Ein Aymara im totalen Gonismus

Zwischen den Basketballkörben im Coliseo Cerrado in La Paz brennt ein Feuer. Indigene Würdenträger umschreiten es und werfen Cocablätter und andere Gaben hinein, während unter dem Beifall von tausenden von Zuschauern eine Delegation nach der anderen die Halle betritt. Überall wehen die farbenprächtigen Fahnen des Tawantinsuyu, des untergegangenen Reiches der Inkas. Auf vier Sesseln sitzen zwei Männer und zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Für Gonzalo Sanchez de Lozada, aufgewachsen in den USA, ist das Zeremoniell fremd. Immer wieder muß Victor Hugo Cardenas ihm Erklärungen und Anweisungen geben. Daneben die Damen: Ximena Iturralde de Sanchez de Lozada hat sich mit folkloristischen Applikationen auf dem lila Kleid auf das Ambiente eingestellt. Auf der anderen Seite sitzt Lidia Katari de Cardenas in
“manta y pollera”, der traditionellen Kleidung der Aymara-Frauen von La Paz, auf dem Kopf die Melone, symbolhaft für das gewachsene Selbstbewußtsein der Indígenas.
Zum ersten Mal nach 168 Jahren wurde am 5.August eine neue Regierung von Delegationen der indigenen Völker Boliviens als legitim anerkannt, vor wenigen Jahren noch ein undenkbarer Vorgang in einem Land, in dem die indigene Bevölkerungsmehrheit im formalen politischen System fast nie präsent war. Trotz aller farbenprächtigen Trachten geriet die Veranstaltung dabei nie zur folkloristischen Show. Der Vertreter aus Tarabuco bei Sucre im leuchtend roten Poncho trat mit der Aktentasche unter dem Arm auf, eine Delegierte aus dem Tieflanddepartement Beni trug zum Festtagskleid eine Plastiktüte mit unbekanntem Inhalt, und die abgetragenen Anzüge der Vertreter aus Oruro waren unter ihren Ponchos deutlich sichtbar. Den Anwesenden ging es nicht um ein Revival von angeblich “authentischen” Bräuchen, sondern um die symbolische Demonstration der Hoffnung auf ein plurikulturelles Bolivien in der Gegenwart. Die Präsenz der guatemaltekischen Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu machte darüberhinaus deutlich, daß es nicht nur um einen abgelegenen Andenstaat, sondern um Perspektiven auch für die Indígenas in anderen Ländern Lateinamerikas geht.
Victor Hugo Cardenas ist ein Aymara-Intellektueller, der sich bis zum Professor für Erziehungswissenschaften und Linguistik an der staatlichen Univerität von La Paz hochgearbeitet hat. Er ist Vorsitzender der “Revolutionären Befreiungsbewegung Tupac Katari” (MRTKL), die mit der alten Revolutionspartei von 1952, der “Nationalrevolutionären Bewegung” (MNR) Sanchez de Lozadas ein Wahlbündnis geschlossen hat. So sehr die Entscheidung Gonis von wahlstrategischen Erwägungen bestimmt gewesen sein mag, hat er mit der Wahl Cardenas zu seinem Partner auch eine politische Option geöffnet. Der MRTKL ist nicht die einzige Partei aus der kataristischen Bewegung, die ihren Namen vom Führer eines Indígenaaufstandes Ende des 18.Jahrhunderts ableitet. Radikalere kataristische Gruppen idealisieren die vorkolonialen indigenen Gesellschaften und fordern die gewaltsame Vertreibung der “Weißen”, um ein rein indigenes Bolivien aufzubauen.
Cardenas dagegen steht für friedliche Reformen, um Staat und Gesellschaft Boliviens für die Indígenas zu öffnen. Jetzt, wenige Wochen nach seiner Wahl zum Vizepräsidenten, hat er die überwältigende Mehrheit der Indígenas hinter sich, während die radikaleren kataristischen Gruppen kaum politisches Gewicht haben. Allerdings haben Sanchez de Lozada und Cardenas außerordentlich große Hoffnungen geweckt. Wenn die Mehrheit der Indígenas in den kommenden Jahren den Eindruck gewinnt, von einer Regierung betrogen worden zu sein, die ihren Vizepräsidenten als Marionette zappeln läßt, stellt sich die Frage nach ihren Reaktionen. Sie werden sich kaum wieder in solchem Ausmaß für eine Regierung in La Paz mobilisieren lassen. Nicht umsonst erinnerten die Autoritäten der indigenen Völker die Gewählten am 5. August an Zarate Willka, den Führer des letzten großen Indígenaaufstandes in Bolivien im Jahr 1899. Der damalige Präsident Pando hatte ihn erst zu seinem Bündnispartner gemacht und ihn und seine Bewegung kurze Zeit später mit Waffengewalt besiegt. Sanchez de Lozada hat durch seine Entscheidung für Cardenas eine Dynamik in Gang gesetzt, von der er eingeholt werden könnte, wenn er sie nicht ernst nimmt.

Stabilität um jeden Preis

“Gonismus” gibt es nicht erst seit dem 6.August. Gonismus steht für die bolivianische Wirtschaftspolitik seit 1985. Damals war Sanchez de Lozada noch unter dem alten Präsidenten und Revolutionsführer Victor Paz Estensoro als Planungsminister der Architekt der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Auch in der Zeit von 1989 bis 1993, als der MNR in der Opposition war, änderte sich nichts Wesentliches am wirtschaftspolitischen Kurs. Alle bekannten Folgen neoliberaler Wirtschaftspolitik waren und sind in Bolivien spürbar. Viele staatliche Minen sind schon seit Jahren geschlossen, ganze Städte in den Minengebieten sind fast ausgestorben. Die offenen Grenzen sorgten dafür, daß viele bolivianische Betriebe der Billigkonkurrenz aus dem Ausland nicht mehr standhalten konnten. Aber Gonismus heißt für die BolivianerInnen auch Stabilität, heißt Rückgang der Inflation von 23.000% in den Jahren 1984/85 auf bescheidene 10%. Und nicht zuletzt steht Gonismus für politische Stabilität. Bolivien hat am 6.August zum dritten Mal in Folge einen verfassungsgemäßen Regierungswechsel erlebt. Von links bis rechts wird gefeiert, daß Bolivien nicht mehr das Land der unzähligen Militärputsche ist. Goni kann darüberhinaus mit dem Pfund seines persönlichen Ansehens wuchern. Er gehört zu den wenigen Politikern, denen die Abneigung gegen Korruption abgenommen wird, abgesehen davon, daß er als Millionär die Korruption persönlich ohnehin nicht nötig hat. Im Wahlkampf war die Korruption ein zentrales Thema, denn unabhängig von der politischen Ausrichtung herrschte Einigkeit darüber, daß unter der letzten Regierung von Jaime Paz und Ex-Diktator Hugo Banzer die Korruption im Staatsapparat nie gekannte Ausmaße angenommen hat.
In der öffentlichen Meinung bis weit hinein in die Opposition gegen Superstar Goni herrscht die Angst vor dem Risiko, die relative Stabilität wieder zu verlieren. Alle wissen, daß die Rahmenbedingungen der bolivianischen Wirtschaftspolitik nicht in La Paz, sondern in Washington gesetzt werden. So sehr Intellektuelle und auch einige GewerkschafterInnen die Abhängigkeit des Landes kritisieren, haben sie doch die gescheiterten Experimente anderer Wege vor Augen: der chaotische Antiimperialismus Alan Garcías in Peru und die eigene Erfahrung mit der Regierung Siles Zuazo zwischen 1982 und 1985. Die Spitze des Gewerkschaftsdachverbandes COB macht massiv Front gegen die neoliberale Politik, aber ihr politisches Gewicht hat seit dem Zusammenbruch der Macht der Minenarbeiter stark abgenommen. Ihre Haltung ist defensiv: Hauptforderung ist der Stop der Privatisierungen. Aber Vorschläge, wie die hyperbürokratisierten Verwaltungsapparate der staatlichen Großbetriebe sinnvoller arbeiten könnten, sind Mangelware. Ersatzweise bedient man sich umso lieber flammender antiimperialistischer Rhetorik. Deren Glaubwürdigkeit allerdings bewegt sich bei der großen Mehrheit der BolivianerInnen nahe dem Nullpunkt.

Beliebte und Beleidigte: Gonis Koalitionstango

Sanchez de Lozada brauchte Koalitionspartner, um sich zum Präsidenten wählen zu lassen. Sein MNR hatte im Bündnis mit Cardenas MRTKL zwar die Wahlen mit Abstand gewonnen, zur absoluten Mehrheit hatte es aber nicht gereicht. In Bolivien gibt es keinen zweiten Wahlgang zwischen den beiden stärksten Kandidaten. Entscheidend ist, wer im Parlament eine Mehrheit zustande bekommt. Die Verlierer der Wahl schieden als potentielle Koalitionspartner aus. Die “Linksrevolutionäre Bewegung” (MIR) des scheidenden Präsidenten Jaime Paz hatte sich in vier Jahren an der Macht ebenso verbraucht wie die “Nationalistische Demokratische Aktion” (ADN) des ehemaligen Diktators Hugo Banzer. Banzer muß nach seiner dritten Wahlniederlage jetzt einsehen, daß er in Bolivien nicht mehrheitsfähig ist.
Drei mögliche Partner blieben: die kleine moderat linke “Bewegung Freies Bolivien” (MBL), eine Abspaltung des MIR, und dazu zwei schillernde Figuren der politischen Szenerie. Carlos Palenque machte sich die größten Hoffnungen auf den Zugang zur Macht. Mit Hilfe seines Fernsehkanals in La Paz hat er vor allem bei den städtischen Aymaras viele Stimmen bekommen, denn im “Canal 4” kommen sie zu Wort. Marktfrauen dürfen fernsehöffentlich ihr Leid über die Probleme des Alltags klagen, um sich dann väterlich vom Compadre Palenque in pastoral getragenen Worten Trost spenden zu lassen. Seit 1988 hat Palenque seine eigene Partei “Bewußtsein des Vaterlandes” (CONDEPA), die inzwischen in La Paz und in der Schwesterstadt El Alto die Bürgermeister stellt. Die Popularität von CONDEPA ist zweifellos Ausdruck des Drangs der städtischen Aymaras nach eigener politischer Repräsentation. Als politische Partei ist CONDEPA aber vor allem Vehikel auf dem Weg der populistischen Vaterfigur Palenque zur Macht. Durch Programmatik ist CONDEPA bisher ebensowenig aufgefallen wie Max Fernandez mit seiner UCS (Bürgerunion Solidarität). Der Brauereibesitzer machte mit sehr viel einfacheren Mitteln Wahlkampf: Lastwagenweise wurde Bier in die Dörfer geschafft und dazu das Blaue vom Himmel versprochen. In einem Fernsehinterview glänzte er mit einer Standardantwort auf nahezu jede Frage: “Wir werden das Problem analysieren und die für das bolivianische Volk beste Lösung finden.” Noch vor einem Jahr wurde Fernandez als möglicher Präsident gehandelt, bei der Wahl mußte er sich allerdings ebenso wie Palenque mit rund 13% der Stimmen begnügen.
Überraschenderweise findet sich Fernandez jetzt in der Regierungskoalition mit MNR, MRTKL und MBL wieder, während Compadre Palenque beleidigt vor der Tür bleibt. Der einfache Grund: Fernandez stellte Sanchez de Lozada weniger Bedingungen, was die Besetzung von Posten und Pöstchen angeht. Wichtig für die politische Szenerie der nächsten Jahre ist daran vor allem, daß der paternalistische Ethnopopulismus Palenques einen Dämpfer bekommen hat. Aus der Regierung heraus hätte er seine Klientel bedienen können, eine zentrale Bedingung für stabile Popularität. Jetzt bleiben ihm die wichtigen Bürgermeisterämter als Machtbasis. Es fragt sich, wie lange noch. Im Dezember finden Kommunalwahlen statt, und der erfolgreiche CONDEPA-Bürgermeister von La Paz, Julio Mantilla, wird bereits heftig von anderen Parteien umworben.

Holpriger Start

Sanchez de Lozada hatte nicht das glücklichste Händchen in seinen ersten Wochen an der Macht. Großartig war die Verkleinerung der Bürokratie mit der Reduzierung des Apparates auf zehn Ministerien angekündigt worden. Dafür nimmt nun die Zahl der Sekretariate und Subsekretariate auf über 30 zu. Die drei neuen Superministerien für “wirtschaftliche Entwicklung” (Wirtschaft, Planung und Finanzen), “soziale Entwicklung” (Soziales, Gesundheit, Erziehung, etc.) und “nachhaltige Entwicklung” (Landwirtschaft, Coca, Umwelt u.a.), in denen viele alte Ministerien aufgegangen sind, bieten bis jetzt ein chaotisches Bild. Bemerkenswert ist die Besetzung dieser Schlüsselministerien. Die drei Amtsinhaber, Fernando Illanes, Fernando Romero und Guillermo Justiniano, sind Unabhängige aus hohen Wirtschaftskreisen. Wirtschaftssuperminister Illanes zum Beispiel war Unternehmerpräsident. Sanchez de Lozada setzt darauf, die Wirtschaftseliten des Landes in seine Regierung einzubinden. Das Verteidigungsministerium ging an den UCS-Vertreter Antonio Cespedes, das Außenministerium an den MBL-Chef Antonio Aranibar. Letzterer bekam schon in der zweiten Woche im Amt einen Vorgeschmack auf seine Rolle als “Linker” im Kabinett: Notgedrungen mußte er der Einreise von 25 US-Beratern in Sachen Drogenbekämpfung zustimmen, noch im Wahlkampf ein absolutes Tabu für ihn und seine Partei.
Nachdem das Fest des Regierungswechsels vorbei ist, werden die Nachrichten aus dem Regierungspalast von Personalentscheidungen und ersten Koalitionsquerelen beherrscht. Victor Hugo Cardenas wird sich den erhofften politischen Einfluß in der Regierung erkämpfen müssen. Fatal für ihn und für Bolivien wäre, wenn das Vizepräsidentenamt bliebe, was es in den letzten Jahren war: Abschiebebahnhof für nicht mehr benötigte Bündnispartner.

