Petro setzt auf die Straße

Nationaler Entwicklungsplan vorgestellt Präsident Gustavo Petro auf der Plaza Núñez in Bogotá (Foto: Departamento Naional de Planeación via Flickr , CC BY 2.0)

Das hollywoodreife Happy End der Rettung von vier indigenen Kindern kam für Kolumbiens Präsidenten Gustavo Petro wie gerufen. Anfang Juni wurden die Vermissten im Amazonasregenwald nach der intensiven Suchaktion „Operation Hoffnung“ gefunden, äußerlich unverletzt. 40 Tage zuvor, am 1. Mai, war die Propellermaschine abgestürzt, in der sie sich in Begleitung ihrer Mutter befanden. Die Geschwister – ein Junge und drei Mädchen im Alter von einem bis 13 Jahren – überlebten als einzige Passagiere inmitten des fast undurchdringlichen Dschungels. Petro, der die gute Nachricht per Twitter verkündete, erklärte euphorisch gegenüber der Presse: „Heute haben wir einen magischen Tag erlebt, voller Freude.“ Die Geretteten bezeichnete er als „Kinder Kolumbiens“.

Die Rettung ist für den Präsidenten eine der wenigen Erfolgsmeldungen der vergangenen Wochen. Seine Regierung befindet sich nach etwas weniger als einem Jahr im Amt in einer Krise. Dies wird besonders an den stockenden Reformvorhaben deutlich. Weder das Gesundheits- noch das Rentensystem konnten bisher verändert werden. Ebenso wenig geht es bei der Arbeitsreform voran, deren vorläufiges Scheitern Petro am 20. Juni per Twitter als „sehr ernst“ bezeichnete. Die Ablehnung durch das Parlament zeige, „dass der Wille zum Frieden und Sozialpakt bei den Mächtigen in der Wirtschaft nicht vorhanden ist. Die Kapitaleigner und die Medien haben es geschafft, den Kongress gegen die Würde der arbeitenden Bevölkerung in Stellung zu bringen.“

Petro hatte sein Amt im August des vergangenen Jahres mit großen Plänen angetreten. Laut Wahlprogramm will seine Regierung soziale Ungerechtigkeiten, Rassismus und andere Diskriminierungsformen bekämpfen, das Gesundheits-, Bildungs- und Rentensystem verbessern, die Umwelt schützen und aus der Förderung fossiler Energieträger aussteigen. Zudem soll dem vom jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt gebeutelten Land endlich zu Frieden verholfen werden. Um das weitreichende Programm anzugehen, schmiedete Petros Parteienbündnis Pacto Histórico eine Koalition, der auch Vertreterinnen der sogenannten Mitte und Konservative angehörten. Der Pacto Histórico selbst verfügt nur über rund 25 Prozent der Sitze im Parlament.

Doch lange hielt die Regierungskoalition nicht. Ende April kündigte Petro das Bündnis auf, nachdem der Streit um die geplante Gesundheitsreform eskaliert war. Umsetzen konnte die Linksregierung bis dahin vor allem zwei große Vorhaben: Im November des vergangenen Jahres stimmte das Parlament der Steuerreform zu. Laut dem damaligen Finanzminister José Antonio Ocampo ist diese die „progressivsten Steuerreform der Geschichte Kolumbiens“. Die Neuregelung sieht unter anderem eine stärkere Besteuerung Vermögender und von Konzernen, die fossile Brennstoffe fördern, vor. Sie erzeugte heftigen Widerstand, der bis heute in Form von Verfassungsklagen anhält. Ebenfalls im November 2022 schuf die Legislative mit dem „Gesetz für den totalen Frieden“ die Basis für weitreichende Friedensverhandlungen mit unterschiedlichsten bewaffneten Akteuren im Land.

Dass Petro die Regierungskoalition platzen ließ, wurde von Beobachterinnen gemeinhin als „Radikalisierung“ des Präsidenten interpretiert. Statt Kompromisse zu suchen, wolle Petro zukünftig mit ihm politisch Nahestehenden regieren, hieß es. Die spanische Tageszeitung El País schrieb am 26. Juni, also zwei Monate nach Beendigung der Koalition, der Staatschef habe seinen Diskurs „radikalisiert“, „die Linke“ ins Kabinett geholt und „die Basis mobilisiert“, während er zu Beginn seiner Amtszeit noch „versöhnlich“ auf Verhandlungen gesetzt habe. Tatsächlich tauschte Petro gleich sieben Ministerinnen aus. Die neu nominierten Ressortchefinnen gelten als Vertraute des Präsidenten. Begleitet wurden die Veränderungen im Kabinett von Appellen Petros an die Basis, ab sofort verstärkt die Unterstützung seiner Regierung zu mobilisieren. Er erklärte, seine Regierung werde die „sozialen Reformen des Wandels“ durchsetzen. Dafür sei unter anderem eine Bauernbewegung notwendig, „die sich in Würde erhebt“.

In Kolumbien wird immer deutlicher, dass die Regierungsmacht nicht automatisch bedeutet, auch über die Macht im Land zu verfügen. Von Beginn an war Petro den Angriffen der Rechten ausgesetzt, die diese mittlerweile verstärkt hat. Seit Ende Mai warnt der Präsident vor der Möglichkeit eines „sanften Putsches“ gegen ihn. Auch fast 400 internationale Politikerinnen und Intellektuelle unterzeichneten einen offenen Brief, in dem sie vor der Gefahr eines Staatsstreichs in Kolumbien warnen. In dem Anfang Juni veröffentlichten und von der „Progressiven Internationale“ initiierten Schreiben heißt es: „Die traditionellen Mächte des Landes setzen die geballte institutionelle Macht der Regulierungsbehörden, der Medienkonglomerate und der Justiz des Landes ein, um die Reformen (der Regierung Petro, Anm. d. Red.) zu stoppen, ihre Unterstützenden einzuschüchtern, ihre Führung zu stürzen und ihr Image auf der internationalen Bühne zu diffamieren.“

Den Kräften hinter den Angriffen gehe es darum, „eine Ordnung wiederherzustellen, die von extremer Ungleichheit, Umweltzerstörung und staatlich geförderter Gewalt geprägt ist“, heißt es weiter in dem offenen Brief. Konkret werden das Büro der Generalinspektion unter der Leitung von Margarita Cabello und die Generalstaatsanwaltschaft unter der Leitung von Francisco Barbosa genannt, die „aktiv Mitglieder des Pacto Histórico ins Visier“ nähmen. Derzeit laufen mehrere Verfahren gegen Politikerinnen des Pacto Histórico, zum Beispiel gegen den Senator Wilson Arias. Cabello, Justizministerin unter dem rechten Expräsidenten Iván Duque, versucht Arias aus dem Senat zu entfernen. Sie wirft ihm vor, der Senator habe sich während der Protestwelle 2021 gegen Polizeigewalt ausgesprochen.

Juristische Angriffe und mediale Schmutzkampagne gegen Petro

Begleitet werden diese juristischen Angriffe von einer Schmutzkampagne gegen die Regierung, bei der die Medien eine fundamentale Rolle spielen. Besonders aktiv ist die weit nach rechts abgedriftete Wochenzeitschrift Semana, die (vermeintliche) Skandale direkt konstruiert. Andere Themen wie kompromittierende Aussagen ehemaliger Paramilitärs über Verstrickungen des Staates in schwerste Menschenrechtsverletzungen, die Reformpläne der Regierung oder die Friedensverhandlungen mit der größten noch aktiven Guerillaorganisation „Nationale Befreiungsbewegung“ (ELN) werden hingegen unterschlagen. Auf die Kritik Petros an der diffamierenden Berichterstattung reagieren Vertreterinnen rechter Medien mit lautem Gezeter, die Pressefreiheit sei in Gefahr. Angesichts der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit im Parlament versuchen Petro und sein Pacto Histórico auf der einen Seite, Verbündete für einzelne Vorhaben in anderen Parteien zu gewinnen. Auf der anderen Seite setzen sie wegen der zunehmenden Angriffe von Rechts auf die Unterstützung der Straße. Am 7. Juni rief der Präsident zu Massendemonstrationen „zur Verteidigung des Reformkurses“ der Regierung auf. Gegenüber dem Fernsehen erklärte er, der Kongress solle wissen, „dass die vorgelegten Reformen keine Laune des Präsidenten der Republik sind, sondern die Wünsche und der Lebenswille des gesamten kolumbianischen Volkes“. Zudem rief er die Bevölkerung dazu auf, „Volksversammlungen“ (asambleas populares) einzuberufen um die Regierungsvorhaben zu diskutieren – ein Vorschlag, der von der rechten Presse in antikommunistischer Manier als „radikal“ diffamiert wurde.

Gerade die Friedensverhandlungen mit der ELN könnten der Regierung die Möglichkeit bieten, ihre Verankerung in der Gesellschaft zu stärken. Am 9. Juni unterzeichneten Petro und Vertreter nnen der Guerilla in der kubanischen Hauptstadt Havanna einen sechsmonatigen bilateralen Waffenstillstand – wodurch sich der Präsident dazu hinreißen ließ, ein Ende des bewaffneten Konflikts für das Jahr 2025 zu prophezeien. Obwohl der Waffenstillstand offiziell erst am 3. August in Kraft treten sollte, kündigten sowohl das Zentralkommando der Guerilla als auch die Regierung an, bereits ab dem 6. Juli auf offensive Aktionen zu verzichten. Mehrere militärische Scharmützel zwischen ELN und kolumbianischen Streitkräften Ende Juni und Anfang Juli zeigen jedoch, dass die bilaterale Waffenruhe kein Selbstläufer werden wird. Am 10. August sollen die Friedensverhandlungen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas mit der vierten Runde fortgesetzt werden.

Deutlich weniger Beachtung in der Presse fand das ebenfalls am 6. Juni unterzeichnete Abkommen über die Beteiligung der kolumbianischen Zivilgesellschaft an den Verhandlungen, was besonders der Guerilla im Friedensprozess von Beginn an ein zentrales Anliegen war. Die Übereinkunft sieht vor, dass am 25. Juli ein Nationales Komitee für die zivilgesellschaftliche Beteiligung einberufen wird, das aus Vertreter*innen ethnischer Gruppen, Gewerkschaften, sozialer Bewegungen und anderer Organisationen und Institutionen besteht. Es soll Vorschläge aus der Bevölkerung sammeln und systematisieren, um diese anschließend in die Verhandlungen einbringen. Ziel ist es, „die Ursache für den politischen, sozialen, ökologischen und bewaffneten Konflikt zu identifizieren und zu untersuchen, um umfassende Lösungen zu formulieren“. Nimmt die Regierung diese Vorschläge ernst, könnte die Unterstützung durch soziale Bewegungen weiter wachsen. Angesichts fehlender parlamentarischer Mehrheiten braucht sie diese in Zukunft noch mehr.

