STICHWORTGEBER UND VERMITTLER

Aníbal Quijano 2015 auf einem Kongress in Quito // Quelle: Cancillería del Ecuador (CC BY-SA 2.0)

Als „Erkenntnisperspektive“ bezeichnete der peruanische Soziologe Aníbal Quijano den Eurozentrismus. Er sei nicht nur eine bestimmte Weltsicht, sondern beziehe sich auf das Denken schlechthin. Der Wissenschaftler starb 90-jährig am 31. März 2018 in Lima.
Das eurozentristische Denken wurde im Kontext des Kolonialismus geprägt, aber es wirkt bis heute fort. Mit diesem Fortwirken hat sich Quijano zeit seines Lebens beschäftigt und dafür einen der einflussreichsten Begriffe der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskurse geprägt: den der „Kolonialität der Macht“.
Quijano ist aber nicht nur der wichtigste Stichwortgeber für Debatten, die unter der Sammelbezeichnung „dekolonialistische Theorie“ seit vielen Jahren eine ebenso akademische wie aktivistische Hochkonjunktur erleben – und in denen die Kolonialität der Macht in vielen Aspekten untersucht und angegriffen wird. Er ist auch eine Art Vermittler zwischen den dependenztheoretischen Ansätzen der 1960er und 70er Jahre, die die ökonomische Abhängigkeit fokussierten, und der dekolonialistischen Sozial- und Kulturtheorie mit ihrem Blick auf kulturelle Abhängigkeitsverhältnisse. Bevor die Moderne und die Globalisierung zum zentralen Gegenstand seiner Arbeiten wurden, hat sich Quijano den ökonomischen Problemen der ländlichen Entwicklung in Peru, der Urbanisierung und ganz allgemein den Klassenverhältnissen gewidmet.

Für ihn stand nicht weniger als die “Vergesellschaftung der Macht” auf der Agenda

Soziale Klassen sah er dabei nicht bloß als quasi automatische Effekte der Produktionsverhältnisse an. In seiner Theorie sind sie eingelassen in die sich wandelnden Machtverhältnisse, sie gehen ihnen nicht voraus. Die Klassen „sind keine Strukturen oder Kategorien, sondern historische Beziehungen“ und das Ergebnis von Klassifizierungen. Die Einteilung der Menschen – etwa in ethnische Gruppen – entsteht im Kampf um die Kontrolle der Arbeit.

Erst der koloniale Kapitalismus hat Indigene und Weiße geschaffen. Die gewaltsam etablierte Beziehung von Über- und Unterordnung schuf die Rechtfertigung dafür, dass sich Indigene in den Minen zu Tode arbeiteten. Diese kulturell etablierten, also in den Denk- und Lebensweisen eingeprägten Hierarchien, wirken bis in die Gegenwart: Indigensein ist bis heute nur selten gleichbedeutend mit Einfluss, Macht und Reichtum.
Quijano verbindet mit dem Begriff der Klassifizierung auf anspruchsvolle Weise kapitalismus- und rassismuskritische Positionen. Dass auch Geschlechterverhältnisse Effekte solcher Klassifizierungsarbeit sind, kam ihm dabei allerdings nicht in den Sinn – wie etwa die argentinische Philosophin María Lugones zu Recht kritisierte. Die feministische Einsicht, dass Geschlecht sozial konstruiert ist, sollte sich jedenfalls in Quijanos Ansatz integrieren lassen.

Um die Kolonialität zu überwinden, ist es laut Quijano mit einer bürgerlich-demokratischen Revolution ebenso wenig getan wie mit einer staatssozialistischen. Politisch stand für ihn nicht weniger als die „Vergesellschaftung der Macht“ auf der Agenda. Quijano war Ehrendoktor an Universitäten in Peru, Venezuela, Costa Rica und Mexiko sowie Gastprofessor an verschiedenen anderen Hochschulen. Auf Deutsch ist nur ein einziges seiner Bücher erhältlich: Kolonialität der Macht. Eurozentrismus und Lateinamerika erschien 2016.

LEINWANDPOESIE

Es ist ein lyrischer Streifzug durch die Anden, den Regisseur Rodrigo Otero Heraud in seiner Dokumentation festhält. Hipólito Peralta Ccama führt die Zuschauer*innen durch die peruanische Gebirgskette. Wer er ist, wird im Film nicht weiter erwähnt. Wir folgen ihm einfach bei Auf- und Abstieg, sehen ihm zu, wie er sein Gesicht in Quellen wäscht oder seine Schläfen an Felswände legt, während er Quechua-Gedichte rezitiert. Hin und wieder sitzt er Kokablätter kauend am Berg und lässt den Blick über die atemberaubende Landschaft schweifen. Dabei erzählt er von der Verbundenheit der Andenkulturen mit der Natur, von der Angst vor dem Verlust uralter indigener Traditionen und vom Erhalt unserer Erde. Mehrmals stellt er die Frage, unter welcher Krankheit die Menschen der Gegenwart leiden und beklagt, dass wir der Natur und unseren Mitmenschen so viel Gewalt antun. Und dies ist wohl auch das Hauptanliegen des Films: Er fordert Wertschätzung und Verbundenheit mit der Natur, wie sie uns die Andenbewohner*innen heute noch vorleben.

Die Natur wird in den Versen und Gedanken Hipólitos personifiziert. Immer wieder tritt der Protagonist mit ihr und den Berggottheiten, den Apus, in Dialog. Interessant ist, wie die Mystik um die Berggötter im Film dargestellt wird. So erhebt sich zwischendurch die Stimme einer Frau aus dem Off, die von einzelnen Lauten zu Gesang und dann zu einem Kichern wird. Es erinnert mal an das Gurgeln eines Flusses und mal an ein Hauchen vom Wind, eben wie eine nicht irdische Stimme. Etwas platter sind hingegen andere Szenen, in denen der Protagonist plötzlich von einer Sekunde auf die andere einfach aus dem Bild verschwindet. Zu betonen ist dennoch ohne Frage die Bildgewalt des Films. Es sind starke Szenen, wenn die Schatten der Wolken sich wie blinde Flecken auf den mächtigen Tälern der Anden verteilen, wenn der Protagonist klein wie eine Ameise auf einem riesigen Steinbrocken steht, der selbst ein katzenartiges Gesicht hat. Eine der letzten Szenen des Films ist die der untergehenden Sonne über der Silhouette Hipólitos, die sich kurz darauf auf seinen Bauch legt, um dann hinter ihm zu verschwinden. Der Film ist vor allem poetisch. Besonders nah sind die Porträts der Menschen aus den dörflichen Regionen, vielleicht gerade weil es unkommentierte Szenen sind. Sie sind bei traditionellen Ritualen zu sehen, bei der Verteilung und dem Tausch der Ernte.

An manchen Stellen werden den nicht fachkundigen Zuschauer*innen einige Informationen fehlen und zumindest für europäische Augen und Ohren ist es schade, dass der Film kaum mehr über die Lebensumstände in den Andendörfern verrät. Hipólito spricht zwar kurz von Armut und Diskriminierung der Landbevölkerung in den Städten, aber wirklich konkret wird er nicht. Genau das scheint Regisseur Otero Heraud jedoch auch nicht zu wollen. Sein Film ist ein visuelles Gedicht und erzählt auch auf diese Weise. Was nicht gesagt wird, kann und muss gedacht werden.

DER AUFSTIEG UND FALL KUCZYNSKIS

Als Pedro Pablo Kuczynski 2016 zum peruanischen Präsidenten gewählt wurde, konnte der britische Reuters-Journalist Christopher Roper seine Euphorie kaum im Zaum halten. Es sei unmöglich, so urteilte er, einen lateinamerikanischen Staatschef der letzten hundert Jahre zu finden, der an Kuczynskis intellektuelles Urteilsvermögen, seine unabhängige Denkweise und seine kulturelle Vielfalt herankäme. Nicht einmal zwei Jahre später ist die Ära Kuczynski bereits Geschichte. Und niemand weint dem Mann eine Träne nach. Selbst die Börsenkurse in Lima sowie der peruanische Nuevo Sol sprangen kräftig nach oben, als der ausgewiesene Wirtschaftsexperte und Ex-Investmentbanker Mitte März seinen Rücktritt vom Präsidentenamt erklärte. Es kann sogar noch dicker kommen: Die Staatsanwaltschaft verfügte ein Ausreiseverbot gegen den 79-jährigen Kuczynski und ließ seine Häuser in Lima durchsuchen. Dem Ex-Präsidenten droht ein Lebensabend im Gefängnis.

Falls Ropers Aussage trotzdem einen wahren Kern enthielt, dann hat Kuczynski seinen Intellekt während seiner Amtszeit schlichtweg nicht genutzt. Womöglich trifft aber Ropers peruanische Kollegin Claudia Cisneros eher den Nagel auf den Kopf, wenn sie behauptet, Kuczynski habe das Land nie ernsthaft regieren wollen, sondern sei nur daran interessiert gewesen, an die Macht zu kommen, um seinen umfangreichen Geschäften erfolgreicher nachgehen zu können. Tatsächlich war für den Präsidenten Kuczynski eine unternehmerfreundliche Politik stets wichtiger als öffentliche Anliegen. Fakt ist auch: Kuczynski steckt wie seine Amtsvorgänger bis zum Hals im Sumpf des Spenden- und Bestechungsskandals um die brasilianische Baufirma Odebrecht. So gingen auf seinen diversen Firmenkonten ungeklärte Zahlungen Odebrechts ein, während er zwischen 2001 und 2006 als Wirtschaftsminister und Kabinettschef der Regierung des damaligen Präsidenten Toledo angehörte. Und als wäre das noch nicht genug, fand die Staatsanwaltschaft heraus, dass der Minister Kuczynski 2006 ein Dekret unterschrieb, das dem brasilianischen Konzern Baulizenzen und verbindliche Zahlungen garantierte.

Kuczynski wird ferner beschuldigt, vor zwei Jahren illegale Wahlkampfspenden von Odebrecht und einigen peruanischen Großunternehmen angenommen zu haben, die offenbar glaubten, ihre Geschäfte würden unter der Ägide eines Präsidenten Kuczynski besser laufen. Doch kurioserweise verdankt Kuczynski seine Wahl letztendlich der Linken, deren Kandidatin Verónika Mendoza 2016 nur knapp die Stichwahl verpasste. Der schwerreiche Unternehmer, Banker und US-Staatsbürger Kuczynski war nämlich für die Linke in der Stichwahl das deutlich kleinere Übel als die Gegenkandidatin Keiko Fujimori, die Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori. Denn Keiko Fujimori hatte sich nie richtig von den Verbrechen ihres im Gefängnis sitzenden Vaters distanziert und ihre politische Karriere an der Seite von Kompliz*innen und Helfershelfer*innen ihres Vaters begonnen (siehe LN 524). Um die Stimmen der Linken zu bekommen, versprach Kuczynski während seines Wahlkampfs, Alberto Fujimori unter keinen Umständen zu begnadigen.

Nicht einmal die Börse weint dem mann eine Träne nach.

Keiko Fujimori verlor zwar die Präsidentschaftswahlen gegen Kuczynski, aber sie verfügte fortan im Parlament über die absolute Mehrheit der Stimmen. Als die Staatsanwaltschaft Ende 2017 immer mehr Einzelheiten über Kuczynskis Verstrickung in die Odebrecht-Affäre ans Tageslicht brachte, sah die Diktatorentochter ihre Stunde gekommen. Siegessicher brachte sie ein Misstrauensvotum gegen Kuczynski ins Parlament ein, doch ausgerechnet ihr Bruder und Parteigenosse Kenji Fujimori ließ sie im Stich. Zusammen mit zehn weiteren Abtrünnigen aus Keikos Partei Fuerza Popular enthielt er sich der Stimme und verhinderte damit die Absetzung des Präsidenten. Im Gegenzug begnadigte Kuczynski Kenjis Vater Alberto Fujimori. Kuczynski rettete zwar vorerst seinen Kopf, aber er brach nicht nur sein Wahlversprechen, sondern leitete auch sein endgültiges Ende ein. Denn fortan waren auch die Abgeordneten der Partei Nuevo Perú um Verónika Mendoza nicht mehr geneigt, einen Lügner als Präsidenten im Amt zu halten.

Keiko Fujimori veröffentlichte Filmaufnahmen ihres Bruders Kenji, der sinnt auf Rache.

Aber Kuczynski sah noch einen letzten Strohhalm. Zusammen mit seinem neuen Bündnispartner Kenji Fujimori und dessen neuer, auf den Namen The Avengers getauften Gruppe Abtrünniger versuchte er, weitere Abgeordnete der Fuerza Popular Keiko Fujimoris zu bestechen und auf seine Seite zu ziehen. Nur dumm, dass seine Handlanger*innen sich dabei von einem dieser Abgeordneten filmen ließen. Allen voran: Kenji Fujimori höchstpersönlich, aber auch Kuczynskis persönlicher Anwalt Alberto Borea und der Avenger und Doktor der Medizin Bienvenido Ramírez, der sich durch die „wissenschaftliche These“ einen Namen machte, zu viel Lesen sei nicht gesund und eine der Hauptursachen für die Alzheimer-Krankheit. Eine Anklage gegen Kenji und seine auf frischer Tat gefilmten Mitstreiter*innen wird bereits vorbereitet.

