaren bis hin zu originär lateinamerikanischen Produkten wie den Poncho importieren, war bis in die 1930er Jahre das Paradigma. Aber nicht überall. Gerade die gescheiterten Versuche von unabhängiger Entwicklung im 19. Jahrhundert, die Roesler beschreibt, lassen die Geschichte besser verstehen.
Der Fall Paraguay ist dabei paradigmatisch. Die politische Führung des Landes hatte sich nach der Unabhängigkeit die eigene Abgeschiedenheit zu Nutze gemacht und auf den Binnenmarkt gesetzt. Mit Erfolg: Die Einwohner litten keinen Hunger, konnten Lesen und Schreiben und die Finanzen des Landes waren in Ordnung. Das durfte aus Sicht der Briten nicht so bleiben. Eine Tripleallianz aus Brasilien, Argentinien und Uruguay – allesamt durch das Export-Import-System von der Weltmacht Großbritannien abhängig – setzten 1864 dem eigenständigen Wirken der Paraguayer ein Ende. In einem blutigen Krieg eröffneten sie mit Unterstützung durch britische Banken den Markt.
Roesler zeigt nicht nur am Fall Paraguay das Dilemma jeder eigenständigen kapitalistischen Entwicklung im Weltmarkt. Wer seinen Markt abschottet, wird dafür bestraft. Auch die importsubstituierende Industrialisierung ist im Kapitalismus nur in weiterer Abhängigkeit möglich, sie endete in der Schuldenkrise der 1980er Jahre. Wenn Jörg Roesler unterschwellig das Modell der endogenen kapitalistischen Entwicklung mit keynesianischen Zügen dem offenkundig stärker ausbeutendem Export-Import-System vorzieht, dann muss er dies mit bedenken. Leider tut er es nicht. Seine Darstellung bleibt zu sehr auf der Ebene des Nationalstaats beschränkt, die er zweifellos kenntnis- und faktenreich darzulegen vermag. Er klammert den Weltmarkt an entscheidenden Stellen leider aus. Doch gerade hier ist einer der notwendigen Ansatzpunkte für eine neue Politik, wie zahlreiche lateinamerikanische Bewegungen es zeigen.
Laut Roesler ist das Scheitern der bisherigen Modelle wohl auch der Grund für den heutigen Zustand, den der Autor als „verwirrende Verbindung von bislang systemisch getrennten Paradigmen“ bezeichnet: Aktive Sozialpolitik und (neo-)liberale Wirtschaftsführung. Als Zwischenschritt für eine tiefgreifende Transformation mag dies indes notwendig sein. Das macht Roeslers Überblick klar, diskutiert es aber nicht.

Jörg Roesler // Kompakte Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas vom 18. bis zum 21. Jahrhundert // Leipziger Universitätsverlag // 2009 // 242 Seiten // 19 Euro