UND RAUS BIST DU

Nicht mein Präsident Manuel Merino überzeugte Peruaner*innen nicht (Foto: Samantha Hare via flickr.com, CC BY 2.0)

Dass Martín Vizcarra das zweite Amtsenthebungsverfahren innerhalb von nur drei Monaten unter der Begründung „moralischer Unfähigkeit“ nicht überstand, war eine Überraschung. Noch überraschender war der massive Protest, der anschließend seinen Nachfolger aus dem Amt fegte. Vizcarra, der seit dem Rücktritt des damaligen Amtsinhabers 2018 die Regierungsgeschäfte führte, hatte erst wenige Wochen zuvor ein erstes Amtsenthebungsverfahren überstanden. Der Politanalyst Giancarlo Castiglione erklärt gegenüber LN, dass beim zweiten Verfahren schwerwiegendere Indizien gewirkt hätten: „Es gibt vier Kronzeugen, darunter ein ehemaliger Minister, die behaupten, dass Vizcarra während seiner Zeit als Regionalpräsident von Moquegua Schmiergelder erhalten hat. Hinzu kommt eine machthungrige politische Klasse, die einen schwachen Moment ausgenutzt hat.“ Die habe sich vorrangig der Haushaltsgelder bemächtigen wollen, so Castiglione. Weiterhin wird gegen 68 Abgeordnete unter anderem wegen Korruption ermittelt.

„Wir haben es in Peru mit einer sich militarisierenden Polizei zu tun“

Der Anthropologe Jorge Rodríguez, der sich im linken Wahlbündnis Zusammen für Peru (JP) engagiert, beklagt zudem die Entfremdung zwischen Politik und Bevölkerung – auch innerhalb der Linken. Das habe sich etwa im Abstimmungsverhalten der Mehrheit der Koalition Breite Front (FA) ausgedrückt, die für die Amtsenthebung gestimmt hatte. Am 9. November 2020 entschieden sich insgesamt 105 der 130 Abgeordneten für die Amtsenthebung Vizcarras. Am Folgetag wurde der bisherige Kongresspräsident Manuel Merino als Übergangspräsident vereidigt. Premierminister wurde der ultrarechte Ántero Flores Aráoz, der bereits unter Alan García als Verteidigungsminister gedient hatte.

Der überraschende Regierungswechsel, der nur fünf Monate vor den Wahlen stattfand und in vielen Medien als Putsch bezeichnet wurde, trieb in den Tagen darauf Zehntausende auf die Straße. „In vielen Nachrichten aus dem Ausland hieß es, dass die Proteste für Vizcarra waren. Es stimmt sicher, dass einige Leute damit einverstanden gewesen wären, dass Vizcarra wieder ins Amt zurückkehrt, aber ich denke, dass die große Mehrheit gegen die Art der Machtübernahme protestierte“, meint die Demonstrantin Cathy Viviana. Sie und viele andere Peruaner*innen seien an diesem Tag aus Empörung auf die Straße gegangen: „Wir wollten unsere Ablehnung gegenüber dem zeigen, was offensichtlich beabsichtigt wurde: Die Kongressmehrheit, allesamt korrupt, wollte die Macht an sich reißen, um sich von den Anschuldigungen gegen sich und ihre korrupte Führung rein zu waschen.“

In der Hauptstadt Lima fiel die Repression gegen die friedlichen Proteste mit einer bisher ungesehenen Härte aus. Schon der erste Protesttag nach Vereidigung der neuen Regierung war von Spannungen zwischen Polizei und Demonstrant*innen gekennzeichnet, wie Viviana berichtet: „Zunächst waren wir eine kleine Gruppe, aber nach und nach kamen Leute mit Plakaten und einer riesigen Flagge dazu. Sie wurde uns von der Polizei abgenommen, um eine Reaktion zu provozieren und uns dann angreifen zu können.“

Nach den landesweiten Großdemonstrationen am 12. und 14. November mussten nach Angaben des Gesundheitsministeriums 210 Menschen in Krankenhäusern in Lima und Cusco wegen Verletzungen durch Schusswaffen und Tränengas behandelt werden, Angehörige beklagten zudem mehrere Verschwundene. Erst am 19. November gab die peruanische Ombudsstelle für Menschenrechte bekannt, dass alle Verschwundenen wieder aufgetaucht seien: Einige hatten mehrere Tage in Krankenhäusern verbracht, andere waren Opfer von illegalen Verhaftungen geworden. Die neue Regierung zeigte sich währenddessen ignorant gegenüber den Protestierenden: „Ich möchte gerne verstehen, dass es etwas gibt, das sie beunruhigt, aber ich weiß nicht was“, ließ Ministerpräsident Flores Aráoz nach den ersten Protesten verlauten.

Politik für Peruaner*innen, nicht für das Großkapital

Videos von massivem Tränengaseinsatz, brutaler Polizeigewalt und Verhaftungen durch Personen in Zivil erreichten soziale Medien wie TikTok und Instagram noch vor den traditionellen. Erstmals wurde bei Protesten in Peru auch der Einsatz von Glasmurmeln und Bleischrot nachgewiesen. An letzterem kamen die beiden Demonstranten Inti Sotelo Camargo (24) und Bryan Pintado Sánchez (22) ums Leben. Ihre Angehörigen fordern seither Aufklärung: „Wir wissen, dass alle Polizisten auf Befehl von oben arbeiten. Es schmerzt mich, dass mein Bruder sein Leben opfern musste. Aber nehmen wir dies zum Anlass, dass es nicht noch einmal passiert“, sagte Pacha Sotelo auf einer Pressekonferenz am 18. November.

Betroffene und Menschenrechtsorganisationen fordern auch die Aufklärung der illegalen Verhaftungen. Im Mittelpunkt steht der Vorwurf der Infiltration der Proteste durch Mitglieder der Gruppe Terna, die eigentlich für die Aufspürung (klein-)krimineller Netzwerke zuständig ist. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, den Demonstranten Luis Fernando Araujo am 14. November verschleppt, bedroht und für drei Tage in ein fensterloses Zimmer gesperrt zu haben. Anwält*innen und Menschenrechtsorganisationen fordern nun die Abschaffung der Gruppe und haben wegen vorsätzlichen Mordes, Amtsmissbrauchs und schwerer Körperverletzung Strafanzeige gegen Merino und hohe Funktionsträger in Kabinett, Polizei und Militär eingereicht.

Doch eine juristische Aufarbeitung könnte durch das neue Polizeischutzgesetz, genannt ley gatillo, erschwert werden, das im März 2020 Jahres auf Drängen des damaligen Parlamentspräsidenten Merino auf den Weg gebracht wurde. Weil die Verhältnismäßigkeit des Waffengebrauchs dort nicht näher definiert ist, fürchten Menschenrechtsorganisationen dessen Anwendung auf die bei den Protesten begangenen Menschenrechtsverletzungen. Der Vorsitzende der Landeskoordination für Menschenrechte in Peru, Jorge Bracamonte, fordert deshalb neben staatlicher Entschädigung für Opfer und Angehörige auch die Aufhebung des Polizeischutzgesetzes.

Empörung in den sozialen Netzwerken treibt die Proteste an

„Wir haben es in Peru mit einer sich militarisierenden Polizei zu tun. Das kann man am ley gatillo sehen, aber auch am Verhalten der Polizei außerhalb der Städte. Dort laufen teilweise Deals mit transnationalen Unternehmen und die Bevölkerung wird unterdrückt. Dass jetzt in Lima Leute drei oder vier Tage verschwunden bleiben, hat bei älteren Leuten einen Déjà-vu-Effekt ausgelöst: Sie haben sich an die 80er-Jahre (bewaffneter interner Konflikt, Anm. der Red.) erinnert gefühlt“, erläutert der Anthropologe Rodríguez.

Der neue liberal-konservative Präsident Fernando Sagasti, der das Amt seit dem 17. November 2020 kommissarisch führt, hat angekündigt, die Menschenrechtsverletzungen im Zuge der Proteste nicht ungestraft zu lassen. Seine Partei hatte geschlossen gegen die Amtsenthebung gestimmt. Sagasti betonte, die Wiederherstellung der Ordnung habe jedoch oberste Priorität: „Wir werden wegen des Verhaltens einzelner Beamte nicht die gesamte Polizei beflecken.” Ob er mit diesen Worten die immer weitreichenderen Forderungen der Zivilgesellschaft einfangen kann, ist fraglich. „Wir wollen, dass bei den Neuwahlen im April 2021 ein Präsident gewählt wird, der die Interessen der Peruaner über die Interessen des Großkapitals stellt. Ich persönlich hoffe, dass es eine Verfassungsreform geben wird, die den Korrupten keine rechtlichen Schlupflöcher hinterlässt“, so Cathy Viviana, die auch nach der Absetzung Merinos weiter auf die Straße ging.

„Die Korruptionsskandale der vergangenen Jahre haben auch das Thema der Verfassung wieder auf die Agenda gebracht, denn es wurde argumentiert, dass das Ausmaß institutionalisierter Korruption durch den Verfassungsrahmen von 1993 ermöglicht wird“, erläutert Giancarlo Castiglione. „Dort werden sogenannte contratos ley (Verträge mit Gesetzesrang, Anm. d. Red.) ermöglicht, um ausländische Investitionen mit Sicherheitsgarantien und günstigen Steuern anzulocken.“

Auch Jorge Rodríguez sieht in der neoliberalen Verfassung einen Angelpunkt dafür, dass die Proteste in Teilen weiterhin anhalten: „Das vermeintliche peruanische Wirtschaftswunder ist durch die Covid-19-Krise zusammengebrochen: Die Menschen haben selbst erlebt, was es bedeutet, wenn das Recht auf Gesundheit nicht garantiert wird und das Gesundheitssystem privatisiert ist“, sagt er gegenüber LN. Peru hat in der Pandemie eine der weltweit höchsten Mortalitätsraten und über sechs Millionen Arbeitslose. Die Gesundheitskrise und die politische Krise hätten „die Leute zum Nachdenken gebracht und neue Diskussionen eröffnet“, so Rodríguez. Die Linke müsse diese nun mit Inhalt füllen. „Die Proteste gegen Merino waren sehr heterogen, dementsprechend sind auch die Vorstellungen darüber, was mit einer neuen Verfassung überhaupt erreicht werden soll, sehr unterschiedlich.“ Man solle nicht gebetsmühlenartig nach der neuen Verfassung rufen, es sei wichtiger, die Leute von Programmen zu überzeugen, meint er. „Sonst können sie genauso gut die Liberalen wählen, die fordern auch eine neue Verfassung.“

„Mehrere Fraktionen im Parlament sind durchaus empfänglich für die Diskussion über notwendige Verfassungsreformen,“ meint auch Giancarlo Castiglione. Ob es zu einer Verfassunggebenden Versammlung kommt, hänge aber auch vom Druck der Straße ab. Für viele der Anfang- bis Mitte-Zwanzigjährigen war es das erste Mal, dass sie an Protesten teilnahmen. „Die Jugend in Peru war über lange Zeit eher unpolitisch. Die, die jetzt protestieren, wollen nichts mit Parteipolitik zu tun haben, gehen aber dennoch auf die Straße”, erklärt der Politanalyst. Politisierung verlaufe heutzutage anders: „Die Empörung in den sozialen Netzwerken, beispielsweise über Korruption, ist dabei ein wichtiger Treiber.“ Wie weit die derzeitige Aufbruchstimmung reicht, wird sich auch bei den kommenden Wahlen im April 2021 zeigen.

