Parlamentswahlen Venezuela 2020 Nur wenige Bürger*innen gaben ihre Stimme ab
Wie schätzen Sie die Wahlen ein? Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?
Einerseits ziehen wir eine positive Bilanz, denn wir haben einen strategischen Schritt hin zur Einigung der Linken gemacht und das taktische Ziel erreicht, uns bei den Wahlen von der Regierung zu distanzieren. Allerdings waren die Wahlergebnisse nicht wie erwartet, wir haben es nicht geschafft, eine echte Alternative für die Menschen zu werden. An das Wahlergebnis von 2018, als die PPT 277.000 Stimmen geholt hat, konnten wir diesmal leider nicht anschließen. Was die Wahlen gezeigt haben, war eine große politische Entfremdung in der Bevölkerung. Viele Menschen können sich nicht mit der Regierungspolitik oder den Angeboten der an der Wahl beteiligten Opposition identifizieren. Die große Enthaltung kann aber auch nicht nur den rechten Sektoren zugeschrieben werden, die zum Wahlboykott aufgerufen hatten. Dass 70 Prozent der Venezolaner nicht zur Wahl gingen, zeugt von einer starken politischen Unzufriedenheit.
Glauben Sie, dass die Wahlergebnisse irgendetwas an der Situation im Land ändern werden?
Die regierende Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) verfügte bereits über einen Großteil der Macht und kontrollierte die Nationale Verfassungsgebende Versammlung, was ihr praktisch verfassungsübergreifende Befugnisse verleiht. Trotz all dieser Macht hat sie keine großen Veränderungen im Leben der Bürger erreicht. Im Gegenteil, sie nutzte diese Macht, um eine Reihe von Maßnahmen zugunsten des Großkapitals anzuwenden und einen rechten, neoliberalen Wandel zu fördern. Diesen Kurs wird sie jetzt kaum ändern.
Wie haben Sie den Tag der Wahlen erlebt?
Für die venezolanische Linke ist es seit der Zeit von Comandante Chávez üblich, früh zur Wahl zu gehen. Er hat die Leute immer um sechs oder sieben Uhr morgens zur Wahl geschickt. Am 6. Dezember bin ich um zehn Uhr zur Wahl gegangen und als ich dort ankam, war ich erst die dritte Person, die zur Abstimmung kam. Bei der Stimmabgabe muss man unterschreiben und zur Bestätigung der Wahl einen Fingerabdruck hinterlassen. Die ausliegenden Zettel waren aber fast leer, daran zeigte sich schon die Enthaltung. Ich bin später auch zu anderen Wahlbüros gefahren und habe auch meine Nachbarn dazu aufgerufen, wählen zu gehen, aber sie waren nicht besonders daran interessiert. Viele wollten sich nicht an der Wahl beteiligen, weil sie überhaupt nicht wussten, welche Alternativen es gibt. Für sie schien die Wahl völlig von der Regierung vereinnahmt.
Etwas anderes, das uns sehr überraschte, war, dass der Nationale Wahlrat um 18 Uhr eine Verlängerung der Abstimmung gewährte. Laut Gesetz müssen die Wahllokale regulär um diese Uhrzeit schließen, wenn keine Wartenden mehr anstehen. Trotzdem hat der Wahlrat eine Verlängerung um zwei Stunden gewährt, während die Regierung zur „Operation Remate“ aufrief, die darin bestand, die Menschen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus ihren Häusern zu holen, und sie zum Wählen zu bewegen. Diese unrechtmäßige Verlängerung stellt einen Verfassungsbruch und eine Unregelmäßigkeit bei der Wahl dar.
Im Ausland wird häufig die Frage nach der Gültigkeit der Wahlen gestellt. Zweifeln Sie diese auch an?
Wir prangern die Unregelmäßigkeiten öffentlich an, die während des Wahlprozesses auftraten, unter anderem, dass Wahlbeobachtern der APR der Zutritt zu den Wahllokalen verwehrt oder sie während der „Operation Remate“ gewaltsam rausgeworfen wurden. Aber wir stellen die Wahl nicht in Frage. Wir erkennen die Ergebnisse an, sind aber der Meinung, dass die Verlängerung des Wahlprozesses ernsthafte Zweifel an den Wahlergebnissen und an den von der PSUV erhaltenen Stimmen aufkommen lässt.
Trotzdem haben Sie sich entschieden teilzunehmen und zur Abstimmung aufzurufen. Warum?
Weil es uns die Möglichkeit gegeben hat, eine wirkliche Alternative aufzubauen. Wir als Organisationen, die Teil der Alternative sind, haben in den vergangenen Jahren immer wieder Überschneidungen in den verschiedenen Kämpfen gehabt: mit denen der Bauern, Arbeiter, comuneros und des Volkes gegen die Versuche der neoliberalen Restauration im Land. Aber es fehlte der Ausdruck dieser Kämpfe in Wahlergebnissen. Diese Wahlen haben dafür die Gelegenheit geboten.