Unser Leben ist kein Kinderspiel

Dieser Kommentar stammt von einem Kind auf dem 1. Straßenkinderkongreß Nicaraguas 1992 als Reaktion auf die relativ spärliche Resonanz bei JournalistInnen und PolitikerInnen.
Ähnlich wie in Nicaragua gibt es bereits in Peru, Mexico und Brasilien (vgl. LN 227) eigene Organisationen, in denen Kinder ihre Interessen und Ansprüche selbständig artikulieren. Dies wird deutlich im dritten Schwerpunkt einer Broschüre der Christlichen Initiative Romero e.V., die jetzt zum Thema Straßenkinder in Lateinamerika erschienen ist.
Zuvor werden in einigen Aufsätzen die Situation und die Problemlage der Kinder, vornehmlich aus Mittelamerika und Brasilien, ausführlich beschrieben. Es geht um Kinderarbeit, Kinderprostitution und um die Ausmaße des Elends der Straßenkinder. Mittlerweile lebt schon die dritte Generation Kinder auf der Straße. Kaum 14jährige Mädchen sind die Mütter dieser “Asphaltenkel”.
Dieses Leben auf der Straße ist geprägt von Arbeit, bzw. der Suche danach, unter Umständen der eigenen “Elternrolle” und, besonders wichtig, der gesellschaftlichen Diskriminierung. Von Kindheit im europäisch verstandenen Sinn sind die Kinder in Lateinamerika weit entfernt. Dazu kommt die alltägliche lebensbedrohliche Verfolgung durch die Polizei und private, durch Geschäftsleute angeheuerte Sicherheitsdienste, die die Straßenkinder zu Freiwild werden lassen.
Den Verfasserinnen dieser Broschüre ist es, trotz aller Differenz zur Lage in Europa, auch wichtig gewesen, auf die Situation von Kindern hier hinzuweisen. In den Texten wird deutlich, daß es die weltweiten Strukturen der Ungerechtigkeit sind, die die Kinder zwingen, auf der Straße zu leben. So haben die Erfüllung der strengen Auflagen des IWF, vor allem die Kürzungen im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich, die Zahl der Straßenkinder in den 80er Jahren spürbar anwachsen lassen.
Im letzten Teil des Heftes werden Aktionsvorschläge, Lernspiele, Material- und Literaturhinweise sowie weiterführende Adressen für die Arbeit im Unterricht und in Gruppen bzw. für Aktionen zum Thema aufgeführt. Die Broschüre ist eine gelungene Zusammenstellung von Materialien und sowohl zur eigenen gebündelten Information als auch für MultiplikatorInnen geeignet. Das sehr gute Lay-out wird durch ansprechende Photos und durch einzelne Graphiken ergänzt.

Unser Leben ist kein Spiel. Straßenkinder in Lateinamerika. 1993 herausgegeben von und zu bestellen bei: Christliche Initiative Romero e.V., Kardinal-von-Galen-Ring 45, 48149 Münster.

Geliebtes Erbe einer verhaßten Zeit

Wenn Leute, die die chilenische Regierung vertreten, heutzutage mit Kolleginnen und Kollegen aus den Nachbarländern diskutieren, vermeiden sie es sorgfältig, von Chile als Modell zu sprechen. Ihnen ist es, egal ob sie aus der Christdemokratischen oder der Sozialistischen Partei kommen, peinlich, als überheblich zu gelten, so als sollte am chilenischen Wesen die Welt ringsum genesen. Und gelegentlich lassen sie auch noch erkennen, daß sie keinem Nachbarland die Opfer wünschen, die die lange Nacht der Pinochet-Diktatur gekostet hat. Sobald sie aber untereinander sind, geht ihnen ganz flott von den Lippen, daß sich ihr Land jetzt in der “zweiten Phase des Exportmodells” befindet. Das soll bedeuten, daß sie die Ergebnisse der unter der Militärdiktatur durchgesetzten neoliberalen Revolution, nämlich eine exportorientierte, aktive Weltmarktintegration des Landes mit allen Konsequenzen für seinen inneren Zustand voll akzeptieren und nur innerhalb dieses Rahmens etwas im Sinne von Demokratie und sozialem Ausgleich ändern wollen. Nicht Chile ist also das Modell, sondern Chile hat sich nur frühzeitig nach einem Modell ausgerichtet, das nach dieser Vorstellung andere Länder – unter möglichst weniger kostspieligen Umständen – auch adoptieren müßten.

Die Linksintellektuellen ohne Alternative

Diese Einschätzung, daß es zu dem herrschenden Wirtschaftsmodell keine wirkliche Alternative gebe, wird heute auch von der Mehrheit der einstmals linken Intellektuellen geteilt, die vor zwanzig Jahren mit Salvador Allende für einen demokratischen Sozialismus kämpften und dann für lange Jahre ins Exil gehen mußten. Diese Position ist in der Koalition, die den Präsidenten Patricio Aylwin trägt, so weit akzeptiert, daß die rechte Opposition derer, die mit der Diktatur sympathisierten, für den kommenden Wahlkampf gar kein rechtes Thema hat und in den Meinungsumfragen hoffnungslos zurückliegt.
Woher aber nun diese freudige Akzeptanz des neuen chilenischen Weges? Woher die Angst vor jeder Abweichung vom Pfad der kapitalistischen Tugend? Woher der Erfolg der Warnung “Keine Experimente!”, ganz im Sinne von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard seligen Angedenkens?
Ein großer Teil der Erklärung liegt in dem relativ hohen Wachstum, das die chilenische Wirtschaft seit Mitte der achtziger Jahre und ganz besonders seit dem Amtsantritt der demokratischen Regierung Anfang 1990 erfahren hat. Chile war – neben Uruguay – eins der ganz wenigen Länder, die im sogenannten “verlorenen Jahrzehnt Lateinamerikas” zwischen 1980 und 1990 nicht einen Rückgang der Wirtschaftsleistung erlebt haben, und überhaupt das einzige Land, dessen Produkt pro Kopf in dieser Zeit spürbar zunahm.
Das folgende Schaubild zeigt, wie sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung in Chile im Vergleich zu den Nachbarländern verändert hat. Während es in Peru von 1980 bis 1992 um gute, genauer: katastrophale 30 Prozent gesunken ist, in Bolivien auf niedrigstem Stand noch nicht einmal das Niveau von 1970 wieder erreicht hat und in Argentinien trotz hoher Zuwachsraten in den letzten beiden Jahren die gut 20 Prozent Schrumpfung seit 1980 immer noch nicht wieder wettgemacht hat, verzeichnet es in Chile seit 1982, als es dort unter den Stand von 1970 zurückgefallen war, ein erst langsames, dann sich steigerndes Wachstum um insgesamt 30 Prozent. Der Abstand zum reicheren Argentinien hat sich erheblich verringert, der zu den ärmeren Nachbarländern Peru und Bolivien erheblich vergrößert. Alle, die sich in Chile den Luxus einer Auslandsreise leisten können, kommen mit dem Eindruck zurück: “Bei uns funktioniert es besser!”
Bisweilen verbindet sich damit der Traum, binnen kurzem den Anschluß an die Entwicklung der Industrieländer zu erreichen, Teil der Ersten Welt zu werden. Und in der Tat: In dem großen, weiträumigen Oberklassenviertel von Santiago können sich die gutsituierten Leute wochenlang über weite Strecken bewegen, ohne der Armut zu begegnen. Modernste Wohnanlagen und schmucke Villen wechseln mit luxuriösen Einkaufspassagen, attraktiven Hotels und postmodernen Bankpalästen, zwischen denen geschniegelte Yuppies mit ihren schlanken Aktenkoffern – eifrig telefonierend – hin und her laufen oder fahren.

Eine gigantische Umverteilung

Dieser konzentrierte und heute offen zur Schau gestellte Reichtum ist aber nicht nur das Ergebnis der Wachstumsraten der letzten Jahre, sondern vor allem Resultat einer gigantischen Umverteilung der Einkommmen zu Lasten der Armen und zu Gunsten der Reichen. Nach Angaben der in dieser Hinsicht sicher unverdächtigen Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (CEPAL) ist in Chile zwischen 1970 und 1990 der Anteil der Armen von 17 auf 35 Prozent der Bevölkerung und der Anteil der extrem Notleidenden von sechs auf zwölf Prozent der Bevölkerung gestiegen. Diese gigantische Umverteilung war einerseits das Ergebnis der nach 1973 erfolgten Durchsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells mit der völligen Liberalisierung des Marktes, der totalen Ausrichtung auf den Außenhandel und der drastischen Reduzierung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und im Bereich des Sozialen. Andererseits wurde die Umverteilung noch einmal verschärft durch die tiefen Wachstumskrisen von 1975 und 1982, die der Schockbehandlung durch die Chicago Boys unter der Diktatur folgten.
Nimmt man die geamte Zeit seit 1970 bis heute, so ist Chile – bezogen auf den Durchschnitt der Bevölkerung – den Industrieländern keineswegs näher gerückt. Um ganze 1,2 Prozent jährlich ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den 22 Jahren seither gewachsen. Entscheidend für das Bewußtsein der Leute – auch der armen Leute – ist aber, was jetzt passiert; und jetzt boomt die Wirtschaft: Um 10,4 Prozent hat die Wirtschaftsleistung 1992 zugenommen. Wo gibt es das – außer in China – noch auf der Welt? Für 1993 sieht es nicht viel schlechter aus. Und die Inflation sinkt. Und das Auslandskapital strömt herein. Und die Deviseneinnahmen aus dem Export nehmen zu. Und die Investitionsquote steigt.
Unter diesen Umständen setzt auch die Mehrheit der Armen ihre Hoffnung nicht auf die Abschaffung des Wirtschaftsmodells, das ihre Armut erst erzeugt oder noch verschlimmert hat, sondern – unter der demokratischen Regierung – auf einen gerechten Anteil an dem produzierten Wachstum. Regierungsfunktionäre aus dem Planungsministerium haben ausgerechnet, daß tatsächlich im Jahre 1992 die Einkommen der unteren 40 Prozent der Einkommenspyramide um zwei Prozent schneller gewachsen sind als der Durchschnitt. Bei diesem Tempo würde es noch viele Jahrzehnte brauchen, bis eine ähnliche Einkommensverteilung wie im Jahr 1970 wieder erreicht würde; aber die Situation der Armen wird wenigstens nicht noch schlechter.

Liberalismus in den Köpfen

Daß das Wirtschaftsmodell so breit akzeptiert wird, liegt aber auch daran, daß es sich über die neoliberalen sogenannten “Modernisierungen” seit den achtziger Jahren in den Verrichtungen des täglichen Lebens und in den Köpfen niedergeschlagen und festgesetzt hat. Die Privatisierung der grundlegenden sozialen Dienste im Gesundheitswesen und in der Sozialversicherung, die Übertragung des Bildungswesens auf die Gemeinden, die Zerschlagung und Neuordnung der Gewerkschaften durch den sogenannten “Plan Laboral” und die Zerstörung der Berufskammern, alle diese Maßnahmen zielten darauf, die Gesellschaft zu atomisieren und an den Gedanken zu gewöhnen, daß vom Staat nichts zu erwarten ist: “Jede ist ihres Glückes Schmiedin.” Und da unter der Diktatur diesen Ideen der Herrschenden nichts entgegengesetzt werden konnte, wurden sie zu den herrschenden Ideen im Lande. Unternehmerischer Geist kennzeichnet heute nicht nur die UnternehmerInnen, sondern auch die Werktätigen bis hin zu den Bettlern, die sich zur Steigerung der “Effizienz” ihrer Arbeit eine Krawatte umbinden.
Die Ausrichtung auf den Export ist auf den ersten Blick beeindruckend erfolgreich. Immer steigende Deviseneinnahmen haben nicht nur die Finanzierung des Luxus der Oberschicht, sondern auch eine Reduzierung der Auslandsschulden möglich gemacht. Aber auch der Blick auf die endlos erscheinenden neuen Obst- und Weingärten, Kiefern- und Eukalyptuswälder, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die vielgepriesenen “nichttraditionellen” Exporte von Obst und Holz, Wein und Zellulose eben doch insofern sehr traditionell sind, als es sich um Rohstoffe oder wenig verarbeitete, rohstoffnahe Produkte handelt, bei denen die komparativen Vorteile gegenüber den ausländischen Konkurrenten in der Ausbeutung des Bodens und schlecht bezahlter – häufig weiblicher – Arbeitskräfte liegen. An ein dauerhaftes Wachstum dieser Art von Exporten ist nicht zu denken; und unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten wäre es auch gar nicht wünschenswert.
Die Vernachlässigung ökologischer Gesichtspunkte ist ohnehin eins der wesentlichen Kennzeichen des chilenischen Modells. Kaum jemand wagt es, die Argumentation gegen Smog und Pestizide, gegen Monokulturen und Naturwaldvernichtung soweit zu treiben, daß auch die Heilige Kuh des Wachstums um jeden Preis ins Zwielicht geriete. Die Regierung des Präsidenten Aylwin und ihre fast sichere Nachfolgerin unter dem Christdemokraten Eduardo Frei werden froh sein, wenn sie die Fortsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells mit fortgesetztem Wachstum, einem Minimum an Verbesserung im Sinne sozialen Ausgleichs und der Aufrechterhaltung einigermaßen demokratischer Verhältnisse kombinieren können. Für manche Länder in Lateinamerika und Osteuropa mag solches Streben Modellcharakter haben; von sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft sind die Verhältnisse in Chile immer noch weit entfernt.