Ein Gespenst geht um

Ganz Asunción schien in Weiß gehüllt zu sein. Es war jedoch kein Schnee, sondern eine Vielzahl von Schleifen, Plakaten und Aufklebern, die das Hauptstadtpanorama derart prägten. Geziert mit Schriftzügen wie „Wir alle sind Fidel“, „Kraft für Fidel“ oder „Für ein friedliches Paraguay“ sollten diese Solidarität mit dem Großgrundbeseitzer und Viehzüchter Fidel Zavala demonstrieren. Dieser erlangte dann Mitte Januar seine Freiheit wieder, nachdem er 94 Tage zuvor von einer Guerilla, die sich Streitkräfte des Paraguayischen Volkes (EPP) nennt, entführt worden war. Lösegeld in Höhe von einer halben Million US-Dollar sowie die Übergabe 30 geschlachteter Rinder an arme Gemeinden ließen seine EntführerInnen schließlich einlenken.
Es war nicht das erste Mal, dass die EPP in Erscheinung trat. Doch das meiste, was über sie bekannt ist, bleibt Spekulation, die meisten ihrer aktiven Mitglieder in Freiheit ohne Gesicht. Ihre Zahl wird auf 15 bis 60 geschätzt. Der Kreis der SympathisantInnen und UnterstützerInnen sei um einiges größer. Ziel ist die Umgestaltung der Gesellschaft, da diese laut EPP auf der extremen Armut der Massen aufbaue.
Die Wurzeln der Gruppe liegen in der linksradikalen Partei Patria Libre. In den 1990er Jahren beteiligte sich die Partei auf legale Weise am politischen Geschehen und wurde geleitet von den Führungsfiguren Juan Arrom und Anuncio Martí. Als der erhoffte Erfolg ausblieb, wechselten sie 2001 die Strategie: Teile der Partei waren in die Entführung von María Bordón de Debernardi verwickelt, der Schwiegertochter des ehemaligen Direktors des Wasserkraftwerks Itaipú, Enzo Debernardi. Die Entführte wurde nach Zahlung von zwei Millionen US-Dollar Lösegeld freigelassen.
Die Staatsgewalt wusste sich damals nicht anders zu helfen, als ihrerseits Arrom und Martí zu entführen und in einer leerstehenden Wohnung in den Außenbezirken von Asunción zu foltern. Dunkle Erinnerungen an die Militärdiktaturen werden hier wach. Beide kamen schließlich auf Druck von Angehörigen und der Presse frei, und flüchteten kurz darauf nach Brasilien.
Doch die Entführungen gingen weiter. Im September 2004 traf es Cecilia Cubas, die Tochter des ehemaligen Präsidenten Raúl Cubas. Verhandlungen blieben erfolglos, und fünf Monate später wurde die tote Cubas nackt und gefesselt in einem Erdloch aufgefunden. Angehörige von Patria Libre bestreiten bis heute ihre Beteiligung an der Tat. Osmar Martínez wurde als Drahtzieher zu 35 Jahren Haft verurteilt, doch er bezeichnet die gegen ihn vorliegenden Beweise als fingiert. Ein angeblich aufgefundenes Instruktionsvideo sowie diverse Emails sollen außerdem die Verwicklung der kolumbianischen FARC beweisen. Doch die ehemalige Guerillera Carmen Villalba widerspricht dem. Nach der Debernardi-Entführung wurde sie verhaftet und zu 18 Jahren hinter Gittern verurteilt und stellt seitdem aus dem Gefängnis heraus eine Art Stimme der bewaffneten Gruppe dar. Sie behauptet, die Verbindung zur FARC sei erfunden worden, um Gelder aus Kolumbien und den USA zur Terrorismusbekämpfung einzuwerben.
In den folgenden Jahren wurde es ruhiger um die Gruppe. Im März 2008 trat sie dann unter ihrem heutigen Namen EPP erneut in Erscheinung. Damals zerstörten die gueriller@s mehrere Produktions‑
anlagen einer Sojaplantage, gegen deren Besitzer zuvor Vorwürfe wegen Pestizideinsatzes erhoben worden waren. Einen Monat später folgte ein Überfall auf eine Polizeistation in Hugua Ñandu, bei dem Waffen erbeutet wurden. Im Juli wurde der Großgrundbesitzer Luis Lindstroem entführt, der nach einer Zahlung von 350.000 US-Dollar freigelassen wurde. Ende 2008 attackierte die Gruppe einen Militärposten in Tacuatí und ließ diesen in Flammen aufgehen. Auf massiven Druck der Medien hin wurde von staatlicher Seite der „Plan Jerovia“ (Guaraní für „Glaube“) ins Leben gerufen. Eine Hundertschaft von Polizisten und Spezial‑
einheiten durchpflügte den Norden des Landes. Während es dabei zu Misshandlungen von campesin@s kam, konnten die Sicherheitskräfte keine Spuren der Guerilla finden. Zuletzt war im März 2009 von der EPP zu hören, als ihr ein glimpflich abgelaufener Bombenanschlag auf den Justizpalast von Asunción zugeschrieben wurde.
Das operative Zentrum der Gruppe soll sich im Norden des Landes befinden. In dieser Region im Dreieck der Departamentos San Pedro, Concepción und Amambay ist die ungleiche Landverteilung besonders ausgeprägt, es gibt viele GroßgrundbesitzerInnen, die Wälder abholzen, sich der extensiven Viehzucht und dem Anbau von gentechnisch manipulierten Soja widmen. Präsident Fernando Lugo machte sich vor seinem Wahlsieg in diesem Gebiet als Armenbischof einen Namen. Die Armut der Masse der Kleinbäuerinnen und -bauern stellt einen reichen Nährboden für politische Gruppierungen dar, die Besserung versprechen. Ihre sozialrevolutionäre Rhetorik verschafft der EPP natürlich auch Sympathie von Seiten der Kleinbäuerinnen und -bauern. Manche sprechen gar von einer Symbiose à la Robin Hood. Nach dieser Interpretation steckt die EPP das von ihr erbeutete Geld in Hilfsprojekte und finanziert soziale Proteste. Zu dieser Darstellung der Guerilla passt die Forderung der EPP, die Familie Zavalas solle 30 geschlachtete Rinder an indigene Gemeinden und Armensiedlungen abgeben. Dass es aber erst einer Guerilla für solch ein soziales Engagement bedürfe, spricht Bände über die schwache Zivilgesellschaft des Landes.
Die staatliche Seite spricht der Gruppe dennoch jegliche politische Intention ab. Keine Guerilla, sondern eine verbrecherische Bande treibe ihr Unwesen in einem Land, in dem Entführungen gut betuchter Personen so unüblich ja auch nicht sind. So wird behauptet, die EPP sei in Wirklichkeit eine Drogenmafia, die für ihre kriminellen Machenschaften nur ein politisches Käppchen aufgesetzt habe. Eigentlich legitime soziale Forderungen lassen sich so natürlich leicht kriminalisieren.
Präsident Fernando Lugo bleibt bei all dieser Spekulation auch nicht verschont. Rechte Kreise in Paraguay werfen ihm wegen seiner vermeintlich klassenkämpferischen Rhetorik die Anstachelung sozialer Verwerfungen und eine Mitschuld an der Gewalt vor. Andere sehen seine angebliche Tatenlosigkeit als Beweis für eine Sympathie mit der Guerilla oder meinen gar persönliche Kontakte zwischen ihm und der Gruppe ausmachen zu können, da einige der Beteiligten ehemalige Schüler seines Priesterseminars sein sollen. Arrom, der charismatische, ehemalige Chef von Patria Libre, den viele trotz seines Exils in Brasilien in Verbindung mit den Entführungen sehen, wird ebenfalls eine sehr enge Beziehung zum Präsident nachgesagt. Angeblich soll er auf einer Feier einer der Frauen gesehen worden sein, die den ehemaligen Bischof Lugo als Vater ihres Kindes proklamieren. Der Sinn einer solchen Verbindung dürfte sich allerdings ausschließlich MitarbeiterInnen der Regenbogenpresse erschließen.
Die einzigen Zusammenhänge, die sich zwischen Lugo und der Guerilla ausmachen lassen, liegen in den Stellungnahmen der EPP. Dort wird die sehr unbefriedigend verlaufende Agrarreform als einer der Gründe für die Aktionen genannt. Der Präsident seinerseits distanziert sich von jeglichem gewaltsamen Extremismus.
Die Linke nimmt Lugo dagegen die von dem ihm treuen Innenminister Rafael Fillizola eingeleitete „Operativo Triangulo“ übel, die ähnlich dem „Plan Jerovia“ erneut mehrere hundert Spezialkräfte in den Norden verlagert. Bei vielen weckt dies schlimme Erinnerungen an vergangene Tage. Erst nach der Zahlung des Lösegeldes im Fall Zavalas kam es zur Verhaftung einer Reihe vermeintlicher gueriller@s, welche die EPP logistisch unterstützt haben sollen. Es traf unter anderem die Tochter eines bekannten Funktionärs der Bauernorganisation OCN, die in Kuba studiert hatte.
Mag die Erfolglosigkeit bei der Suche nach den zentralen Aktiven der EPP vielleicht daran liegen, dass die EPP letztlich gar nicht existiert? Ist sie gar eine Fantasiegeburt der Presse und konservativer Kräfte, um Lugo in Verlegenheit zu bringen? Allzu dünn seien die Beweise, die auf die Existenz der Guerilla hinweisen, glauben die VertreterInnen dieser Theorie. Auch wenn diese Version sich einigen Zuspruchs erfreut, scheint sie angesichts des betriebenen Aufwands doch sehr abwegig.
Auf jeden Fall nutzt die Rechte dieses Durcheinander nur allzu gerne aus, um das schon seit einiger Zeit in der Luft schwebende Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo voranzutreiben. Neben dem Wirken der Guerilla – die jedoch schon lange vor Lugo aktiv war – werfen sie Lugo den Bruch zentraler Wahlversprechen vor. Dabei wird unterschlagen, dass Reformen nun einmal Zeit brauchen und Lugo mit der Neuaushandlung des Vertrages mit Brasilien über den Itaipú-Staudamm, sowie den Maßnahmen im Gesundheitsbereich wichtige Schritte gelungen sind. Sein „Programa Abrazo“ brachte außerdem bis heute über tausend Straßenkinder in sozialen Heimen unter.
Trotz der gezielt verzerrten Berichterstattung der mit den UnternehmerInnen des Landes verflochtenen Massenmedien fehlen für das Amtsenthebungsverfahren bisher noch die notwendigen Stimmen. Teile der Liberalen Partei PRLA, die Lugo ursprünglich unterstützte, fahren daher weiterhin schwere Angriffe gegen ihn. Vizepräsident Federico Franco, der als Teil der Exekutive den Präsidenten zwar kontrollieren, aber eigentlich unterstützen sollte, spinnt fleißig Intrigen und sieht sich wohl bereits als Lugos Erbe. Damit will die Colorado-Partei, die wegen Lugo ihre 68 Jahre dauernde Alleinherrschaft beenden musste, nicht leben. Doch mit der Ankündigung ihres Angeordneten Luis Alberto Castiglioni, mit seiner Gefolgschaft künftig das Amtsenthebungsverfahren zu unterstützen, könnte Francos Wunsch bald in Erfüllung gehen.
Offen ist, wie sich das Militär verhalten wird. Die Streitkräfte halten sich zwar seit den verheerenden Ereignissen um ihren damaligen Oberbefehlshaber Lino Oviedo, der 1996 und 1999 beinahe putschte, mit ihrer Einflussnahme auf die Politik zurück. Aber Spannungen zwischen Lugo und den Streitkräften sind offensichtlich. Und seit seinem Amtsantritt besetzte Lugo bereits mehrfach führende Generalsposten in den Streikräften neu.
Gerade die jüngsten Ereignisse in Honduras haben auch gezeigt, wie verfassungswidrige militärische Einflussnahme innerhalb kurzer Zeit per Wahlen nachträglich legitimiert werden kann. Diese Erfahrung könnte die Militärs zusätzlich anstacheln. Mit oder ohne Guerilla, dem Präsidenten stehen schwere Zeiten bevor.