Mitte März sollte es eigentlich zu einem erneuten Showdown, zu einem zweiten Misstrauensvotum gegen Kuczynski im Parlament kommen, doch Keiko Fujimori veröffentlichte zunächst die Aufnahmen mit den Bestechungsversuchen. Damit war Kuczynski erledigt. Aber womöglich hat sich auch Keiko verkalkuliert, denn ihr ertappter und blamierter Bruder Kenji sinnt auf Rache. Und da gegen Keiko ebenfalls wegen illegaler Wahlkampfspenden Odebrechts aus dem Jahr 2011 ermittelt wird, bot Kenji der Staatsanwaltschaft an, als Zeuge gegen Keiko zur Verfügung zu stehen. Im Moment sieht es fast so aus, als würden sich die Geschwister Fujimori gegenseitig in den politischen Abgrund ziehen. Ein Schaden für das Land wäre das vermutlich nicht.

Ach ja. Der neue Präsident heißt übrigens Martín Vizcarra. Er war Kuczynskis Vizepräsident sowie peruanischer Konsul in Kanada und musste eigens eingeflogen werden. Vizcarra gehört weder einer politischen Partei an, noch verfügt er über Rückhalt im Parlament oder über ein nennenswertes politisches Profil. Ob er sich bis zu den nächsten Wahlen im Jahr 2021 auf dem Präsidentensessel halten kann, bleibt eine spannende Frage.

AVENGERS IM PARLAMENT

Ganze 50 Jahre sind vergangen, seit in den späten 1960er Jahren „The Avengers“, „die Rächer“, in Gestalt der karatekundigen Emma Peel und ihres ebenso charmanten wie schlagfertigen Partners John Steed das Fernsehpublikum begeisterten. Anschließend tauchten „The Avengers“ als eine Gruppe so genannter Superheld*innen zunächst in Comics und dann in Kinofilmen wieder auf, um den blauen Planeten mit zum Teil unerschütterlichen moralischen Grundsätzen vor dem Angriff heimtückischer Aliens oder Roboter zu retten. Und jetzt zogen „The Avengers“ sogar ins peruanische Parlament ein: Kenji Fujimori, Spross des peruanischen Ex-Diktators Alberto Fujimori, und zu jung, um von Emma Peel zu träumen, sieht sich selbst als Anführer einer Gruppe von Superheld*innen, als Rächer und Retter jenes Vaterlandes, das sein Erzeuger ihm und der peruanischen Bevölkerung hinterlassen hat. Als er Ende Januar mit einem knappen Dutzend Gefolgsleuten die Partei Fuerza Popular seiner Schwester Keiko Fujimori verließ, taufte er daher seine neue parlamentarische Gruppe schlicht auf den Namen „The Avengers“.

Kenji Fujimori inszeniert sich in einem Moment als Superheld und Saubermann, in dem der Odebrecht-Skandal offenbart, wie verroht die politische Moral des Landes ist. Gleich drei ehemalige peruanische Präsidenten, Ollanta Humala, Alan García und Alejandro Toledo, werden verdächtigt, gegen die Erteilung von Bau- oder Bohrlizenzen üppige Schmiergelder des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht eingestrichen zu haben. Ollanta Humala sitzt gemeinsam mit seiner Frau bereits in Untersuchungshaft, Alan García hat sicherheitshalber seinen Wohnsitz nach Spanien verlegt, und Alejandro Toledo konnte sich trotz eines internationalen Haftbefehls gerade noch in die USA retten. Allein auf sein Konto sind nach Zeug*innenaussagen etwa 20 Millionen US-Dollar Bestechungsgelder geflossen. Sollte Toledo jemals wieder peruanischen Boden betreten, muss er mindestens 18 Monate in Untersuchungshaft. Darüber hinaus sollen die drei Ex-Präsidenten ebenso wie der aktuelle Präsident, Pedro Pablo Kuczynski, und die Oppositionsführerin Keiko Fujimori, Kenjis Schwester, illegale Wahlkampfspenden von Odebrecht erhalten haben. Kuczynski steckt sogar noch tiefer im Spendensumpf: Auf seinen Firmenkonten gingen ungeklärte Zahlungen von Odebrecht ein, während er zwischen 2001 und 2006 als Wirtschaftsminister und Ministerpräsident dem Kabinett des damaligen Präsidenten Toledo angehörte.

Kenji sieht sich selbst als Anführer einer Gruppe von Superheld*innen.

Wer aus der Perspektive der frisch gegründeten Avengers die Bösen sind, die es zu bekämpfen gilt, dürfte damit eigentlich auf der Hand liegen. Aber so einfach wie im Film ist das in der peruanischen Politik nicht. Denn Kenji Fujimori ist nach eigenem Bekunden nur Politiker geworden, um seinen Vater, der Peru zwischen 1990 und 2000 mit diktatorischen Vollmachten regierte, aus dem Gefängnis zu holen. Das ist Kenji am vergangenen Heiligabend nach zwölf Jahren gelungen. Allerdings musste er dazu seine Schwester hintergehen und obendrein ein strategisches Bündnis mit dem unter Korruptionsverdacht stehenden Präsidenten Kuczynski schmieden.

Aber der Reihe nach. Keiko Fujimori, die mächtigste Oppositionspolitikerin im Land, wusste bis kurz vor Weihnachten 73 von insgesamt 130 Abgeordneten im peruanischen Kongress hinter sich, verfügte also über eine satte Mehrheit. Als bekannt wurde, dass Kuczynskis Name auf Odebrechts Liste stand, sah Keiko ihre Stunde gekommen: Sie brachte ein Misstrauensvotum wegen „permanenter moralischer Unfähigkeit“ gegen Kuczynski ins Parlament ein, doch ausgerechnet Kenji versagte ihr die Unterstützung. Gemeinsam mit zehn Gefolgsleuten aus Keikos eigener Partei enthielt er sich der Stimme und ließ das Misstrauensvotum platzen – eine bittere Niederlage für Keiko.

Schlimmer noch: Kenji hatte zuvor hinter Keikos Rücken die Begnadigung des gemeinsamen Vaters und Familienpatriarchen Alberto im Gegenzug für seine Stimmenthaltung ausgehandelt. Kuczynski unterschrieb am Heiligabend den Gnadenakt. Die anschließenden massiven Proteste im ganzen Land gegen die Freilassung des Ex-Diktators störten die Akteur*innen nicht weiter.

Den Bruch mit seiner Schwester und den folgenden Rauswurf aus deren Partei kalkulierte der 37-jährige Superheld Kenji eiskalt ein. Als Mitglied der Fuerza Popular wäre Kenji niemals an Keiko vorbeigekommen. Nun kann er als der Kongressabgeordnete, der bei den letzten Wahlen die meisten Stimmen gewann, als Retter seines Vaters, als Gründer der Avengers, selbst nach dem Präsidentenamt greifen. Vorerst setzt er dabei mit Rückendeckung seines Vaters auf das Bündnis mit Kuczynski und bleibt auf Konfrontationskurs mit seiner Schwester. Keiko denkt derweil über ein neues Misstrauensvotum nach, für das es rechnerisch erneut eine Mehrheit gäbe, weil inzwischen auch die über Fujimoris Begnadigung empörten Linksparteien gegen Kuczynski stimmen würden. Der Haken für Keiko: Je mehr sie einem erneuten Misstrauensvotum das Wort redet, umso größer ist die Gefahr, dass ihre eigene Fraktion auseinanderbricht. Erst in der letzten Woche liefen zwei Parlamentarier aus ihren Reihen zu den Avengers über, die Fraktion ist bereits von 73 auf 60 Abgeordnete geschrumpft.

Den Bruch mit seiner Schwester kalkuliert der 37-jährige Superheld Kenjo eiskalt ein.

Während Kuczynskis Präsidentschaft nun vom Wohlwollen Kenji Fujimoris und der Avengers abhängt, bleibt die Popularität der Geschwister Fujimori trotz des Familiendramas ungebrochen. Ohne Charisma, ohne nennenswerte politische Erfahrung, gelang beiden auf Anhieb der Sprung ins Parlament – nur weil sie Fujimori heißen. Dabei ist der inzwischen 79-jährige Mann, dem sie ihren Namen zu verdanken haben, viermal rechtskräftig zu insgesamt 45 Jahren Gefängnis verurteilt worden, auch wenn er davon nach peruanischem Recht nur die längste Strafe, in seinem Fall 25 Jahre, hätte absitzen müssen. Sein Sündenregister: Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Auftraggeber und Gründer einer Todesschwadron, Mord, Entführung, Folter, Unterschlagung, Amtsanmaßung und Bestechung. Nicht genug: Alberto Fujimori fälschte Wahlergebnisse, er ließ 330.000 Frauen und 25.000 Männer zwangssterilisieren. Im Jahre 2004 wurde er vom US-Wirtschaftsmagazin Forbes auf Platz 7 der weltweit korruptesten Politiker*innen aller Zeiten gesetzt. Gemeinsam mit seinem Komplizen, dem damaligen Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos, bestach, erpresste und bedrohte er als Präsident systematisch Politiker*innen, Staatsanwält*innen, Richter*innen oder Zeitungsredaktionen. Etliche seiner Mitarbeiter*innen, Gefolgsleute oder Minister*innen wurden ebenso wie hohe Offiziere seines Regimes als Drahtzieher*innen schmutziger Geschäfte bis hin zum Waffen- und Drogenhandel enttarnt.

Und dennoch rankt sich ein Mythos um Alberto Fujimori. Der Ex-Diktator ist bei den Menschen nicht nur beliebt gewesen, weil die unter seiner Kontrolle stehenden Medien ihn hofierten. Er kam mit seiner einfachen Sprache und seinen Sozialprogrammen, die er mit Privatisierungsgeldern auflegte, besonders bei der armen Bevölkerung gut an. Vor allem wird er aber in großen Teilen der Bevölkerung als der Mann verehrt, dem es gelang, den brutalen Konflikt mit dem maoistischen Leuchtenden Pfad zu beenden, der in den 1980er und 1990er Jahren etwa 70.000 Menschen im Land das Leben kostete. Mehr als 40.000 Tote gingen dabei allein auf das Konto des Leuchtenden Pfads.

Dieses traumatische Ereignis der jüngeren peruanischen Geschichte drängt für viele Menschen die Verbrechen Fujimoris in den Hintergrund. Für sie befreite er das Land vom Terrorismus und sanierte die von einer Rekordinflation zerrüttete Wirtschaft. Dabei lastet die peruanische Wahrheitskommission auch der Armee systematische Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs sowie die direkte Verantwortung für etwa 20.000 Tote an. Auch dafür steht der Name Alberto Fujimori.

Doch der Ex-Diktator ist noch nicht auf der sicheren Seite. Die peruanische Justiz prüft zurzeit, ob die Begnadigung durch Präsident Kuczynski überhaupt rechtmäßig war, und die Staatsanwaltschaft fordert bereits weitere 25 Jahre Haft, weil die von Fujimori gegründete Todesschwadron La Colina im nördlich von Lima gelegenen Pativilca einen sechsfachen Mord beging, der noch nicht verhandelt wurde. Zudem wird ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte erwartet, der die Begnadigung ebenfalls als ungültig erklären kann. Ein solches Urteil wäre für Peru bindend: Alberto Fujimori müsste zurück ins Gefängnis.

Für weitere Spannung in der peruanischen Politik ist jedenfalls gesorgt. Doch was immer passiert, eines scheint gewiss: Gemessen an der kriminellen Energie Alberto Fujimoris, sind die Ex-Präsidenten Humala, García und Toledo allesamt kleine Fische. Deswegen werden weder Keiko noch Kenji Fujimori den Vertrauensverlust in der peruanischen Politik wieder wettmachen können. Keiko Fujimori hat sich zwar in letzter Zeit zaghaft von ihrem Vater distanziert, doch sie verharmloste stets dessen Straftaten und baute ihre politische Karriere weitgehend mit Hilfe von Kompliz*innen und Helfershelfer*innen des Ex-Diktators auf. Und für Kenji ist sein Vater ohnehin ein Superheld.

// KEINE FREIHEIT FÜR ALBERTO FUJIMORI!