Editorial Ausgabe 229/230 – Juli/August 1993

Daß die Lateinamerika Nachrichten ihren zwanzigsten Geburtstag mit dem Schwerpunkt Chile begehen, ist für die Redaktion so logisch, wie es vermutlich für einen Großteil unserer LeserInnen inzwischen der Erläuterung bedarf: 1993 – 1973? Richtig, der Putsch in Chile…
Der Impuls, auf hektografierten Blättern in ein paar hundert Exemplaren Informationen über Chile in der “Bundesrepublik und West-Berlin” zu verbreiten, entstand im Juni 1973 aus Solidarität mit dem “Chilenischen Weg zum Sozialismus” unter Salvador Allende – in der Hoffnung/Zuversicht, Unterstützung für das bedrohte Experiment mobilisieren zu kön­nen; schon für die Nummer 5 erzwang der Sep­tember-Putsch eine neue Zielrichtung: Unter­stützung für den Widerstand in Chile, Infor­mation für die unglaubliche Zahl spontan ent­stehender Chile-Solidaritätskomitees in (west)deutschen Städten. Das war in diesem unserem Land einmal möglich: Engagement für Menschen in fernen Ländern (wie, um wei­tere signifikante Beispiele zu nennen, davor mit Vietnam, danach mit Nicaragua). Nicht, daß wir uns (allzugroße) Illusionen über die Erfolge der Solidaritätsbewegung machen: Aber damals gingen Tausende auf die Straßen, wenn AusländerInnen in ihren Ländern um­gebracht wurden (und sammelten Gelder für den – auch bewaffneten – Widerstand).
Chile unter Allende – daran ist zu erinnern – war ein Beispiel, schien eine Alternative zu den bewaffneten Befreiungsbewegungen, stand für den friedlichen Weg zum Sozialismus. Die Re­gierung des heutigen Chile versteht sich wie­derum als beispielhaft, und das in zweierlei Hinsicht: als wenn schon nicht “friedlicher”, so doch weitgehend gewaltfreier Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie, gleichzei­tig als ökonomisch erfolgreiches Beispiel für den Weg aus der Unterentwicklung. Galt die Sympathie der Chile-Nachrichten eindeutig der zunächst bedrängten, dann geschlagenen Lin­ken, so versucht das vorliegende Heft, die Kehrseite der “makroökonomisch” so glänzen­den Erfolgsbilanz der heutigen Regierung Aylwin zu zeigen.
Was für die Welt im großen gilt, trifft natür­lich auch auf den Kosmos unserer Redaktion zu: Sie ist nicht mehr, was sie einmal war. Der Wechsel findet wie im “ächten Leben” ständig statt, von der “GründerInnengeneration” sind noch zwei Vertreter (sic! tatsächlich zwei männliche Wesen) in der Redaktion aktiv, und die Arbeitsweise ist wie seit den ersten Num­mer gebändigt chaotisch: Wir lernen ständig aus unseren Fehlern, wissen nur nicht, was. Nur so ist wohl ein Projekt wie die LN zwan­zig Jahre lebensfähig geblieben. Daß aus den Chile-Nachrichten im Jahre 1977 die Latein­amerika Nachrichten wurden, war der “roll-back”-Strategie der Rechten gegenüber linken Bewegungen in Lateinamerika geschul­det (nach Chile: Argentinien, dann Peru).
Daß wir über die Arbeiterklasse gar nicht mehr, über die ArbeiterInnenbewegung kaum noch, über Basisbewegungen gelegentlich, über Kuba viele Jahre gar nicht, dann vereinzelt, zuletzt häufiger und meist kritisch, über Fraueninitiativen und ökologische Pro­bleme relativ regelmäßig, über kulturelle Trends immer noch zu wenig, über spirituelle Trends hoffentlich nimmer berichten – das hat nur noch bedingt mit den objektiven Gegeben­heiten, aber viel mit den subjektiven Befind­lichkeiten, also der jeweils real-existie­renden Redaktion zu tun: Die zehn bis zwan­zig Leute, die sich wöchentlich versammeln, sind nach einem Jahr schon wieder andere. Ob im Laufe der zwanzig Jahre 200 oder 400 Individuen mitgearbeitet haben, ist ziemlich bedeutungslos und wohl auch nicht zuverlässig festzustel­len; die Redaktion der LN bestätigt allmonat­lich die jahrtau­sendealte Weisheit, daß “alles fließt”.
Diese antike Einsicht bedeutet auch – und das Unsseidank! – daß sich in der Redak­tion nie­mals hierarchische Strukturen ausge­bildet haben. Angesichts der Weisheit und Erfahrun­gen der länger Mitarbeitenden natür­lich ein Jammer, aber eben auch die Chance eines Pro­jektes wie den LN: ohne zu verkrusten (glauben wir) offen zu blei­ben und andere Menschen (hoffen wir) sensibel zu machen für die Probleme eines Kontinents jenseits der Grenzen unserer Festung (West-)Europa.

Putsch und Gegenputsch

Der erste Putsch

Am 25. Mai um sieben Uhr morgens gab Präsident Jorge Serrano über Rundfunk und Fernsehen bekannt, daß er Teile Verfassung außer Kraft gesetzt habe. Er habe den Kongreß, den Obersten Gerichtshof, das Verfassungsgericht und die Generalstaatsanwaltschaft aufgelöst und den Menschenrechtsprokurator Ramiro de León seines Amtes enthoben. Er hob auch Versammlungsfreiheit, Streikrecht und Meinungsfreiheit auf und schaltete die Medien gleich. Serrano begründete seinen Putsch von oben mit dem Kampf gegen die Korruption, den Drogenhandel und der schlechten Amtsführung des Kongresses sowie des Obersten Gerichthofes.
Die Reaktionen auf Serranos Putsch waren einhellig ablehnend. Das Verfassungsgericht erklärte am 26. Mai die Maßnahmen Serranos für gesetzlich ungültig. Auch die Oberste Wahlbehörde lehnte es ab, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, wie Serrano am Tag zuvor angekündigt hatte. Arbeitsminister Mario Solorzano und andere Kabinettsmitglieder traten aus Protest gegen Serranos Vorgehen zurück, genauso wie einige BotschafterInnen Guatemalas im Ausland.
Außer in Peru wurde der Putsch auch im Ausland heftig verurteilt. Am 27. Mai kündigte der Sprecher des US-State-Departments Richard Boucher an, die wirtschaftliche Unterstützung einzufrieren. Außerdem könnten die Handelspräferenzen für ein Land, in dem die Arbeitsrechte nicht respektiert würden, nicht aufrechterhalten werden. Am 26. Mai knüpfte die deutsche Bundesregierung die weitere Zusammenarbeit mit Guatemala, “einschließlich der Entwicklungshilfe”, an die Rückkehr zur demokratischen Ordnung und die strikte Einhaltung der Menschenrechte. Am 29. Mai kündigte auch die EG- Kommission die Suspendierung ihrer Hilfe an.

Die Volksbewegungen zeigen Mut

Trotz der massiven Militär-und Polizeipräsenz auf den Straßen setzten sich die Volksorganisationen über das Demonstrationsverbot hinweg. Dabei spielte Rigoberta Menchú eine wichtige Rolle, als sie am 26. Mai gemeinsam mit der Katholischen Kirche, dem Rektor der Universität San Carlos und der Trägerin des alternativen Nobelpreises, Helen Mack für den nächsten Tag zu einer Messe in der Kathedrale der Hauptstadt aufrief, mit der das Versammlungsverbot durchbrochen wurde. Nach der Messe überreichten 62 Organisationen im Nationalpalast ein Dokument, in dem sie die “sofortige Rückkehr zur institutionellen Ordnung” forderten. Auch der abgesetzte Menschenrechtsprokurator Ramiro de León Carpio hatte das Papier unterschrieben. Er verwandelte sich schnell in ein Symbol des Widerstands. Nachdem er sich schon am 26. Mai von seinen Funktionen selbst entbunden hatte, schloß er am 31. Mai seine Behörde und rief zum zivilen Ungehorsam auf. In einem offenen Brief an die guatemaltekische Bevölkerung erklärte de León seine “totale und absolute Ablehnung” der von Präsident Serrano getroffenen Entscheidungen.

Das Militär eiert hin und her

Verteidigungsminister Garcia Samayoa hatte zunächst den Diktator Serrano vorsichtig unterstützt. Wenn Serrano diesen Schritt nicht unternommen hätte, “wäre das Land in eine anarchische Krise mit schwerwiegenden Konsequenzen geraten”, rechtfertigte er am 27. Mai den Putsch. Doch drei Tage später -nach einer Zusammenkunft mit einer im Land weilenden OAS-Delegation -versicherte Garcia Samayoa, die guatemaltekische Armee wünsche die “schnellstmögliche” Rückkehr zur verfassungmäßigen Ordnung. “Die Ereignisse basieren nicht auf einer militärischen sondern einer politischen Entscheidung. Wir wurden erst kurz vor der Außerkraftsetzung der Verfassung informiert.” An dem Treffen mit dem Generalsekretär der OAS, Joao Baena Soares, nahmen auch Generalstabschef Roberto Perussina, der Chef des Sicherheitsstabes des Präsidenten, Francisco Ortega Menaldo, der Geheimdienstchef der Armee, Otto Pérez Molina, und der stellvertretende Generalstabschef Mario Enriquez teil.

Der zweite Putsch

Am 1. Juni um 11.00 Uhr überreichten die Kommandanten der 22 Militärzonen Serrano ein Dokument, in dem sie ihm die Präsidentschaft entzogen. Zugleich überflogen Hubschrauber den Nationalpalast. Auf einer Pressekonferenz erklärte Verteidigungsminister Jose Garcia Samayoa, daß damit dem Urteil des Verfassungsgerichtes vom 26. Mai Gültigkeit verschafft werden solle. In dem Urteil war das Dekret von Serrrano für null und nichtig erklärt worden. Die Armee werde auf der Basis dieses Urteils der Verfassung zur Wirksamkeit verhelfen.
Garcia Samayoa verkündete: “Der Präsident der Republik hat sich für die Aufgabe seines Amtes entschieden.” Serrano jedoch weigerte sich mehrere Stunden lang, seinen Rücktritt zu unterzeichnen. In den erneut gleichgeschalteten Radios und Fernsehsendern wurden die Mitglieder des Verfassungsgerichtes aufgefordert, in den Nationalpalast zu kommen. Dort wurde dann ein fünfstündiges Treffen abgehalten, an dem Menschenrechtsprokurator Ramiro de León, Unternehmer, Parteien und Militärs teilnahmen. Der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu, die eine Beteiligung der Volksorganisationen an diesen Verhandlungen forderte, wurde der Zutritt zu dem Treffen verweigert.
Rigoberta Menchu Tum vertrat die Forderungen der neugebildeten “Multisectorial Social”, eines Zusammenschlusses von Organisationen der Volksbewegung und der Universität San Carlos. In mehreren Demonstrationen lehnte die “Multisectorial Social” die Übernahme der Präsidentschaft durch den bisherigen Vizepräsidenten Gustavo Espina ab, forderte Prozesse gegen Serrano und Espina und verlangte, den Kongreß von “korrupten Dieben” zu säubern.