Mehr Lateinamerika im Programm der 60. Berlinale

2009 gewann mit La teta asustada nicht nur ein peruanischer, sondern auch ein thematisch und filmisch sehr ungewöhnlich-experimenteller Film den Goldenen Bären der Berlinale. Dieses Jahr ist die Filmauswahl nicht so gewagt. Sie konzentriert sich auf die drei großen Filmländer Lateinamerikas: Argentinien, Brasilien und Mexiko. Nur zwei kolumbianische Produktionen stechen heraus.
Im Wettbewerb der 60. Berlinale ist der Subkontinent sogar nur mit einer Produktion vertreten. Der argentinische Film Rompecabezas („Puzzle“) von Natalia Smirnoff erzählt die Geschichte von María del Carmen, einer 50-jährigen Hausfrau aus einem Mittelschichtsvorort von Buenos Aires. María hat eine besondere Gabe: sie ist Meisterin im Puzzlen. Sie lernt den 60-jährigen Roberto kennen, der bei der Puzzle-Weltmeisterschaft in Deutschland teilnehmen will. Gemeinsam ergeben sie ein unschlagbares Duo.
Im Gegensatz zum Wettbewerb scheinen die anderen Festival-Sektionen, allen voran die Sektion Generation das „Coming-of-Age“-Potenzial Lateinamerikas entdeckt zu haben. Generation 14plus zeigt neben den in dieser Ausgabe besprochenen Filmen Te extraño, eine mexikanisch-argentinische Co-Produktion des Regisseurs Fabián Hofmann. Hierin geht es um Javi, dessen älterer Bruder Adrián im Argentinien der 1970er Jahre bei einer Untergrundbewegung aktiv ist. Als Adrián plötzlich verschwindet, wird Javi von seinen Eltern nach Mexiko ins Exil geschickt. In der gleichen Sektion läuft Os Famosos e os Duendes da Morte („The Famous and the Dead“). Der brasilianisch-französische Film von Esmir Filho erzählt die Geschichte von einem Jungen ohne Namen, der sich mehr in einer virtuellen und Drogen umnebelten Welt als in „der Realität“ bewegt.
Im Forum gibt es die spanische Produktion Fin („End“) vom argentinischen Regisseur Luis Sampieri zu sehen. Darin wird die Geschichte von Iker Ana und Ramia erzählt, die sich über das Internet kennen gelernt haben und deren erstes Treffen auch ihr letztes sein soll. Außerdem wird in einem Special Screening Glauber Rochas Klassiker Antonio das Mortes (O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro) gezeigt.
Im Hauptprogramm des Panorama läuft Fucking Different São Paulo von Rodrigo Diaz Diaz. Daneben gibt es eine weitere argentinische Produktion: In Por tu culpa von Anahí Berneri geht es um die junge Mutter Julieta, die von der Aufgabe überfordert ist, den Alltag ihrer Familie zu meistern. Als ihr Sohn Teo sich verletzt und ins Krankenhaus kommt, glaubt der Arzt einen Fall von familiärer Gewalt zu erkennen.
Einer der Themenschwerpunkt im diesjährigen Panorama Special ist die Vergangenheit im Spiegel der Gegenwart. Hier ist Bróder von Jeferson De zu sehen, der die Geschichte dreier Freunde in einer brasilianischen Favela erzählt. Panoroma Dokumente zeigt die spanische Produktion Cuchillo de Palo von Renate Costa, der die Schwulenverfolgung während der Diktatur in Paraguay thematisiert.
Last but not least zeigt die Sektion Kulinarisches Kino den Dokumentarfilm Bananas!*. Der schwedische Film zeigt die Machenschaften des Bananen-Multis Dole und dessen Behandlung der Bananen-ArbeiterInnen in Nicaragua auf

Lugo scheut den Landkonflikt

Ort mit vielen kleinen Steinen – das bedeutet Itakyry übersetzt aus dem Guarani. Welch große Steine nach wie vor auf einem Weg des Wandels zu mehr Gerechtigkeit in Paraguay liegen, macht der Fall einer versuchten illegalen Räumung auf dem Land der indigenen Gruppe der Avá Guarani deutlich, die in dem ostparaguayischen Regierungsbezirk im Departamento Alto Parana angesiedelt ist. Brasilianischstämmige Sojabauern und -bäuerinnen reklamierten in Itakyry Landrechte und hatten eine richterliche Räumungsverfügung gegen die Avá Guarani eingeholt. Es ging um circa 2.500 Hektar Land, auf dem rund 150 indigene Familien verteilt über fünf Gemeinden seit Jahren wohnten und wirtschafteten. Unterstützung erhielten die GroßgrundbesitzerInnen in ihrem Bestreben von der Kommission für Menschenrechte des paraguayischen Senates, der oberen Kammer des Kongresses. Deren Vorsitzende, Ana María Mendoza de Acha von der rechtskonservativen Partei Patria Querida, in deren Reihen sich viele GroßgrundbesitzerInnen finden, forderte Tage zuvor in einem Treffen, dass die Räumung umgesetzt wird.
Es sollte jedoch anders kommen. Denn eine neue richterliche Anordnung stoppte die geplante Räumung. Dies hinderte die Sojabauern aber nicht an einem martialischen Aufmarsch mit Fahrzeugen und Maschinen, um die Räumung gegebenfalls selbst durchzuführen. Die versammelten Indigenen waren allerdings in der Überzahl, stellten sich den Sojabauern entgegen und wehrten sich mit ihren Mitteln – Pfeil und Bogen. Die Sojabauern zogen fürs erste ab. Stunden später tauchte dann ein Kleinflugzeug am Himmel auf, überflog die Dörfer und versammelten Indigenen mehrfach und versprühte eine Flüssigkeit. „Sie badeten uns in Pestiziden“, waren die Worte, mit denen ein Kazike der Avá Guarani den Vorgang beschrieb.
Was genau vom Flugzeug versprüht wurde, darüber wird auch einen Monat später noch immer gestritten. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich um ein toxisches Herbizid handelte, dessen Anwendung integrierter Bestandteil des genetisch manipulierten Sojaanbau ist. Die unmittelbare Folge war, dass rund 200 Indigene über Übelkeit, Erbrechen und Hautreizungen klagten. Mehrere von ihnen mussten in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Paraguays Gesundheitsministerin Esperanza Martínez sprach einen Tag später davon, dass das Flugzeug sehr niedrig geflogen sei und die Indigenen definitiv besprüht hätte. Mittlerweile hat auch das Umweltministerium bestätigt, dass es Vergiftungssymptome gab. Dennoch sieht sich die Gesundheitsministerin der Anzeige eines Sojabauern ausgesetzt, da sie behauptet hatte, es hätte sich um Pestizide gehandelt, wie sie im Sojaanbau eingesetzt würden. Für Nidia Silvero, die Anwältin der Sojabauern und -bäuerinnen sah dies alles ganz anders aus. Die Sojabauern seien nur vor Ort gewesen, um friedlich zu protestieren und das Flugzeug hätte diesen Protest lediglich begleitend aus der Luft überwacht.
Das nationale Indigeneninstitut Paraguays (INDI) erstattete noch Mitte November Anzeige wegen des Vorfalls. In der Hauptstadt Asunción kam es zu Protesten von Indigenen und Bauern- und Bäuerinnenorganisationen. Neben den juristischen Auseinandersetzungen soll nun eine übergreifende Untersuchungskommission den Vorfall weiter aufklären. Unterdessen hatten die Avá Guarani sogar Probleme an Medikamente zu kommen, um die Symptome zu lindern.
Zu den Auswirkungen der Agrochemikalien kündigte Gesundheitsministerin Martínez vor einem Jahr noch optimistisch Gesetzesänderungen mit den Worten an, dass es „eine ethische Verpflichtung sei, sich mit diesem Problem zu befassen.” Mittlerweile aber mag die Ernüchterung bei ihr groß sein. Das Gesetz aus dem Gesundheitsministerium von April dieses Jahres, das den Einsatz von Pestiziden regulieren und kontrollieren sowie Menschen und Umwelt besser schützen sollte, wurde von Präsident Fernando Lugo im Juli kassiert. Er meinte, nur so ließen sich „Konflikte mit den großen Produzenten im Agrarsektor vermeiden“. Statt strenger Regelungen zu Agrochemikalien wurde vom paraguayischen Senat Ende Oktober nur ein laxes Gesetz über die Regulierung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln verabschiedet. Der Entwurf kam aus der Feder von PolitikerInnen, die den GroßproduzentInnen im Agrarsektor nahe stehen. Für die VertreterInnen von Verbänden der GroßproduzentInnen war dies Grund zum Feiern. Man könne sich jetzt „in aller Ruhe der kommenden Sojaproduktionsperiode widmen“, so Gustav Sawatzky von der Federación de Cooperativas de Producción (Fecoprod). Für die Kleinbauern, national organisiert im Mesa Coordinadora Nacional de Organizaciones Campesinas (MCNOC) war es einfach nur eine inkohärente und nicht nachvollziehbare Entscheidung.
Die Soja-Lobby ist stark in Paraguay. Auf circa 2,6 Millionen Hektar Land wird die Hülsenfrucht angebaut. Zusammen mit Fleisch aus der Viehproduktion macht Soja 90 Prozent der paraguayischen Exporterlöse aus. Kleinbauern- und bäuerinnen und indigene Gemeinschaften leiden unter den im Sojaanbau eingesetzten Agrochemikalien, zumal ihre Siedlungen oft nur Inseln in einem Sojameer sind. Konflikte um Land entstehen indem Titel für dieselbe Fläche mehrfach vorliegen. So berufen sich die Sojabauern und -bäuerinnen oft noch auf Besitztitel, die in der Zeit unter Diktator Alfredo Stroessner unter fragwürdigen Umständen vergeben wurden. Der Staat will dann die Rechte indigener Gruppen, selbst wenn er wie im vorliegenden Falle durch das INDI in den 1990ern Landtitel erwarb, nicht garantieren – obwohl er dies laut Verfassung und internationalen Abkommen tun sollte. Grund und Boden können offenbar wie im Falle Itakyry vom Staat nicht wirklich geschützt werden. Selbst Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte werden ignoriert. So verfügte dieser zwar in zwei Urteilen aus den Jahren 2005 und 2006, dass Paraguay den zum indigenen Volk der Enxet gehörenden Gemeinschaften der Yakye Axa und Sawhoyamaxa ihr angestammtes Land zurückgeben müsse. Einen Gesetzentwurf, der dazu dienen sollte, der indigenen Gemeinschaft der Yakye Axa zu ihrem Recht zu verhelfen, wurde von der Senatskommission für Menschenrechte aber blockiert.
Diese Praxis ist ernüchternd und hat natürlich auch mit fehlenden Mehrheiten von Präsident Fernando Lugo in beiden Kammern des Kongresses, vor allem im Senat, zu tun. Reichlich anmaßend wirkt es in diesem Zusammenhang, wenn Lugo, wie Ende November – und damit nach den Ereignissen von Itakyry – geschehen – auf dem lateinamerikaweiten Indigenenkongress TEKOHÁRE davon sprach, die Problematik der indigenen Völker sei für seine Regierung prioritär, auch wenn sich „vielleicht nicht alle Träume zugunsten der indigenen Völker“ realisieren lassen könnten.
Die Beschäftigung mit den Indigenen beschränkte sich im Jahr 2009 vor allem auf die Neustrukturierung der staatlichen Indigenenorganisation INDI. Jedes Ministerium soll nun unter anderem eine Abteilung erhalten, die sich der Indigenenproblematik widmet. Doch auch an der Basis rührt sich etwas. Anfang November beschlossen VertreterInnen von sieben indigenen Gruppen einen interethnischen Rat zu gründen, aus dem später eine – bisher fehlende – nationale indigene Organisation wachsen soll, die sich unter anderem mit Politikvorschlägen zu Themen wie indigene Autonomie zu Wort melden will.
Eine integrierte Agrarreform umzusetzen war das zentrale Wahlversprechen von Lugo in seiner Wahlkampagne. Daran wurde er auch recht bald nach Amtsantritt im August 2008 von Seiten der zahlreichen landlosen Campesin@s erinnert. Doch klar ist mittlerweile: In einer Amtszeit wird das nicht zu schaffen sein. Lugo selbst bezeichnet aktuell eine Agrarreform als „delikates Thema“, denn sie berühre die Eigentumsstrukturen über Grund und Boden. Die Perspektive sei das Jahr 2023. Das liegt weit jenseits von Lugos Amtszeit, die 2013 endet. Eine direkte Wiederwahl ist laut Verfassung nicht möglich.
Wie notwendig eine Agrarreform ist, verdeutlichte noch einmal der jüngste Agrarzensus aus dem Jahr 2008. Es ist der erste seit 1991 und wurde noch unter Lugos Vorgänger Nicanor Duarte Frutos angestoßen. Zum Besseren hatte sich in den 17 Jahren nichts gewendet. Kleinbauern mit Eigentum zwischen fünf und 50 Hektar verloren insgesamt noch einmal über 360.000 Hektar an Landfläche, während bei Eigentum oberhalb 100 Hektar insgesamt 9 Millionen Hektar dazukamen. Damit sind jetzt 85,5 Prozent der Landflächen in den Händen von lediglich zwei Prozent der EigentümerInnen. Die Tendenz zur Konzentration von Land besteht damit fort und das Modell heißt nach wie vor: Land ist in wenigen Händen, Land für Viehhaltung dominiert Land für die Pflanzenproduktion und bei den Pflanzen übertrifft Soja die Flächen für Grundnahrungsmittel. Dem muss mit einer Agrarreform entgegengearbeitet werden.
Es soll und muss, so die Planungen, bei der integrierten Agrarreform jedoch um mehr gehen, als um die „bloße” Umverteilung von Landflächen für die bis zu 300.000 landlosen Kleinbauern. Alberto Alderete, Präsident des dem Agrarministerium zugeordneten Nationalen Institut für Ländliche Entwicklung und Land (INDERT), das am Kopf der Zuständigkeiten für die Umsetzung einer Agrarreform steht, sagt es geht auch um die Errichtung von Infrastruktur, Schulen und Gesundheitszentren, damit also um den Wiederaufbau ländlicher Gemeinschaften.
Dass dies angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse und Interessenskonstellationen in Paraguay keine einfache Aufgabe ist, scheint klar. Widerstand ist unter anderem vom Kongress zu erwarten, wo das Projekt einer Agrarreform der Regierung im November dieses Jahres eingereicht wurde. Denn im Kongress selbst sitzen zahlreiche GroßgrundbesitzerInnen oder auch Personen, die deren Interessen vertreten. Zudem hat das Parlament bereits erste Zeichen in Richtung seiner Prioritäten gesetzt und zwar mit massiven Mittelkürzungen für das Jahr 2010 im Sozialbudget für Institutionen wie die Soziale Aktion oder das Agrarreformministerium.