Die noch le­benden peru­ani­schen Ex-Präsidenten haben sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Sie werden womöglich eher als Delinquenten denn als Helden in die Ge­schichte eingehen. Drei von ihnen sollen für die Erteilung von Bau- oder Bohrlizenzen üppige Schmiergelder der brasiliani­schen Baufirma Odebrecht eingestrichen haben. Ollanta Humala, Präsi­dent von 2011 bis 2016, sitzt bereits ein halbes Jahr in Untersuchungs­haft. Das Ermittlungsverfahren gegen seinen Vor­gänger Alan García läuft noch. Alejandro Toledo schließlich, Präsi­dent von 2001 bis 2006, konnte sich trotz ei­nes in­ternationalen Haftbefehls gerade noch in die USA absetzen. Ihm drohen bis zu 28 Jahre Gefängnis. Der pe­ruanischen Justiz gebührt ein dickes Lob für ihre Arbeit.
Die mutmaßlichen Taten dieses Dreigestirns schrumpfen indes zu Bagatelldelikten, wenn man sie an den Verbrechen misst, die auf das Konto Alberto Fujimoris gehen, der vierte noch lebende Ex-Präsident. Das US-Wirtschaftsmagazin For­bes setzte ihn 2004 auf Platz sieben der welt­weit kor­ruptesten Politiker*innen aller Zeiten. Er wurde vier Mal rechtskräftig zu insgesamt 45 Jahren Gefäng­nis ver­urteilt: wegen Verbrechen gegen die Menschlich­keit, Mord, Entführung, Folter, Unterschlagung, Wahlfäl­schung, Korruption und als Auftraggeber von Todesschwadro­nen. Er bestach, kaufte und erpresste während seiner Amtszeit von 1990 bis 2001 sys­tematisch Politiker*innen, Staatsanwält*innen, Richter*innen oder ganze Redaktionen. Ausgerechnet für diesen Mann öffneten sich an Heiligabend die Gefäng­nistore – eine schallende Ohrfeige für den Rechtsstaat!
Der Ex-Diktator musste nicht einmal ein Viertel seiner Strafe absitzen. Unter anderem dank Odebrecht. Denn der aktuelle Präsident Pedro Pablo Kuczynski stand als früherer Wirtschaftsminister Toledos ebenfalls auf der Schmiergeldliste des brasilianischen Baulöwen. Deshalb brachte Keiko Fujimori, Tochter des Ex-Diktators und Chefin der größten Oppositi­ons­partei, ein Misstrauensvotum gegen ihn ins Parla­ment ein, für das sich eine klare Mehrheit abgezeichnet hatte. Keiko sah sich bereits selbst auf dem Präsidentenstuhl. Doch ausgerechnet der zweite Diktatoren­spross, Keikos Bruder und Parteigenosse Kenji, fiel ihr in den Rücken. Er enthielt sich mit zehn Gefolgsleuten der Stimme und rettete Kuczynski die Präsidentschaft; zwei Tage später unterschrieb dieser die Begnadigung des Ex-Diktators.
Zufall sieht anders aus. Kuczynski hat einen schmutzigen Deal mit der Fujimori-Sippschaft eingefädelt, um sein eigenes politisches Überleben zu sichern. Damit brach er sein Wahl­versprechen, den Ex-Diktator nicht zu be­gnadigen. Kuczynski ist von nun an erpressbar und Präsident auf Abruf. Wann immer es Kenji Fujimori künftig gefällt, kann er ihn zur Strecke bringen.
Der machthungrige Kenji will sich anstelle seiner Schwester zum Prä­sidentschaftskandidaten seiner Partei küren lassen. Daher brannte trotz der Rückkehr des Patriarchen über Weihnachten wohl der Baum bei den Fujimoris. Aber wer von den Diktatorenzöglingen auch immer die Oberhand behält: Beide haben sich immer wieder mit Kompliz*innen ihres Vaters umgeben und sich niemals überzeugend von dessen Verbrechen distan­ziert. Sie profitieren davon, dass ihr Vater als der Mann gilt, der den mörderischen Konflikt mit der maoistischen Guerillaorganisation „Leuchtender Pfad“ been­det hat. Über wie viele Leichen er dabei ging, danach fragt heute nicht einmal mehr der Prä­sident.
Doch zum Glück fragt die Justiz danach. Sie kann den Ex-Diktator mit weiteren Anklagen erneut hinter Gitter bringen. Und nicht nur ihn. Denn gegen seine Tochter läuft ein Ermittlungsverfahren, weil sie illegale Wahlkampfspenden angenommen haben soll. Natürlich von Odebrecht.

DIE WELT IN EINER BILDERKISTE

Segundo wacht erschrocken auf, als der Pick Up über ein Schlagloch hüpft und der Altarschrein nach vorn zu kippen droht. Sorgfältig verstaut er den eingewickelten Flügelaltar wieder sicher auf der Ladefläche. Dann lugt er nach vorn ins Fahrerhäuschen und sieht etwas, das ihn zutiefst verstört –  seinen Vater mit einem anderen Mann.

Segundo lebt in einem Dorf in den Bergen Perus und lernt von seinem Vater die Anfertigung von traditionellen Retabeln, aufklappbare kunstvoll gefertigte Holzboxen, die im Inneren durch kleine Figuren religiöse oder soziale Geschichten darstellen. Sein Vater, das ist ein geachteter Mann in der Dorfgemeinschaft und Segundos großes Vorbild. Das Geschehen auf dem Fußballplatz, wo die Jugendlichen des Dorfes darum buhlen, wer der Stärkste ist, beobachtet Segundo distanziert. Als er von der Homosexualität seines Vaters erfährt, verspricht er seinem besten Freund mit ihm das Dorf zu verlassen und seinen Traum, Kunsthandwerker zu werden, aufzugeben. Aber dann findet auch das Dorf heraus, dass Segundos Vater sexuelle Beziehungen mit Männern führt und Segundo sieht sich mit dem Schlimmsten konfrontiert und muss sich entscheiden, welchen Weg er einschlagen möchte.

Der Regisseur entwirft nicht bloß das Bild einer Dorfgemeinschaft in Peru, sondern zeigt letztendlich auf, wohin die konsequente Durchsetzung heteronormativer Ordnungen führt.

In seinem Spielfilmdebüt Retablo zeichnet Álvaro Delgado Aparicio einfühlsam das Bild eines Jugendlichen, der in einer von patriarchalen Strukturen geprägten Welt heranwächst. Dabei legt er schonungslos offen, wie viel Gewalttätigkeit sich hinter den homophoben Strukturen des vermeintlich harmonischen Dorflebens verbirgt. Die Brutalität, mit der die Dorfbewohner*innen den Vater aus der Gemeinschaft ausschließen, als dessen Homosexualität entdeckt wird, erschüttert. Doch der Regisseur entwirft nicht bloß das Bild einer Dorfgemeinschaft in Peru, sondern zeigt letztendlich auf, wohin die konsequente Durchsetzung heteronormativer Ordnungen führt.

Der Welt des Machismus steht in Retablo die Welt des Kunsthandwerks gegenüber, in die der Vater Segundo hingebungsvoll und geduldig einführt. Liebevoll bringt dieser ihm bei, die kleinen Figuren für die Schreine zu formen und zu bemalen. Dabei gelingt es Delgado Aparicio hervorragend zu zeigen, dass das traditionelle Kunsthandwerk nicht nur ein Handwerk ist, sondern auch eine Form der Kunst, die ein Wissen voraussetzt, das über Generationen weitergegeben wird. Auch die filmische Inszenierung orientiert sich in ihrer Ästhetik an der Konstruktion der Altarretabeln: Immer wieder sind die Ereignisse durch Türen oder Fenster gerahmt, die geöffnet oder geschlossen werden, was den Eindruck erweckt, dass die Geschichte innerhalb eines Retablos stattfindet.

Besonders schön an Retablo ist, dass er fast komplett auf Quechua gedreht wurde und damit die indigenen Bewohner*innen der Anden und ein Stück ihrer Lebenswelt auf die Filmleinwand bringt, was selten passiert und noch seltener in den Kinos der Berlinale zu sehen ist. Es fällt auf, dass vor allem die derben Beleidigungen, die sich die Dorfjugendlichen gegenseitig an den Kopf werfen, aus dem kolonialen Spanisch stammen.
Amiel Cayo, der den Vater spielt, ist nicht nur im Film Kunsthandwerker. Neben seiner Arbeit auf Bühnen und in Filmen fertigt er im wirklichen Leben auch rituelle Masken für das Theater. Junior Béjar, in der Rolle des Segundo, steht zum ersten Mal für einen Kinofilm vor der Kamera, wohingegen Magaly Solier, die Mutter in Retablo, schon zum dritten Mal mit einem Film auf der Berlinale vertreten ist. 2009 gewann sie mit Claudia Llosas La teta asustada den Goldenen Bären.

Retablo wurde 2017 mit dem Preis für den besten peruanischen Film auf dem internationalen Filmfestival in Lima ausgezeichnet. Den Preis hat er sich verdient. Auch wenn das Ende in seiner dramatischen Überspitzung der Ereignisse ein wenig zu dick aufträgt, erzählt der Film sehr gelungen von der Wirkmächtigkeit von Homophobie.

 

Retablo lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Generation 14plus und gewann den L’Oreal Paris Newcomer Award. Außerdenm gab es eine Lobende Erwähnung für den Langfilm in der Kategorie Generation 14plus.

HAUTE CUISINE IM ARMENVIERTEL

Unterricht bei Chefkonditor Marcos Guima Vorbereitungen für den Apfelkuchen (Fotos: Martin Ling)

Die Umgebung ist trist. Streunende Hunde, schlaglochgesäumte Straßen, auf denen Kinder die im Schritttempo vorbeihuschenden Autofahrer um Kleingeld anbetteln. Das ist das Umfeld einer bemerkenswerten Einrichtung in Pachacútec, einem Armenviertel im Nordwesten Limas, in dem rund 150.000 Menschen leben. Mitten in der öden Landschaft befindet sich der Campus del Centro de Estudios y Desarrollo Comunitario (CEDEC) mit seinem Prunkstück: der 2007 eröffneten Kochschule von Gastón Acurio. Ihr Slogan lautet: „Alle können in Peru Koch werden.“ Acurio selbst wurde quasi mit goldenen Löffeln im reichen Stadtteil San Isidro geboren. Dort geboren zu sein, heißt ein vom Glück begünstigtes Kind zu sein, ist seine Überzeugung und ihm Verpflichtung, der Gesellschaft etwas davon zurückzugeben. Das 2004 aus der Taufe gehobene CEDEC kam ihm da gelegen, wird das Zentrum doch von der Stiftung Pachacútec geführt, bei der der Name Programm ist. Pachacútec heißt „Weltveränderer“ und so hieß der berühmteste aller Inkaregenten, der von 1438 bis 1471 als neunter Herrscher das Imperium der Inka anführte. Die Welt verändern will auch Acurio.

Die Lehrlinge kommen aus einkommensschwachen Verhältnissen. „Anfangs war die Ausbildung umsonst“, erzählt der Campus-Direktor Alexis Pancorvo. Inzwischen betrage die Gebühr 120 Soles (rund 30 Euro), als Ansporn und zur Steigerung der Wertschätzung, führt er aus. „Das ist etwa ein Zehntel dessen, was in vergleichbaren Kochakademien verlangt wird, die gewinnorientiert arbeiten.“ Und an den Gebühren ist noch kein Auszubildender gescheitert. „Wir sind flexibel, wenn einer knapp bei Kasse ist, kann er auch in den Ferien arbeiten und dann nachträglich zahlen, keiner fliegt, weil er oder sie mal nicht flüssig ist“, erklärt Pancorvo. Der Campus sei kostensparend organisiert, führt er aus: „Für das Sicherheitspersonal wird Geld ausgegeben, für die Reinigung nicht, das gehört zu den Aufgaben der Schüler und Schülerinnen. Verantwortung zu übernehmen, ist Teil der Ausbildung.“ Die Gebühren deckten 25 bis 30 Prozent der Kosten, der Rest wird über strategische Partner aufgebracht, beschreibt Pancorvo das Konzept. Einer davon ist Gastón Acurio, der die Küchenausstattung geliefert hat und Lehrpersonal kostenlos zur Verfügung stellt, aber auch andere Unternehmen sind beispielsweise mit Lebensmittelspenden für die Lehrküche beteiligt, aus denen die Kochschüler*innen dann leckere Speisen zuzubereiten lernen.

Rosa Dayenú de la Cruz ist im zweiten Lehrjahr. Die 20-Jährige nimmt täglich zwei Stunden Fahrt in Kauf – jeweils für Hin- und Rückfahrt. In dem vom Verkehrsinfarkt geplagten 11-Millionen-Moloch Lima ist das keine Seltenheit. Manche Lehrlinge kommen aus der Nähe, manche haben dreieinhalb Stunden Anfahrt, manche aus der Provinz mieten sich ein kleines Zimmer, um die begehrte Ausbildung zu machen. 500 bis 600 bewerben sich pro Jahr, 90 werden eingeladen, 25 ausgewählt. Geprüft werde fast alles – außer vorhandene Kochkünste: Logik, Rechtschreibung, Mathematik. Ein Eignungsgespräch, ein psychologischer Charaktertest bilde den Abschluss, so Pancorvo.