Auf dem Weg vom Menschenrechtsprokurator zum Präsidenten

Ramiro de León hatte am 1. Juni den Putsch der Armee gegen Serrano ge rechtfertigt: Der Putsch sei “vollständig im Rahmen der Verfassung”. Die Militärs hätten in Übereinstimmung mit dem Urteil des Verfassungsgerichts interveniert, um zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren, “ohne die Macht auch nur eine Minute auszuüben”. Am folgenden Tag kündigte er die Wiedereröffnung seiner Menschenrechtsbehörde an, mußte dann allerdings feststellen, daß mittlerweile die Militärspitze den ehemaligen Vizepräsidenten Gustavo Espina unterstützte. Dieser könne nicht ernannt werden, da er wegen Verfassungsbruchs angeklagt sei, so de León Carpio. Er verlangte von Verteidigungsminister José Garcia Samayoa, daß er der Nation eine Erklärung über das Chaos gebe, in dem das Land versunken sei. Doch Verteidigungsminister Garcia vergrößerte das Chaos noch, indem er zunächst nicht nur Serranos Rücktritt, sondern auch den des Vizepräsidenten Espina verkündet hatte. Als sich die Armee dann aber nicht in der Lage sah, eine von Espina unterschriebene Rücktrittsurkunde vorzulegen, erklärte der Verteidigungsminister plötzlich Espina zum verfassungsmäßigen Präsidenten Guatemalas. (Nach anderen Versionen hatte sich Espina vorher selbst zum Präsidenten ausgerufen.) In der Nacht zum 3. Juni versammelten sich Tausende vor dem Parlamentsgebäude und äußerten ihren Unmut mit Sprechchören wie “Wir wollen nicht das Militär. Wir wollen nicht Espina”. Schließlich urteilte das Verfassungsgericht am 4. Juni, daß Espina dieses Amt wegen seiner Beteiligung
am Staatsstreich von Serrano nicht ausüben könne, woraufhin die Armee nun dem Verfassungsgericht umfassende Unterstützung zusicherte.

Zweigeteilte Zivilgesellschaft

Nachdem das Verfassungsgericht dem Kongreß am 4. Juni eine vierundzwanzigstündige Frist gesetzt hatte, um einen neuen Präsidenten zu wählen, trafen VertreterInnen der Privatwirtschaft, der Parteien, Gewerkschaften, Kooperativen und der Universität San Carlos unter Ausschluß der “Multisectorial Social” eine Übereinkunft über die Rückkehr zur verfassungmäßigen Ordnung. Sie einigten sich auf sechs Punkte, darunter den Rücktritt des amtierenden oder auch nicht amtierenden Präsidenten Gustavo Espina und die Wahl eines neuen Präsidenten durch den Kongreß. Die sogenannte “Instanz des Nationalen Konsens” überreichte das Dokument der Militärführung, die ihre volle Unterstützung zusicherte. Francisco Cali von der “Multisectorial Sociai” erklärte, daß weder Menchu Tum noch der Rektor der Universität das Dokument unterzeichnet hätten. Vielmehr hätten die Volksorganisationen noch vier weitergehende Forderungen: Prozesse gegen die Putschisten; Prozesse wegen Korruption; Ausschluß der Armee vom sozialen und politischen Leben; entscheidende Rolle der zivilen Gesellschaft bei den Entscheidungen über die Zukunft Guatemalas.
Die am 5. Juni für zehn Uhr morgens angesetzte Kongreßsitzung zur Wahl des neuen Präsidenten konnte wegen der intensiven Verhandlungen hinter den Kulissen erst um 18 Uhr beginnen. Neben Ramiro de León trat der am gleichen Tag von seinem Posten als Präsident der Obersten Wahlbehörde zurückgetretene Arturo Herbruger an. Herbruger zog seine Kandidatur allerdings zurück, als er im ersten Wahlgang mit 51 gegen 64 Stimmen unterlag. Da beide keine Zweidrittelmehrheit erreichten, mußte de León in einer weiteren Abstimmung um ein Uhr nachts noch bestätigt werden. In seinen ersten Erklärungen sagte de León, Guatemala müsse in sicheren Schritten einer besseren Zukunft entgegengehen, aber “ohne Revanche-oder Rachegefühle”. Er versprach, den hartkritisierten “Fonds für Vertrauliche Ausgaben” der Regierung abzuschaffen. aus dem sich die Präsidenten traditionell zur Bereicherung und Bestechung bedient haben und insbesondere die Meinungs-und Pressefreiheit zu respektieren. Neben dem Kampf gegen die Straffreiheit verpflichtete er sich auch zur strikten Einhaltung der Menschenrechte. Er kündigte die Einrichtung eines “permanenten Dialogmechanismus” mit den verschiedenen Ethnien an. Vorrangige Aufmerksamkeit werde er den Problemen im Gesundheits-und Bildungssektor widmen und sofort eine Alphabetisierungskampagne beginnen.

Glückwünsche aus dem Ausland

Der frisch gewählte Präsident konnte sich vor Glückwünschen aus dem Ausland kaum retten. Schon zwei Tage nach seiner Wahl traf der stellvertretende US- Außenminister Clifton Wharton zu einem dreistündigen Gespräch mit de León
ein. Wie alle anderen Regierungen, die ihre Wirtschaftshilfe nach dem Staatsstreich vom 25. Mai eingefroren hatten, kündigte er die sofortige Wiederaufnahme an. Das Auswärtige Amt in Bonn kommentierte: “Ramiro de León Carpio genießt aufgrund seiner Arbeit als Menschenrechtsprokurator großes Vertrauen in der guatemaltekischen Bevölkerung”.
León Carpio ernannte als erstes den in die Staatsstreiche verwickelten General Jorge Roberto Perussina zum neuen Verteidigungsminister, der zur harten Linie im Militär gezählt wird. Die beiden anderen Putschgeneräle Ex-Verteidigungsminister Garcia Samayoa und der Ex-Chef des Sicherheitsstabs des Präsidenten Ortega Menaldo wurden in den Ruhestand beziehungsweise in die Provinz versetzt.
Aus den ersten Erklärungen de Leóns 1äßt sich erkennen, daß er nicht vorhat, sich mit der Armee anzulegen. Solange es bewaffnete Auseinandersetzungen gebe, würde der Militärhaushalt nicht gekürzt, erklärte er. Auf internationaler Ebene löste er zunächst Befremden aus, als er sich zum Verhandlungsprozeß mit der Guerilla äußerte. Die Friedensgespräche seien keine Priorität seiner Regierung, weil der Wechsel an der Regierungspitze den Krieg “überflüssig” machen würde. Wichtiger sei es, den demokratischen Prozeß zu konsolidieren. Die URNG- Guerilla hatte am 10. Juni ein direktes Treffen mit dem neuen Präsidenten in Anwesenheit des Vermittlers vorgeschlagen. Das Zögern von de León Carpio ist wahrscheinlich damit zu erklären, daß er als ehemaliger Menschenrechtsprokurator nicht umhin könnte, das ausstehende Menschenrechtsabkommen zu unterzeichnen -was aber vom Militär kaum akzeptiert würde.
Die “Multisectorial Social” und Rigoberta Menchu begrüßten die Wahl de Leóns. Die Aktionen gegen die Militarisierung würden aber nicht aufhören, erklärte Rigoberta Menchú nach einem Gespräch mit de León am 9. Juni.
Der gestürzte Präsident Serrano befindet sich mittlerweile ohne seine Bankkonten mit 17 Millionen US-Dollar und mindestens 100 Immobilien im Exil in Panama. Das guatemaltekische Außenministerium beantragte am 8. Juni seine Auslieferung wegen Verfassungsbruch, Veruntreuung und Unterschlagung.

Berichtigung: Zwölf Monate sind ein Jahr, zwanzig Jahre gibt es die LN, das sind 240 Monate, und wenn die Inflation in Ecuador wirklich so hoch wäre, wie wir im letzten Heft auf Seite 9 behauptet haben, dann wären heute sicher nicht mehr 1800 Sucres einen Dollar wert, sondern die EcuadonanerInnen müßten in Millionen rechnen. Tatsächlich nämlich beträgt die Inflation nicht 50 Prozent monatlich, sondern im Jahr.

Versteckte Erfolge gescheiterter Wirtschaftspolitik

Lateinamerika ist der Schauplatz gescheiterter Wirtschaftspolitiken – so scheint es zumindest. Von staatlich kontrollierten Entwicklungsprogrammen über autoritäre Marktstrategien bis hin zu heterodoxen Ansätzen zur Bekämpfung von Hyperinflation bei gleichzeitigem Verzicht auf neoliberale Privatisierungsprogramme ist jede Form der Wirtschaftspolitik innerhalb der letzten zwanzig Jahre einmal ausprobiert und für gescheitert erklärt worden.
Alle Mißerfolge haben bisher nicht dazu geführt, die gängigen Wirtschaftspolitiken oder die ihnen zugrunde liegenden Theorien zu verwerfen. Stattdessen bewegt sich die aktuelle Debatte um Stabilisierung und Anpassung noch immer im engen Rahmen traditioneller, neoliberaler und strukturalistischer Ansätze. Dabei leiden die lateinamerikanischen Volkswirtschaften unvermindert an Massenarbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanzschwierigkeiten.
Woher kommt dieses ungebrochene Vertrauen zu gescheiterten Theorien und Strategien in Lateinamerika? Für gewöhnlich wird das mit dem Hinweis erklärt, diese Theorien und Strategien seien andernorts erfolgreich gewesen, und in Lateinamerika sei nur die richtige Umsetzung versäumt worden. Eine andere mögliche Erklärung besteht darin, daß ein nach Kriterien wie Arbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanzungleichgewichten gemessener Mißerfolg gleichwohl als Erfolg gewertet werden kann, sofern einmal aus einer anderen Perspektiven geschaut wird. Obwohl neoklassische und strukturalistische Ansätze nicht zu makroökonomischen Gleichgewichten führten, haben sie doch auf ihre Art gesteigerte Ausbeutung sowie die Stärkung der dafür notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen mit sich gebracht. Die klassischen Ansätze waren also genau in jener Dimension erfolgreich, die bislang keine Beachtung in der Standard-Debatte fand: dem Verhältnis der Klassen.

Die Herausforderung für die Linke

Die von der augenblicklichen theoretischen und politischen Debatte vorgegebenen Maßstäbe zu akzeptieren, wäre gleichbedeutend damit, die Kriterien von Erfolg und Scheitern gleich mit zu übernehmen. Die Herausforderung, der sich die Linke gegenübersieht, besteht darin, über die traditionelle Kritik an marktfixierter neoliberaler Politik hinauszugehen, sich deutlich vom strukturalistischen Pol der Debatte abzusetzen, um die Beschränkungen beider Seiten zu offenbaren. Den Gesichtspunkt der Auseinandersetzung zwischen Klassen in den Vordergrund zu rücken, stellt eine Möglichkeit dar, die Begrenztheit der augenblicklich stattfindenden Diskussion zu überwinden.
Die Mehrheit der mainstream-ÖkonomInnen denkt, makroökonomische Stabilisierungs- und Anpassungspolitik habe nichts mit der Klassenfrage zu tun. Sie übersehen dabei die Wechselwirkung zwischen Formen kapitalistischer (und anderer) Ausbeutung auf der einen Seite sowie Stabilisierung und Anpassung auf der anderen Seite. Stattdessen gehen sie davon aus, daß die Probleme von Stabilisierungs- und Anpassungspolitiken “naturgegeben” seien, weil es innerhalb der Wirtschaft einen steuernden Mechanismus gebe, der nicht mit der Auseinandersetzung zwischen Klassen in Verbindung gebracht werden könne. Auch über die Maßstäbe für erfolgreiche Wirtschaftspolitik besteht Einigkeit: Vollbeschäftigung, Preisstabilität und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz.
Worin sich neoklassische und strukturalistische ÖkonomInnen unterscheiden – und was die größte öffentliche Aufmerksamkeit erfährt -, sind die angebotenen Rezepte für wirtschaftlichen Erfolg und selbstverständlich die Begründungen für fehlgeschlagene Strategien. Die Neoklassik wird meist mit den Vorstellungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen kreditgebenden Institutionen in Verbindung gebracht: strikte Geldpolitik, Abbau staatlicher Defizite, Liberalisierung des Binnen- und Außenhandels sowie des Kapitalmarkts. Der Strukturalismus kritisiert diese orthodoxen Politikempfehlungen und setzt sich im Gegenzug für eine heterodoxe Politik ein, die Lohn- und Preiskontrollen ebenso einschließt wie andere Interventionen des Staates in das Marktgeschehen.
Dieser Gegensatz läßt sich größtenteils aus den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen herleiten. In der neoklassischen Theorie ist es das menschliche Individuum, das in letzter Konsequenz wirtschaftliche Prozesse steuert. Stabilisierung und Anpassung werden als die natürliche Folge einer Politik angesehen, die es den Individuen gestattet, rationale Entscheidungen auf freien Märkten durchzusetzen. Der Staat braucht nur einzugreifen, um Marktverzerrungen zu beseitigen, die die Wahlfreiheit der MarktteilnehmerInnen einschränken.

Heilt der Markt sich selbst?