// Totgesagte leben länger

Sie gilt nach wie vor als die Initialzündung für die globalisierungskritische Bewegung: Die „battle of Seattle“, die Schlacht am Tagungsort der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) am 30. November 1999. Seit den Zeiten des Vietnamkrieges hatten die USA keine machtvollere Demonstration mehr erlebt – die Verhandlungen wurden ergebnislos abgebrochen. Exakt zehn Jahre danach beginnen mitten in Genf die Verhandlungen der 7. Ministerkonferenz der WTO. Vorbei scheinen aufs erste die Zeiten, an denen sich die Mächtigen auf Inseln und an abgelegene Orte in den Bergen zurückzogen, um ihre Gipfel abzuhalten – sei es WTO-Konferenz, Internationaler Währungsfonds und Weltbank-Tagungen oder die G8- und NATO-Gipfel. Je größer, je bunter, je bekannter die Proteste gegen die Treffen, desto mehr zogen sich die Regierungschefs in besser polizeilich und militärisch abschottbare Gegenden zurück.

Dass nun zehn Jahre nach Seattle die Verhandlungen wieder mitten in Genf stattfinden, ist so durchaus eine Überraschung. Oder auch keine. Denn große Proteste scheinen die Verantwortlichen der WTO nicht fürchten zu müssen. Die radikale Linke in Europa weiß zum großen Teil nicht einmal, dass das Treffen in Genf stattfindet. Sie ist, wenn überhaupt, beschäftigt mit der Mobilisierung zum Klimagipfel nach Kopenhagen, der wenige Tage darauf beginnt. „Die globalisierungskritische Bewegung ist tot!“, hieß es schon im Sommer, als gegen den G8-Gipfel im italienischen L‘ Aquila gerade eine Handvoll AktivistInnen demonstrierte. Sie sei an ihrem eigenen Erfolg zugrunde gegangen: Jetzt, wo in der Krise selbst die konservativen Regierungen von Regulierung sprechen, sich hüten, weiter auf die unglaubliche Produktivität eines möglichst freien Marktes zu verweisen. Wo aus den G8 zumindest die G20 geworden sind, die wichtigsten Schwellenländer wie Brasilien und China auf Augenhöhe mitreden dürfen beim Treffen der Mächtigen.

Dass die globalisierungskritische Bewegung an ihrem Erfolg zugrunde gegangen sei, ist jedoch doppelt falsch: Substanzielle Erfolge sind nicht erkennbar. Zwar trifft es zu, dass die WTO in der Krise steckt, seit die Verhandlungen der WTO im mexikanischen Cancún 2003 und in Hongkong 2005 abermals scheiterten. Doch der fortschreitenden Liberalisierung und Deregulierung hat das keinen Einhalt geboten: Seit die multilateralen Verhandlungen stocken, wird die Handelsliberalisierung bilateral vorangetrieben – gerade verhandelt die EU mit den MERCOSUR-Staaten oder Kolumbien Freihandelsverträge, deren Inhalte in vielen Punkten weit über das hinaus gehen, was einst bei der WTO für Proteste sorgte.