Ein Anliegen Ihrer Revolutionär-Populären Allianz ist unter anderem das „Wiedererlangen der Errungenschaften, die unter Chávez erreicht wurden“. Durch welche Regierungspolitiken wurden diese zunichtegemacht?
Einer der hauptsächlichen Unterschiede zwischen der Politik von Chávez und Maduro ist die Frage des Eigentums an Produktionsmitteln. Unter Chávez gab es eine Reihe von Verstaatlichungen von Unternehmen. Bei Joint Ventures wurde eine 40 Prozent-Grenze für Privatbeteiligung geschaffen – so behielt der Staat 60 Prozent. Maduros Regierung hat die Verstaatlichungen gestoppt. Und wenn eine stillgelegte Fabrik besetzt wurde, wurde die Leitung einem Bürokraten übertragen, statt einem Vorstand aus Arbeitern, wie es das Gesetz vorsieht. All dies, ohne die Eigentumsverhältnisse des Unternehmens anzugreifen, es wird nicht verstaatlicht oder enteignet, wie es unter Chávez der Fall war, sondern das Unternehmen bleibt im Privatbesitz des Eigentümers und wird lediglich von der Bürokratie verwaltet.
Darüber hinaus wurde auf unterschiedlichsten Wegen eine Reihe von Privatisierungen durchgeführt. Auf dem Land werden die armen Bauern, denen Chávez Landtitel verliehen hat, verfolgt und vertrieben. Auch in der Agrarindustrie werden Unternehmen durch so genannte strategische Allianzen privatisiert, bei denen das Eigentum beim Staat verbleibt, die Verwaltung und damit auch die Gewinne aber an den privaten Sektor gehen. Es ist eine versteckte Privatisierung. In der ölreichen Gegend um den Orinoco (längster Fluss Venezuelas, Anm. d. Red) haben sich jetzt in mehreren Ölgesellschaften die Beteiligungsverhältnisse zugunsten chinesischer Unternehmen geändert. Das heißt, das Verhältnis von 60 zu 40 Prozent, wie es unter Chávez war, verschiebt sich auf 51 zu 49 Prozent. Und seit kurzem gibt es das Ley Antibloqueo (Anti-Blockade-Gesetz), das Privatisierungen erlaubt und sie zum Staatsgeheimnis ohne öffentliche Debatte macht. Maduro verfolgt eine Politik der Liberalisierung und Privatisierung der Wirtschaft.
Warum gab es nicht mehr Proteste gegen diese Entscheidungen und die aktuelle Situation im Land?
Wir kommen aus einer Tradition intensiver Kämpfe, aber im Jahr 2020 hat der Ausnahmezustand, die Quarantäne, große Mobilisierungen verhindert. Und es ist auch ein Zeichen, dass die Massen nach all den Jahren der Krise zermürbt sind und versuchen müssen, irgendwie zu überleben. Es ist eine Frage des Überlebens. Das Problem der staatlichen Verfolgung ist ebenfalls wichtig. Es werden jetzt Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung entlassen, wenn sie protestieren – und das ohne Rücksicht auf die unsichere Arbeitsmarktlage oder Arbeitnehmerrechte.
Die APR erhielt nur 2,7 Prozent der Stimmen. Welche Perspektive hat die Revolutionär-Populäre Allianz für die Zukunft?
In einem ersten Schritt müssen wir über das Thema der Wahlen hinausgehen. Es gibt zwei strategische Ziele: die Einigung der chavistischen Linken, die an den Aufbau einer Alternative glaubt, und mit der nicht-chavistischen Linken, die ebenfalls kämpft. Der andere ist, sich mit den Volkskämpfen und den Sektoren zu verbinden, die sich für ihre Forderungen mobilisieren: die Arbeiter und Lehrer, die für ihre Gehälter kämpfen, die Bauern und die Kämpfe für öffentliche Dienstleistungen.
Welches Thema sollte zuallererst in der Nationalversammlung diskutiert werden, um die Situation der Venezolaner*innen zu verbessern?
Es gibt verschiedene Dinge, die diskutiert werden könnten, wenn es darum geht Lösungen für die Probleme im Land zu finden. Eines davon ist die Frage der Korruption, sowohl des rechten Flügels als auch der Regierung. Die Gehaltsfrage: Der Mindestlohn sollte die Grundversorgung mit Lebensmitteln abdecken. Und auch die Privatisierungspolitik, die Regierung will in absoluter Geheimhaltung privatisieren.