Nach neoklassischen Vorstellungen kann es zu zeitweisen Ungleichgewichten kommen, wenn ein unerwartetes Ereignis wie das plötzliche Steigen der Ölpreise eintritt, ohne daß die Individuen genug Zeit hatten, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Das Ungleichgewicht kann fortbestehen, wenn Marktverzerrungen wie starre Löhne oder staatliche Kontrollen der Devisenmärkte die MarktteilnehmerInnen davon abhalten, die notwendigen Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen. Sobald diese Hindernisse jedoch überwunden und den Individuen gestattet wird, ungehindert ihre Entscheidungen auf freien Märkten zu treffen, wird die Wirtschaft wieder einen Gleichgewichtszustand erreichen. Nach der neoklassischen Lehre stehen PolitikerInnen vor der Alternative, entweder nichts zu tun und auf die individuelle Entscheidungskompetenz der MarktteilnehmerInnen zu vertrauen, oder aber im Falle von Marktverzerrungen beziehungsweise staatlichem Mißmanagement Marktbeschränkungen aufzuheben und den Staat auf seine eigentliche Funktion zu verweisen: die Sicherung freier Märkte und privaten Eigentums.
StrukturalistInnen haben immer wieder die neoklassische Sichtweise eines möglichst passiven Staates kritisiert. Sie argumentieren, daß Märkte nicht aus eigener Kraft zu Gleichgewichtszuständen zurückfinden, sondern staatlicher Leitung bedürfen. Auch die Annahme, Makroökonomie ließe sich durch individuelles Verhalten erklären, wird zurückgewiesen. Die Probleme um Stabilisierung und Anpassung ergeben sich vielmehr aus Machtbeziehungen und anderen wirtschaftlich-sozialen Verhältnissen. Preise etwa seien nicht durch das freie Wechselspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt, sondern würden in gewissen Grenzen von mächtigen Großunternehmen vorgegeben. Der Strukturalismus geht weiterhin von Voraussetzungen aus, die von der Neoklassik geleugnet werden: begrenzte Kapitalmärkte, Unsicherheit wichtiger MarktteilnehmerInnen, geringe Risikoinvestitionen, Engpässe bei der Produktion von Nahrungsmitteln. Nicht Einzelentscheidungen spielen die zentrale Rolle; es sind eben diese unausweichlichen Defizite von Märkten, die die wirtschaftliche Entwicklung bestimmen. Darum sprechen sich StrukturalistInnen auch im Gegensatz zu NeoklassikerInnen für gesteigerte Marktkontrollen aus. Die Regulierung von Löhnen und Preisen, Industriepolitik, staatlich kontrollierter Devisenhandel und eine aktive Ausgabenpolitik des Staates bilden die Bestandteile strukturalistischer heterodoxer Politik.

Existenz von Klassen und Ausbeutungsverhältnissen

Das grundlegende Problem innerhalb dieser Debatte besteht darin, daß das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Klassen einer Gesellschaft ausgeblendet wird. Sowohl die Neoklassik als auch der Strukturalismus richten ihre Aufmerksamkeit auf nahezu “naturgegebene” Gesetzmäßigkeiten des Marktgeschehens, die weder etwas mit der Existenz von Klassen noch mit Ausbeutungsverhältnissen zu tun haben. Es ist die Aufgabe von MarxistInnen und anderen Linken, den Zusammenhang zwischen Anpassungspolitik und Klassenauseinandersetzung aufzuzeigen. In der marxistischen Theorie wird davon ausgegangen, daß die Aneignung der Mehrarbeit der direkten ProduzentInnen, also der ArbeiterInnen, in der kapitalistischen Form des Mehrwerts oder in anderen nichtkapitalistischen Formen erfolgt. Erst einmal angeeignet, wird die Mehrarbeit an Handelshäuser, Banken oder den Staat verteilt – in und außerhalb Lateinamerikas.
Sollte “Klasse” als Begriff in der herkömmlichen Betrachtungsweise – etwa im Strukturalismus – doch einmal eine Rolle spielen, werden darunter dann nur Gruppen von MarktteilnehmerInnen verstanden, die Einkommensströme für sich in Anspruch nehmen und unterschiedliche Konsum-, Spar- und Investitionsneigungen haben. In diesem Sinn beziehen sich StrukturalistInnen anders als ihre neoklassischen KontrahentInnen häufig auf Machtverhältnisse und Gesellschaftsstrukturen, übersehen aber dennoch die Existenz von Ausbeutungsverhältnissen samt ihrer wichtigen sozialen Effekte.

Argentinien, Brasilien, Peru: Versuchsfelder für mainstream-ÖkonomInnen

Die Auswirkungen der neoklassisch-strukturalistischen Debatte lassen sich anhand der jüngsten Entwicklungen in Argentinien, Brasilien und Peru aufzeigen. Diese Länder haben in den vergangenen 20 Jahren als eine Art Versuchsfelder für WissenschaftlerInnen beider Richtungen gedient. Orthodoxe und heterodoxe ebenso wie kombinierte Politiken sind angewendet worden, um gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte zu korrigieren, die auf hausgemachte Fehler und weltwirtschaftliche Turbulenzen zurückgeführt wurden. In allen drei Beispielen wurden die Strategien von NeoklassikerInnen und StrukturalistInnen in die Tat umgesetzt und letztendlich als gescheitert erklärt. Die Reihenfolge der angewandten Strategien variierte von Land zu Land. Argentinien startete Mitte der siebziger Jahre mit einem überaus orthodoxen Programm. Unter der Herrschaft der diversen Militärregierungen schloß es sich dem Trend in Chile und Uruguay an und galt als eines der Beispiele für die Auswirkungen neokonservativer Wirtschaftspolitik in Lateinamerika. Unter der zivilen Regierung Alfonsín wurde in Argentinien anschließend eine Mischform praktiziert, ehe mit dem heterodoxen plan austral eine Strategie gewählt wurde, die eindeutig der strukturalistischen Position zuzuordnen war. Auf der anderen Seite wurde in Brasilien mit einem Mittelweg begonnen, der erst später in ein orthodoxes Programm mündete. Nachdem das Scheitern beider Wege offenbar geworden war, experimentierte die brasilianische Regierung unter Sarney zwischen den Jahren 1986 und 1987 mit dem heterodoxen Cruzado-Plan. Die folgenden Wahlen brachten die “modernistische” Collor-Regierung an die Macht, die jene orthodoxe Wirtschaftspolitik verfolgte, für die sich die Neoklassik einsetzt. Ebenso wie Argentinien begann Peru Mitte der siebziger Jahre mit orthodoxer Wirtschaftspolitik unter der Kontrolle des Militärs. Der Übergang zu einer zivilen Regierungsform fand hingegen unter Beibehaltung neoklassisch inspirierter Wirtschaftspolitik statt. Erst als der Populist Alan García 1985 gewählt wurde, war mit dem heterodoxen Inti-Plan ein Wandel zu beobachten. Auch dieses Programm versagte jedoch, so daß sich seit 1990 wieder marktorthodoxe Rezepte durchgesetzt haben.

Erfolge der StrukturalistInnen nur von kurzer Dauer

Der Ausgangspunkt aller drei heterodoxen Strategien – Austral, Cruzado und Inti – bestand in der Auffassung, daß die früheren Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme an den strukturellen Problemen lateinamerikanischer Volkswirtschaften vorbeigegangen seien. Staatliche Kontrollen wurden als notwendig angesehen, um zur Wiederherstellung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu gelangen. Diese strukturalistischen Strategien, die nach den neueingeführten Währungen in den jeweiligen Staaten benannt wurden, wiesen verschiedene Gemeinsamkeiten auf, die einer neoklassischen Liberalisierungspolitik von Grund auf widersprachen: Renten und Spareinlagen wurden nicht länger an die Inflation angepaßt, Löhne und Preise staatlicher Kontrolle unterworfen und gezielt Subventionen und Kredite vergeben. In allen drei Fällen traten sehr schnell dramatische Veränderungen ein: Produktion und Beschäftigung stiegen, die Inflation wurde eingedämmt, und die externe Zahlungssituation verbesserte sich. Diese Erfolge heterodoxer Politik waren jedoch nicht mehr als ein Strohfeuer. Obwohl in allen drei Staaten immer neue Pläne und Programme aufgelegt wurden, kehrten Rezession und Hyperinflation zurück, mußten Schuldenzahlungen an ausländische GläubigerInnen eingestellt werden. Die heterodoxe Wirtschaftspolitik wurde überall als die Ursache für die Krise angesehen. Mit der Wahl neuer Regierungen – Menem in Argentinien, Collor in Brasilien und Fujimori in Peru – schlug das Pendel nun wieder zugunsten orthodoxer neoliberaler Politik aus.

Kritik nach der neoliberalen Wende

Heute sieht sich die Freihandelspolitik wieder wachsender Kritik gegenüber. Selbst in Argentinien, das von NeoklassikerInnen so hoch gelobt wird, kann über das Versagen des Austeritätsprogramms unter Wirtschaftsminister Domingo Cavallo nicht hinweggesehen werden: Das Außenhandelsdefizit wächst, und als Konsequenz aus den Massenentlassungen von Staatsbediensteten und steigender Erwerbslosigkeit sinken die Reallöhne. Um das Haushaltsdefizit des Staates unter Kontrolle zu bekommen, sind auch die Altersrenten dramatisch gesunken. Früher oder später wird in Argentinien, Brasilien, Peru und in ganz Lateinamerika die neoklassische Orthodoxie wieder an Boden verlieren.
Selbstverständlich unterscheiden sich Neoklassik und Strukturalismus in der Bewertung der Ursachen für diese Fehlentwicklungen. NeoklassikerInnen machen vor allem fortgesetzte staatliche Interventionen für das Scheitern ihrer Strategie verantwortlich – noch immer wird den Regierungen vorgeworfen, sie würden protektionistische Maßnahmen und andere irrationale Marktkontrollen aufrechterhalten. StrukturalistInnen verteidigen sich mit dem Hinweis, ihre Programme seien mit orthodoxen Maßnahmen gekoppelt worden, so daß sich die Turbulenzen übertrieben freier Märkte ausgewirkt hätten.
Wenn wir jedoch die Klassenfrage in die Diskussion um Stabilisierung und Anpassung integrieren, wird deutlich, wie irreführend die Erklärungsansätze beider Richtungen sind. Ein Anstieg der Erwerbslosigkeit wird für gewöhnlich als Versagen orthodoxer Stabilisierungs- und Anpassungspolitik angesehen. Versuche, den Kräften des “freien” Marktes zum Durchbruch zu verhelfen, indem die Staatsausgaben eingedämmt, Realzinsen zur Anregung der Spartätigkeit erhöht sowie Außenhandelszölle gesenkt werden, führen häufig zu Erwerbslosigkeit und unterbeschäftigten LohnempfängerInnen. Steigende Erwerbslosigkeit ist im allgemeinen mit sinkenden Reallöhnen verbunden – eine Tendenz, die wiederum die Klassendimension von Kapitalismus deutlicher werden läßt. Zum einen sind die ArbeitgeberInnen nun in der Lage, Arbeitskräfte zu einem Lohn anzustellen, der unterhalb der durchschnittlichen Lebenshaltungskosten der ArbeiterInnen liegt. Mit den Worten marxistischer Wert-Theorie ausgedrückt, ist der Marktpreis für Arbeit unter ihren Wert gefallen. So erhalten die KapitalistInnen ein Einkommen, das über den der Arbeit entzogenen Mehrwert hinausgeht. Dieser Vorteil steigert die Profitrate des Kapitals – ein unmittelbarer Klassenerfolg als Konsequenz aus dem Sinken der Reallöhne.
Sollte diese Situation über einen gewissen Zeitraum Bestand haben, dann wird das durchschnittliche Lebensniveau der LohnempfängerInnen voraussichtlich sinken. Mit anderen Worten wird der Wert der Arbeitskraft auf ihren niedrigeren Marktpreis fallen. Die Summe des Mehrwerts innerhalb kapitalistisch wirtschaftender Unternehmen und damit der Grad an Ausbeutung werden steigen – beides ein Beleg für kapitalistischen Erfolg.

Staatsausgaben zum Vorteil des Kapitals

Ein zweiter grundlegender Mangel, der insbesondere heterodoxen Programmen vorgehalten wird, besteht in wachsenden Haushaltsdefiziten des Staates. Wiederum führt die Klassenanalyse staatlicher Defizite zu ganz anderen Erkenntnissen. Es ist sehr hilfreich, die beiden unterschiedlichen Dimensionen typischer Staatsaktivitäten zu unterscheiden, die für gewöhnlich mit Haushaltsdefiziten in Verbindung gebracht werden: staatseigene Betriebe und laufende Staatsausgaben. Aus der Perspektive von Klassengegensätzen heraus sind öffentliche Betriebe, die über Märkte gehandelte Waren in klassischen Unternehmer-Arbeiter-Beziehungen produzieren, kapitalistische Unternehmen. Die Einkünfte dieser Betriebe auf einem bestimmten Niveau zu halten oder aber auszudehnen, heißt nichts anderes, als immer größere Teile der Bevölkerung in kapitalistisch bestimmte soziale Verhältnisse zu drängen und den Mehrwert aus der Beschäftigung von StaatsarbeiterInnen zu erhöhen. Die kapitalistische Tendenz der Mehrwertaneignung findet demnach also auch innerhalb des Staates statt.
Staatsausgaben können zudem dazu beitragen, den Kapitalismus auch außerhalb des Staatsapparates zu stärken. Mit Hilfe steigender Ausgaben für Programme in verschiedenen Bereichen können viele der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Voraussetzungen hergestellt werden, die es privaten KapitaleignerInnen ermöglichen, die Mehrwertaneignung fortzusetzen. Lateinamerikanische Staaten haben häufig direkt zugunsten kapitalistischer Interessen in- und außerhalb des Staatsapparates gehandelt. Die Klassenerfolge während der Nachkriegsperiode sind eine Erklärung dafür, warum die EntwicklungsökonomInnen und PolitikerInnen noch immer nicht die Begrenzungen der herrschenden Debatte überwunden haben. Indem der Aspekt der Klassenauseinandersetzung systematisch ausgeblendet wird, gelingt es sowohl NeoklassikerInnen als auch StrukturalistInnen, die klassenbezogenen Konsequenzen ihrer Politik zu verdrängen.