Das Statement, die globalisierungskritische Bewegung sei tot, ist auch deshalb falsch, weil es eine rein nördliche Perspektive vertritt. Die Bewegung, der Widerstand gegen die verschärfte Ausbeutung von Menschen und Ressourcen unter neoliberalen Prämissen hat nicht in Seattle begonnen. Sie war im globalen Süden längst präsent, bevor sie die Metropolen Europas und der USA erreichte. Und anders als dort, ist sie in vielen Ländern des Südens keineswegs tot oder in der Krise. Nach wie vor kämpfen in Lateinamerika zahlreiche Bewegungen gegen umweltzerstörerische Großprojekte – sei es der Ausbau von Autobahnen und Staudämmen in Südmexiko und Zentralamerika, den Anden, Amazonien – gegen Ausbeutung und neo-koloniale Strukturen, gegen die falsche Freiheit des Freihandels, für ihre eigene, oft indigene, Identität. Anders als im Norden waren die Gipfelproteste für die AktivistInnen aus dem Süden keine Auszeit vom Alltag als vielmehr direkt mit ihren alltäglichen Sorgen und Nöten verknüpft. Auch wenn die meisten derer, die in Mexiko, Kolumbien, Peru oder Paraguay für Land, gegen Gentechnik oder für indigene Rechte kämpfen, nicht die Möglichkeiten haben, in Genf oder Kopenhagen zu protestieren: Die globalisierungskritische Bewegung, in ihrer ureigensten Form, lebt weiter. Und sie ist in der Wirtschaftskrise so nötig wie nie zuvor.

Chronik eines Putsches

24. März – Der honduranische Präsident Manuel Zelaya setzt für den 28. Juni eine unverbindliche Volksbefragung an. Die Bevölkerung soll gefragt werden, ob sie für die allgemeinen Wahlen am 29. November ein – dann verbindliches – Referendum über eine Verfassunggebende Versammlung wünscht. Die Staatsanwaltschaft sieht in diesem Akt Zelayas eine verfassungswidrige Handlung.
24. Juni – Der honduranische Kongress verabschiedet ein Gesetz, das vorsieht, Volksbefragungen ausschließlich bis zu 180 Tage vor Präsidentschaftswahlen zu erlauben.
28. Juni – Militärs nehmen Zelaya fest und fliegen ihn nach Costa Rica aus, Roberto Micheletti über nimmt die De-facto-Präsidentschaft.
2. Juli – Die Länder der Europäischen Union ziehen ihre BotschafterInnen aus Tegucigalpa ab. Die Putschregierung ruft den Ausnahmezustand aus.
5. Juli – Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) suspendiert die Mitgliedschaft Honduras‘. Zelaya versucht, auf dem Flughafen in Tegucigalpa zu landen. Die Putschregierung erteilt keine Landeerlaubnis, Militärs besetzen die Landebahn.
7. Juli – Barack Obama erklärt seine Unterstützung für die Rückkehr des Präsidenten. Zelaya trifft sich in Washington mit Hillary Clinton.
10. Juli – Der Präsident von Costa Rica, Oscar Arias beginnt zu vermitteln. Nach drei Verhandlungsrunden scheitern die Bemühungen.
15. Juli – Zelaya ruft die honduranische Bevölkerung zum Widerstand gegen die Putschregierung auf.
20. Juli – Die EU suspendiert Finanzhilfen an Honduras in Höhe von 90 Millionen US Dollar.
24. Juli – Zelaya überschreitet die Grenze zwischen Nicaragua und Honduras, und zieht sich wieder zurück.
25. Juli – Auf einem Gipfeltreffen in Paraguay machen sich die Mitgliedsstaaten des Mercosur für die Wiedereinsetzung Zelayas stark.
28. Juli – Die USA suspendieren Visa von vier Mitgliedern der Putschregierung.
5. August – Militärs stürmen die Nationale Autonome Universität von Honduras (UNAH) und liefern sich Gefechte mit protestierenden StudentInnen.
12. August – Zelaya trifft Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien; die Putschregierung verhängt eine Ausgangssperre in Tegucigalpa.
22. August – Ein Bericht der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte bestätigt den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt, Verhaftungen und Einschränkung der Meinungsfreiheit durch die Putschregierung.
24. August – Der oberste Gerichtshof Honduras‘ spricht sich gegen die von Oscar Arias vorgeschlagene Wiedereinsetzung Zelayas aus.
25. August – Eine Delegation der OAS um Generalsekretär José Miguel Insulza kommt nach Honduras, um die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Die Delegation reist einen Tag später unverrichteter Dinge wieder ab.
31. August – In Honduras beginnt der Wahlkampf für die Wahlen am 29. November.
4. September – Nach seinem fünften Besuch in Washington erreicht Zelaya Sanktionen der USA gegen die Putschregierung.
8. September – Der IWF sperrt 163 Millionen US-Dollar, die für Honduras bestimmt waren.
12. September – Roberto Micheletti gibt an, dass die USA sein Visum suspendiert haben.
21. September – Der legitime Präsident Manuel Zelaya taucht überraschend in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa auf. In den nächsten Tagen setzt die Putscharmee Schallkanonen und Tränengas gegen die Botschaft ein.
26. September – Micheletti erlässt ein Dekret zur Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte. Das Dekret soll bis zu den Wahlen in Kraft bleiben.
4. Oktober – Roberto Micheletti gibt Fehler bei der Verhaftung von Zelaya durch Militärs zu.
05. Oktober – Aufgrund vielfältigen Drucks muss Micheletti das Dekret zur Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte wieder aufheben.
07. Oktober – Eine Delegation der OAS kommt nach Honduras, um erneut zu vermitteln.
08. Oktober – Die OAS Delegation reist ohne Ergebnisse wieder ab; Putschisten behaupten, Deutsche Hilfswerke (Brot für die Welt, Diakonie Katastrophenhilfe) finanzierten Proteste.