MIT GOTT UND MILITÄR

Der Präsident El Salvadors, Nayib Bukele, ist seit Juni 2019 im Amt (Foto: Presidencia El Salvador)

Nayib Bukele von der Mitte-Rechts-Partei GANA hat es wieder einmal in die internationalen Schlagzeilen geschafft. Nach seinem deutlichen Wahlsieg in der Präsidentschaftswahl im Februar vergangenen Jahres und seinem Selfie vor der UN-Generalversammlung im September steht er dieses Mal allerdings deutlich in der Kritik. Für den 9. Februar – einen Sonntag – hatte der salvadorianische Präsident das Parlament zu einer umstrittenen Sondersitzung befohlen. Als die meisten Abgeordneten sich weigerten, zu erscheinen, lief er gemeinsam mit Soldat*innen und Polizist*innen in Kampfuniform in den Plenarsaal ein. Dort betete er zu Gott, der ihm vermeintlich zuflüsterte, sich in „Geduld zu üben“.

Die brachialen Bilder des militärisch besetzten Parlaments haben eine Vorgeschichte: Der häufig als Twitterpräsident bezeichnete Bukele, der seine Meinung und Befehle vor allem über den Kurznachrichtendienst verbreitet, kann seit Monaten vor allem einen Erfolg vorweisen: die Senkung der Mordrate. Die Tendenz hatte zwar 2016 unter der linken FMLN-Regierung begonnen, sich aber unter Bukeles Regierung erheblich verstärkt. Dass dies vor allem auf einem Abkommen mit den Jugendbanden, den sogenannten Maras, beruhen könnte, ist zwar nicht bewiesen, aber recht offensichtlich. Die Regierung spricht von einem Sicherheitsplan mit sieben Etappen, von dem sie bisher jedoch nur zu drei Etappen diffuse Informationen veröffentlicht hat. Das Parlament billigte den Haushalt für 2020 mit erheblich gesteigerten Mitteln für die Ressorts innere Sicherheit und Verteidigung und winkte auch einen Kredit über 91 Millionen US-Dollar für die zweite Etappe des Sicherheitsplans mit einfacher Mehrheit durch. Damit darf die Regierung laut salvadorianischem Recht Verhandlungen mit dem Kreditgeber aufnehmen. Für eine endgültige Bewilligung ist anschließend eine Zweidrittelmehrheit nötig.

Parallel dazu beantragte die Regierung nun einen weiteren Kredit über 109 Millionen US-Dollar, mit dem neben Polizeiausrüstung und Videoüberwachung auch Helikopter und ein Patrouillenboot angeschafft werden sollen. Als die nötigen Stimmen beinahe zusammen waren, kamen Bilder von Osiris Luna Meza, dem Leiter der salvadorianischen Strafvollzugsanstalten, an die Öffentlichkeit. Sie zeigen ihn in einem Privatflugzeug auf einer vermeintlichen Arbeitsreise nach Mexiko. In den sozialen Netzwerken ging daraufhin die Frage „Wer hat die Mexikoreise bezahlt?“ viral. Schließlich stellte sich heraus, dass es sich bei dem Finanzier um die Firma SeguriTech mit Sitz in Mexiko handelt. Sie geriet während der Amtszeit des mexikanischen Präsidenten Enrique Peña Nieto (2012-2018) wegen mangelhafter Überwachungstechnologie stark in die Kritik. Für die gleiche Technologie sind nun in einem der Kreditanträge rund 25 Millionen US-Dollar vorgesehen.

Bukele betete theatralisch zu Gott

Die FMLN-Regierung hatte in ihrer Amtszeit von 2009 bis 2019 oft über Monate und sogar Jahre hinweg mit der rechten Parlamentsmehrheit gerungen, um zum Beispiel Kredite für ein neues Zentralkrankenhaus in der Hauptstadt San Salvador oder die Modernisierung der wichtigsten Wasseraufbereitungsanlage für die Hauptstadtregion bewilligt zu bekommen. Der junge Präsident Bukele zeigt sich hingegen schon nach wenigen Wochen ungeduldig und wenig kompromissbereit.

Dies wurde besonders deutlich, als er auf einen für Katastrophenfälle gedachten Verfassungsparagraphen zurückgriff, der es dem Kabinett erlaubt, das Parlament zu einer Sondersitzung einzuberufen. Diese setzte er für Sonntag, den 9. Februar an und rief gleichzeitig zu einer Massendemonstration vor dem Parlament auf. Die Abgeordneten lehnten die Sondersitzung mehrheitlich ab.

In den Tagen vor dem 9. Februar spitzte sich die Situation zu. Staatsbedienstete wurden von Bukele unverhohlen dazu aufgefordert, an der Demo teilzunehmen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden. Am Sonntagmorgen war das Behördenviertel rund um das Parlament mit Militär­einheiten besetzt. Von den 84 Abgeordneten waren nur gut zwanzig vor Ort. Die FMLN-Fraktion wurde von eigenen Anhänger*innen beschützt, nachdem die Verantwortlichen der Polizei den Abgeordneten die Leibwächter*innen entzogen hatten.

Die öffentlichen Reaktionen fielen bis Sonntagmorgen eher zurückhaltend aus: Die Jesuitenuniversität UCA bezog früh kritisch Stellung, ebenso wie einige soziale Organisationen und Institute, während Luis Almagro, der US-hörige Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) der Regierung sein Vertrauen aussprach und der US-Botschafter zur Ruhe aufrief. Als sich die Situation weiter verschärfte, meldete sich die EU mit einem kritischen Kommuniqué zu Wort. Auch die Vereinten Nationen und vor allem der US-Botschafter Ronald Johnson äußerten sich immer deutlicher, während die Katholische Kirche und die Nationaluniversität UES sich in Schweigen hüllten.

Vor dem Parlament demonstrierten statt der erhofften Massen gerade einmal 5.000 Personen, viele von ihnen hatten das Angebot einer kostenlosen Reise in die Hauptstadt inklusive Verpflegung angenommen.

Auch eine erneute Sonntagsdemo für den „Volksaufstand“ in der darauffolgenden Woche versammelte nur 300 Personen, während sich in den (sozialen) Medien Entsetzen über das Vorgehen Bukeles abzeichnete. Letztlich erklärte das Verfassungsgericht die Entscheidungen des Präsidenten für gesetzeswidrig, weshalb der Kredit für die innere Sicherheit vorläufig auf Eis gelegt wurde.

300 Personen auf der Demo für den „Volksaufstand“

Bukele hat die rechte Arena-Partei und die linke FMLN in eine Ecke gedrängt, in der sie gemeinsam die Nachkriegsordnung inklusive der in der öffentlichen Wahrnehmung völlig diskreditierten Judikative, Legislative und Staatsanwaltschaft verteidigen. Dabei können sie auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und wohl auch breiter Teile des Bildungsbürgertums zählen. Die Frage ist jedoch, ob Bukele mit seinem konfrontativen Diskurs gegen das „alte“ und „korrupte“ System bis zu den Parlamentswahlen im Februar 2021 seine vergleichsweise breite Unterstützung halten kann. Gelingt dies, könnten im Parlament neue Mehrheitsverhältnisse entstehen, die ihm eine Vertiefung seines diffusen populistischen Projekts erlauben würden.

Die Lähmung der rechten Arena und der linken FMLN, die beide in interne Streitigkeiten verwickelt und öffentlich weitgehend diskreditiert sind, kommt Bukele dabei recht. Gegenwind droht ihm dennoch, da die Fortschritte im Bereich innerer Sicherheit fragil sind und die Wirtschaftspolitik des neuen Präsidenten bisher keine Verbesserungen erkennen lässt. Die systematische Demontage auch anerkannter Fortschritte der FMLN-Regierung, der harsche und populistische Umgangston und die Anfälligkeit für Korruption sind weitere Risikofaktoren. Nicht zuletzt aber droht Gefahr aus den eigenen Reihen. Denn in Bukeles politischem Umfeld tummeln sich Leute mit Machtansprüchen. Dies birgt für die internen Vorwahlen für die Listen der Kommunal- und Parlamentswahlen in den nächsten Monaten einiges an Zündstoff für Konflikte innerhalb der Partei.

WAHLEN IM SCHATTEN DER KORRUPTION

Kein leichter Job Übergangspräsident Vizcarra versucht sich an der Demokratisierung des Kongresses (Foto: Ministerio de Relaciones Exteriores via Flickr CC BY-SA 2.0)

Auf den ersten Blick ähneln sich die Ereignisse. Als der damalige Präsident Alberto Fujimori im April 1992 eigenmächtig den peruanischen Kongress auflöste und verriegelte, stand eine breite Mehrheit der Bevölkerung hinter ihm. 27 Jahre später, im September 2019, erhielt der aktuelle Präsident Martín Vizcarra unerwartet viel Applaus, als er diese Maßnahme kopierte. Beide Politiker inszenierten sich als Kämpfer gegen die Korruption und wollten in ihrem jeweils zweiten Amtsjahr für frischen Wind sorgen.

Doch der Unterschied könnte nicht größer sein: Fujimori ließ damals Panzer auffahren und schuf selbst eine bis ins letzte Glied korrupte Diktatur, die sich schwerer Menschenrechtsverbrechen schuldig machte. Vizcarra hingegen verzichtete aufs Säbelrasseln und verstieß nicht gegen geltendes Recht. Allem Anschein nach geht es ihm wirklich darum, den Kongress zu demokratisieren statt ihn zu kontrollieren.

Widerstand gegen Vizcarras Vorhaben gab es nur im Kongress, dem Einkammerparlament Perus. Als dessen Wortführerinnen schwangen sich Oppositionspolitikerinnen wie Luz Salgado und Rosa Bartra auf. Sie wähnten den politisch eher moderaten Vizcarra bereits auf dem Wege Fidel Castros und „entlarvten“ ihn als Inkarnation des verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, der aus ihrer Sicht vermutlich mit dem Leibhaftigen höchstselbst identisch sei. Salgado und Bartra waren bis Ende September Abgeordnete der konservativen Fuerza Popular (FP), der Partei der Diktatorentochter Keiko Fujimori, die über die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament verfügte. Die langjährige Kongressabgeordnete Luz Salgado steht – wie viele ihrer Parteifreund*innen auch – bereits seit Beginn der 1990er Jahre im Dienst des Fujimori-Clans. So vehement sie gegen Vizcarra Front machte, so leidenschaftlich verteidigte sie 1992 den Putsch ihres damaligen Mentors Alberto Fujimori.