Die Zukunft des Sozialismus überdenken

Um es deutlich zu machen: Ich behaupte nicht, daß eine bestimmte Gruppe – etwa “die herrschende Klasse” – in ihrem Handeln von einem festen Klassenbegriff geleitet wird. Ebensowenig unterstelle ich die Existenz einer versteckten Logik, die zwangsläufig dazu führt, daß klassenunabhängige Politikfehler in Erfolge innerhalb der Klassenauseinandersetzung umgemünzt werden. Keine dieser beiden traditionellen Erklärungsversuche ist hilfreich, sondern irreführend und politisch schädlich. Der erste Erklärungsversuch würde eine Verschwörung unterstellen, der zweite stützt sich auf den Begriff eines geheimen telos oder eines inneren Gesetzes, das die Gesellschaft steuert. Vielmehr sind die kapitalistischen Erfolge in den Klassenauseinandersetzungen, die in Argentinien, Brasilien, Peru und überall in Lateinamerika zu beobachten waren, das Ergebnis einer sich ständig wandelnden Kombination von Umständen. Wirtschaftliche und politische Kämpfe schlagen sich genauso nieder wie staatliche Stabilisierungs- und Anpassungsstrategien.
Es ist vor allem die Klassenanalyse, die die widersprüchlichen Folgen der Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme deutlich macht. Diese Sichtweise eröffnet einen Ausweg aus dem Hin und Her zwischen bereits gescheiterten Strategien und leistet einen wichtigen Beitrag zur Neubestimmung von Entwicklungszielen und Wegen, diese umzusetzen. Außerdem ist es aus dieser Perspektive leichter, die Zukunft des Sozialismus zu überdenken. Sie ermöglicht es, sich die Abschaffung jedweder Form der Ausbeutung und somit den Übergang zu kollektiven Organisationsformen von Gesellschaft vorzustellen.

Staatsfeind No 2

Mitte Februar herrschte in offiziellen Kreisen überschwenglicher Optimismus. Nach zweieinhalb Jahren der Eingeständnisse (seit Fujimoris Regierungsantritt, G.L.), stand Peru kurz davor, auf dem Treffen des Internationalen Währungsfonds den Status eines kreditwürdigen Landes wiederzuerlangen. Aber plötzlich kündigte die USA am Vorabend des für den 24. Februar angesetzten Treffens Einwände bezüglich der Einhaltung der Menschenrechte und gegenüber der gesamten Gültigkeit der repräsentativen Demokratie in Peru an. Der Fall Peru wurde von der Tagesordnung des IWF gestrichen. Ein tosende radikale, antiimperialistische Rhetorik, wie sie schon seit zwanzig Jahren nicht mehr zu hören war, betäubte daraufhin das Land.
Der Regierung zufolge bewies diese Maßnahme der USA, daß die neue US-Politik gegenüber Lateinamerika von “Amateuren” gestaltet würde, von Angehörigen anachronistischer akademischer Zirkel, von übriggebliebenen “Fundamentalisten” und “Dinosauriern” der Carter Ära. Nach ihrer Meinung war die nordamerikanische Haltung entscheidend von den Menschenrechtsorganisationen sowie einigen Schriftstellern und Journalisten beeinflußt worden, insbesondere von Mario Vargas Llosa und Gustavo Gorriti. Diese wurden als pro-senderistisch und als Verräter des Vaterlandes denunziert, die mit “Halbwahrheiten” ihrem Land schadeten. Die besagten Halbwahrheiten bestanden darin, die Verletzung der Menschenrechte in Peru als “systematisch” zu bezeichnen, nicht nur Sendero Luminoso als Hauptschuldigen verantwortlich zu machen und zudem nicht anzuerkennen, daß sich die Situation gebessert habe.
Nach der regierungsamtlichen Position ging es vor allem um eine Imagefrage. Die peruanischen Botschaften haben es nicht geschafft, die “Wahrheit” über Peru zu verbreiten. In den darauffolgenden Tagen, während verschiedene Minister Verhandlungen in Washington aufnahmen, entfesselte sich in Peru ein wahres Progrom gegen die Menschenrechtsorganisationen. Dieses wurde sogar noch stärker, als sich die Regierung verpflichtet sah, die nordamerikanischen Konditionen anzunehmen: Beaufsichtigung durch Spezialeinheiten der UNO und der OAS; ein monatliches Treffen mit der vielgescholtenen Nationalen Menschenrechtskoordination (CONADEH); Untersuchung der zwölf gravierendsten bisher unaufgeklärten Fälle von staatlichen Menschenrechtsverletzungen und Garantien für das Rote Kreuz, das wegen angeblicher Kontakte zu Sendero unter Beschuß geraten war.
Auf der Grundlage dieser Vereinbarungen gaben die USA Peru grünes Licht für die Mitarbeit in den multilateralen Organisationen. Diesen Wandel präsentierte die peruanische Regierung sogleich als Triumph der “guten Peruaner” und als Rückzug der USA. Die Ernennung von Botschafter Alexander Watson zum Subsekretär für Angelegenheiten Lateinamerikas im US-Außenministerium wurde als Höhepunkt dieses Sieges und als Triumph des Pragmatismus interpretiert.
Pragmatismus zeigte die peruanische Regierung tatsächlich, nachdem sie schließlich die Bedeutung des Themas begriffen hatte. Schon vor der IWF-Tagung hatte es Anzeichen für eine Änderung ihrer Haltung gegeben, sowohl bezüglich der miserablen Situation in den Gefängnissen als auch der Bestrafung von Militärs, die wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt worden waren. Im Februar wurde zum ersten Mal ein Offizier verurteilt, und in den letzten Wochen folgten weitere. Außerdem wurde ein Gesetz verabschiedet, demzufolge die verurteilten Militärs und Polizisten ihre Strafe in normalen staatlichen Gefängnissen absitzen müssen. Aber das Progrom gegen Menschenrechtsorganisationen geht weiter.

MenschenrechtlerInnen mit weltweitem Prestige

Die Menschenrechtsorganisationen sind aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden. Vielerorts konnten sie mit der Unterstützung der Kirche rechnen. Ihre Legitimität gewinnen sie durch die Qualität ihrer Berichte, die sorgfältig von internationalen Institutionen überprüft werden. Eine merkwürdige Situation. Diejenigen, die es nicht wagen würden, die Professionalität des IWF oder der IDB (International Development Bank) zu hinterfragen, glauben, die UNO oder die Regierungen Europas oder der USA ließen sich von oberflächlichen oder böswillig verfälschten Berichten “betrügen”.
In den letzten 13 Jahren ist in Peru eine ganze Generation von weltweit anerkannten MenschenrechtsexpertInnen herangewachsen. Die CONADEH hat mehrere internationale Preise gewonnen. Der Peruaner Enrique Bernales ist einer der fünf Sonderbeauftragten für Menschenrechtsangelegenheiten der UNO. Peruaner bilden außerdem die größte Gruppe in der Friedens- und Wahrheitskommission der UNO in El Salvador, wo Javier Pérez de Cuéllar für die Friedensverhandlungen verantwortlich war. Pilar Coll – bis Januar Präsidentin von CONADEH – wurde im Februar vom spanischen König ausgezeichnet, zweifellos eine Antwort auf die Angriffe, denen sie vorher immer wieder ausgesetzt war.
Aber die Regierung nutzt diesen Erfahrungsschatz nicht als Grundlage für eine antisubversive Strategie, die auf Respektierung gegenüber der Menschenrechte beruhen könnte. Schon seit Präsident Belaúnde sich damit brüstete, die Berichte von Amnesty International ungelesen in den Müll zu werfen, hat sich die Regierung darauf verlegt, die Menschenrechtsorganisation, wo immer es geht, schlecht zu machen.
Dabei ist es nur zu begrüßen, wenn die Regierung selbst Institutionen besitzt, um die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen. Aber der Staat darf hier kein Monopol haben. Außerdem haben die staatlichen Institutionen bis heute nie funktioniert. Das liegt zum einen daran, daß sie nicht Produkt eines nationalen Konsenses sind. Zum anderen haben sie nie besonderen Eifer bei der Kontrolle der Menschenrechtssituation gezeigt und auch keine staatliche Unterstützung für ihre Arbeit erhalten. Der gegenwärtig existierende “Nationale Rat für den Frieden” beschränkt sich darauf, einige Fernsehspots zu produzieren und besitzt keine Führung, die in Peru oder auf internationaler Ebene auch nur die mindeste Legitimation besitzt.

Die Menschenrechtsorganisationen und Sendero Luminoso

Der wohl irritierenste Aspekt der Arbeit innerhalb der Menschenrechtsgruppen ist, daß sie den Staat von Grund auf kritisieren, die terroristischen Gruppen aber nicht mit dem gleichen Nachdruck. Deswegen klagt man sie, sei es aus Ignoranz oder aus mangelndem Vertrauen, einer pro-senderistischen Haltung an. Die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen beruht auf dem internationalen Recht, insbesondere den internationalen Menschenrechtsstandards und dem Flüchtlingsrecht. Nach Internationalem Recht sind einzelne Gruppen oder Personen nicht Gegenstand von zwischenstaatlichen internationalen Verpflichtungen.
Letztlich kontrolliert man den Staat, damit er sein Wort halte und seine Aufmerksamkeit auf die Verbrechen der Rebellen lenke. Das bekräftigt auch die “Kommission Wahrheit und Versöhnung in Chile”: “Es lenkt die Aufmerksamkeit von der besonders wichtigen Tatsache ab, daß der Staat, der sich das Gewaltmonopol vorbehält und gleichzeitig für den Schutz der Rechte seiner Bürger verantwortlich ist, gerade diese Gewalt zur Verletzung der Menschenrechte einsetzt.”
Mit anderen Worten kann der Staat sich nicht mit terroristischen Gruppierungen auf die gleiche Stufe stellen, um gegeneinander aufzurechnen, wer die Menschenrechte weniger verletzt.
Tatsächlich haben die Menschenrechtsorganisationen, die aus dieser Tradition heraus entstanden sind, Sendero Luminoso während der ersten Jahre nicht verurteilt. Ab 1985 allerdings begann sich die Situation zu ändern. Die Menschenrechtsgruppen grenzten sich von Sendero ab. Sie haben es sogar geschafft, einen wichtigen Beitrag zur Theorie und Praxis der internationalen Menschenrechte zu leisten, indem sie Einfluß darauf nahmen, wie die internationalen Organisationen ihre Konzeptionen neu gestalteten. So bezieht beispielsweise Amnesty International seit 1991 aufständische Gruppen als Objekt der Überwachung in ihre Arbeit ein. Die Aktivitäten Sendero Luminosos waren für Amnesty International ein wichtiges Beispiel für die Notwendigkeit, ihren Ansatz zu erweitern. Auch die Vereinten Nationen bezogen in den letzten Jahren subversive Gruppen in ihre Kritik an der Verletzung von Menschenrechten ein, nicht zuletzt auf Druck der peruanischen Delegation unter Leitung von Enrique Bernales hin.

Was sind “systematische” Menschenrechtsverletzungen?

Die Regierung und ihre Helfershelfer haben in letzter Instanz zwar zugegeben, daß der Staat die Menschenrechte verletze, aber gleichzeitig bekräftigt, es handele sich um Einzelfälle. Tatsächlich gab es in Peru glücklicherweise weder ausufernde Aktivität von paramilitärischen Gruppen, noch staatliche Einrichtungen wie die berühmt-berüchtigte “Escuela de Mecánica de la Armada” in Argentinien, wo man tagtäglich Folter praktizierte.
In Peru entwickelte der Staat eine Strategie, die man “autoritär, aber nicht massenmörderisch” (“autoritaria no-genocida”) nennen könnte. Unter den Ordnungskräften gibt es zweifellos einige Mitglieder, die für Massaker oder für das Verschwinden von Menschen verantwortlich sind. Diese hatten zum Teil hohe Posten in den Gebieten des Ausnahmezustand, und konnten auf das stillschweigende Einverständnis der Armeeführung rechnen, die aus einer übersteigerten Haltung und der Überzeugung, “daß der Krieg eben so ist”, zu extremen Maßnahmen griff. In einigen Fällen von Menschrechtsverletzungen ist es nicht nur so, daß die Angeklagten straffrei ausgingen, sondern sogar noch befördert wurden, ohne daß die zivilen Autoritäten irgendetwas unternahmen.
Diese Kombination des Aufstiegs der Militärs zu einer der mächtigsten gesellschaftlichen Insitutionen und ziviler Selbstaufgabe haben Peru seit Jahren an weltweit erste Stelle rücken lassen, was Verhaftete und Verschwundene sowie den alltäglichen Mißbrauch wie Folter, Prügel oder auch Vergewaltigung von inhaftierten Frauen angeht.
Francisco Eguiguren hat diese Situation als einen “systematischen Verzicht auf Strafe” definiert. Im Februar 1993 wurde ein Offizier der Menschenrechtsverletzungen angeklagt – ohne Zweifel aufgrund von internationalem Druck und nicht aus demokratischer Einstellung heraus. Die immer gleichen staatlichen Handlungsmuster auf diesem Gebiet über Jahre hinweg zeigen Kontinuität. Nach dem Wörterbuch definiert das ein systematisches Handeln.