// Zusammengestellt von Marius Zynga

Weitere Infos: http://voselsoberano.com/v1/

Waffen in der Friedenszone

Die südamerikanische Staatengemeinschaft UNASUR, die letztes Jahr gegründet wurde, sieht ihren Kontinent als eine „Friedenszone“; durch diese Organisation sollen zwischenstaatliche Konflikte friedlich gelöst werden, Kriege soll es so auf dem Subkontinent nie mehr geben. Doch nach Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitut SIPRI haben sich die Rüstungsausgaben in Lateinamerika von 2003 bis 2008 um 91 Prozent erhöht. Und in den letzten Monaten verstärkten sich die Spannungen zwischen Kolumbien und Venezuela. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez nannte das Abkommen zwischen Kolumbien und den USA vom 14. August, das die Nutzung von sieben kolumbianischen Basen durch das US-Militär vorsieht, eine „Kriegserklärung“ (siehe LN 424).
Wenig später, am 14. September, verkündete Chávez auf einer öffentlichen Veranstaltung in Caracas ein neues Rüstungsabkommen mit Russland. Für die neuen Waffenkäufe bekam Venezuela von Russland einen Kredit über 1,5 Milliarden Euro. Von diesem Geld will Chávez 92 Panzer des Typs T-72 kaufen sowie eine nicht genannte Zahl von S 300 Luftabwehrsystemen. Dies führt die bisherige Rüstungskooperation zwischen Russland und Venezuela weiter. Seit 2005 gab Venezuela insgesamt etwa 3,6 Milliarden Euro für russische Waffen aus. Die US-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton zeigte sich sofort „besorgt“ über die Waffenkäufe Venezuelas.
Die neuesten Waffenkäufe legitimierte Chávez mit der Bedrohung durch die Militärbasen in Kolumbien, die demnächst von den US-Streitkräften benutzt werden dürfen. „Wir wollten keine Waffen kaufen, aber was sollen wir machen, wenn die Yankees sieben Basen dort bauen? Wir statten uns für die Verteidigung aus. Damit niemand auf die Idee kommt, sich mit uns anzulegen!“, sagte Chávez. Die neuen Waffen seien für rein defensive Zwecke, er bekenne sich zur „Friedenszone Südamerika“. Doch Venezuela habe große Erdöllagerstätten, die vor dem Zugriff des „Imperiums“ geschützt werden müssten. Dabei nannte Chávez auch die 4. US-Flotte als mögliche Bedrohung, die Mitte letzten Jahres reaktiviert wurde, nachdem sie seit 1950 stilllag. Die 4. US-Flotte hat die Aufgabe, US-Interessen in der Karibik und vor den südamerikanischen Küsten zu schützen.
Ähnlich wie Chávez erklärte auch sein brasilianischer Amtskollege, Luiz Inácio „Lula“ da Silva, seinen neuesten Waffendeal mit Frankreich. Die Investitionen in die Rüstung seien nötig, um die Grenzen Brasiliens, insbesondere im Amazonasgebiet, zu schützen. Doch auch die im vergangenen Jahr gefundenen Ölfelder vor der brasilianischen Küste gelte es zu schützen. In diesen Feldern werden über 50 Milliarden Barrel Erdöl vermutet – mehr als doppelt so viel, wie in allen brasilianischen Lagerstätten, die bisher gefunden wurden. Sollten sich die optimistischsten Prognosen als real erweisen, würde Brasilien in den Kreis der zehn Länder mit den größten Erdölreserven weltweit aufsteigen. Mit den Erlösen aus dem Öl soll ein Fonds zur Finanzierung von Bildungs- und Sozialmaßnahmen geschaffen werden. Bei seiner Fernsehansprache zum Unabhängigkeitstag am 7. September präsentierte Lula diese Pläne der Bevölkerung. „Dieser 7. September läutet unsere neue Unabhängigkeit ein“, sagte Lula pathetisch.
Es war gewiss kein Zufall, dass der Ehrengast bei den diesjährigen Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag der französische Präsident Nicolas Sarkozy war: Der große Waffendeal mit Frankreich sollte wohl Lulas Anspruch auf eine „Neue Unabhängigkeit“ unterstreichen. Auf dem Treffen am 7. September vereinbarten die beiden Präsidenten den Vertrag über die große Rüstungskooperation.
Für 1,9 Milliarden Euro sollen 50 Hubschrauber französischen Designs im Bundesstaat Minas Gerais von der Firma Helibras hergestellt werden. Helibras gehört zur einen Hälfte dem europäischen Rüstungs- und Flugzeugkonzern EADS, zur anderen dem brasilianischen Flugzeugkonzern EMBRAER. Sarkozy will im Gegenzug die C-130 Transportflugzeuge der französischen Armee durch KC-390 Flugzeuge von Embraer ersetzen.
Für 6,6 Milliarden Euro will Brasilien seine U-Boot-Flotte modernisieren. Drei französische U-Boote will die brasilianische Marine kaufen; Kernstück des Projekts ist aber der gemeinsame Bau eines nuklearbetriebenen U-Boots durch französische und brasilianische TechnikerInnen (siehe LN 411/412).
Es ist dieser Technologietransfer, der die Kooperation mit Frankreich für Brasilien so interessant macht. Deshalb werden den französischen Bewerbern auf die brasilianische Ausschreibung für 36 neue Jagdflugzeuge auch die besten Chancen gegeben. Derzeit versuchen die US-amerikanische Boeing mit dem Jagdflugzeug F-18 Super Hornets, die schwedische Saab mit dem Gripen NG und die französische Dassault mit dem Rafale den Auftrag über 2,7 Milliarden Euro zu bekommen. Dassault bot an, dass EMBRAER die Flugzeuge unter Lizenz bauen und vertreiben könnte. Das technologische Wissen soll dabei an die brasilianische Firma weitergegeben werden. Nun versuchen Boeing und Saab, sich mit noch attraktiveren Angeboten zu überbieten. Saab bot bereits zwei Gripen zum Preis von einem an. „Bald kriegen wir die Flugzeuge noch umsonst“, witzelte Lula dazu. Eigentlich wollte sich Brasilien am 21. September entschieden haben, doch wurde die Frist bis zum 2. Oktober verlängert, in dem die verschiedenen Anbieter ihre Vorschläge einreichen konnten.
Am 6. Oktober erklärte der brasilianische Verteidigungsminister Nelson Jobim, dass er weiterhin den französischen Vorschlag am besten findet. Um seine eigenen Bewerberchancen zu erhöhen, war am Tag zuvor der Vizepräsident des F-18 Programms von Boeing, Robert E. Gower, nach Brasilien gereist, um sich mit Jobim zu treffen. Er versprach ebenfalls einen Technologietransfer. „Wir sind entschlossen, den notwendigen Technologietransfer an Brasilien zu ermöglichen“, erklärte Gower auf einer Pressekonferenz. „Das Wort ‚notwendige‘ Technologietransfers macht mich stutzig“, erklärte Jobim nach dem Treffen. Wer wisse schon vorher, was „notwendig“ ist und was nicht, sinnierte vor Journalisten der ausgebildete Jurist Jobim. Bereits zuvor hatte Jobim erklärt, dass er von Flugzeugtechnologie wenig verstehe; dafür um so mehr von Wirtschaftsverträgen – und deshalb könne er sagen, dass das französische Angebot das interessanteste sei.
Mit diesen Rüstungsplänen versucht Brasilien, in den Kreis der Weltmächte aufzusteigen. Wer, wie Brasilien, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebe, brauche auch eine moderne und starke Armee, erklärte der brasilianische Verteidigungsminister Nelson Jobim. Für Brasilien bedeutet der Vertrag mit Frankreich das größte Rüstungsvorhaben seit seinem Eintritt in den zweiten Weltkrieg 1942. Doch Lula betonte wie Chávez den rein defensiven Charakter des Deals. Er bekannte sich zur „Friedenszone“ Südamerika, nannte aber auch die 4. US-Flotte als mögliche Bedrohung für die Ölfelder.
Viele Linke in Lateinamerika begrüßen die aktuelle Aufrüstung als Emanzipation von den USA. So kommentiert Raul Zibechi, Mitherausgeber der linken uruguayischen Wochenzeitung Brecha, auf der chavistischen Internetplattform Aporrea, dass die jüngsten Waffenkäufe in Lateinamerika das Ende der US-amerikanischen Hegemonie auf dem Subkontinent bedeuteten. Mit der Autonomie in der Rüstung höre die Region endlich auf, „der Hinterhof der USA“ zu sein. Offenbar sollen ausgerechnet Waffen die „Friedenszone Südamerika“ schaffen. Doch einige, wie etwa Uruguays Präsident Tabaré Vázquez, lehnen offen die wachsenden Rüstungsausgaben ab.
Von einem neuen Wettrüsten in Südamerika zu reden, ist jedoch übertrieben. Im internationalen Vergleich ist Südamerika noch immer schwach gerüstet. Etliche RüstungsexpertInnen sehen die jüngsten Waffenkäufe Venezuelas und Brasiliens als ohnehin notwendige Modernisierung ihrer recht veralteten Streitkräfte an – so „notwendig“ Waffenkäufe eben sein können. Dem Friedensforschungsinstitut Bonn International Center for Conversion BICC zufolge belegen fast alle lateinamerikanischen Länder eher die hinteren Plätze in der Liste der militarisiertesten Länder der Welt. Das BICC berechnet den Grad der Militarisierung, den Global Militarization Index, indem es mehrere Vergleiche anstellt: die Rüstungsausgaben eines Landes mit dem Bruttoinlandsprodukt, die Rüstungsausgaben mit den Gesundheitsausgaben, die Anzahl der Ärzte mit der Anzahl von paramilitärischen Truppen und offiziellen Soldaten sowie die Anzahl der schweren Waffen im internationalen Vergleich.
Daraus ergibt sich eine Liste aller Länder nach dem Grad ihrer Militarisierung. In Südamerika liegt Venezuela mit der Nummer 107 auf dem drittletzten Platz; nur Argentinien und Paraguay sind auf dem Subkontinent noch weniger militarisiert. Argentinien nimmt Platz 137 ein, Paraguay den 109. Schon weiter vorne liegen dagegen Ecuador (48. Platz) und Kolumbien (44. Platz), darauf folgen Peru (63. Platz), Brasilien (87. Platz) und Bolivien (91. Platz). Unangefochtener lateinamerikanischer Spitzenreiter ist Chile auf Platz 29.
Hillary Clinton zeigte sich indes lediglich über die venezolanischen Waffenkäufe „besorgt“. Offenbar misst sie mit verschiedenen Standards, eben ob eine Regierung den US-Interessen in den Kram passt oder nicht. Im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt gibt kein Staat in Südamerika so viel Geld für Rüstung aus wie Chile – dies scheint das US-State Department nicht zu beunruhigen. Doch diese hohen Militärausgaben will die Regierung Chiles nun ändern. Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet will ein Gesetz kippen, dass zehn Prozent aller Einnahmen aus dem Kupferexport automatisch den Militärausgaben zuschlägt. Man kann nur hoffen, dass dies einen Trend für Südamerika einleitet. Denn welche Friedenszone braucht schon Waffen?