Die von Vizcarra veranlasste Schließung des Kongresses steht in direktem Zusammenhang mit der Welle von Korruptionsprozessen, die Peru momentan überzieht. Fast alle Präsidenten der vergangenen 35 Jahre werden verdächtigt, Bestechungsgelder des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht angenommen zu haben. Sie haben sich ihren Lebensabend ebenso gründlich ruiniert wie ihre Reputation: Alan García, zweimaliger Präsident von 1985 bis 1990 und von 2006 bis 2011, schoss sich im April vergangenen Jahres eine Kugel in den Kopf, nachdem Polizisten an seiner Haustür geklingelt hatten, um ihn ins Untersuchungsgefängnis zu eskortieren. Alejandro Toledo, Präsident von 2001 bis 2006, sitzt in den USA in Auslieferungshaft. Gegen Toledos Nachfolger Ollanta Humala (2011 bis 2016) und Pedro Pablo Kuczynski (2016 bis 2018) wird ebenfalls eine Anklage vorbereitet. Humala saß bereits knapp zwei Jahre im Untersuchungsgefängnis, der 81-jährige Kuczynski steht seit April letzten Jahres unter Hausarrest. Nur Alberto Fujimori (1990 bis 2000) sitzt nicht wegen Odebrecht, obwohl der Konzern auch an ihn zahlte. Stattdessen verbüßt er seit 15 Jahren eine 25-jährige Haftstrafe wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen. Hätte er nicht morden, entführen und foltern lassen, so säße er wegen Bestechung, Erpressung und Wahlfälschung, denn nach peruanischem Recht zählt nur die höchste Strafe.

Alan García nahm Schmiergelder in Brotdosen an

Seit dem Tod von Alan García, langjähriger Vorsitzender der einst sozialdemokratischen Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA), gelangen immer mehr Details seines Falls ans Tageslicht. Garcías ehemaliger Generalsekretär im Präsidentenpalast, Luis Nava, ebenfalls hinter Gittern, bezeugte unlängst, dass Odebrecht seinem Chef regelmäßig Schmiergelder in Rucksäcken, Koffern und Brotdosen zukommen ließ. Als Gegenleistung soll Odebrecht überteuerte Aufträge für den Bau einer Metrolinie in Lima und eines Straßenprojekts erhalten haben. Nava erinnerte sich auch an ein anderes Ermittlungsverfahren: 1986 setzte García als Präsident die Armee ein, um eine Revolte von Gefangenen der maoistischen Guerillaorganisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) im Hochsicherheitsgefängnis El Frontón niederzuschlagen. Dabei wurden 133 Gefangene getötet. Als die Behörden deswegen Ermittlungen gegen García aufnahmen, ließ dieser dem zuständigen Staatsanwalt laut Nava einen 25.000 US-Dollar schweren Umschlag zukommen. Danach wurde das Verfahren eingestellt.

In Kürze beginnt der Prozess gegen Ollanta Humala und seine Frau Nadine Heredia. Beide sollen unter anderem gegen großzügige Spenden in einem intransparenten Ausschreibungsverfahren Konzessionen für die Ausbeutung eines Gasfeldes an Odebrecht vergeben haben. Die Staatsanwaltschaft fordert 20 Jahre Haft für Humala und 26 Jahre für Heredia. Ähnliches Ungemach droht Alejandro Toledo, in dessen Taschen 21 Millionen US-Dollar von Odebrecht und dem brasilianischen Mischkonzern Camargo Correas für entsprechende Aufträge im Straßenbau geflossen sein sollen. In diesem Fall lässt es die Staatsanwaltschaft bei 16 Jahren Haft bewenden. Kuczynski strich als ehemaliger Minister Toledos mittels einer seiner Firmen Zuwendungen von Odebrecht ein und wird mit vergleichsweise wenig Jahren davonkommen.

Die Spur der Korruption zieht sich vom Präsidentenamt weiter zum Parlament und durch Gouverneurs- und Bürgermeisterämter bis hinein in die Provinzen. Die Oppositionsführerin Keiko Fujimori, die sich dreimal vergeblich um das Präsidentenamt beworben hatte und bei ihrem bis dato letzten Versuch 2016 nur knapp gescheitert war, saß wegen nicht deklarierter Wahlkampfspenden von Odebrecht über ein Jahr in Untersuchungshaft, weil sie nach Ansicht ihrer Richter*innen die Ermittlungen in ihrem Fall massiv behindert hatte. Ihr Prozess steht ebenfalls noch aus. Doch es geht längst nicht mehr nur um Odebrecht. So gestand der mächtige peruanische Bankier und Konzernchef Dionisio Romero der Staatsanwaltschaft im November, er habe 2011 höchstpersönlich von seinem Bankkonto auf den Kaimaninseln 3,65 Millionen US-Dollar abgehoben und diese in sechs Lederkoffern als Wahlkampfspende an Keiko Fujimori übergeben.

Illegale Spenden, die im Gegenzug mit lukrativen Bauaufträgen verknüpft waren, gingen den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zufolge auch an Susana Villarán, der ehemaligen Bürgermeisterin Limas, an ihren Vorgänger und Nachfolger Luís Castaneda und an den ehemaligen Gouverneur der Provinz San Martín, César Villanueva. Auch Villarán und Villanueva verbringen ihren Alltag zurzeit in einer Gefängniszelle. Zahlreiche Abgeordnete des aufgelösten Parlaments, darunter Luz Salgado, müssen nach dem Verlust ihrer Immunität ebenso mit Anklagen rechnen wie weitere Gouverneur*innen, Richter*innen und Staats­anwält*innen.

Es scheint so, als würde die Justiz überall dort, wo sie ermittelt, in ein Wespennest stoßen. Doch die Justiz sticht längst nicht in jedes Nest, denn viele hochrangige Richter*innen und Staatsanwält*innen gehören selbst kriminellen Vereinigungen an. Im Juni 2018 flog ein Netz korrupter Richter*innen und Staatsanwält*innen mit dem Namen „Die Weißen Kragen des Hafens“ auf. Der Kopf der Bande mit Sitz in Limas Hafenbezirk Callao war der ehemalige Richter am Obersten Gerichtshof, César Hinostroza. Die „Weißen Kragen“ erpressten Bestechungsgelder für die Vergabe von Justizposten, manipulierten Urteile durch Absprachen und pflegten erstklassige Beziehungen zur Drogenmafia sowie – das belegen abgehörte Telefongespräche – zur FP. Sie kontrollierten bis 2018 sogar den Nationalen Richter*innenrat (Consejo Nacional de Magistratura, CNM), der für die Evaluierung, Ernennung und Absetzung von Richter*innen zuständig war. Die Parlamentsmehrheit um die FP hielt Hinostroza, der ausgerechnet Berufungsverfahren in wichtigen Korruptionsfällen leitete, selbst nach seiner Enttarnung noch weiter im Amt. Nicht zuletzt dadurch konnte er seiner Festnahme durch eine Flucht nach Spanien entgehen. Während er dort in Auslieferungshaft sitzt, besetzen von den „Weißen Kragen“ eingesetzte Richter*innen immer noch Schlüsselstellen in der Justiz.

Immerhin wurde der FP mit dem Kongress nun ein wichtiges Forum entzogen. Die Parlamentsmehrheit um die FP und die APRA hatte im September in aller Eile versucht, mehrere Richter*innenstellen im obersten Verfassungsgericht mit eigenen Leuten zu besetzen, ohne die Auswahlkriterien transparent zu machen. Ein von Präsident Vizcarra in den Kongress eingebrachtes Gesetz, das eine größere Transparenz bei Richter*innenwahlen durch das Parlament garantieren sollte, wurde dagegen abgeschmettert. Nachdem der Kongress dann noch einen Cousin des amtierenden Parlamentspräsidenten von der FP zum Verfassungsrichter gekürt hatte, zog Präsident Vizcarra die Reißleine und ließ den Kongress schließen. Anschließend wurde die Richter*innenwahl annulliert, weil ein Widerspruch von zwei Abgeordneten gegen die Vetternwirtschaft nicht mehr verhandelt werden konnte.

Die FP hatte es mit der Wahl der Verfassungsrichter*innen deshalb so eilig, weil Keiko Fujimori zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis saß und nur das Verfassungsgericht ihre zweieinhalbjährige Untersuchungshaft wieder aufheben konnte. Drei der sieben Richter*innen des Verfassungsgerichts, darunter der Vorsitzende Ernesto Blume, verfügten über enge Bindungen zum Fujimori-Clan. Mit einem vierten Richter hätte sich die Fujimori-Partei die Mehrheit in diesem Gremium gesichert. Doch Blume gelang es auch so, einen weiteren Kollegen zu überzeugen: Ende November 2019 verfügten die Verfassungsrichter*innen mit vier zu drei Stimmen die sofortige Freilassung Keiko Fujimoris – gerade noch rechtzeitig für den anstehenden Wahlkampf.

Das neue Parlament hat nur einen Übergangscharakter, denn bereits im April 2021 stehen wieder turnusmäßig Präsidentschafts- und Kongresswahlen an. Da 2018 mittels eines Referendums entschieden wurde, dass Abgeordnete sich nicht mehr in zwei aufeinander folgenden Perioden in den Kongress wählen lassen dürfen, ist eine Kandidatur für viele Abgeordnete zum jetzigen Zwischentermin nicht sonderlich attraktiv. Nach den letzten Umfragen sieht es so aus, als sollte die Acción Popular, eine rechtskonservative Partei, die vom ehemaligen Präsidenten Fernando Belaúnde gegründet wurde, mit etwa 15 Prozent als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgehen. Danach folgt die FP mit einem immerhin noch zweistelligen Ergebnis. Die APRA, immer noch Mitglied der Sozialistischen Internationalen, pendelt um die fünf Prozent und könnte aufgrund der Fünfprozentklausel den Einzug ins Parlament verpassen.

Die Linke zerlegt sich wieder selbst

Die einzige linke Partei, die auf knapp über fünf Prozent geschätzt wird, ist die Frente Amplio, deren Kandidatin Verónika Mendoza bei den Präsidentschaftswahlen 2016 nur knapp die Stichwahl verpasste. Nach den bleiernen Jahren unter Fujimori hatte Frente Amplio und Verónika Mendoza 2016 endlich wieder für Optimismus in der Linken gesorgt. Inzwischen sind diese Hoffnungen zerstoben, denn die Linke hat sich wieder einmal selbst zerlegt. Verónika Mendoza verließ die Frente Amplio nach einem Streit mit deren Anführer Marco Arana und schmiedete ein Bündnis mit marxistisch-leninistischen Splittergruppen, das den Einzug in den neuen Kongress mit großer Wahrscheinlichkeit nicht schaffen wird. Immerhin ist es sehr wahrscheinlich, dass die FP ihre absolute Mehrheit verlieren wird. Damit hätte Präsident Vizcarra freie Bahn für Justizreformen, die künftig verhindern, dass Parteien wie die FP Richter*innenwahlen für ihre Zwecke missbrauchen.