„Das Auswahlverfahren war hart“, sagt Rosa, „aber in der Ausbildung sind wir eine große Familie.“ Diesen Eindruck kann man in der Lehrküche in der Tat gewinnen. Konzentriert, aber fröhlich machen sich die Kochschüler*innen des zweiten Lehrjahres in Kleingruppen an die Arbeit. In zwei Stunden gilt es unter Anleitung einen Apfelkuchen zu backen. Die Anleitung kommt nicht von irgendwem, sondern von Marcos Guima, Chefkonditor im Acurio-Imperium. Für seine Lehrtätigkeit wird er von seinem Arbeitgeber freigestellt, Kosten für die Berufsschule fallen nicht an. „Das gehört zu den Beiträgen von Gastón Acurio für die Stiftung Pachacútec“, erzählt Dan Sacacco, der als Assistent in der Koordination der Kochschule arbeitet. Das Acurio-Imperium reicht inzwischen vom weltbekannten Edelrestaurant Astrid & Gastón in Lima bis zu Dutzenden Restaurants in und außerhalb Perus – 23 Jahre nachdem Acurio als 27-Jähriger sein erstes Restaurant zusammen mit seiner deutschen Frau Astrid eröffnete. Mit 37 Jahren setzte sich Acurio das Ziel, Perus Küche weltweit bekannt zu machen, inzwischen befinden sich in den einschlägigen Weltranglisten immer mehrere peruanische Restaurants unter den besten 50, Acurios Astrid & Gastón ist nur eines davon und selbst in Peru nicht mehr die Nummer 1. Er kann das verschmerzen, denn er hat sich zu seinem diesjährigen 50. Geburtstag ein neues Vorhaben gesetzt: „Mein Ziel ist es, Teil jener Generation zu sein, die aus Peru ein Land frei von Hunger macht.“ In Peru trifft Spitzengastronomie auf 50 Prozent unterernährte Kinder, und das treibt Acurio um, wie er in einem Interview im Wochenendmagazin „Somos“ der führenden Tageszeitung El Comercio bekannte.

Rosas Traum ist bescheidener: „Ich will mal ein eigenes Restaurant besitzen.“ Das ist noch ein weiter Weg. „Zweieinhalb Jahre dauert die Ausbildung“, sagt sie, bevor sie sich ans Blanchieren der Äpfel in der Pfanne macht, während andere sich um die Teigherstellung kümmern.
Neben der Kochschule offeriert der Campus fünf weitere Ausbildungen: Dreijährige Ausbildungen zur Elektriker*in oder Verwaltungsfachmann oder -frau und einjährige Ausbildungen zur Friseur*in, zur Kellner*in oder Call-Center-Agent*in.

Auf dem schwarzen Brett der Kochschule “Der Schmerz geht vorbei, der Stolz dauert ewig”

Der Campus CEDEC wurde 2003 eingeweiht, die Kochschule kam vier Jahre später dazu und feierte gerade ihr zehnjähriges Jubiläum. Die Zielsetzung von CEDEC ist ambitioniert: Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus extrem armen Verhältnissen Bildung und Ausbildung zu ermöglichen, die sie befähigen sollen, selbstverantwortlich ihr Berufsleben entwickeln zu können. Auch die Privatwirtschaft leistet ihren Beitrag, sponsert Ausrüstungsmaterial oder Ausbildungen. „Kirche, Staat, alle Sektoren sind bei CEDEC eingebunden“, erzählt Pancorvo. Auch eine Grund- und eine weiterführende Schule sowie ein medizinisches Zentrum gehören zum weitläufigen Campus in Pachacútec, der sich über 178 Hektar erstreckt.

„Pachacútec war ein Modell, von dem wir die Idee hatten, dass der Staat es übernehmen werde und ähnliche Ausbildungszentren für Tourismus, Hotellerie und Gastronomie in Cusco, Arequipa, Puno, etc einrichten würde; jedoch ist das nicht geschehen”, zog Acurio zum zehnten Jahrestag der Kochschule ein ernüchterndes Fazit. Dabei regt deren Bilanz durchaus zur Nachahmung an: „Mehr als 300 Jugendliche haben bisher die Kochausbildung beendet. Sie haben nun eine berufliche Laufbahn, sie haben ihr Leben zum Besseren verändert, einige haben es schon zum Chefkoch gebracht und einige von ihnen werden zu den besten Köchen der Welt werden.“

Einige der aktuell berühmtesten Köche der Welt geben sich dank Acurios Kontakten in der Kochschule die Klinke in die Hand. Auf dem schwarzen Brett gibt es eine Spalte mit Motivations­sprüchen à la „der Schmerz geht vorbei, der Stolz dauert ewig“, und dort hängt auch ein Foto von Kataloniens Starkoch Ferran Adrià, dem Picasso der Köche, dessen legendäres Lokal „El Bulli“ an einer malerischen Bucht an der Costa Brava fünfmal hintereinander zum besten Lokal der Welt gekürt wurde – dann machte Adrià es zugunsten einer schöpferischen Pause zu. Vor allem rund um die von Acurio initiierte und alljährlich in Lima stattfindende internationale Gastronomiemesse Mistura trifft sich die Crème de la Crème der Spitzenköche und schaut auf einen Abstecher auch in der Kochschule vorbei. Nicht nur der direkte Kontakt zu den Vorbildern ist motivierend, den vier besten Absolvent*innen des Jahrgangs winkt ein Europaaufenthalt, in der Regel in Spanien dürfen sie dann in der Spitzengastronomie Erfahrungen sammeln. Wer die Kochschule erfolgreich absolviert, hat beste Jobperspektiven. Acurio erhält immer wieder Anfragen aus dem Ausland für seine Köche und Köchinnen, denn die peruanische Küche ist weltweit auf dem Vormarsch, angefangen von den Cevicherias, die Sushi-Bars zunehmend Konkurrenz machen. Der Bedarf nach Acurio-Schüler*innen ist groß. Er selbst benötigt regelmäßig Nachwuchs für sein wachsendes Imperium, das Ausland lockt die größten Talente und auch der Rest wird sicher unterkommen.

„Diese Schule hat vermocht, die Hoffnung wieder zu wecken, den Glauben in das Leben, in die Zukunft, in die Kraft, eine Chance zu haben. Die Obsession einer Gesellschaft wie der unseren sollte sein, dass kein Kind wegen fehlender Chancen auf der Strecke bleibt“, blickt der Meisterkoch in die Zukunft. Da der Staat seiner Idee bisher nicht nacheifert, will Acurio in einem weiteren Armenviertel Limas alsbald eine zweite Kochschule gründen. Dieses Mal im Südosten. „Wir haben es nicht geschafft, den Überfluss des Landes in das Wohlbefinden aller umzusetzen.“ Überfluss wie 800 Mais- und 3.000 Kartoffelsorten, immenser Fischreichtum und eine breite Palette an Früchten. 2021 begeht Peru den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. „Wenn ich an Peru 2021 denke, besorgt mich das, es quält mich.“ 2021 finden turnusgemäß die nächsten Präsidentschaftswahlen statt. Acurio, selbst Sohn eines Politikers, wird wie in 2016 und ohne sein Zutun wieder von vielen als Präsidentschaftskandidat gehandelt werden. Der Präsident der Herzen ist er schon.

 

„ARRIBA PERÚ“

„Ojalá vamos a clasificar.“ Hoffentlich qualifizieren wir uns. Im November war dieser Satz an jeder Straßenecke in Peru immer wieder zu hören. „Ich bin 1990 geboren, noch nie habe ich erlebt, dass Peru bei einer Weltmeisterschaft dabei war. Hoffentlich …“ Nahezu ein ganzes Land ersehnte sich den Traum von der Teilnahme an der WM in Russland 2018. Und so war die Qualifikation in der Ausscheidung gegen den Ozeanien-Vertreter Neuseeland ein landesweites Fest. In weiser Voraussicht hatte die Regierung den 16. November für arbeitsfrei erklärt, sollte sich Peru im Rückspiel in Lima durchsetzen. Die Vorzeichen nach dem 0:0 im Hinspiel waren schließlich gegeben und dass eine durchfeierte Nacht am Folgetag in einen absentismo vom Feinsten münden würde, selbstverständlich. Für die fliegenden Händler*innen war es das Geschäft ihres Lebens: Millionen von Nationaltrikots wurden unter die Leute gebracht, die Billigversionen, denn das Originaltrikot von 80 Euro kann sich die übergroße Mehrheit der 33 Millionen Peruaner*innen nicht leisten. 35.000 Plätze fasst das Nationalstadion in Lima, 600.000 wollten online eins ergattern. Das Los entschied über die Glücklichen. „Viele vergossene Tränen, überschäumende Freude, am Schluss waren viele Peruaner glückselig“, so beschrieb Oscar Rivera gegenüber den Lateinamerika Nachrichten die Atmosphäre nach dem 2:0 Rückspielsieg. „Im Allgemeinen sind wir Peruaner Fußballfans und das erlebte Gefühl hängt davon ab, welcher Generation man angehört. Peruaner älter als 43 Jahre wissen, was es heißt, Peru bei einer WM zu erleben und all die vergangenen Jahre haben wir uns danach gesehnt, vergangene Zeiten wieder zu erleben. Diejenigen zwischen 25 und 40 Jahren sind aufgewachsen inmitten der Geschichten von Peru bei den Weltmeisterschaften, sie haben am meisten gelitten, geweint und diese Qualifikation genossen. Für die unter 25-Jährigen war es quasi ein Geschenk, eine Freude, eine kollektive Euphorie“, erzählt der peruanische Ökonom und Fußballfan aus Arequipa, der Teofilo Cubillas in den 70er Jahren begeistert verfolgt hat und einige seiner zehn Tore bei den Weltmeisterschaften 1970 in Mexiko und Argentinien 1978 in der Kneipe bei Pisco Sour nacherzählt. Auf dem Niveau dieser Mannschaft, die 1975 das einzige Mal in der peruanischen Geschichte Südamerikameister wurde und dabei im Halbfinale in Brasilien mit zwei Cubillas-Toren einen legendären 3:1-Auswärtssieg erzielte, sieht Rivera die aktuelle Mannschaft nicht: „Die Mannschaft von Peru hatte extrem viel Glück in diesem Ausscheidungsprozess, aber man muss anerkennen, dass der argentinische Trainer Ricardo Gareca der Hauptverantwortliche für den Erfolg ist. In der zweiten Hälfte der sich über 18 Spiele erstreckenden Eliminatorias vermochte Gareca den Kader zu ergänzen, die passenden Spieler auszuwählen, zu organisieren und die Gruppe in den Griff zu bekommen, indem er ihr seine Idee und Spielphilosophie einprägte. Er hat sich im Prozess von einigen verdienten Spielern getrennt, wie den in Deutschland spielenden Altstar Claudio Pizarro, den in Peru nicht viele mögen.“

Oscar Rivera sieht die WM-Qualifikation auch als gesellschaftliches Sinnbild: „Peru ist generell im Wandel begriffen, wir haben noch große soziale und wirtschaftliche Probleme, aber es gibt mehr aufrichtige, verantwortungsvolle und loyale Personen, die an Konzepten arbeiten, Träume hegen und an ihrer Umsetzung arbeiten. Das spiegelt sich auch im Fußball wider, in seinen Spielern. Wir hoffen, dass sich diese Tendenz fortsetzt und dass es sich nicht um eine Eintagsfliege handelt, ‚Hoch lebe Peru’“.

 

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Nulípara de hoy

Tiene diecisiete sobrinos de parte de hermanos y primos;
seis ahijadas de bautizo;
un par de bebés, que patrocina, en un orfanatorio;
un título universitario nacional;
dos títulos internacionales:
uno de doc y otro de post-doc;
tres libros bien publicitados;
algún piso, ganado o heredado, con vista al mar;
en fin,
maternidad holgada mas no vacía;
gracias a una madre que la parió
a un mundo, personalísimo y librepensante, que no le exige útero.

(Del libro inédito: De mujeres hembra)

Heutige Kinderlose

Siebzehn Familiensprosse durch ihre Geschwister, Cousins und Cousinen;
sechs getaufte Patenkinder;
ein paar Babys, die sie sponsert, in einem Waisenhaus;
ein Universitätsabschluss im eigenen Land,
zwei im Ausland:
durch ein Doc- und ein Postdoc-Programm;
drei gut beworbene Buchpublikationen;
eine Wohnung, gekauft oder geerbt, mit Meerblick;
kurzum,
Muttersein auf die bequeme Art und doch nicht leer;
dank einer Mutter, die sie verdammt nochmal in eine Welt gebar,
so selbstbestimmt und frei, dass frau ihren Uterus nicht einsetzen muss.

(Aus der unveröffentlichten Anthologie: Von weiblichen Frauen)

VERSKLAVT UND VERBRANNT

Es war ein Schreckensszenario. Fünf Tage brauchten die Einsatzkräfte bis sie den Großbrand, der am Morgen des 22. Juni in der Innenstadt der peruanischen Hauptstadt Lima losgebrochen war, löschen konnten. Ausgelöst wurde das Feuer durch eine Explosion im Einkaufszentrum „Las Malvinas“, vier Menschen starben bei dem Brand. Zum einen die 41-jährige Isabel Pantoja, die in einer nahe gelegenen Cevicheria gearbeitet hatte. Zum anderen Jorge Huamán (19), Jovi Herrera (21) und Luis Guzman Taipe (15), alle drei waren Lagerarbeiter im Einkaufszentrum. Die Umstände, die zu ihrem vermeidbaren Tod führten, stellten sich im Nachhinein als noch erschreckender heraus, als der Brand an sich.