Die Gefahren des Newspeak

Die aktuelle Debatte über die Menschenrechte haben ein Klima enthüllt, das einige als “faschistisch” bezeichnen. Dieser Begriff ist maßlos, aber was wirklich ans Licht kam, ist die “sanchopansahafte” Natur (ohne jede idealistische Regung) unseres Liberalismus, umso mehr als es sich geschichtlich gesehen um eine rückläufige Entwicklung in Lateinamerika handelt. Die Regierenden sind jederzeit bereit, auf die Knie zu fallen, um den totalen Markt aufzubauen. In diesem Punkt herrscht völlige Inflexibilität. Man darf sich nicht einen Milimeter zurückziehen. Es ist eine Frage der Prinzipien. Aber wo es um Leichteres geht, als Peru in ein neues Hong Kong zu verwandeln, ist ein solcher Eifer ist nicht zu spüren: Wenigstens die Menschenrechte zu respektieren, die Bauern nicht massenweise zu verhaften und keine zu Boden geschlagenen Frauen zu vergewaltigen. Hier werden auf einmal internationales Verständnis und Flexibilität erwartet, mit einem Wort: Pragmatismus.
Offensichtlich soll die Bedeutung des Themas heruntergegespielt und die Verteidiger der Menschenrechte abgewertet werden. Wenn in diesem Artikel von einem Progrom gegen sie gesprochen wurde, geschah dies, um den alten Mechanismus aufzuzeigen, der benutzt wird, um sie zu kritisieren: Die Schaffung eines Sündenbocks, dem falsche und unveränderliche Charakteristika zugesprochen werden. Das Böse soll so ausgetrieben werden; es steht außerhalb von uns, die wir es nicht nötig haben uns zu ändern, sondern versuchen, seine Infiltration zu verhindern. Der Artikel von Daniel D’Ornellas in der peruanischen Tageszeitung Expreso (11.3.1993) ist dafür paradigmatisch. Der Kolumnist schreibt:
“Es war naiv zu denken, nur weil der Kommunismus zerstört worden ist… habe diese Ideologie keine Anhänger mehr und höre auf, jede Gelegenheit zur Infiltration zu nutzen. Nur daß sie heute in anderem Gewand daherkommt und eine andere Sprache spricht: Die der Menschenrechte. Aber ihre destruktive Botschaft ist immer noch die gleiche.”
Bezeichnenderweise nennt sich der Artikel “Eine neue Sprache sprechen”. Das sollte der orwellsche Newspeak sein, in welchem Lüge Wahrheit bedeutete. Der Zirkelschluß ist perfekt: Die Verteidiger der Menschenrechte sind alte verstockte Kommunisten; die Kommunisten zerstören; deswegen ist das Anliegen dieser Organisationen, auch wenn sie für den Schutz des Lebens und für die Menschenrechte eintreten von Natur aus destruktiv.
Bislang gibt es noch keine Umfragen, aber es ist vorhersehbar, daß die Mehrheit, die Fujimori unterstützt, Argumentationen wie die D`Ornellas akzeptieren oder sich indifferent gegenüber dem Thema verhalten wird. Ich beziehe mich allein auf die Angst. Angst, die internationale Hilfe zu verlieren, in welche so viele Hoffnungen gesteckt werden, und in deren Namen so viele Opfer gebracht wurden. Aber vor allem ist es Angst, Entrüstung und Zorn gegenüber Sendero Luminoso.
Wenn irgendetwas in der letzten Zeit klar geworden ist, dann ist es die Tatsache, daß Sendero Luminoso jenseits der menschlichen Opfer und der Sachschäden eine viel wichtigere “Errungenschaft” für sich verbuchen kann: In den 13 Jahren der Gewalt sind die Bedingungen dafür geschaffen worden, daß der autoritäre Liberalismus mit der mehrheitlichen Unterstützung der Bevölkerung rechnen kann. Der “Strom von Blut” Senderos hat den Weg zu einem autoritären common sense gepflastert, in dem die Verteidigung der Menschenrechte als Komplizenschaft mit dem Terrorismus betrachtet wird.
Angesichts der Schwäche der demokratischen Opposition und der weiten Verbreitung von Unverständnis und Indifferenz hängt die Respektierung der Menschenrechte in Peru an einem seidenen Faden. Wenn die Vereinigten Staaten oder Europa ihre Politik ändern würden oder wenn Alberto Fujimori sich entscheiden würde, seinen Pragmatismus aufzugeben und uns in ein ähnliches Abenteuer wie Alan Garcías “Antiimperialismus” zu schleifen, würde sich die Situation noch einmal dramatisch verschlechtern.

entnommen aus: argumentos No.5, März 1993, Lima

Editorial Ausgabe 227 – Mai 1993

Die kollektive Sprachlosigkeit der Linken in einer Welt der Unübersichtlichkeit wird hämisch-freudig begleitet. Alle, die es schon immer besser wußten, sammeln sich seit dem Zusammenbruch im Osten zum großen Abgesang auf das sterbende Projekt einer gerechteren Welt.
Das reizt. Manche so sehr, daß sie sich ins Schneckenhaus von Moral und Ideologie verkriechen, um auf dem Weg der Reinheit und Unschuld ans Ziel zu gelangen. Auch die Renaissance pazifistischer Argumente, der Rückgriff auf das “moralisch Einwandfreie” führt allzuleicht in ein solches Schneckenhaus. Andere besetzen klassisch linke Begriffe wie Menschenrecht, Solidarität und Humanität und fliegen in deren Namen heute über Bosnien, marschieren morgen in Somalia und übermorgen…?
Doch so sehr das wurmen mag, ist es auch eine Chance. Die Verwirrung der Gedanken angesichts der Wirren der Welt fordert eines: Fragen zuzulassen, gerade an sich selbst, und sie gebietet eine Absage an die einfachen Schemata, an alte, vermeintliche Sicherheiten.
“Hoch die internationale Solidarität” ist eine solche Sicherheit gewesen. Doch mit wem sind wir heute in Bosnien solidarisch? Solidarität mit den vergewaltigten Frauen ist selbstverständlich. Aber kann sich Solidarität auf eine der Konfliktparteien festlegen? Welche Konsequenzen hat eine solche Solidarität? Allzuleicht findet sie sich im Bündnis mit ungewollten PartnerInnen. Aber eine Linke, die aus lauter Angst davor, auf die falsche Seite zu geraten, das Risiko des Nachdenkens scheut und sich auf einfache Schemata zurückzieht, verurteilt sich selbst zur politischen Irrelevanz.
In Lateinamerika ist es vor allem die Diskussion um Peru, die für Irritationen sorgt mit der Frage nach dem Hauptgegner: Sendero oder das Fujimori-Regime? Nachdenkliche Stimmen aus Peru fordern das Umdenken weg vom Schema der “guten Guerilla” gegen den “repressiven Staat”. Das mindeste, was Solidarität hier leisten kann und muß, ist, sich ohne vorschnelle Urteile sorgfältig mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen.
Amnesty International hat die Diskussion um Peru zum Anlaß genommen, vom ehernen Prinzip abzurücken, sich nur um Menschenrechtsverletzungen staatlicher Organe zu kümmern, ein positives Signal, daß produktives Umdenken zu konkreten Ergebnissen führen kann.
Am 22.April erschien in der taz die Ankündigung der autonomen Vollversammlung zur Vorbereitung der traditionellen Demonstration am 1.Mai in Berlin: “Einlaßbedingung: eigene Meinung! – … AnhängerInnen Großer Führer und unfehlbarer Parteien: zwecklos!”, gemeint als deutliches Signal an die Berliner Sendero-Fraktion. Dem Aufruf zum Gebrauch des eigenen Kopfes können wir uns nur anschließen.

Die Stille – leer

Der Meister spielt und singt nicht mehr. Atahualpa Yupanqui starb am 23. Mai im Süden Frankreichs eines natürlichen Todes. Er wurde vor 84 Jahren in der Provinz Buenos Aires geboren. Reisen durch Argentinien, Bolivien und Peru inspirierten ihn zu mehr als 1.000 Liedern über Leben und Leute in der Pampa und den Anden (unter anderem Los Hermanos, Caminito del indio, Los ejes de mi carreta, Nostalgias tucumanas) Bereits vor vielen Jahren widmete ihm ein deutscher Gitarrist – Wolf Biermann – folgendes Gedicht:

Atahualpa Yupanqui

Der berühmte Linkshandspieler
spielt seine Gitarre. Und das
kannst Du von ihm lernen:
Löcher
ja in der Musik die Löcher
sind das Beste, sind das Schwerste
prallgefüllte Pausen bersten
zwischen Ton und Ton. So tiefe
Pausen traut sich nur der
Meister
Und in Argentinien, als sie Yupanqui gefangen hielten
die Faschisten, da zermalmten sie mit einer Schreibmaschine
seine rechte Hand ihm, die
zum Greifen

Jetzt, im Süden von Paris
spielt der Alte im Exil
wieder. Und mit neuer Technik
überspielt er die zerschlagnen
Finger
jetzt spielt er die Leere
voller noch die Pausen
bluten
ja, jetzt ist der stille Abgrund
zwischen Ton und Ton
vollendet

Mr. Clean, Mr. Washington und Mr. Broker

Nationale und internationale Reaktionen

Ob der Wunschkandidat der USA bei den Präsidentschaftswahlen von 1990 die Aufhebung des von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verhängten Embargos erreichen wird, muß angesichts der fast einhelligen internationalen Ablehnung seiner Wahl zumindest vorerst bezweifelt werden. Mit Ausnahme des Vatikans weigerten sich alle Staaten, VertreterInnen zur offiziellen Amtseinführung Bazins zu schicken.
Auch innerhalb Haitis stieß Bazins Ernennung zunächst auf breite Ablehnung. Nach der Bestätigung durch das Parlament hielten die Proteste der haitianischen Bevölkerung an. Während Teile der “sozialistischen” PANPRA offenbar mit den neuesten Entwicklungen zufrieden sind, bemüht sich die dem legitimen Staatspräsidenten Aristide nahestehende FNCDH (Nationale Front für Veränderung und Demokratie), nach außen ein geschlossenes Bild der Ablehnung zu geben. Ein Senatsmitglied, das für Bazin gestimmt hatte, wurde aus der Partei ausgeschlossen. Jedoch weisen Berichte aus Haiti darauf hin, daß es auch innerhalb der FNCDH Sympathien für das Regierungsprogramm des neuen Ministerpräsidenten gibt.

Herausragende Eigenschaft: Politische Flexibilität

Mit Bazin haben die Militärs einen Mann zum Ministerpräsidenten erkoren, der bereits in der Vergangenheit bewiesen hat, sich mit den jeweils dominierenden Machtinteressen in Haiti arrangieren zu können. Als Finanzminister unter dem Diktator Duvalier machte sich Bazin mit einer Anti-Korruptionskampagne einen Namen: Mr. Clean. Ebensowenig brachte der Sturz Duvaliers 1986 Bazin in Verlegenheit. Durch seine enge Anlehnung an die USA galt Bazin in seiner neuen Rolle des Mr. Washington als Fürsprecher des sicheren Übergangs Haitis in eine Demokratie westlichen Zuschnitts. 1990 bei seiner Kanditur bei den Präsidentschaftswahlen gegen Aristide klar gescheitert, spielte Bazin auch nach dem Militärputsch vom vergangenen September keine Hauptrolle auf der politischen Bühne, bis er vor wenigen Wochen als Kandidat für das Ministerpräsidentenamt in die Diskussion gebracht wurde. Als – nach eigenen Worten – ehrlicher “Makler” für die Interessen aller HaitianerInnen stellte er unter seinem neuen Pseudonym, Mr. Broker, am 12. Juni sein neues Kabinett vor, in dem ausschließlich PolitikerInnen stehen, die den Staatsstreich unterstützt haben.

“Der Putsch war ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie”

Mit den Worten, der Putsch sei nur ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie gewesen, machte Bazin klar, daß er die Position der Militärs vorbehaltlos anerkennen würde. Gleichzeitig erklärte Mr. Broker seine Bereitschaft, mit Aristide über dessen Rückkehr zu verhandeln. Zentrale Bedingung sei allerdings Aristides Verzicht auf die Forderung, Raoul Cédras, den Anführer des Putsches, als Oberkommandierenden der Streitkräfte zu entlassen. Angesichts dieser nahezu unzumutbaren Bedingung wird die Strategie der MachthaberInnen in Port-au-Prince überdeutlich. Sollte Aristide an seinen Forderungen festhalten, könnte er der Weltöffentlichkeit als derjenige vorgeführt werden, der jede Lösung der Krise in Haiti blockiert. Für den eher unwahrscheinlichen Fall der Zustimmung Aristides wäre die Spaltung der Lavalas-Bewegung absehbar, während gleichzeitig ein seiner Kompetenzen beraubter Präsident als Beruhigungsmittel für die Bevölkerungsmehrheit noch immer tauglich wäre.
Doch ganz egal, welchen Verlauf die Verhandlungen mit Aristide nehmen werden: die Machtcliquen in Port-au-Prince spielen erneut auf Zeit und hoffen, zumindest mittelfristig die internationale Anerkennung des gewaltsam hergestellten Status quo zu erreichen. Nach der Aufhebung des OAS-Embargos könnte Bazin dann endlich sein Wirtschaftsprogramm in die Tat umsetzen, das einerseits umfassende Privatisierungen und andererseits den Aufbau einer Exportwirtschaft durch die Ansiedlung von Billiglohnindustrien vorsieht. Um sich dabei der Hilfe der USA zu vergewissern, hat Bazin bereits von der Möglichkeit eines US-Militärstützpunktes im Norden Haitis als Ersatz für das kubanische Guantánamo gesprochen.