JEDEN DIENSTAG EIN SHOWDOWN

Politische Schwergewichte Das Kräftemessen um den Parlamentsvorsitz hält weiter an (Foto: Olga Berrios, CC BY 2.0)

Er sucht die internationale Bühne. Am 23. Januar, genau ein Jahr nachdem er sich in Caracas selbst zum venezolanischen Interimspräsidenten ausgerufen hatte, hielt Juan Guaidó eine Rede auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos. Wenige Tage zuvor hatte er Venezuela trotz Ausreiseverbots verlassen. In Bogotá nahm er an einem regionalen Anti-Terrorismus-Gipfel teil, traf den kolumbianischen Präsidenten Iván Duque und US-Außenminister Mike Pompeo. Es folgte die Reise nach Europa mit den Stationen London, Brüssel und Davos, wo er mit mehreren Spitzenpolitiker*innen zusammentraf, darunter dem britischen Ministerpräsidenten Boris Johnson und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrel. Guaidós Botschaft war überall die gleiche: Die Opposition werde weiterkämpfen, bis sie die „Freiheit“ erlangt habe.

Interne Brüche in der Opposition

Mit seiner Reise will Guaidó den venezolanischen Machtkampf wieder ins Gespräch bringen und sich weitere internationale Unterstützung sichern. Die Anerkennung durch fast 60 Regierungen ist nach wie vor das größte Faustpfand des Oppositionsführers. Innerhalb Venezuelas erreichte er im vergangenen Jahr so gut wie nichts, zuletzt stand er auch intern stark in der Kritik. Ein Machtkampf um das venezolanische Parlament droht ihm nun auch noch sein einziges tatsächliches Amt zu kosten: Seit Anfang des Jahres erhebt neben Guaidó noch ein weiterer Politiker Anspruch auf den Parlamentsvorsitz. Da der Oppositionsführer sein angebliches Recht auf die Interimspräsidentschaft vom Parlamentsvorsitz ableitet, ist dieser Posten für ihn entscheidend. In einer chaotischen Sitzung am 5. Januar wählten die anwesenden Abgeordneten aber zunächst den abtrünnigen Oppositionellen Luis Parra an die Spitze der Legislative.

Politische Institutionen in doppelter Ausführung

Bis Dezember gehörte Parra der rechten Partei Primero Justicia an. Er gilt als eine der Schlüsselfiguren eines Korruptionsskandals, den die Rechercheplattform armando.info am 1. Dezember 2019 aufgedeckt hatte. Insgesamt neun oppositionelle Abgeordnete sollen regierungsnahen Geschäftsleuten dabei geholfen haben, für das Lebensmittelprogramm der Regierung US-Sanktionen zu umgehen. Drei der Beschuldigten gehörten bis zu ihrem Ausschluss der Partei Voluntad Popular von Juan Guaidó an. Seitdem kursierten Gerüchte, dass die Regierung Parlamentarier*innen besteche, um einen anderen Oppositionskandidaten an die Spitze des Parlaments zu wählen. Umgekehrt warfen einige der abtrünnigen Abgeordneten Guaidó vor, ihnen für ihre Stimme Geld angeboten zu haben. Parra betonte nach seiner Wahl, dass er weiterhin in Opposition zur Regierung stehe, kündigte aber ein Ende der Konfrontationspolitik an. Gleichzeitig warf er Guaidó vor, Venezuela in eine „Sackgasse“ geführt zu haben und versucht sich seither, als unabhängiger Oppositioneller jenseits von Guaidó und der Regierung Maduro zu inszenieren.

In der von Tumulten begleiteten Abstimmung am 5. Januar hatte Parra angeblich 81 Stimmen bekommen. Anwesend waren laut unterschiedlichen Quellen bis zu 150 Abgeordnete. Die venezolanische Nationalversammlung hat 167 Sitze, von denen mehrere aufgrund von Suspendierungen zurzeit nicht besetzt sind. Neben den 50 Abgeordneten der regierenden PSUV müssten demnach 31 Oppositionelle für Parra gestimmt haben. Doch daran gibt es Zweifel. Zwar gilt als erwiesen, dass das für die Eröffnung einer Parlamentssitzung nötige Quorum von 84 Abgeordneten erreicht wurde. Doch eine Namensliste der Abstimmung veröffentlichte das neu gewählte Präsidium nicht. Später behauptete Parra, die Liste sei gestohlen worden. Gar nicht im Saal war Guaidó selbst, der die Sitzung als amtierender Parlamentsvorsitzender normalerweise hätte eröffnen müssen. Die Regierung hatte das Parlamentsgebäude im Zentrum der Hauptstadt Caracas von Polizei und Nationalgarde absperren lassen und die Abgeordneten vor dem Betreten kontrolliert. Guaidó behauptete, dass er sowie weitere Oppositionelle nicht zum Parlamentsgebäude vorgelassen worden seien. Videoaufnahmen zeigen jedoch, dass er das Parlament sehr wohl hätte betreten dürfen. Doch bestand er gegenüber den dort postierten Nationalgardisten darauf, dass ihn mehrere suspendierte Abgeordnete begleiten. Anschließend versuchte er medienwirksam, über den Zaun zu klettern. Am späten Nachmittag ließ sich Guaidó in den Redaktionsräumen der oppositionellen Zeitung El Nacional dann mit angeblich 100 Stimmen selbst zum Parlamentsvorsitzenden wählen. Sofern beide Ergebnisse stimmen, müssten einige Abgeordnete an beiden Abstimmungen teilgenommen und auch für beide Kandidaten gestimmt haben. Glaubwürdig rekonstruieren ließen sich die Ereignisse bisher nicht.

Showdown der zwei Parlaments­präsidenten

Zwei Tage später hielt Parra zunächst erneut eine kurze Sitzung im Parlamentsgebäude ab, bis Guaidó und seine nach eigenen Angaben 100 Abgeordneten das Gebäude stürmten. Dort wählten sie Guaidó erneut zum Parlamentsvorsitzenden – diesmal am dafür vorgesehenen Ort, an dem sie die „Rückeroberung“ der Nationalversammlung feierten. Seitdem kommt es jeden Dienstag zum Showdown, an dem das Parlamentsgebäude jeweils zeitgleich von beiden Parlamentspräsidenten für ihre jeweilige Sitzung beansprucht wird. Die regierungsnahe Verfassunggebende Versammlung (ANC), die seit Mitte 2017 als eine Art Parallelparlament fungiert, will das Gebäude bis auf Weiteres für eigene Sitzungen nutzen, sofern nicht Parra eine Sitzung beantragt. Die Guaidó-Sektion muss seither auf andere Orte ausweichen – ob mit oder ohne die Anwesenheit des Oppositionsführers.

Tatsächlich ist der Konflikt noch nicht entschieden. Die Regierung Maduro erkannte die Wahl von Luis Parra als rechtmäßig an, auch wenn dieser nach jüngstem Stand keineswegs die Mehrheit der Abgeordneten hinter sich hat. Das oberste Gericht forderte Parra dazu auf, die Teilnahme- und Abstimmungslisten der Sitzung einzureichen, während die US-Regierung Sanktionen gegen ihn sowie sechs weitere Abgeordnete und Regierungsfunktionäre verhängte, denen sie vorwirft, an Maduros „gescheitertem Versuch, die Kontrolle über die Nationalversammlung zu übernehmen“ teilgenommen zu haben.

Doch es geht im venezolanischen Konflikt schon lange nicht mehr um die korrekte Einhaltung von Formalitäten, sondern darum, wer in der Lage ist, seine Verfassungsinterpretation durchzusetzen. Durch die neue Runde im Machtkampf droht die Regierung Maduro weiter an internationaler Unterstützung zu verlieren. Selbst befreundete Regierungen wie die argentinische und mexikanische kritisierten die Militarisierung des Parlamentsgebäudes. Auf der Ebene der Großmächte unterstützen die USA weiterhin Guaidó, während die russische Regierung die Wahl Parras als „legitimen demokratischen Prozess“ lobte.

Aufhebung der US-Sanktionen in weiter Ferne

Die venezolanische Opposition wiederum könnte innerhalb des Landes nun ihre letzte institutionelle Bastion einbüßen und noch abhängiger von der US-Regierung werden. Wahrscheinlich ist, dass die regulär für Ende des Jahres vorgesehenen Parlamentswahl vorgezogen wird. Aufgrund der Spaltung der Opposition könnte die Regierung dann womöglich triumphieren.

Guaidó will den Konflikt um das Parlament dazu nutzen, seine verlorene Mobilisierungsfähigkeit wiederzuerlangen und den venezolanischen Machtkampf zurück auf die Straße zu bringen. Es ist voraussichtlich seine letzte Chance, sich als Oppositionsführer zu behaupten. Schon seit Längerem gab es Unzufriedenheit mit Guaidós Kurs. Denn weder gelang es ihm, das venezolanische Militär auf seine Seite zu ziehen, noch führten die US-Sanktionen zu einem institutionellen und sozialen Zusammenbruch des Landes. Auf der Straße konnte er zuletzt kaum noch mobilisieren und zaghafte Verhandlungsversuche unter Vermittlung Norwegens versandeten.

Und es gibt bereits seit Mitte vergangenen Jahres Veruntreuungsvorwürfe gegen Guaidó: Ende November entließ er seinen „Botschafter“ in Kolumbien, den altgedienten Oppositionspolitiker Humberto Calderón Berti. Dieser bekräftigte anschließend, dass Guaidós Umfeld nach dem Versuch, im Februar von Kolumbien aus Hilfsgüter über die Grenze zu bringen, Gelder unterschlagen habe. Dabei soll es unter anderem um Mittel für desertierte Soldaten gehen, die stattdessen für Prostituierte sowie Alkohol ausgegeben worden seien.

Der aktuelle Konflikt ums Parlament offenbart interne Brüche in der Opposition, hat Guaidó aber teils nochmal taktischen Rückhalt verschafft. Die schweren wirtschaftlichen Probleme Venezuelas bleiben derweil ungelöst, während die politischen Gewalten weiteren Schaden nehmen.
Die meisten politischen Institutionen gibt es mittlerweile in doppelter Ausführung, wobei die Opposition die Ämter des Präsidenten, Parlamentspräsidenten, der Generalstaatsanwältin oder der Richter*innen des Obersten Gerichts nur scheinbar und teilweise außerhalb Venezuelas ausübt. Eine politische Lösung, die die Aufhebung der US-Sanktionen und die ausgehandelte Neuwahl aller politischer Gewalten beinhalten müsste, scheint in noch weitere Ferne gerückt zu sein.

Daran wird auch Guaidós Auslandsreise nichts ändern. Die Frage ist, ob er, wie als er im März vergangenen Jahres Lateinamerika bereiste, problemlos wieder einreisen kann.