Jede*r in Perus Hauptstadt kennt das „Las Malvinas“ und fährt dorthin, wenn er*sie nur sehr wenig Geld für ein elektrisches Gerät ausgeben kann oder will. Es ist Limas Herz des informellen Warenangebots für geschmuggelte, gestohlene und gefälschte Produkte, aber auch Symbol der informellen Arbeitswelt: Überfüllte Geschäfte, eine chaotische und unsichere Infrastruktur, und vor allem äußerst prekäre Arbeitsbedingungen, wo selbst absolute Mindeststandards der Arbeitsrechte nicht gelten. Zwölf Stunden harte Arbeit ist die Regel, um einen Lohn zu bekommen, der nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn von 850 Soles pro Monat (knapp 230 Euro) erreicht. In ganz Peru sind nach Schätzungen vom peruanischen Arbeitsministerium rund 200.000 Arbeiter*innen des informellen Sektors von ähnlichen Bedingungen betroffen. Es ist eine der Konsequenzen der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die von der aktuellen Regierung Präsident Pedro Pablo Kuczynsky – sowie aller vorherigen Regierungen seit den 1990er Jahren – verfolgt wird: systematischer Abbau von Arbeitsrechten, schwindende Kontrolle der Einhaltung der verbliebenen Rechte sowie Straflosigkeit und Korruption bei Verstößen. All dies verschärft sich zunehmend durch die Kriminalisierung der Gewerkschaften und all jener Personen, die versuchen, die Rechte der Arbeiter*innen zu verteidigen.

Besonders unmenschlich waren die Bedingungen, die zum Tod der drei jungen Arbeiter geführt haben.

Besonders unmenschlich waren die Bedingungen, die zum Tod der drei jungen Arbeiter geführt haben. Laut den Recherchen des Nachrichtensenders Canal N begann das Unternehmen Inversiones JPEG im Februar dieses Jahres die fünfte Etage des Einkaufszentrums zu verkaufen. In diesen Räumlichkeiten wurden Container ohne die benötigten Genehmigungen errichtet. Verantwortlich dafür ist, laut Canal N, das Ehepaar José Fabián und Rocío Depaz Páucar, das Eigentümer von acht Parzellen der fünften Etage sowie der Container war. Laut der Aussage eines Nachbarns widmete sich José Fabián dem Import von fluoreszierenden Mitteln aus China, die von den teils minderjährigen Arbeiter*innen benutzt wurden, um von billigen Elektrogeräten die unbekannten Herstellernamen zu entfernen und neue Etiketten von Weltmarken wie BTicino und Philips zu befestigen. Dabei hatte das Ehepaar Teile ihrer Parzellen an einen Subunternehmer namens Jonny Coico Sirlopu vermietet. Dieser verriegelte die Container von acht bis 19 Uhr mit Vorhängeschlössern und sperrte die Arbeiter dadurch ein. Urinieren mussten sie in Plastikflaschen, da im Inneren keine Toiletten vorhanden waren. Auch zu Verpflegung hatten sie keinen Zugang. „Die Jungen hatten Durst. Deswegen haben wir ihnen Wasser durch das Gitter gereicht“, erzählte ein Zeuge nach dem Brand. Während rund 80 Menschen aus dem brennenden Einkaufszentrum in Sicherheit gebracht werden konnten, hatten die eingesperrten Arbeiter keine Chance.

Eine längst fällige Debatte um sklavenähnliche Arbeitsbedingungen hat begonnen.

Nach Bekanntwerden der Todesumstände herrscht Empörung in Perus Öffentlichkeit, eine längst fällige Debatte um sklavenähnliche Arbeitsbedingungen hat begonnen. „Sie waren eingeschlossen. Das ist kriminell. Sie waren quasi Sklavenarbeiter”, schloss sich Präsident Kuczynski der allgemeinen Stimmung an.

Allgemein wird von „moderner Sklaverei“ in den Fällen gesprochen, in denen die individuelle Freiheit der Arbeiter eingeschränkt und die Ausbeutung für wirtschaftliche Zwecke begünstigt wird. Nach Angaben des Global Slavery Index, das von der australischen NGO Walk Free Foundation erstellt wird, arbeiten weltweit 45,8 Millionen Menschen unter Bedingungen der „moderner Sklaverei“, die Zahl steigt stetig. In Peru sind 0,6 Prozent der Bevölkerung davon betroffen, was hinter Mexiko und Kolumbien den dritthöchsten Anteil in Amerika darstellt.
Eigentlich soll die Nationale Superintendentur für Arbeitsinspektion (SUNAFIL) die Rechte aller Arbeitnehmer*innen in Peru überwachen und sicherstellen. Jedoch kann sie diese Aufgabe unmöglich erfüllen: Fast 17 Millionen Peruaner*innen sind wirtschaftlich aktiv, es gibt aber insgesamt nur 465 Arbeitsinspekteur*innen der SUNAFIL. Das heißt, dass es eine*n Inspekteur*in pro 40.000 Arbeiter*innen gibt, obwohl nach Angaben der Welthandelsorganisation (WTO) ein*er pro 10.000 Standard sein sollte. Hinzu kommt, dass SUNAFIL nur formelle Unternehmen überwacht. Für die Kontrolle der informellen Arbeit, wo der Großteil der Arbeitsrechtsverletzungen stattfindet, gibt es hingegen keine spezielle Einheit.

In Peru sind äußerst prekäre, sklavenähnliche Arbeitsbedingungen – vor allem für junge Menschen – keine Neuheit. Die Regierung von Ollanta Humala versuchte 2015, rechtliche Grundlagen dafür zu schaffen. Nach fünf Massendemonstrationen wurde das geplante Jugendarbeitsgesetz (Nr. 30288), auch „Ley Pulpín“ genannt, das für junge Menschen im Alter von 18 bis 24 Jahren gelten sollte, widerrufen. Nach diesem hätten die Arbeitnehmer*innen keine Erlaubnis gehabt, Gewerkschaften zu gründen, hätten nur den völlig unzureichenden Mindestlohn (damals noch 750 Soles) verdient, keine Garantie auf Krankenversicherung und nur eine verringerte Dauer der Elternzeit sowie weniger Urlaub gehabt.

Eine etwas entschärfte Version versucht nun die Regierung von Präsident Kuczynski durchzusetzen. Sie stellte in diesem Jahr das Gesetzesprojekt (Nr. 1104) im Kongress vor.

Der Entwurf soll erneut einen Anreiz für die Unternehmen zur Anstellung von Arbeiter*innen zwischen 18 und 24 Jahren darstellen, indem er auf Kosten der Arbeiter*innen und der Allgemeinheit die Unternehmen begünstigt. Der Staat würde zu 100 Prozent die Sozialabgaben der Unternehmen an die gesetzliche Krankenversicherung EsSalud übernehmen, wobei die Arbeiter*innen weiterhin ihren Teil von 13 Prozent zahlen müssten. Außerdem sollen den jungen Angestellten verschiedene Grundrechte, wie die Gründung von Gewerkschaften oder das Recht auf Weiterbildung, versagt werden. Gegen die Umsetzung dieses „Ley Pulpín 2.0“ gab es bereits erneut Proteste der jungen Bevölkerung auf den Straßen Limas. Diese werden auch weiterhin dringend notwendig sein, auch nach dem Tod der drei jungen Arbeiter von Las Malvinas.

DER RUF DES WALDES

Fotos: Pororoca.red

Es ist Donnerstagabend. Morgen früh beginnt das achte Panamazonische Sozialforum (FOSPA) auf dem Gelände der Universität von Tarapoto, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten Perus. Auf dem Campus wird noch eifrig gewerkelt: Bühnenbauer*innen verlegen Drainagen, streuen säckeweise Sägespäne und schimpfen auf den Klimawandel. Nach zwei Tagen tropischem Dauerregen steht im großen Veranstaltungszelt knöcheltief das Wasser. Techniker*innen verlegen trotzdem mutig Internetkabel. Internationale Freiwillige rücken Plastikstühle zurecht und machen die Scheinwerfer der Hauptbühne wasserdicht. Nun kann es eigentlich losgehen.
Doch bevor die Veranstaltung beginnt, müssen noch die Geister des Dschungels beschwichtigt werden. Es darf auf keinen Fall wieder regnen! Wie gut, dass das diesjährige FOSPA mit einem spirituellen Eröffnungsritual beginnt. Dieses findet nicht im doch recht lauten Tarapoto statt, sondern im benachbarten Dörfchen Lamas. Hier versammeln sich am Freitagvormittag etwa zweihundert Menschen. Die Aktivist*innen kommen aus Peru, aber auch aus den Nachbarstaaten Bolivien oder Brasilien. Und manch einer hat sogar eine weite Reise auf sich genommen und ist aus dem Kongo oder Haiti zum Forum angereist, um den internationalen Erfahrungsaustausch anzuregen. Europäer*innen sieht man hingegen kaum.

Langsam setzt sich die Menge in Bewegung, zu der parkähnlichen Plaza, auf der die Zeremonie stattfindet. Es geht einen Hügel hinab und einen anderen wieder hinauf, mit spektakulärem Ausblick auf die nebelverhangenen Bergketten von Lamas. Als alle Kinder der Pachamama (Quechua: Mutter Erde) angekommen sind, werden sie herzlich begrüßt, um dann der Erde ihren Dank auszusprechen. Verbunden natürlich mit der Bitte, für gute Energie und gutes Wetter in den kommenden Tagen zu sorgen.

„Die Politiker sollten den Begriff ‚Gutes Leben‘ nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Und das hat gut geklappt! Auf dem Universitätsgelände von Tarapoto, dem Ort des eigentlichen Geschehens, strahlt am nächsten Morgen die Sonne vor einem wolkenlosen Himmel. Unter dem grünen Blätterdach eines großen Baumes steht ein weißes Zelt. Hier befindet sich das mobile Studio von La Nave Radio, einem Zusammenschluss von Medienmachenden aus dem Amazonasgebiet. In den Sendungen sollen Besucher*innen und Akteur*innen des Forums frei und ehrlich erzählen: was ihnen politisch wichtig ist, warum sie überhaupt hier sind oder welche Konflikte sich gerade in ihren Dörfern und Städten abspielen. La Nave Radio sendet live vom Forum, ist aber auch im Internet zu hören.

Gerade moderieren der Musiker Lucho und der Geschichtenerzähler Leonardo. Beide kommen aus Peru. Ihre Gemeinden Nieva und Nauta liegen am gleichen Fluss, dem Río Marañón, einem Quellfluss des Amazonas. Mit dem Mikrofon kämpfen sie seit Jahren gegen Ölförderung, Holzeinschlag und Infrastrukturprojekte in ihren Gebieten. Themen, die auch ihren heutigen Studiogästen Domingo und Elvia vom ecuadorianischen Indigenen-Dachverband CONFENIAE unter den Nägeln brennen: „Wir entwickeln gerade das Projekt ‚Cuencas Sagradas‘“, verrät Domingo dem Publikum. Übersetzt heißt das die ‚Heiligen Quellflüsse‘. Für ihren Schutz setzt sich CONFENIAE ein. Denn im Río Napo und Río Marañón liege der Ursprung der gesamten Artenvielfalt der Region. „Alle Bodenschätze dort müssen unangetastet bleiben!“, fordert Domingo. So neu klingt das nicht, sondern eher nach Yasuní. Bereits im Jahr 2010 erklärte sich Ecuador dazu bereit, kein Erdöl im Yasuní-Nationalpark zu fördern. Wenn, so die Bedingung, die internationale Staatengemeinschaft dafür Kompensationszahlungen leistete. Doch am Ende fehlte es an willigen Spendern, um die 3,5 Milliarden Euro zusammenzubekommen. Und die ecuadorianische Regierung vollzog eine Kehrtwende: Zwar wird offiziell weiter das „Buen Vivir“ gepredigt, das „Gute Leben“, bei dem Mensch und Natur im Einklang miteinander leben. Tatsächlich verkauft der Staat jedoch seit 2013 auch Förderlizenzen im Yasuní-Park. Die Indigenen sind nicht länger Verbündete. Domingos Mitstreiterin Elvia ist empört: „Von welchem Guten Leben spricht die Regierung, wenn Mutter Erde zerstört wird? Die Politiker sollten diesen Begriff nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Vor dem Radio-Zelt von La Nave hat sich eine Menge gebildet, die gebannt zuhört. Auch nach der Sendung diskutieren die Zuhörer*innen mit Elvia und Domingo noch lange auf der Straße über den Vorschlag weiter: Würde sich China wirklich auf einen Schuldenschnitt mit Ecuador einlassen und so der Regierung Handlungsspielraum verschaffen? Was ist der im vergangenen Jahr von der UNO geschaffene Klima-Topf wert, wenn am Ende doch niemand einzahlt? Alles Fragen, über die in den kommenden Tagen noch zu reden sein wird.

Starke Frauen: Die Teilnehmerinnen verschaftten sich lautstark Gehör

Rund 1.500 Aktivist*innen, in der Mehrzahl Indigene, haben es zum Sozialforum nach Tarapoto geschafft. Auf die Beine gestellt wird das FOSPA von Vertreter*innen der Basisgruppen und NGOs aus allen teilnehmenden Ländern. Sie schicken Hilfskräfte und bringen so gut wie möglich ihre finanzielle Unterstützung ein. Wen man hier wenig sieht, sind Vertreter*innen aus den größeren Medien. Mitorganisatorin Leslie bedauert das. Zur FOSPA-Pressekonferenz, die im Vorfeld in Lima stattgefunden hat, seien wieder nur die „üblichen Verdächtigen“ gekommen: „Es ist sehr schwer, andere Medienvertreter für unsere Sache zu gewinnen,“ sagt sie und hofft, dass die peruanische Presse vielleicht in Zukunft auch mal gesellschaftspolitisch ambitioniertere Themen auf die Titelseite bringt, als den täglichen Einheitsbrei aus Korruption und Gewalt in den Städten. Doch bis es soweit ist, bleibt die Berichterstattung des FOSPA vor allem in den Händen von Community-Medien, allen voran La Nave Radio, mit ihren Moderator*innen aus dem Amazonasgebiet.