Das grüne Gold

Mate ist für die meisten seiner Konsumenten mehr als nur ein Getränk. Der stark konzentrierte, bittere Sud der Yerba-Mate-Blätter, der durch einen metallenen Strohhalm (bombilla) aus einem speziellen becherartigen Gefäß (mate) gesogen wird, ist vor allem in Argentinien, Uruguay und Paraguay, aber auch in Teilen Chiles und Brasiliens fester Bestandteil der Alltagskultur. Aroma des Südens ist eine von sehr wenigen deutschsprachigen Veröffentlichungen über Brauch und Gebrauch des Mates.
Die Guaraní tranken Mate schon lange bevor sie die Spanier entdeckten. Nicht zuletzt wohl auch wegen seiner positiven Eigenschaften. Er vertreibt Hunger und Müdigkeit und soll sogar gut für die Haut sein. In einer Zeit, in der Schlankheit, Schönheit und Leistungsfähigkeit vielerorts wie eine heilige Dreifaltigkeit verehrt werden, sollte einer steilen Karriere des Mate also eigentlich nichts im Weg stehen. Dennoch gehört der Mate nicht gerade zu den berühmtesten kulturellen Eigenarten Lateinamerikas. Und in unseren Breiten und Längen wird er in absehbarer Zeit wohl auch kein Importschlager werden. Denn irgendwie entspricht die Teetradition nicht so recht dem europäischen Zeitgeist. Zum einen braucht man für einen Mate wesentlich mehr Zeit und Ruhe, als für einen Coffee to go. Zum anderen trinkt die ganze Runde gemeinsam aus ein und derselben bombilla. Undenkbar vor allem hierzulande, wo viele Menschen, nicht erst seit den großen Grippepandemien, Flaschenhälse abwischen, bevor sie den Mund als Zweite ansetzen.
Für alle, die den bitteren Geschmack des Mates dennoch mögen und einen Sinn für gesellige und entschleunigende Rituale haben, gibt es nun das Büchlein Aroma des Südens mit dem etwas hölzernen Untertitel „Das kleine Buch zu Mate“. Darin trägt die Autorin Margarita Barretto viel Wissenswertes über das bittere Heißgetränk zusammen. Von der Zeremonie über die notwendigen Zutaten und Gerätschaften, bis hin zur Geschichte des Mate und deren Verarbeitung in Mythen und Folklore. Auf 80 Seiten, die auch viele Darstellungen enthalten, erfahren die LeserInnen, dass der Yerba-Mate-Baum nur alle drei bis vier Jahre geerntet werden kann, die fertige Yerba im 19. Jahrhundert als „grünes Gold“ zur Bezahlung von Tagelöhnern diente und dass, wer sich für einen Mate bedankt, in der nächsten Runde ausgelassen wird.
Leider war die Autorin offenbar vor allem auf Vollständigkeit bedacht. Sehr sachlich und systematisch wird das Thema von Anfang bis Ende abgehandelt. So heißt es in einem insgesamt eher überflüssigen Kapitel über den Wasserkessel: „Die sogenannten Pfeif- oder Flötenkessel verfügen über eine Dampfpfeife, die beim Ausströmen von Dampf einen Ton erzeugt. Heute stehen uns auch elektrische Wasserkocher zur Verfügung“. Auch eine Aufzählung der über 21 chemischen Bestandteile der Yerba-Mate bleibt den LeserInnen nicht erspart.
Doch wer aufmerksam über inhaltliche Längen und sprachliche Holprigkeiten hinweg liest, entdeckt auch die eine oder andere Anekdote, wie beispielsweise die von der Erfindung des „hygienischen“ Mate um 1920. Das Ensemble bestand aus einem abwaschbaren Wasserglas, anstelle der sonst typischen Gefäße aus Kalebassen oder Holz, einem ebenso leicht zu reinigenden Aluminiumsieb und einer bombilla mit abnehmbaren Mundstücken. Eines für jeden Teilnehmer und jede Teilnehmerin der Runde. Aufgrund des Migrationshintergrundes seiner Erfinder wird dieser Mate auch „deutscher Mate“ genannt.

Margarita Barretto // Aroma des Südens – Das kleine Buch zu Mate // Schmetterling Verlag// Stuttgart 2009 // 80 Seiten // 14,80 Euro // www.schmetterling-verlag.de

Durch die Brille eines räudigen Hundes

In der Familie Brontë scheint gar nichts mehr zu stimmen: Der Vater ist ein depressiver Professor, versunken in seiner eigenen Welt. Die Mutter verlässt die Familie und brennt mit ihrem Liebhaber nach Indien durch. Sohn Pep verkauft Marihuana an einen Zivilpolizisten und wird wegen Drogenhandels verhaftet. Und die Tochter, die verträumte Einzelgängerin Lala, liebt nicht nur eine Frau, sondern auch noch das paraguayische Hausmädchen ihrer Familie: die Guayí. Lucía Puenzo führt die LeserInnen in ihrem Roman Das Fischkind in die Abgründe und die verkrusteten Beziehungsgeflechte der argentinischen Oberschicht. Um dem Ganzen noch eins draufzusetzen, wird der Roman aus der Perspektive von Lalas versautem Hund Serafín erzählt, der in ordinärem Ton von den zwischenmenschlichen Abgründen der Menschen berichtet. Durch diesen erzählerischen Kniff kann die Autorin ihren Ich-Erzähler jedoch tief in die Seelenlage der handelnden Personen blicken lassen.
Das fragile Nebeneinander in der Familie wird an dem Punkt zum Problem, als Lala entdeckt, dass nicht nur sie die Guayí begehrt. Auch ihr Vater vergreift sich immer wieder an seiner hübschen Angestellten. Es wird dabei nie ganz deutlich, ob Brontë die Guayí regelmäßig vergewaltigt oder ob diese sich auf eine Art auch zu ihm hingezogen fühlt. Denn eine Gelegenheit zur körperlichen Liebe scheint diese nur selten auszulassen. Die Guayí wird von Puenzo als sehr erotisch und exotisch dargestellt, als die dunkle Fremde, in die ihre Mitmenschen ihre sexuellen Phantasien hinein projizieren.
Trotzdem ist die Liebe zwischen Lala und der Guayí etwas Besonderes. Und das nicht nur, weil schon das Schreiben über eine lesbische Beziehung in Argentinien etwas Besonderes ist. Zusammen planen sie abzuhauen, den Mief in Buenos Aires hinter sich zu lassen und ins stark mystifizierte Paraguay auszuwandern. Doch das Verhältnis zwischen Brontë und der Guayí bedroht diesen Plan. Lala weiß, er oder sie selbst müssen gehen. Und so bereitet sie eines Abends zwei Gläser mit warmer Milch, eines davon mit einer gehörigen Portion Schlaftabletten. Als sie diese vor ihren Vater stellt, überlässt sie es dem Zufall, wer von beiden das vergiftete Glas trinkt.
Als Lala am nächsten Morgen aufwacht, ist ihr Vater tot und die Guayí verschwunden. Lala macht sich mit Serafín auf nach Ypacaraí, den Geburtsort der Guayí, und beginnt zu warten. Dort trifft sie auf den Großvater der Guayí, der ihr immer mehr von deren Vergangenheit erzählt. Er ist es auch, der Lala sagt, dass die Guayí in Buenos Aires im Jugendgefängnis sitzt, unter dem Verdacht, Lalas Vater umgebracht zu haben. Außerdem lernt Lala Socrates kennen, ein bekannter Fernsehstar Paraguays und „der erste Freund von Lin“, wie er sich selbst und die Guayí bezeichnet. Es ist Socrates, der Lala von der Schwangerschaft der Guayí berichtet und die Legende des Fischkindes auflöst, das immer wieder im See bei Ypacaraí gesehen wurde. Als Lala das Warten auf die Guayí nicht mehr erträgt, macht sie sich zurück auf den Weg nach Buenos Aires. Dort kommt es zum grandiosen Showdown.
Luciá Puenzo hat ihr Romandebut selbst verfilmt, der gleichnamige Film lief dieses Jahr auf der Berlinale (siehe LN 417, März 2009). Darauf ist wohl zurückzuführen, dass der Roman von 2004 nun ins Deutsche übersetzt wurde. Im Gegensatz zum Film wirkt das Buch weniger überfrachtet. Es lässt weitaus mehr Zeit, Lalas Welt in ihren vielen Facetten zu zeichnen und nicht nur die Handlungsspirale immer weiter zuzuspitzen.