„ALLE SOLLEN GEHEN!“

„Dieses Vorhaben wird die Pfeiler der Republik zementieren, auch wenn dies bedeutet, dass wir alle gehen müssen!“ So kündigte Präsident Martín Vizcarra überraschend das Projekt der vorgezogenen Neuwahlen am 28. Juli, dem peruanischen Nationalfeiertag, in seiner Rede vor dem Parlament an. Sein Vorschlag: Die erst 2021 wieder anstehenden Wahlen schon im nächsten Jahr abzuhalten, sie durch ein Referendum zu legitimieren und durch den Kongress, das peruanische Einkammerparlament mit 130 Abgeordneten, absegnen zu lassen. „Auf die Stimme des Volkes muss gehört werden!“ Doch Ende September legte das durch die Opposition kontrollierte Parlament den Vorschlag kurzerhand ad acta und befasste sich stattdessen mit der Neubesetzung des Verfassungsgerichts – ohne Debatte, im Eilverfahren und vor allem gegen den Willen Vizcarras, der eine Vertrauensfrage an diesen Prozess geknüpft hatte. Daraufhin erklärte Vizcarra in einer Fernsehansprache am 30. September die nunmehr zweite Vertrauensfrage der Regierung für gescheitert und verkündete die sofortige Auflösung des Parlaments. Mit der Opposition sei „keinerlei Einigung“ möglich, behauptete er und berief sich wiederholt auf die peruanische Verfassung. Diese ermächtigt ihn laut Artikel 134 nach zweimalig gescheiterter Vertrauensfrage den Kongress aufzulösen.

Die Auflösung des Kongresses wurde auf den Straßen gefeiert

Die Reaktion der Opposition ließ nicht lange auf sich warten: Noch am gleichen Abend stimmten die im Parlamentsgebäude verbliebenen oppositionellen Abgeordneten dafür, Vizcarra für zwölf Monate von seinem Amt zu suspendieren. Sie kritisierten Vizcarras Verhalten als nicht verfassungsgemäß und ernannten die Vizepräsidentin Mercedes Aráoz zur Interimspräsidentin. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Parlament bereits offiziell aufgelöst. Nach nur einem Tag erklärte Aráoz dementsprechend auf Twitter ihren Rücktritt, um den Weg für schnellstmögliche Neuwahlen frei zu machen, und rief auch Vizcarra zum Rücktritt auf. Sie bezeichnete die verfassungsmäßige Ordnung Perus als „zerbrochen“. Die Peruaner*innen manifestierten indes ihren Zuspruch für die Entscheidung Vizcarras auf den Straßen des Landes. Militär und Polizei verkündeten ihre Loyalität zum Präsidenten und entschieden damit das Machtverhältnis vorerst zugunsten Vizcarras.

Militär und Polizei verkündeten ihre Loyalität zum Präsidenten

Dem Ganzen war ein monatelanger Machtkampf zwischen Exekutive und Legislative vorausgegangen. Vizcarra hatte dem Parlament wiederholt vorgeworfen, durch Verzögerungstaktiken und Boykottpolitik seine Antikorruptionsbemühungen auszubremsen. Dahinter vermutete er das relativ offensichtliche Ziel, dass die Opposition Politiker*innen in den eigenen Reihen vor einer Strafverfolgung zu schützen versuchte. Als Vizcarra im März 2018 die Präsidentschaft übernahm, war er mit dem Versprechen angetreten, die Korruption im Land entschieden zu bekämpfen. Seinen Vorgänger Pedro Pablo Kuczynski hatten Verstrickungen in die Korruptionsaffäre um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht zu Fall gebracht (siehe LN 526). Der Odebrecht-Skandal hat sich bisher auf die vier letzten Präsidenten des Landes vor Vizcarra ausgeweitet, darunter auf den zweimaligen Präsidenten Alan García, der sich im Zuge der Korruptionsanschuldigungen aus Angst vor einer Haftstrafe im April dieses Jahres das Leben nahm (siehe LN 539). Vizcarras Kampf gegen die Korruption wurde allerdings durch die Zusammensetzung des Parlaments so gut wie unmöglich gemacht: Über die absolute Mehrheit verfügte dort nämlich die konservative Partei Fuerza Popular, deren Vorsitzende Keiko Fujimori, Tochter des peruanischen Ex-Diktators Alberto Fujimori, seit Oktober 2018 wegen der Annahme illegaler Wahlkampfspenden des Odebrecht-Konzerns in Untersuchungshaft sitzt (siehe LN 534). Zusammen mit der Mitte-Links-Partei APRA stellte sich die Fuerza Popular als fujiaprismo konsequent gegen jegliche Reformvorhaben Vizcarras. Die sechs zentralen Gesetzesinitiativen der Regierung, die Anfang Juni dieses Jahres nach einem Volksreferendum ins Parlament getragen wurden, beinhalteten unter anderem eine Neuregelung des Aufhebungsprozesses der parlamentarischen Immunität, über die künftig eine unabhängige Instanz entscheiden sollte, statt wie bisher der Kongress selbst. Dieser Kernvorschlag der Reformen wurde abgeschmettert und ad acta gelegt. Das erscheint besonders zynisch vor dem Hintergrund, dass viele der oppositionellen Politiker*innen bereits juristisch verfolgt wurden oder werden. Einige Tage später folgte der nächste Affront: Die fujiaprismo-Abgeordneten schützten den Obersten Staatsanwalt Chávarry trotz dringender Korruptionsbeschuldigungen endgültig vor einer Amtsenthebung.

Die Opposition bezeichnet Kongress-Auflösung als nicht verfassungsgemäß


Die Regierung stellte daraufhin die Vertrauensfrage, geknüpft an eben jene sechs Reformvorhaben, denen die Parlamentarier*innen noch bis zum Ende der Legislaturperiode zustimmen sollten – sonst werde es Neuwahlen geben. Trotz absurder, hitziger Debatten sprach das Parlament der Regierung letztlich das Vertrauen aus. Eine Auflösung des Kongresses wollte man auf Seiten des fujiaprismo zu diesem Zeitpunkt anscheinend nicht riskieren. Doch die Rufe nach Neuwahlen, die seit dem Frühjahr in der Bevölkerung laut geworden waren, konnten damit nicht erstickt werden. Im August befürworteten fast drei Viertel aller Peruaner*innen laut dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos Neuwahlen. Anfang September demonstrierten tausende Bürger*innen in vielen peruanischen Städten unter dem Motto „¡Que se vayan todos!“ (Alle sollen gehen!). Als es Ende September wirklich zur Auflösung des Kongresses kam, wurde das massenhaft auf den Straßen gefeiert, aber auch in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #cierredelcongreso.

Vizcarra wirft dem Parlament vor, seine Antikorruptionsbemühungen auszubremsen


Müssen nun alle gehen? Die Arbeit des Parlaments wird vorübergehend von einer dezimierten Versammlung aus 27 Abgeordneten (comisión permanente) weitergeführt, die nur über eingeschränkte Kompetenzen verfügt. Bereits am 3. Oktober ernannte Vizcarra eine neue Regierung und bemühte sich damit, eine gewisse Normalität wiederherzustellen. Viele Abgeordnete fürchten indessen eine Strafverfolgung, der sie bisher durch ihre parlamentarische Immunität entgangen sind. Durch die Auflösung des Kongresses haben sie diese jedoch (zumindest vorübergehend) verloren. Es ist nicht verwunderlich, dass die Opposition also mit allen Mitteln versucht, die Kongress-Auflösung als nicht verfassungsgemäß darzustellen. Dabei sind sie sich auch nicht zu schade, Vergleiche zum gewaltsamen „Selbstputsch“ des Diktators Alberto Fujimori im Jahr 1992 zu bemühen. Über die Rechtmäßigkeit der Parlamentsauflösung müsste eigentlich das Verfassungsgericht entscheiden. Dieses aber war Anstoß des aktuellen Konflikts und hat sich bis dato nicht mit der Regierungskrise beschäftigt.
Es erinnert an ein bizarres Theaterstück, was sich derzeit in der peruanischen Politik abspielt. Bis jetzt scheint Vizcarra im Machtkampf mit der Legislative die Oberhand zu behalten. Die internationalen Medien stehen mehrheitlich auf seiner Seite. Die vorherrschende parlamentsfeindliche Stimmung in der Bevölkerung dürfte dazu beitragen, Vizcarras Popularität zu steigern. Ob das allerdings bedeutet, dass er im Machtkampf mit der Legislative von den Neuwahlen des Kongresses am 26. Januar 2020 profitiert, ist vollkommen unklar.

 

KAMPF DEN DINOSAURIERN

Mit Grün gegen das Patriarchat Proteste für das Recht auf  Abtreibung vor dem Kongress (Foto: Prensa Obrera, CC BY 4.0)

Grün ist die Farbe dieses argentinischen Herbstes. Zunächst waren die Dienstage und Donnerstage grün, dann wurden es alle Wochentage. Bei Aktionen im ganzen Land zogen hunderte und tausende Frauen mit grünen Halstüchern durch die Straßen und bis vor das Parlamentsgebäude. Das pañuelo verde (grünes Tuch) ist zum allgegenwärtigen Symbol für das Recht auf Abtreibung geworden, das derzeit im argentinischen Kongress diskutiert wird.

Argentinien trägt grün, denn die Debatte um Legalisierung der Abtreibung wird derzeit an jeder Straßenecke geführt. Sie ist präsenter denn je – auch wenn sie nicht ganz neu ist. Seit 30 Jahren ist das Recht auf Abtreibung eine der zentralen Forderungen der argentinischen Frauenbewegung. Seit 13 Jahren gibt es die Nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenfreie Abtreibung, ein Bündnis von mittlerweile über 300 verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Gegründet auf einem der legendären Nationalen Frauentreffen, zu denen heute jährlich 100 000 Frauen aus dem ganzen Land pilgern, hat die Kampagne ein Gesetzesprojekt zum selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch entwickelt. Der heute im Parlament zur Debatte stehende Entwurf ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit, Reflexion und Anpassung in kollektiven Prozessen. Es ist bereits der siebte Versuch, das Gesetz ins Parlament einzubringen, aber der erste, der es bis zur Verhandlung gebracht hat. Für viele ist das ein historischer Moment, der dem unermüdlichen Aktivismus, Durchhaltevermögen und nicht zuletzt dem Druck der Straße zu verdanken ist. „Wir haben unglaubliche Fortschritte gemacht“, sagt Carolina Balderrama, feministische Journalistin in der Nachrichtenagentur Telam, über die Bewegung. „Wir sind auf jeder Tagesordnung. Es gibt einfach keinen Ort mehr, an dem nicht über Feminismus, über Abtreibung, über die Rechte der Frauen diskutiert wird.“

Am 13. Juni werden zunäachst die Abgeordneten des Unterhauses über den Gesetzesentwurf abstimmen, bei positivem Ausgang wird er dem Senat vorgelegt. Zuvor hatten 738 geladene Personen jeden Dienstag und Donnerstag vom 10. April bis 31. Mai ihre Argumente für oder gegen die Gesetzesvorlage dargelegt. Vier Kommissionen erstellen auf Grundlage der Anhörungen ein Gutachten für die Abstimmung. Das Ergebnis ist denkbar knapp. Entscheidend werden die kaum 30 bislang unentschiedenen Stimmen sein, die hart umkämpft sind. Laut öffentlicher Stellungnahmen waren am letzten Anhörungstag 112 Abgeordnete für und 115 gegen den Gesetzes­entwurf, diese Zahlen jedoch variieren täglich. Sollte das Gesetz angenommen werden, würden in Argentinien Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche legal und zu einet kostenfreien medizinischen Grundleistung des Gesundheitssystems werden. Argentinien wäre damit neben Uruguay und Kuba das einzige Land in Lateinamerika, das ein bundesweites Gesetz für legale Schwangerschaftsabbrüche hätte. In anderen Ländern Lateinamerikas greifen lokale Regelungen oder straffreie Ausnahmen, Komplettverbote gibt es in Chile, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Haiti, Surinam und der Dominikanischen Republik.