Im weißen Radiozelt macht derweil die Kolumbianerin Dora Muñoz von den indigenen Nasa die Situation in der südwestlichen Provinz Cauca zum Thema. Dora, selbst seit fünfzehn Jahren Medienmacherin, unterstreicht, wie wichtig es sei, dass Indigene selbst über ihre Realitäten berichteten – denn nur so würden Zusammenhänge klarer. Für die Nasa etwa habe sich seit den Friedensverträgen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla vieles geändert: „Einerseits wurde es ruhiger: Man hört keine Flugzeuge mehr, keine Bomben und keine Schießereien.“ Allerdings sei es zu früh, um von einem wirklichen Frieden zu sprechen. Für Dora handelt es sich eher um eine fragile Art von Befriedung. „Es gibt immer noch Morde und Morddrohungen. Auch in diesem Jahr sind bereits fünfzehn soziale Aktivisten ums Leben gekommen. Vertretern von Menschenrechtsorganisationen werden bedroht. Für die Regierung sind das Einzelfälle; doch es steckt ein System dahinter”.

Starke Frauen wie Dora sind auf dem Forum überall präsent.

Erst Mitte April ist Gerson Acosta, ein Sprecher der Nasa, an seinem Wohnort erschossen worden. Seine Gemeinde war bereits 2001 von Paramilitärs angegriffen und vertrieben worden. Es gibt Hinweise, denen zufolge diese bei ihrer Aktion von der kolumbianischen Armee unterstützt wurden. Und die Armee wiederum soll von rechten Unternehmer*innenkreisen dafür bezahlt worden sein. Alles, um sich das ressourcenreiche Gebiet der Indigenen unter den Nagel zu reißen: ein in Kolumbien nicht unüblicher Vorgang. Aktivist Acosta, der immer wieder Ermittlungen zu den Drahtzieher*innen gefordert hatte, war schon mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Schließlich hatte er sogar Personenschutz von der Regierung erhalten – und bezahlte doch mit dem Leben. Radiomacherin Dora Muñoz erzählt anschaulich von der Lage in den zuvor von den FARC (der größten kolumbianischen Guerilla) kontrollierten Gebieten, in denen sich jetzt Paramilitärs und Rebellen-Splittergruppen ungehindert breit machen. Doch die indigenen Nasa seien jetzt dabei, eine Gegenstrategie zu entwickeln. Im April hat eine Vollversammlung in Corinto stattgefunden. Dort haben die indigenen Gemeinden und Bäuerinnen und Bauern die Guardia Indígena wieder aktiviert, „mit dem Ziel, keine bewaffneten Gruppen mehr auf ihr Gebiet zu lassen“.

Starke Frauen wie Dora – sie sind auf dem FOSPA überall präsent. Am dritten Tag des Forums findet diesbezüglich noch mal ein Höhepunkt statt: „El Tribunal de las mujeres“ – das Tribunal der Frauen. Auf dem Podium in dem voll besetzten Hörsaal sitzen vier Feministinnen. Heute sind sie Richterinnen. Sie hören sich die Geschichten von kämpferischen lateinamerikanischen Frauen an, die ermordet wurden, deren Täter aber straflos bleiben – wie im Fall der honduranischen Umwelt-Aktivistin Berta Cáceres. Oder die akut vom Tode bedroht sind – wie die Kleinbäuerin Máxima Acuña. Ihre Ackerfläche liegt in der Provinz Cajamarca, im Nordwesten Perus. Mitten in einem Gebiet, in dem die Mega-Goldmine Conga entstehen soll. Wäre da nicht Máxima, die sich weigert zu gehen und ihr Land den Interessen des Extraktivismus zu opfern. Die Gewalt, der sie seitdem unterworfen ist, hat viele Gesichter: Zerstörung ihres Hauses und ihrer Anbauflächen, körperliche Angriffe auf sie und ihre Familie, sexualisierte Gewalt, Hetzkampagnen in der Presse und den sozialen Medien, und schließlich juristische Prozesse, die sie mürbe machen sollen. Zwar haben alle Instanzen bislang zugunsten der Campesina Máxima entschieden. Und für die Richterinnen des Tribunals ist klar: Der Staat muss Máxima vor den Interessen des Unternehmens schützen. Ob die Entscheidungsträger*innen das gehört haben? Vielleicht. Jedenfalls entschied der Oberste Gerichtshof einige Tage nach Ende des Forums im Interesse der Kleinbäuerin. Conga Ade! (siehe Kurznachricht in dieser Ausgabe) Vorerst jedenfalls.

Überzeugend: Interview mit indigener Aktivistin

Am 1. Mai ist Tag der Arbeit und zugleich der letzte Tag des Panamazonischen Sozialforums. Geregnet hat es in den ganzen Tagen kaum einen Tropfen, und auch die Energie der Teilnehmenden ist weiterhin gut. Im Hauptzelt werden vormittags die Beschlüsse der einzelnen Arbeitsgruppen vorgestellt und die „Charta von Tarapoto“ verlesen. Darin steht, dass der Kapitalismus, welcher sich aktuell in rücksichtslosem Rohstoffabbau und „grüner Ökonomie“ ausdrücke, im Amazonas die Rechte der Bevölkerung und der Natur in Frage stelle. Er bedrohe die Nachhaltigkeit indigener Territorien und die Ernährungssicherheit der Bevölkerung. In dem Abschlussdokument des diesjährigen FOSPA wird einmal mehr das „Gute Leben“ als neues Paradigma des Zusammenlebens angepriesen. In mehr als zwanzig Unterpunkten werden konkrete Ideen und ehrgeizige Forderungen formuliert: vom Ende der Monokulturen, über die bessere Verwirklichung von Minderheiten- und Frauenrechten bis hin zu einer neuen Beziehung zwischen ländlichen und urbanen Räumen.

Bei den Besucher*innen und auch bei La Nave Radio stehen die Uhren auf Abschied. Die letzten Sendungen werden gefahren, dann soll das Zelt abgebaut und eingepackt werden, bis zum nächsten Jahr. Dann soll das Forum in Kolumbien stattfinden. Da taucht Domingo von der CONFENIAE noch mal auf. Er lächelt für ein Gruppenfoto. Und erzählt von den Schritten, die er in den letzten Tagen unternommen hat, um das Schutzprojekt der Cuencas Sagradas auf die Beine zu stellen: „Wir haben hier mit vielen peruanischen Basisgruppen gesprochen. Anfang Juli werden wir uns in San Lorenzo, Peru, noch einmal alle zusammenfinden.“ Und bereits vorher soll es ein Treffen mit der ecuadorianischen Regierung geben. Im Herbst, bei dem Weltklimagipfel in Bonn, wird dann auch in Deutschland von den heiligen Quellflüssen und dem Schutz der Amazonas-Region die Rede sein. Gerade wegen der vielfältigen Probleme sei es unerlässlich, Ideen und Perspektiven zu entwickeln, die über nationalstaatliche Initiativen hinausgingen, sagt Domingo: “Wir müssen unsere Kräfte vereinen, uns die Hände reichen und endlich die Grenzen zwischen den Ländern vergessen. Das ist das Wichtigste.”

GESUNDHEIT VOR GERECHTIGKEIT?

Es wirkte fast schon verzweifelt. Ein weiterer Versuch in der Reihe der unermüdlichen Anstrengungen, endlich das lang gewünschte Ziel zu erreichen: Alberto Fujimori, der wegen Mord, schwerer Körperverletzung und Entführung zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war, aus dem Gefängnis zu holen. Im April wurde zuletzt ein Gesetzesvorhaben vor dem peruanischen Kongress vorgestellt. Der 78-Jährige ehemalige Politiker sei schwerkrank, was einen Arrest im eigenen Haus nötig mache, hieß es. Fujimori zählt zu den kontroversesten Politikern der peruanischen Geschichte. Die Auseinandersetzung zwischen den Anhänger*innen des „Fujimorismo“ und seinen Gegner*innen zeigte sich auch beim Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr. Keiko Fujimori, die älteste Tochter des Inhaftierten, kam mit ihrer rechtskonservativen Partei Fuerza Popular als stärkste Kraft in die Stichwahl. In der zweiten Runde musste sie sich nur knapp Pedro Pablo Kuczynski von der neoliberalen Partei Peruanos por el Kambio (PPK) geschlagen geben. Dass es am Ende für Keiko an einem Prozentpunkt scheiterte, war größtenteils der Anti-Fujimori-Bewegung zu verdanken. Mit Slogans wie „Fujimori nunca más“ (Nie wieder Fujimori), demonstrierte die Bewegung in den großen Städten gegen eine erneute Machtübernahme eines Fujimoris (siehe LN 503). Auch eine mögliche Haftentlassung von Alberto Fujimori trieb viele Demonstrant*innen auf die Straße.

Trotz der Wahlschlappe sind die Bestrebungen zur Entlassung Fujimoris nicht abgeklungen, sondern haben lediglich ein neues Gesicht erhalten. So stellte der fraktionslose Kongressabgeordnete Roberto Vieira am 24. April den Gesetzentwurf Nr. 1295 zur „Regelung der Strafe für Senioren ab 75 Jahren“ vor. Mit dem Entwurf sollte eine besondere Bedingung in das Strafgesetzbuch integriert werden. Schwerkranke, alte Gefangene sollten demnach den Rest ihrer Strafe zu Hause absitzen können. Obwohl das Gesetzesvorhaben keinen konkreten Namen nannte, bestätigte Vieira, dass er das Projekt unter Berücksichtigung des ehemaligen Präsidenten entworfen habe. Vieira bestand allerdings darauf, dass der Entwurf nicht mit einer Entlassung gleichzusetzen sei: „Es ist keine Begnadigung. Es wird nichts verziehen. Stattdessen können 820 Menschen, die die Anforderungen erfüllen, die Vorteile nutzen.“

Diese Anforderungen waren, dass der Gefangene ein Drittel der auferlegten Haftstrafe abgesessen hat, älter als 75 Jahre ist und an einer schweren Krankheit leidet und sich so in einer heiklen Gesundheitslage befindet. Im Falle Fujimoris, der 78 Jahre alt ist, wären die ersten beiden Bedingungen erfüllt gewesen. Der ehemalige Diktator hatte im vergangenen Jahr das erste Drittel seiner Haftzeit beendet. Bezüglich seines Gesundheitszustandes wurden verschiedene Beschwerden festgestellt. Im Februar musste Fujimori ins Krankenhaus eingeliefert werden, da ein Bandscheibenvorfall an seiner Wirbelsäule ihm am Laufen gehindert hatte. Der Neurochirurg Carlos Álvarez erklärte, dass dies ein typisches Anzeichen des Alterungsprozesses sei, was den Patienten in seiner Beweglichkeit einschränken würde. Zusätzlich wurden beim ehemaligen Diktator weitere Leiden wie Bluthochdruck, Herzrasen, Mundkrebs und eine Magenschleimhautentzündung diagnostiziert. Fujimoris Arzt, Alejandro Aguinaga, erklärte, dass sein Patient jedoch keinen Herzinfarkt gehabt hätte: „Ein Fehler der Mitralkappe verursacht sein Herzrasen, aber kein Infarkt.“ Inwieweit diese Beschwerden ausreichend sind, den Ex-Diktator aus humanitären Gründen zu begnadigen, ist unklar. Jedoch hätte die Verabschiedung des Gesetzentwurfes Fujimori eine Möglichkeit eröffnet, seine Haft legal zu umgehen.

Trotz der Beteuerungen Vieiras, dass dieses Vorhaben rein aus humanitären Gründen ins Leben gerufen wurde, blieb die politische Motivation unverkennbar und sorgte für viel Aufsehen.

Trotz der Beteuerungen Vieiras, dass dieses Vorhaben rein aus humanitären Gründen ins Leben gerufen wurde, blieb die politische Motivation unverkennbar und sorgte für viel Aufsehen. Das Gesetz wäre nämlich nicht nur dem Ex-Diktator zu Gute gekommen. Eine Reihe weiterer Gefangener, unter denen sich auch Vladimiro Montesinos, der brutale und korrupte Geheimdienstbeauftragte der Regierung Fujimori, befindet, hätten auf diese Weise die Chance gehabt, ihre Haftstrafe in Hausarrest umzuwandeln. Laut dem Anwalt Alonso Gurmendi hätte dieses Gesetz sogar Abimael Guzmán, Anführer der maoistischen Terrororganisation „Leuchtender Pfad“, zu partieller Freiheit verhelfen können. Ein Schreckensszenario für viele Peruaner*innen, die die Grauen des bewaffneten Konfliktes zwischen der Terrororganisation und der peruanischen Armee in den 1980er und 1990er Jahren miterlebt haben.

Kritik an dem Gesetzesvorhaben äußerte auch die Fuerza Popular, die Partei des „Fujimorismo“. Die Kongresspräsidentin und Abgeordnete, Luz Salgado, erklärte im Interview mit dem Sender RPP Noticias, dass sie mit dem Hausarrest nicht einverstanden sei: „Ich möchte Alberto Fujimori frei sehen, nicht in einem Haus eingesperrt. Ich denke, dass es eine Begnadigung geben muss, und das liegt in der Macht von Präsident Kuczynski“.

Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos Perú befürwortet mehr als die Hälfte der peruanischen Bevölkerung eine Begnadigung Fujimoris aus humanitären Gründen. Diese kann allerdings nur vom Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski erteilt werden. Außerdem wird von 54 Prozent der Befragten die auferlegte Strafe von 25 Jahren Haft als zu streng empfunden. Diese Daten sind sinnbildhaft für die weiterhin starke Unterstützung, die Fujimori in der peruanischen Bevölkerung genießt. Dass er nach seiner Wahl den peruanischen Kongress im Jahr 1992 auflöste, alle oppositionellen Kräfte im Land durch den sogenannten autogolpe (Selbstputsch) zum Schweigen brachte, die Medien zensierte und mit Hilfe von Todesschwadronen unschuldige Menschen des Terrorismus beschuldigte und ermorden ließ, scheint aus der Erinnerung vieler Menschen verschwunden zu sein.

Am 10. Mai wurde das Gesetzesvorhaben Vieiras zur Haftentlassung Fujimoris vom peruanischen Kongress abgelehnt und archiviert. Der Versuch, Fujimori aus dem Gefängnis zu holen, scheiterte damit erneut. Ausschlaggebend war ausgerechnet der Widerstand der Fuerza Popular, die sich gegen den Hausarrest und für eine komplette Begnadigung aussprach. Ob die gesundheitlichen Beschwerden des Gefangenen ausreichend sind, um eine Entlassung aus der Haft zu erreichen, bleibt also weiterhin ein strittiges Thema. Das Land ist in zwei gegensätzliche Lager gespalten. Fraglich ist auch, ob bei den vielen Verbrechen Alberto Fujimoris überhaupt eine frühzeitige Entlassung gerechtfertigt werden kann. Sind seine körperlichen Beschwerden wirklich schwerwiegender zu gewichten als die Erpressungen, Ermordungen und Entführungen, die während seiner 10-jährigen Regierungszeit stattgefunden haben? Eine Frage, die eine gründliche Reflexion benötigt – besonders von Seiten der peruanischen Regierung.

KUNST UND KULTURELLE REVOLUTION IN LATEINAMERIKA

Im kolumbianischen Medellín fand 1981 die „Erste Lateinamerikanische Konferenz Nicht-Objekthafter Kunst“ statt. Im Museo de Arte Moderno (Museum für moderne Kunst) hatten sich Künstler*innen und Kunsttheoretiker*innen aus vielen Ländern Lateinamerikas versammelt, um über Theorie und Praxis zeitgenössischer Kunst zu diskutieren. Es ging um die soziale Relevanz von Kunstpraktiken nach dem Modernismus, jenseits von Wandmalerei im Stil des sozialistischen Realismus auf der einen und Abstraktion auf der anderen Seite.

Wichtigster Protagonist dieser Veranstaltung war der Kunsttheoretiker Juan Acha. In Peru geboren und aufgewachsen, hatte Acha in Deutschland Chemie studiert und war in den 1950er und 1960er Jahren als Kunstkritiker in Lima tätig. Von 1972 bis zu seinem Tod lebte und arbeitete er in Mexiko. Er gilt als einer der wichtigsten spanischsprachigen Kunsttheoretiker des 20. Jahrhunderts. Im deutschsprachigen Raum ist sein mehr als 20 Bücher und zahlreiche Artikel umfassendes Werk so gut wie unbekannt. Dabei würde es sich lohnen, seine Arbeiten wiederzuentdecken. Das gilt keineswegs nur für die Kunstsoziologie, sondern für seine Beschäftigung mit Fragen kulturellen Wandels überhaupt. Künstler*innen, schreibt etwa der Kurator und Theoretiker Joaquín Barriendos, waren für Acha nicht nur als Akteur*innen innerhalb des Kunstsystems interessant. Sie waren es auch und gerade deshalb, weil sie „auf dem Terrain mentaler und sinnlicher Veränderungen arbeiteten.“ Barriendos hatte im Frühjahr diesen Jahres eine Ausstellung zu Werk und Wirken Achas organisiert. Sie lief unter dem Titel „Despertar revolucionario“ („Revolutionäres Erwachen“) im Museo Universitario Arte Contemporáneo (Universitätsmuseum für zeitgenössische Kunst) in Mexiko-Stadt.

In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo.

In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo. Fast unmöglich zu übersetzen, geht es dabei um künstlerische Praktiken, die nicht an Objekte gebunden sind. In seinem Vortrag stellte Acha den no-objetualismo als Bruch mit der westlichen Kunstauffassung seit der Renaissance dar, die sich mit der Abgrenzung vom Handwerk etabliert hatte: Entscheidend für diese Auffassung von Kunst war bis ins 20. Jahrhundert hinein das individuelle Schöpfertum und das objekthafte Werk. Von Marcel Duchamps readymades (künstlerisch verwertete Alltagsgegenstände, Anm. d. Red.) über die konzeptuelle, auf Ideen basierende Kunst der 1960er und 1970er Jahre, zeichnet Acha die Entwicklung nicht-objekthafter Kunst in seinem 1979 veröffentlichten Buch Arte y Sociedad: Latinoamérica. El producto artístico y su estructura (Kunst und Gesellschaft: Lateinamerika. Das künstlerische Produkt und seine Struktur) nach. Der Begriff no-objetualismo umfasst dabei mehr als den Konzeptualismus oder der Konzeptkunst. Er richtet sich einerseits gegen die Fetischisierung von Objekten. Kunst braucht demnach keine Leinwände und Skulpturen, entscheidend sind die konzeptuellen Entwürfe und ihre Wirkung auf ein Publikum: Wie das Pissoir, das Duchamp 1917 in eine Ausstellung stellen ließ, gemacht ist und wie es aussieht, ist völlig egal. Interessant ist, wieso es als Kunstwerk angesehen wird. Andererseits zielt der Begriff no-objetualismo aber trotzdem auf den Umgang mit Materialien – Duchamps readymades waren schließlich auch Gegenstände –, mit dem Bildhaften und verschiedenen Wahrnehmungsformen.

Quer zu etablierten Kategorien wie Figuration, Abstraktion und Konzeptualismus kategorisiert Acha so die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts neu. Und zwar nicht nur diejenige Lateinamerikas. Während er einerseits alle wichtigen Personen und Stationen der nordamerikanisch-westeuropäisch geprägten Kunstverhältnisse reflektiert, weiß er – im Unterschied zu vielen seiner westlichen Kolleg*innen – zugleich um die eingeschränkte, eurozentrische Perspektive dieser Vorgehensweise. Schon die Unterscheidung in bildende Kunst, angewandte Kunst und Kunsthandwerk sei ein Effekt der kapitalistischen Entwicklung des Westens gewesen. Und die „bürgerliche Überbewertung der [bildenden] Kunst“, schreibt er in La apreciación artística y sus efectos („Die Kunstbewertung und ihre Effekte“) 1988, gründet demnach „auf der ideologischen Macht der westlichen Kultur.“ Diese werde abgesichert und reproduziert durch „institutionelle Kunstapparate“ wie Museen, Galerien, aber auch Kunstakademien und Kunstmessen.

Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie.

Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie. So geht er von einer ökonomischen Hegemonie aus, die auch Werte und Einstellungsmuster prägt. Zugleich zeichnet er aber auch die strukturellen Besonderheiten der Entwicklungen innerhalb der Kunst nach. Er untersuchte sowohl die Frage, auf welchen ideellen und materiellen Grundlagen ihre Produktion gründet, als auch die nach ihren kognitiven, sensorischen und gefühlsmäßigen Rezeptionsweisen. Schließlich ist es durchaus grundsätzlich erklärungsbedürftig, warum bestimmte Objekte als Kunst behandelt und konsumiert werden und andere nicht. Der Konsum stellt für Acha ohnehin einen zentralen und unterschätzten Bereich der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur dar. Um den Prozess des Kunstkonsums und seine Effekte zu verstehen, bedürfe es also soziologischer, nicht nur philosophischer Instrumente. Es könne nicht nur um die Wahrnehmung der Betrachtenden allein gehen, schreibt er in Crítica del Arte („Kunstkritik“) im Jahr 1992. Man müsse auch ihre Erwartungen und Befähigungen mit einbeziehen, die, wie die künstlerischen Arbeiten selbst auch, nicht von dem sozialen Kontext zu lösen seien, in dem sie entstehen. Bei all dem geht er extrem systematisch vor, kaum eines seiner Bücher kommt ohne Schaubilder und Diagramme aus, die diese Systematik verdeutlichen sollen.

Acha war aber nicht nur Kunstexperte, sondern auch ein maßgeblicher linker Intellektueller. Die zeitgenössische Kunst nahm er häufig zum Anlass, um Fragen der „Unterentwicklung“ und der Folgen des Kolonialismus zu thematisieren. Dass ökonomische Herrschaft durch Wertvorstellungen abgesichert und vertieft wird, war eine seiner zentralen Thesen. Daher legte er auch so viel Wert auf kulturelle Veränderung: Kultur verstand er als Terrain, auf dem Sinn und Bedeutung hergestellt und verkörperlicht werden, sozusagen in Fleisch und Blut übergehen. Nach den Revolten von 1968 setzte er große Hoffnungen auf eine „kulturelle Revolution“, zu der auch Kunstschaffende beitragen sollten. Er begriff sie als „kulturelle Guerilla“ und verstand die oftmals aktivistische Kunst der 1970er Jahre als Teil eines sozio-politischen Transformationsprojektes.

Der große Einfluss seiner Thesen und Konzepte auf die zeitgenössische Kunst und die lateinamerikanische Linke der 1970er und 1980er Jahre ist unbestritten. Als sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre diverse Künstler*innen-Kollektive zur Bewegung Los Grupos („Die Gruppen“) zusammenfanden, war Acha einer ihrer wichtigsten Mentoren. Das betont etwa auch die feministische Performancekünstlerin Maris Bustamante. In den späten 1970er Jahren Mitglied des künstlerischen Kollektivs No Grupo („Keine Gruppe“), war Bustamante 1981 auch in Medellín dabei. 1983 war sie Mitbegründerin der feministischen Performancekunst-Gruppe Polvo de Gallina Negra („Pulver der Schwarzen Henne“). Im Rückblick hält sie Acha – neben dem marxistischen Kulturtheoretiker und Aktivisten Alberto Híjar Serrano – für den wichtigsten Vermittler marxistischer Ideen im kulturellen Feld Mexikos nach 1968 überhaupt.

In letzter Instanz, beschrieb Acha seine eigene Arbeit als Kunstkritiker, ginge es darum, ein „unabhängiges visuelles Denken“ zu ermöglichen. Die Forderung nach Unabhängigkeit war hier sowohl als Abgrenzung von einer elitistischen Kunstbetrachtung gedacht, als auch als Abkehr von einem Denken, das als Effekt der sozio-ökonomischen Abhängigkeit der Länder Lateinamerikas betrachtet wurde. Die Forderung ließe sich aber auch verallgemeinern als eine, die gegen Blickregime und Sehgewohnheiten aller Art gerichtet ist.

KATASTROPHE MIT ANKÜNDIGUNG

Nach mehreren Monaten der Dürre wurden die Regionen Lambayeque, La Libertad, Piura und Tumbes im Norden Perus im Januar von starkem Regen heimgesucht. Das Phänomen wird der „Küsten-Niño” (Niño Costero) genannt, da es nur die peruanische und ecuadorianische Küste betrifft. Zu den betroffenen Regionen gehören sowohl Ancash – hier befinden sich gegenwärtig 166 Bezirke im Notstand, darunter der Bezirk Huarmey, der sich praktisch in eine Lagune verwandelt hat – als auch Lima mit 145 Bezirken im Notstand.

Die Bilanz ist erschreckend. Laut dem Zentrum für nationale Notfalloperationen (COEN) summiert sich die Zahl der Betroffenen auf über eine Million. Bisher gibt es mindestens 113 Todesopfer. 238.000 Häuser wurden beschädigt, tausende Kilometer Landstraße und Autobahn sind zerstört, ebenso 6.000 Kilometer Bewässerungs­kanäle und 24.000 Hektar landwirtschaftliche Anbaufläche. Besonders betroffen sind die Ärmsten der Gesellschaft.

Einen der kritischsten Momente erlebte die Hauptstadt Lima, als durch die Regenfälle und Erdrutsche, gemeinsam mit dem Schmutz der Flüsse Rímac und Chillón, die Aufbereitungsanlage von Trinkwasser, La Atarjea, die Dekontaminierung des Wassers nicht mehr bewältigen konnte, so dass die ganze Stadt fast eine ganze Woche ohne fließendes Wasser auskommen musste. Zudem bestand das Risiko einer Kontaminierung des Flusses Rímac durch die Aufbereitungsrückstände der Minen des Tamboraque. Dies hätte die Zufuhr von fließendem Wasser für die Stadt auf unbestimmte Zeit unterbrechen können.