Nicaragua von der Revolution bis heute

1979 // Unter Führung der 1961 gegründeten FSLN (Sandinistische Front der Nationalen Befreiung) wird im Juli die jahrzehntelange Diktatur der Somozas in einem Volksaufstand gestürzt. Am 17. Juli flieht Anastasio Somoza Debayle ins Ausland. Ein breites Bündnis von konservativen Kräften bis zur FSLN übernimmt die Regierung, wobei die FSLN bald tonangebend ist und sich die wichtigsten Machtpositionen sichert. // Zu den ersten Maßnahmen der neuen Regierung gehören die Enteignung des Besitzes der Familie Somoza, die Verstaatlichung der Banken und Minen, die Abschaffung der Todesstrafe, die Etablierung der Meinungsfreiheit, umfangreiche Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen sowie eine Agrarreform zu Gunsten landloser Bauern.

1980 // Der „Nationale Kreuzzug der Alphabetisierung” (CNA) startet. Durch diese und weitere Kampagnen wird die Analphabetenrate bis 1985 von 50 auf 13 Prozent gesenkt. // Anastasio Somoza wird im September in Paraguay von einem Kommando der argentinischen Guerilla ERP getötet.

1981 // US-Präsident Ronald Reagan sperrt Darlehen Nicaraguas. Die CIA beginnt mit dem Aufbau der sogenannten Contra.

1982 // Mit logistischer und finanzieller Unterstützung durch die USA beginnt die Contra von Honduras und Costa Rica aus den bewaffneten Kampf gegen die sandinistische Regierung. Der Contra-Krieg kostet rund 30.000 Menschenleben und richtet die nicaraguanische Wirtschaft bis zum Jahr 1988 fast vollständig zu Grunde. // Wegen der wachsenden Zahl der Contra-Anschläge verhängt die Revolutionsregierung den Ausnahmezustand und führt die allgemeine Wehrpflicht ein. // Zwangsumsiedlung von 8.500 Miskito-Indianern durch die sandinistische Regierung. Sie müssen die atlantische Küstenregion verlassen und werden im Landesinneren neu angesiedelt.
1983 // Die erste westdeutsche Solidaritätsbrigade fliegt im Dezember nach Nicaragua, um bei der Kaffeeernte zu helfen. In den folgenden Jahren kommen zehntausende BrigadistInnen nach Nicaragua.

1984 // Erste Wahlen nach der Revolution. Mit 67 Prozent der Stimmen gewinnt der sandinistische Präsidentschaftskandidat Daniel Ortega die Wahlen. // Die CIA vermint die wichtigsten Häfen Nicaraguas. // Die Bundesrepublik Deutschland friert ihre Entwicklungshilfe für Nicaragua ein.

1985 // Die USA verhängen ein vollständiges Handelsembargo. // Die DDR baut in Managua das Krankenhaus „Carlos Marx” und kommt in der Folge für den Betrieb auf.

1986 // Die USA werden vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu Schadensersatz in Milliardenhöhe verurteilt, den sie allerdings niemals zahlen.

1988 // Die Wirtschaft gerät immer stärker in die Krise. Die Inflationsrate steigt auf bis zu 36.000 Prozent. // Die sandinistische Regierung nimmt Verhandlungen mit der Contra auf. Das Abkommen von Sapoa bringt schließlich einen Waffenstillstand zwischen Regierung und Contra.

1990 // Die FSLN verliert überraschend die Wahlen im Februar. Die Kandidatin der „Unión Nacional Opositora“ (UNO), Violeta Barrios de Chamorro, wird mit 55 Prozent der Stimmen zur Präsidentin gewählt. Sie steht einem äußerst heterogenen Bündnis von 14 konservativen und antisandinistischen Parteien vor. // In der sogenannten Piñata sichern sandinistische Kader ihre eigenen sowie die Pfründe der FSLN. // Der Sandinist Humberto Ortega, bis zu den Wahlen Verteidigungsminister, wird Oberster Befehlshaber der Armee, womit sich Präsidentin Chamorro deren Loyalität sichert. // Die neue Regierung beschließt ein umfassendes Stabilisierungs- und Sparprogramm: Die Währung wird abgewertet, der Staatsapparat verkleinert, soziale Einrichtungen werden geschlossen, das Gesundheitssystem privatisiert, Schulgeld erhoben, die Agrarreform teilweise rückgängig gemacht und in den 1980er Jahren verstaatlichte Betriebe größtenteils wieder privatisiert.

1991 // Die Entwaffnung der Contra ist offiziell beendet. // Es gibt zahlreiche Streiks gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung. Sandinisten und Regierung lähmen sich gegenseitig.

1993 // Kredite der OPEC und des IWF helfen, eine drohende wirtschaftliche Krise abzuwenden.

1994 // Beim Kongress der FSLN zeigt sich deutlich die interne Zerstrittenheit der Partei. Die „demokratische Linke” um Daniel Ortega und Tomás Borge setzt sich klar gegen die sogenannten „Erneuerer” um Sergio Ramírez durch.

1995 // Die „Sandinistische Erneuerungsbewegung“ (MRS) unter Führung des ehemaligen Vizepräsidenten Sergio Ramírez und der Comandante Dora María Tellez entsteht.

1996 // Der Liberale Arnoldo Alemán wird Präsident. // Auf Kosten der innerparteilichen Demokratie baut Daniel Ortega seine Vormachtstellung in der FSLN immer weiter aus.

1998 // Zoilamérica Narváez, die Stieftochter von Daniel Ortega, beschuldigt diesen öffentlich, sie jahrelang sexuell missbraucht zu haben. Ortega genießt Immunität, es werden keine Ermittlungen gegen ihn aufgenommen. // Der Hurrikan Mitch richtet in Nicaragua schwere Zerstörungen an. Präsident Alemán bereichert sich an internationalen Hilfsgeldern.

1999 // Daniel Ortega schließt mit dem Parteichef der Liberalen Partei PLC, Arnoldo Alemán, einen Pakt, der FSLN und PLC langfristig die Macht in Nicaragua sichern soll. Alle wichtigen staatlichen Institutionen werden zwischen den beiden Parteien aufgeteilt.

2001 // Der Liberale Enrique Bolaños wird zum Präsidenten gewählt.

2003 // Die Immunität des ehemaligen Präsidenten Alemán wird aufgehoben. Er wird wegen massiver Korruption inhaftiert und zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt, die allerdings nach 20 Tagen Haft in einen Hausarrest umgewandelt wird.
2006 // Im April tritt das Zentralamerikanische Freihandelsabkommen mit den USA (CAFTA) für Nicaragua in Kraft. Vorher hat im Parlament auch die FSLN dem Abkommen zugestimmt. // Mit Unterstützung der FSLN wird das Abtreibungsrecht verschärft. Nun ist Abtreibung unter allen Umständen, also auch im Falle der Bedrohung des Lebens der Mutter, verboten. // Daniel Ortega von der FSLN wird im November zum Präsidenten gewählt.

2007 // Unter der Regierung Ortega werden die politischen Kontakte zu Venezuela und Kuba wichtiger. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez gewährt umfangreiche Wirtschaftshilfe in Höhe von 520 Millionen US-Dollar jährlich. Damit werden unter anderem ambitionierte Sozialprogramme wie „Cero hambre“ (Null Hunger) bezahlt. Das Geld wird jedoch intransparent und am Parlament vorbei ausgegeben, obwohl es sich bei diesen Hilfen zur Hälfte um einen Kredit handelt, der in 25 Jahren aus dem Staatshaushalt zurückgezahlt werden muss.

2008 // Der von FSLN und Liberalen dominierte Oberste Wahlrat schließt die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) und die Konservative Partei von den Kommunalwahlen aus. // Der Streit zwischen Frauenbewegung sowie weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen und der FSLN-Regierung nimmt an Schärfe zu. // Bei den Kommunalwahlen im November kommt es zu massiven Manipulationen. Unabhängige WahlbeobachterInnen sind nicht zugelassen. Zahlreiche BeobachterInnen sprechen von Wahlfälschung seitens der FSLN, die offiziell in etwa 70 Prozent der Gemeinden gewinnt. Nach den Wahlen kommt es zu teils gewaltätigen Auseinandersetzungen zwischen AnhängerInnen der FSLN und der Opposition.

2009 // Das Oberste Verfassungsgericht, dessen RichterInnen allesamt von PLC und FSLN nominiert wurden, hebt im Januar die Verurteilung Arnoldo Alemáns wegen Korruption “aus Mangel an Beweisen” auf.

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