Seit einem Grundsatzurteil im Jahr 2012 bleiben auch in Argentinien Abtreibungen in zwei Fällen straffrei, bei Lebensgefahr und physischen oder mentalen Gesundheitsrisiken der Schwangeren oder wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande gekommen ist. Behandlungsprotokolle für Frauen, die nach diesen Regelungen ein Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch haben, sollen den Zugang zu straffreien Abtreibungen in diesen Fällen sicherstellen. Bisher haben jedoch nur acht von 24 Provinzen überhaupt ein derartiges Protokoll aufgesetzt. Laut informeller Zahlen des Gesundheitsministeriums gibt es zwischen 400 und 500 dieser legalen Abtreibungen pro Jahr. Geheime Abtreibungen werden vom selben Ministerium allerdings offiziell auf zwischen 370.000 und 522.000 jährlich geschätzt (2009). Dabei sind seit 1983, dem Ende der Militärdiktatur, 3030 Fälle bekannt geworden, bei denen Frauen an Komplikationen bei einer Abtreibung gestorben sind. Laut Weltgesundheitsorganisation ist das der Grund für ein Drittel aller Fälle von Muttersterblichkeit. Die Mehrheit der Frauen, die in Folge von Abtreibungen sterben, sind jung und arm. Viele Aktivist*innen reden daher von der Legalisierung der Abtreibung als „Schuld der Demokratie“ als das Menschenrecht, was die Rückkehr zur Demokratie noch nicht erbracht hat. Neben Selbstbestimmung über den Körper und autonomen Entscheidungen über Mutterschaft dreht sich die Diskussion stark um die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, um den ungleichen Zugang zu sicheren Abtreibungen und die Verpflichtung des Staates, diese zu garantieren. Es ist eine Frage der Klasse, denn Frauen aus den Oberschichten haben Zugang zu Privatkliniken und Mittel diese zu bezahlen, Frauen aus ärmeren Bevölkerungsschichten oder ärmeren Provinzen müssen oft zu unsicheren Methoden greifen. Die Frage ist längst nicht mehr, ob es Abtreibungen geben soll oder nicht, es gibt sie tagtäglich, sondern ob sie legal und sicher oder geheim und mit großen Risiken durchgeführt werden.

Gegner*innen sowie Befürworter*innen mobilisieren ihrerseits nach allen Kräften. Verschiedene Berufsgruppen haben in offenen kollektiven Briefen Stellung bezogen – Schriftstellerinnen, Künstlerinnen, Filmschaffende, Dichterinnen, Architektinnen, Lehrerinnen, Presseleute, Fotografinnen, Angestellte des Öffentlichen Dienstes und viele weitere haben über 70.000 Unterschriften gesammelt und sie an die Abgeordneten geschickt. Je näher die Abstimmung rückt, desto aufgeheizter die Debatte. Am 4. Juni, dem dritten Jahrestag der Gründung von Ni Una Menos (Nicht eine weniger), war die Hauptforderung der Großdemonstration erstmals nicht das Ende der sexualisierten Gewalt, sondern auch das Recht auf Abtreibung. Zehntausende schoben sich als „grüne Flut“ durch die Straßen von Buenos Aires und Argentinien, um für die Verabschiedung des Gesetzes zu demonstrieren.

Auch die Abtreibungsgegner*innen sammeln Unterschriften, veranstalten „Märsche für das Leben“ und tragen neuerdings ein Halstuch in hellblauen Nationalfarben, das für „die beiden Leben“ skandiert, das des ungeborenen Kindes und das der Schwangeren. Hellblaue Fluten sieht man allerdings selten, eher Fotos und Plakatwände mit gigantischen Föten. Ein sechs Meter großer Fötus aus rosa Pappmaché wird bei Demonstrationen durch die Straßen getragen. Dabei wird regelmäßig gemeinsam die National­hymne gesungen. Die Anti-Abtreibungs­bewegung bezeichnet sich als „Pro Vida“ (Für das Leben), in etwa vergleichbar mit den sogenannten Lebensschützern in Deutschland. Hinter dem Schutz des „ungeborenen Kindes” steckt oft die gleiche konservative Rechte, für die das Leben eines bereits geborenen Kindes, das in den Armenvierteln und Randbezirken aufwächst, keine Existenzberechtigung hat.

In den Anhörungen wurde von den Gegner*innen neben offensichtlichen Fake Facts meist ideologisch-religiös und moralisch argumentiert – unter anderem mit absurden (Ab-)Gründen wie: Schwangerschaften würden vor fortdauerndem sexuellen Missbrauch schützen (Ursula Basset, Doktorin der Rechtswissenschaften an der Katholischen Universität UCA), das „Verbrechen Abtreibung“ sei eine „Todesstrafe“ für ungeborene Kinder und ein „wirkliches“ gewaltsames Verschwindenlassen (Oscar Botta der NGO ProFamilia) oder Abtreibung sei „Holocaust“ (Cristina Miguens, selbsterklärte „Feministin “ der Frauenzeitschrift Sophia). Viele der mehrheitlich männlichen Vortragenden kamen aus dem Kreis der katholischen Unversität UCA oder der mit dem Opus Dei assoziierten Universidad Austral.

In Argumentation und Aktion der Abtreibungsgegner*innen wird deutlich, was derzeit eine Tendenz in rechten Bewegungen scheint: die Aneignung von linken Begriffen, Organisationsformen und Symbolen für eigene Zwecke – der ständige Bezug auf Menschenrechte und deren vermeintliche Verteidigung bei eigentliche Aushöhlung. Die Gegenseite bezeichnet Pro Vida daher treffender als „antiderechos”, als Bewegung, die gerade gegen und nicht für Grundrechte eintritt.

Dass nun gerade auch Präsident Macri, selbst überzeugter Abtreibungsgegner, versucht, sich einen feministischen Diskurs anzueignen und trotz seiner rechtskonservativen Cambiemos-Regierung, die Möglichkeit zur Debatte im Parlament eröffnet hat, mag zunächst überraschen. Letztendlich ist es aber dem enormen gesellschaftlichen Einfluss der feministischen Bewegung zuzuschreiben, die als aktiver politischer Akteur großen Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Vielen Aktivist*innen fällt es daher schwer zu glauben, dass das Gesetzesprojekt noch abgelehnt wird. „Der soziale Druck, dass jetzt legalisiert wird, ist unaufhaltsam“ erklärt Journalistin Balderrama, die selbst in einer der Anhörungen gesprochen hat. „Und mehr und mehr verbreitet sich auch der Gedanke, dass die Abgeordneten, die nicht für das Gesetz stimmen, Dinosaurier sind, die in einem vergangenen Zeitalter hängengeblieben sind“. Sogar Mitglieder der Regierungspartei PRO posierten Anfang Juni für ein gemeinsames Foto mit dem grünen Halstuch.

Die Befürworter*innen des Gesetzes haben Zahlen und Argumente auf ihrer Seite. In verschiedensten Umfragen sprachen sich stets über 50 Prozent der Befragten für Abtreibung aus, der Prozentsatz steigt in der jüngeren Bevölkerung. Laut Balderrama sind gerade die Oberstufenschülerinnen sehr wichtige neue Akteurinnen, die jetzt auf der politischen Bühne auftauchen. Sie organisieren sich und fordern, dass das in der Schublade liegende Gesetz zur „Integralen sexuellen und reproduktiven Gesundheit“ umgesetzt wird, das sexuelle Aufklärung im Schulsystem verankert. Das Motto der Legalisierungs­kampagne ist: Sexualkunde, um entscheiden zu können, Verhütungsmittel um nicht abtreiben zu müssen, legale Abtreibung um nicht zu sterben. Legalisierung bedeutet auch Recht auf Information und Zugang zu diesen Informationen, wie auch an der jüngsten Verurteilung einer Ärztin in Deutschland aufgrund des Paragraphen 219a StGB zu sehen war.

Der Kampf um das Recht auf Abtreibung hat noch mehr junge Frauen politisiert, die enorme Präsenz der Bewegung auf den Straßen ist das „Merkmal unserer Zeit“, schreibt die Ni Una Menos-Gründerin Mariana Carbajal in ihrer Kolumne in der Zeitung página12. Das soziale Bewusstsein hinsichtlich der Notwendigkeit zur Legalisierung der Abtreibung hat sich radikal verändert. Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung ist die soziale Entkriminalisierung bereits Realität. Und obwohl es de facto bereits straffrei möglich ist, in Argentinien abzutreiben und diese Praxis existiert, sieht die Antiderechos-Bewegung eine Bedrohung in der Verankerung des Rechts auf selbstbestimmte Abtreibung im Gesetz. Das liegt auch daran, dass die Ni-Una -Menos-Bewegung wie an diesem 4. Juni die Forderung nach Abtreibung mit grundlegender Kritik an der neoliberalen Politik und dem aktuellen Sozialabbau der Regierung verknüpft. Mit dem Feminismus von Ni Una Menos, der heute mehr als jede andere gesellschaftliche oder politische Kraft mobilisiert, geht eine Opposition zum Macrismus einher. Die Forderung nach Abtreibung stellt somit in doppeltem Sinne eine Bedrohung der alten Ordnung dar.

„Wir Frauen werden zu politischen Akteuren. Das macht Angst“, erklärt Mariana Carbajal. Einer der zahlreichen Sprechgesänge auf den feministischen Demonstrationen, der Forderungen einläutet, lautet: „Ahora que sí nos ven“ – „Jetzt, da wir endlich gesehen werden.“ Jetzt, wo der Feminismus politische Kraft entwickelt hat, wo er nicht mehr zu übersehen ist, ist der Druck groß genug, damit das Recht auf legale und sichere Abtreibung zum Gesetz wird.

DER FRUST REGIERT

Das Leben in Costa Rica ist härter geworden. Die zweifache Mutter Marta, eine weltoffene Mittvierzigerin, putzt im universitären Osten von San José und bringt damit ihre Familie durch. Wohlhabend wird sie davon nicht. Die Arbeitstage sind lang, der Anreiseweg von einem günstigen Wohnviertel im Westen San Josés ans andere Ende der Stadt ebenfalls. Aber Marta ist nicht unzufrieden. Sie weiß, dass die Situation in Costa Rica alles andere als rosig ist und sagt: “Die Schweiz Zentralamerikas hat sich in den vergangenen Jahren ziemlich zerlegt!”