Die Regierung schickte das Militär in die betroffenen Regionen und tausende Personen aus Peru und anderen Ecken der Welt spendeten viel Zeit und Geld an die Bedürftigen. Sporteinrichtungen, Schulen, Wohnungen und Parks verwandelten sich in Sammelstellen für Spenden, in denen haltbare Lebensmittel, Wasser, Kleidung, Hygieneartikel und weitere Produkte gesammelt wurden.

Die massive nationale und internationale Solidarität wurde deutlich sichtbar – ebenso wie die Untätigkeit und mangelnde Prävention von Seiten des Staates. Interessanterweise erlebt Ecuador die gleiche Regenzeit wie Peru, wurde aber, aufgrund von Präventionsplänen der Regierung Rafael Correas, nicht so heftig von dem Phänomen getroffen.

In den letzten hundert Jahren hat das Phänomen El Niño Peru viermal heimgesucht. Diese Vorgeschichte müsste mehr als ausreichend sein, um Präventions- und Notfallpläne in Betracht zu ziehen, seitens der Bürger sowie der lokalen, regionalen und nationalen Verwaltung. Aber dies war nicht der Fall.

Es gibt keine Pläne zur Eindämmung ähnlicher Katastrophen.

Im Jahr 1952 traf El Niño – ähnlich wie in diesem Jahr – die nördliche peruanische Küste mit Starkregen und sorgte für überquellende Flüsse, während der Süden von Dürren geplagt war. Die nächste Katastrophe 1983 war die schlimmste von allen. Die Bilanz waren Schäden in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar, 15.000 zerstörte Häuser, massive Schäden der Infrastruktur und eine Malariaepidemie.

Die Katastrophe, die diesem Jahr am nächsten liegt, geschah Ende 1997 und Anfang 1998 unter der Regierung von Alan García. Damals waren Kolumbien, Ecuador und Peru betroffen. Die am stärksten geschädigten Regionen waren Piura mit 120.000 Betroffenen, gefolgt von La Libertad mit 72.000 und Lambayeque mit 71.000 Menschen, die, wenn nicht ihr Leben, dann Hab und Gut verloren. Die Auswirkungen auf Peru waren damals besonders verheerend, da erst kurz zuvor ein bewaffneter Konflikt beendet und die extreme Armut weitgehend überwunden worden waren. Laut Alfredo Zambrano, Mitglied des Nationalen Zentrums für Einschätzung, Prävention und Katastrophenvorsorge (Cenepred), haben weder die Gemeinden noch die Landesregierungen Pläne zur Eindämmung ähnlicher Katastrophen entwickelt. „Alle lokalen Verwaltungen haben seit 2013 Risikokarten der Cenepred. Sie wissen, wo die gefährdeten Zonen und die kritischen Punkte für Überschwemmungen, Erdrutsche und Erdbeben sind“, so Zambrano. Und trotzdem hat niemand etwas unternommen.

Der Bürgermeister von Lima, Luis Castañeda, verfügt über ein Budget von cirka 20 Millionen Euro für die Katastrophenprävention. Von diesem Budget wurden jedoch cirka 17,5 Millionen Euro für die Ausbesserung der Stadtautobahn „Promenade der Grünen Küste“ (Malecón de la Costa Verde) ausgegeben. In Piura hat der Regionalgouverneur Reynaldo Hilbck demgegenüber nicht einmal drei Prozent der 23 Millionen Soles (cirka 6,5 Millionen Euro) für den Schutz vor El Niño genutzt.

Der Dreijahresplan zur Rekonstruktion wird heftig konstruiert.

Mit jedem Tag erlebt die peruanische Bevölkerung auch den „Post-Niño-Effekt“. Stehende Gewässer, eingestürzte Kanalisation, Tonnen von Müll und eine starke Vermehrung von Moskitos durch die Regenfälle, die mehr als 300.000 Fälle von Durchfallerkrankungen verursacht haben. Auch vor einem neuen Ausbruch der Cholera wird gewarnt. Zusätzlich dazu ist die Anzahl an Dengue-Fällen exponentiell angestiegen. Bisher gibt es etwa 3.400 Personen, die an Dengue erkrankt sind, zu denen in Piura täglich 300 weitere mutmaßliche Fälle hinzukommen. Es gab bereits mindestens acht Tote. Außerdem sind 172 bestätigte Fälle des Zika-Virus und 55 des Chikungunya-Virus aufgetreten. Es sind aber nicht nur diese Erkrankungen, die durch die Überschwemmungen und Erdrutsche aufgetreten sind. Auch die Fälle von Atemwegserkrankungen haben um 437.000 zugenommen, von denen Lima mit 105.000 Fällen am meisten betroffen ist. In nur drei Monaten wurden mehr als tausend Fälle von Leptospirose gemeldet – einer Krankheit, die auftreten kann, wenn die Haut in Kontakt mit verunreinigtem Wasser kommt. Die Krankenhäuser sind nicht auf diese Gesundheitskrise vorbereitet. Der sanitäre Notstand ist für 90 Tage in elf Regionen des Landes ausgerufen worden.

Desgleichen hat die Exekutive einen Dreijahresplan zur Rekonstruktion vorgestellt, der die Bildung einer Behörde für den Wiederaufbau und die Beschaffung von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Beratung durch regionale Regierungen vorsieht, ohne die üblichen Limitierungen des staatlichen Vergaberechts einhalten zu müssen. Das wird heftig kritisiert, denn die Beauftragung privater Firmen ohne staatliche Kontrolle vereinfacht Korruption. Obendrein soll das Nationale Zentrum für Einschätzung, Prävention und Katastrophenvorsorge die Regionen mit hohem und sehr hohem Risiko für Überschwemmungen benennen und gegebenenfalls räumen. Das ist deshalb beunruhigend, weil dadurch Gebiete der indigenen Bevölkerung betroffen sein könnten.

Das Beratungsunternehmen Maximixe schätzte die Kosten für den Wiederaufbau der Infrastruktur auf knapp acht Milliarden US-Dollar. Knapp sechs Milliarden würden für die Sanierung von Straßen, Brücken, Kanälen, Schulen oder Gesundheitszentren gebraucht, die anderen zwei Milliarden für die Umsiedlung von Menschen und Notfallarbeiten. Die alles entscheidende Frage dabei ist, ob das Land ausreichend Budget besitzt. Nach den Aussagen des Staatsministers Fernando Zavala sei dies der Fall. So wurde trotz der bestehenden Unklarheiten ein Wiederaufbauplan vorgestellt und vom peruanischen Kongress genehmigt.

In dem Kontext ist zu sehen, dass laut Perus Steuerbehörde (SUNAT) und dem Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, der Betrag, der dieses Jahr durch Steuervorteile für private Unternehmen nicht in die Staatskassen fließen wird, auf mehr als 14 Millarden Soles (circa vier Millarden Euro) geschätzt wird. Dieser Betrag entspricht 2,1 Prozent des BIP und annähernd der Summe, die der Wiederaufbau kosten wird.

Ein wichtiges Detail ist in dieser Hinsicht, dass sich, nachdem der „Küsten-Niño“ Ende April abgeklungen ist, schon eine neue Krise ankündigt: starker Frost im Süden des Landes. Wird Peru darauf vorbereitet sein? Hoffentlich ja.

Zwar gelten die diesjährigen Ausmaße vom „Küsten-Niño“ als untypisch, doch im Zuge des Klimawandels ist fraglich, ob die Auswirkungen des Wetterphänomens zukünftig weniger verheerend sein werden.

SCHMUTZIGES GESCHÄFT

In Ihrem Dokumentarfilm betreten Sie die Stadt Rinconada und erzählen uns, wie wenig Kontrolle es in der Region gibt. Sie führen uns auch in verschiedene Gemeinden, die von starker Umweltverschmutzung durch den Bergbau betroffen sind. Was ist die Antwort des Staates darauf?
Der Staat verhält sich genauso wie in anderen lateinamerikanischen Ländern: Er versucht Profit aus dem Rohstoffabbau zu schlagen und denkt in keiner Weise an diejenigen, die unter dessen Folgen leiden, nämlich an die Bewohner der Region. Wenn es in Peru zu einem Konflikt zwischen Anwohnern und Bergbauunternehmen kommt, scheint der Staat den Vermittler zu spielen. Am Ende schenkt dieser Vermittler den Opfern jedoch kein Gehör, weil es in seinem Interesse liegt, dass weiterhin Rohstoffe abgebaut werden. Bevor er als Vermittler auftritt, sollte der Staat als Erstes den Aussagen der Opfer zuhören – das geschieht in Peru aber nicht.

Dieses Auftreten lässt sich in Ihrem Film an einem Beamten nachvollziehen, der bei einem Konflikt zwischen dem Staat und Menschen, die von der Umweltverschmutzung durch den Bergbau betroffen sind, vermittelt. Wie haben sich die Gespräche in diesem Fall entwickelt?
Bei der Ortschaft, die wir zeigen, handelt es sich um Llallimayo. Die Bewohner dort protestieren seit 2006. Elf Jahre schon dauert ihr Protest und immer noch hört niemand zu. Martín Carbajal vermittelte bei den Gesprächen als Vertreter des Bergbauministeriums. Im Film kann man sehen, wie er das Gespräch mit den Bewohnern beendet. Man merkt, dass diese Person eigentlich nicht geeignet ist, um als Vermittler aufzutreten. Ich frage mich, ob die Beamten, die der Staat schickt, die nötige Ausbildung für diese Aufgabe besitzen. Es könnte ja sein, dass sie einfach unfähig sind. Aber nach so vielen Jahren stellt man fest, dass etwas nicht stimmt. Es scheint, als würde der Staat ein Programm verfolgen, mit dem er die Gemeinden beruhigt und die Konflikte weitestgehend eindämmt, während der Bergbau fortgesetzt wird.

Außer den Gebieten, in denen Sie für diesen Film recherchiert haben, gibt es sicherlich noch weitere Regionen, die ebenfalls betroffen sind. Gibt es einen Fall, der Ihre besondere Aufmerksamkeit erregt?
Natürlich, es gibt Bevölkerungsgruppen, die noch viel stärker betroffen sind als diejenigen, die wir im Film gezeigt haben, wie zum Beispiel die Uros. Die Uros teilen sich in zwei Gruppen: die Händler, die auf den touristischen Inseln arbeiten, aber auf dem Festland leben, und die Uros, die nur auf den Inseln leben. Letztere wohnen in San Pedro de Ccapi, und der See ist der einzige Ort, wo sie einen Wasserzugang haben. Zu ihrer Ernährung gehört die tontora, eine Pflanze, die im See wächst. Die Uros essen also all die Schadstoffe mit, die zusätzlich zum Abwasser, das aus Juliaca in den See gelangt, durch den Bergbau hineingespült werden.

Neben einer Stadt wie Juliaca mit ihren fast 300.000 Einwohner*innen leiden auch viele kleine Gemeinden unter der Verschmutzung der Flüsse. Gibt es eine Organisation oder ein gemeinsames ökologisches Interesse in diesen betroffenen Gebieten?
Ökologisches Interesse gibt es wenig, dafür viel Korruption. Die Gemeinden flussabwärts von Juliaca haben sich organisiert, in Juliaca dagegen geht es nur ums Kaufen und Verkaufen. Juliaca ist eine Stadt des Handels, also total chaotisch. Sie ist in ständiger Bewegung, die Leute kommen aus Puno, Bolivien, Chile und der ganzen dortigen Andenregion. Es ist eine sehr schmutzige Region und das ökologische Bewusstsein der Peruaner ist nicht sehr ausgeprägt. Man kann beobachten, wie sie den Müll in die Flüsse kippen und diese damit verseuchen. Die meisten derjenigen, die sich für die Umwelt interessieren, sind dagegen Indigene. Die, die sich nicht dafür interessieren, wohnen flussaufwärts. Schließlich sind es ja auch die, die flussabwärts leben, zu denen der Fluss seine Schadstoffe trägt.

Ein Teil Ihrer Recherchen führte Sie auch nach Köln, genauer gesagt nach Hambach. Warum wollten Sie diese Mine in Ihre Dokumentation mit aufnehmen?
Damit wollte ich versuchen, mit dem Klischee zu brechen, dass die Menschen im Süden die Unterentwickelten seien, die die Umwelt verschmutzen. Aber es ist festzustellen, dass das so nicht stimmt: Auch hier gibt es massive Umweltverschmutzung. Natürlich geschieht das nicht auf die gleiche Weise, aber die Brutalität, mit der die Erde verschmutzt wird, ist die gleiche. Da gibt es keinen Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden – bewusst oder unbewusst zerstören wir alle zusammen den Planeten. Deutschland ist eines der führenden Länder, was ökologische Praktiken angeht, aber gleichzeitig führt es die Liste der Länder an, die die Umwelt am meisten verschmutzen. Das ist doch ein Widerspruch! Peru und andere lateiname= rikanische Länder zählen dagegen nicht zu den Spitzenländern bei Umweltverschmutzung. Deutschland muss Braunkohle in Kolumbien kaufen, um sie mit der Braunkohle aus Hambach zu vermischen, weil der Brennwert der deutschen Braunkohle niedriger ist – das ist aber noch umweltschädlicher. Und das ist noch nicht alles: Die deutschen Unternehmen könnten Filter einbauen, damit die Kraftwerke weniger Quecksilber ausstoßen. Aber es wird einfach nicht gemacht.

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