Ein Fünftel der Bevölkerung lebt nach wie vor unter der Armutsgrenze. Auch die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist weiter äußerst angespannt. Während die Arbeitslosigkeit seit Jahren auf hohem Niveau verharrt, müssen sich vor allem junge Menschen trotz guter Ausbildung mit schlecht bezahlten Callcenter-Jobs über Wasser halten. Doch auch wer Arbeit hat, ächzt unter den exorbitanten Lebenshaltungskosten. Mieten und Immobilienpreise in der Hauptstadtregion reichen an europäisches Niveau heran, die Lebensmittelpreise liegen sogar häufig noch darüber.

Nicht nur deswegen regiert der Frust in Costa Rica. Über die zunehmende Gewalt im Land, die zwar statistisch noch deutlich unter der von Honduras oder Guatemala liegt, aber eben doch in den vergangenen Jahren merklich gestiegen ist und vielen Costa Ricaner*innen zunehmend Angst macht. Hinzu kommt die Korruption, die zumindest gefühlt auch die amtierende Regierung von Präsident Luis Guillermo Solís nicht in den Griff bekommen hat. Der Zustand der öffentlichen Infrastruktur ist nach wie vor miserabel, von Straßen bis zu Schulen. Und wie vielerorts auf der Welt beschert die soziale Situation nicht den sozialdemokratischen und linken Kräften Zulauf, sondern ist Wasser auf die Mühlen rechter Populisten oder – wie im konservativen Costa Rica – religiöser Eiferer.

Die Macht der beiden “Volksparteien” bröckelt seit Langem.

Bis 2014 waren Wahlen in Costa Rica meist eine klare Angelegenheit. Zwei Parteien, die Partei der Nationalen Befreiung (PLN) und die Christsozialen (PUSC) teilten sich die Macht im Land, mit einer strukturellen Mehrheit für die historisch sozialdemokratisch angehauchte, aber seit zwei Jahrzehnten tendenziell neoliberale PLN, die seit 1953 neun der 15 Präsidenten stellte und die im Parlament fast immer stärkste Kraft war. Doch die Macht der beiden “Volksparteien” bröckelt seit Langem.

2002 zog erstmals die Partei der Bürgeraktion PAC ins Parlament ein, politischer Ausdruck der damals massiven Proteste gegen neoliberale Wirtschaftskonzepte und das CAFTA-Freihandelsabkommen, das zentralamerikanische Staaten mit den USA geschlossen haben. Bei den Wahlen vor vier Jahren, die die Mitte-links-Partei PAC erstmals gewann, erstarkte links davon die Frente Amplio, getragen von der breiten Begeisterung für ihren jungen Präsidentschaftskandidaten, José María Villalta.

Die Aufsplitterung des politischen Spektrums setzt sich munter fort. So ist wenige Tage vor der Wahl am 4. Februar nur klar, dass es – immer noch ungewöhnlich für Costa Rica – eine Stichwahl geben wird. Denn das PLN-Lager, theoretisch immer noch für 40 Prozent der Stimmen gut, hat sich im vergangenen Jahr in zwei Listen gespalten. Aus den Vorwahlen im April ging der vom zweimaligen Ex-Präsidenten Oscar Árias favorisierte Antonio Álvarez Desanti als Sieger hervor, wie Árias Großgrundbesitzer und Unternehmer. Desanti galt noch bis Oktober als wahrscheinlichster zukünftiger Präsident, seither aber sinken seine Zustimmungswerte. Die Desanti oft vorgehaltene Visionslosigkeit, sein politischer Wankelmut, gepaart mit kümmerlichen Resultaten in seiner bisherigen Funktion als Parlamentspräsident machen es der politischen Konkurrenz leicht, ihm mit markigen Forderungen das Wasser abzugraben.

Die bei den PLN-Vorwahlen unterlegene Strömung um den damaligen Parteivorsitzenden und Ex-Präsidenten José María Figueres Olsen, stellte mit dem polarisierenden Rechtspopulisten Juan Diego Castro einen eigenen Kandidaten auf. Der auch wegen seiner aggressiven Umgangsformen als “Trump von Costa Rica” titulierte Castro war schon unter Figueres Olsen Justiz- und später Sicherheitsminister. Als solcher hatte er 1995 das Parlament von Sicherheitskräften umstellen lassen, weil sich die Abgeordneten mehrheitlich weigerten, schärferen Sicherheits­gesetzen zuzustimmen. Seither gilt Castro als skandalumwittert. Doch dem selbsternannten politischen Saubermann konnten weder Ermittlungen wegen häuslicher Gewalt, Attacken auf missliebige Journalisten, die Beschimpfung der starken Umweltbewegung als “Ökoterroristen” und Verbindungen zu den Geschäftspraktiken der durch die Panama Papers bekannt gewordenen Anwaltskanzlei Mossack Fonseca viel anhaben. Im Gegenteil. Mit seinem Sicher­heits­diskurs, der wie bei Trump die Gewalt vor allem mit migrantischen Communities in Verbindung bringt, kann sich Castro durchaus Hoffnungen auf das Erreichen der Stichwahl machen.

Hingegen hat die Bürgeraktion PAC von Präsident Luis Guillermo Solís in ihren ersten vier Regierungsjahren zwar mit negativer Presse, einem von den Altparteien kontrolliertem Parlament und zumindest in der Anfangszeit mit der eigenen Unerfahrenheit zu kämpfen gehabt, war aber nicht vollkommen unbeliebt. Das änderte sich Mitte 2017 mit dem sogenannten “Cementazo”-Skandal._Der Unternehmer Juan Carlos Bolaños hatte es geschafft, Politik, Justiz und die staatliche Bank von Costa Rica davon zu überzeugen, den regulierten und von zwei internationalen Unternehmen kontrollierten Zementmarkt mit aus China importiertem Zement aufzubrechen, um die Preise für den Baustoff zu senken. Bolaños bekam eine Importgenehmigung und einen Millionenkredit für sein Geschäft. Alles halb so wild, hätte der gewiefte Unternehmer nicht dafür persönliche Kontakte in Regierungskreise, zu Abgeordneten der wichtigsten Fraktionen, zu Bankvorständen und Richtern genutzt. Aus einem mittelgroßen Geschäft wurde so ein Riesenskandal mit diversen Rücktritten, der vor allem der_als Antikorruptionspartei angetretenen_PAC einen massiven Vertrauensverlust bescherte.

Chancenlos scheint der Kandidat der linken Frente Amplio.

Das zweite Aufregerthema hat nur mittelbar mit Costa Rica selbst zu tun: Am 9. Januar hatte der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof, fast zwei Jahre nach einer entsprechenden Anfrage der costa-ricanischen Regierung, ein Rechtsgutachten veröffentlicht, nach dem homosexuelle Paare mit heterosexuellen gleichzustellen sind. Für die LGBTI-Bewegung und für Vizepräsidentin Ana Helena Chacón, die vor knapp zwei Jahren den Menschenrechtshof um seine Einschätzung gebeten hatte, ist die Entscheidung ein großer Erfolg. Der Zeitpunkt des Richterspruches mitten in der heißen Phase des Wahlkampfes ist jedoch heikel. Zwar darf die PAC hoffen, wie vor vier Jahren einen größeren Teil des liberalen Costa Ricas für sich mobilisieren zu können._Doch_auch die moralkonservative und religiöse Wahlbevölkerung_dürfte an die Urnen drängen. Laut Fabiola Pomareda, Journalistin und Chefredakteurin beim Alternativen Kommunikationszentrum_Voces, fährt vor allem die religiöse Rechte schon seit Monaten eine bislang beispiellose Kampagne gegen progressive Kräfte. In eigenen Fernseh-, Radio- und Internetkanälen hat sie gegen Genderthemen, Rechte der LGBT-Community, gegen Sexualkundeunterricht und künstliche Befruchtung polemisiert. Offensichtlich mit Erfolg: Wahlumfragen kurz nach der Gerichtsentscheidung sehen vor allem den homophoben, evangelikalen Kandidaten Fabricio Alvarado im Aufwind, dem nun sogar Chancen eingeräumt werden, die Stichwahl zu erreichen.

Wer es nun tatsächlich in die zweite Runde schaffen wird, ist völlig offen. Laut Meinungsumfragen hat auch das christsoziale Lager Chancen, aber auch dieses hat sich in zwei Teile gespalten. Carlos Alvarado, der Kandidat der aktuellen Regierungspartei PAC, dümpelt zwar in den Umfragen bei mageren fünf Prozent, wird aber nicht müde, darauf hinzuweisen, dass alle PAC-Kandidaten der vergangenen Jahre erheblich mehr Stimmen erhalten hatten, als ihnen die Umfragen vorhergesagt hatten. Chancenlos scheint der Kandidat der linken Frente Amplio, Edgardo Araya. Seine zwei Prozent sind kein Vergleich zu den bis zu 19 Prozent, die dem weitaus charismatischeren, visionären und in den sozialen Bewegungen gut vernetzten José María Villalta vor vier Jahren prognostiziert wurden.

Die aggressiven Kampagnen der religiösen und populistischen Rechten haben nicht nur soziale Themen in den Hintergrund gedrängt, laut Fabiola Pomareda haben sie einen weiteren, fatalen Effekt: Sie schwächen die Zivilgesellschaft und insbesondere die gut organisierten Stadtteil- und dörflichen Bürgerinitiativen. Denn wo es bislang Einigkeit gab im Kampf gegen den Ananasboom mit seinen verheerenden ökologischen und sozialen Folgen oder gegen die Vernachlässigung ärmerer und migrantischer Communities durch die Politik, gibt es heute auch dort Streit zwischen strenggläubigen und liberaleren Mitgliedern – sehr zum Gefallen der costa-ricanischen Oligarchie und transnationaler Unternehmen.

Die große Unbekannte sind allerdings die bislang Unentschlossenen (über ein Drittel derjenigen, die zur Wahl gehen wollen) und diejenigen, die nicht vorhaben, überhaupt zur Wahl zu gehen (um die 40 Prozent der Wahlberechtigten). Beide Gruppen sind laut Wahlumfragen deutlich stärker als jeder der ausschließlich männlichen Präsidentschaftskandidaten. So könnte ein letztes Aufregerthema kurz vor der Wahl alle bisherigen Umfragen noch über den Haufen werfen. Gut möglich aber auch, dass das Schreckgespenst einer Stichwahl zwischen rechtspopulistisch (Castro) und evangelikal (Fabricio Alvarado) vor allem das eher mittig liberale und linke Lager quer durch alle sozialen Schichten noch in die Wahllokale treibt. Wie auch die bislang unentschlossene Marta, der, wie so vielen, vor beiden Kandidaten graut.

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