Verstöße gegen das Embargo

Bisher zeigten die Präsidenten der amerikanischen Staaten offiziell wenig Bereitschaft, das Embargo zu lockern. Die New York Times berichtete in ihrer Ausgabe vom 6. Juni sogar über Pläne, eine multinationale Eingreiftruppe nach Haiti zu entsenden. US-Präsident George Bush dementierte diese Berichte umgehend und sprach sich stattdessen dafür aus, das Handelsembargo zu verschärfen. Bei einem Treffen in Caracas am 14. Juni arbeiteten die Präsidenten Venezuelas, Frankreichs und der USA, Carlos Andres Pérez, François Mitterand und George Bush, sowie Brian Mulroney, der Ministerpräsdent Kanadas, neue Pläne zur strikteren Anwendung des Embargos aus. Die mit Abstand skurrilste Begründung für diese Maßnahme gab Andres Pérez, der die Putschversuche in Peru und in seinem eigenen Land auf den “perversen Einfluß” der PutschistInnen in Port-au-Prince zurückführte.
Nach Angaben des US-Bundesrechnungshofes in Washington wird das Embargo fortwährend durchbrochen. Nicht nur Staaten der Europäischen Gemeinschaft, die sich offiziell nicht dem OAS-Embargo angeschlossen hat, verstießen gegen die Handelsblockade, sondern auch Mitgliedsländer der OAS. Brasilien liefert Stahl, Argentinien Chemikalien, Kolumbien Öl, Venezuela Verbrauchsgüter und die Dominikanische Republik Reifen und Dieselmotoren.

Kritik an der Flüchtlingspolitik der USA

BeobacherInnen in Washington sehen im Eintreten der Bush-Administration für eine schärfere Handhabung des Embargos ein Manöver, das von der Auseinandersetzung um die eigene Flüchtlingspolitik ablenken soll. Nachdem Bush die Schließung des US-Stützpunktes in Guantánamo für haitianische Flüchtlinge verfügt hatte, mehrten sich die kritischen Stimmen innerhalb des Kongresses, die die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme bezweifelten. Sie verwiesen darauf, daß die EinwanderungsbeamtInnen in Guantánamo einem Drittel der Flüchtlinge gestattet hätten, einen Asylantrag in den USA zu stellen. Mit der Schließung Guantánamos und dem Abfangen von Flüchtlingsbooten in internationalen Gewässern verstoßen die USA sowohl gegen das eigene Einwanderungsgesetz als auch gegen die internationale Flüchtlingskonvention. Auch der zynische Ratschlag des Regierungssprechers Boucher, die HaitianerInnen könnten schließlich direkt in der US-Botschaft in Port-au-Prince einen Asylantrag stellen, hat den Protest von Oppositionellen und Menschenrechtsgruppen in den USA entfacht. Sie verweisen darauf, daß die Botschaften in der haitianischen Hauptstadt einerseits durch hohe Zäune und andererseits durch Kontrollen des Militärs absolut unzugänglich sind. Es gibt eine Vielzahl von Berichten über Menschen, die beim Versuch, in die US-Botschaft zu gelangen, verhaftet wurden und seitdem nicht wieder aufgetaucht sind.
Auch die Staaten in der Karibik reagierten auf den Beschluß der USA, Guantánamo zu schließen, mit Ablehnung. “Die US-Entscheidung könnte ein großes Problem für andere Länder schaffen”, kommentierte ein Angehöriger des Außenministeriums von Jamaika. Die Bahamas haben ihre Küstenwache angewiesen, Flüchtlinge noch auf hoher See abzufangen und zurück nach Haiti zu schicken. Menschen, denen es trotzdem gelingt, die Bahamas zu erreichen, werden unter dem Vorwurf der illegalen Einreise inhaftiert. Auch Kuba kündigte an, haitianische Flüchtlinge auf dem Luftweg zu repatriieren.

Bazin: Der Weizsäcker der Karibik?

Nachdem nun nahezu alle Fluchtwege abgeschnitten sind, hat sich die Lage der HaitianerInnen rapide verschlechtert. Das OAS-Embargo hat mehr als 150.000 Menschen den Arbeitsplatz gekostet, ohne die wirtschaftlichen Eliten des Landes empfindlich zu treffen. Infolge einer Dürrekatastrophe steht dem Land eine Mißernte bevor, die unausweichlich zu einer Hungersnot führen wird, wenn die internationale Staatengemeinschaft nicht ihre Hilfslieferungen ausdehnt.
Die Militärs reagieren mit unverminderter Brutalität auf jede Form des Protests gegen die neuen MachthaberInnen. ZeugInnen berichten immer wieder von nächtlichen Gewehrsalven in den Armenvierteln der Städte sowie von Leichen, die am nächsten Morgen auf offener Straße gefunden werden. Trauriger Höhepunkt der Repression war ein Anschlag auf “La Fami Se Lavi”, ein Heim für Straßenkinder, das von Aristide eingerichtetet worden war und am Abend der Bestätigung Marc Bazins durch den haitianischen Senat in Flammen aufging.
Während sich auf der politischen Bühne mit der Wahl Bazins vordergründig betrachtet Bewegung ergeben hat, droht die Krise für die Bevölkerung Haitis unvorstellbare Ausmaße anzunehmen. So wird der deutsche SPIEGEL wohl noch lange vergeblich nach einem “Weizsäcker der Karibik” suchen müssen, der den Weg aus der Krise weist. Marc Bazin, alias Mr. Clean, alias Mr. Washington, alias Mr. Broker, taugt zu wenig mehr als zu einem karibischen Mr. Zelig, einem politischen Chamäleon, das sich geschickt jedem politischen Wandel anzupassen weiß.

Der Krieg ohne Öffentlichkeit

Kolumbien: Die Mauer von Medellín

Hinter der Nationaluniversität beginnt das andere Me¬dellín, das der barrios populares: unvollendete Hütten ohne Strom und Wasserversorgung, eingeschlagene Fensterscheiben, aufgebockte Autos und die BewohnerInnen, meist arbeitslos oder unterbeschäftigt. Sie nennen die Trennung zwischen Reich und Arm, zwischen Kommerz und Slums die “Mauer von Medellín”.
Pablo Escóbar, Chef des Kartells von Medellín, hat hier in den barrios Straßen, Häuser und sogar einen Sportplatz gebaut und gibt den Leuten Arbeit im Drogengeschäft: “Wenn dir hier jemand eine Arbeit anbietet, wenn du z.B. etwas basuco (umgangssprachlich für pasta básica de cocaina = Vorprodukt von Kokain) verkaufst und damit deiner Familie überleben hilfst, dann fragst du nicht, ob das legal oder illegal, moralisch oder unmoralisch ist. Mann, das kannst du dir gar nicht leisten, sonst macht jemand anders den Job und du hörst noch Vorwürfe, daß du faul seist usw.. Außerdem, hat irgendjemand von Moral geredet, als Escóbar Kongreßabgeordneter war und die Kartelle die politischen Kampagnen der Liberalen und Konservativen finanziert haben?”
Die staatliche Antwort auf die Machtposition des Kartells im Stadtviertel ist rein repressiv. Zum einen werden die barrios zu illegal besetzten Zonen erklärt und so von der Versorgung abgeschnitten, zum anderen findet eine Militarisierung des Gebietes statt. So wurden vermehrt sog. Centros de Atención Inmediata, CAIs, errichtet, feste Polizeiposten zur Verbrechensverhütung und -bekämpfung. Ein Sportplatz wurde von der 4.Brigade des Heeres als Stützpunkt besetzt. Drei Blöcke entfernt vom CAI im barrio 12 de octubre fand vor etwa einem Jahr ein Massaker in der Kneipe Billar Acapulco statt. Drei schwarze Wagen fuhren vor, fünf bis sechs in Zivil gekleidete Männer stiegen aus und eröffneten das Feuer auf die Gäste. AnwohnerInnen beschuldigen das für den Drogenkrieg gebildete Elitekorps der Nationalpolizei der Tat, das damit wieder einmal eine “soziale Säuberung” durchgeführt habe. Auf die Frage nach Beweisen für die Verwicklung der Polizei und anderer Sicherheitskräfte in solche Massaker entgegnet ein Sozialarbeiter: “Was nützt denn ein CAI, wenn drei Blöcke weiter ein Massaker stattfindet und die Polizisten, die die Schüsse und Schreie hören, nicht zu Hilfe kommen?” In einem Flugblatt der hier arbeitenden Organisationen werden zwischen Januar und August 1990 120 Tote in Medellín gezählt, die meisten in den barrios: “Welch ein -Widerspruch”, so das Flugblatt, “je mehr Polizei, Soldaten und Waffen, umso mehr Unsicherheit, Gewalt und Tote in Medellín.”
Die immer wieder reißerisch von den Massenmedien dargestellte unpolitische Bandenkriminalität haben die von den BewohnerInnen der barrios gebildeten Selbstverteidigungskomitees erfolgreicher uner Kontrolle, als die Polizei, zu der hier ohnehin niemand Vertrauen hat. Gegenüber der politischen Kriminalität der gekauften Killer fühlen sich die Menschen nur als Opfer der von oben inszenierten Gewalt. “Für die Menschen hier, die Armen der kolumbianischen Gesell¬schaft”, so eine Sozialarbeiterin, “ist dieser sog. Drogenkrieg der Regierung ein Krieg, der sie nichts angeht, in dem sie aber die meisten Opfer bringen.”
Es handelt sich um einen Krieg zwischen der traditio¬nellen kolumbianischen Oligarchie und dem Medellín-Kartell, das sich erlaubt hat, politische Teilhaber-Ansprüche zu stellen, deren Erfüllung einen Machtverlust der etablierten Eliten bedeuten würde. Alvaro Camacho Guizado, Drogensoziologe aus Cali, beschreibt das sich aus Angehörigen der Unterschicht rekrutierende Medellín -Kartell als “aufstrebende Bourgeoisie”, das der traditionellen Bourgeoisie und dem ihr entstammenden bzw. mit ihr verbundenen Cali-Kartell die politische und wirtschaftliche Macht streitig macht und deswegen bekämpft wird. So erklärt sich auch, daß polizeiliche Erfolge nur gegen das Medellín-Kartell zu verzeichnen sind; niemand spricht in diesem Krieg von den Kartellen von Cali, Bogotá oder der Küste.
Es heißt, es habe Verhandlungen auf höchster Ebene zwi¬schen Escó¬bar und der Regierung gegeben. Es mag dadurch in Medellín zeit¬weise ruhiger geworden sein. Es ist eine Ruhe für das Medellín der Privilegierten. In den barrios gehen die Exzesse des Elitekorps und der 4.Brigade weiter, es interessiert sich nur niemand mehr dafür.
Bolivien: Koka, was denn sonst?
Von Cochabamba, der drittgrößten Stadt Boliviens, aus sind es rund 200 km bis ins Herz des Chapare, der größten Kokaanbauregion des Landes, und zu dem aus einigen Häusern und Projekten des Fonds der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Drogenmißbrauchs (UNFDAC) bestehenden Dörfchen Chimoré.
In Isinuta, das etwa zwei Stunden nördlich von Chimoré liegt, findet die bolivianische Variante des US-Drogenkrieges statt. Offiziell spricht hier zwar niemand von Krieg, sondern von “integraler Entwicklung durch Substitution des Kokablattes” oder, so der Slogan der Koalitionsregierung Paz Zamora-Banzer, “Koka für Entwicklung”. Aber die Realität sieht anders aus: “Die Regierung”, so ein Bauer aus der Region, “nimmt uns auf den Arm. Seit drei Jahren sprechen sie von Substitution und versprechen uns Entwicklung. Wir warten vergeblich darauf.” Im Rahmen des “integralen Plans zur Entwicklung und Substitution” hat die Regierung pro zerstörtem Hektar Koka 2000 US$ bezahlt. Die campesinos haben auch Tausende von Hektar zerstört, aber Entwicklung in Form von rentablen Alternativprodukten blieb aus. “Statt Entwicklung”, so ein anderer Bauer, “findet Zerstörung statt.”
Bomben auf Straßen
Die Zerstörung läßt sich auf dem Weg nach Insinuta erkennen: große Schlaglöcher an den Wegrändern, zerstörte Häuser, herumliegende Gebäudeteile. Am 20.August des vergangenen Jahres hat UMOPAR, die bolivianische Landesdrogenpolizei, zusammen mit der US-amerikanischen Drogenbehörde Drug Enforcement Agency (DEA) zuletzt die von den Bauern und Bäuerinnen als Verbindung hergestellte Straße bombardiert, weil, so ihre Version, diese “als Piste von Drogenhändlern genutzt werden kann.” KennerInnen der Region behaupten, die wirklichen Pisten lägen versteckt in dichtem Dschungel, aber man müsse nun einmal der US-Öffentlichkeit gewisse Erfolge im Drogenkrieg vorweisen. Die von der DEA geleisteten Entschädigungen in Höhe von 200 US$ reichen kaum für neue Dächer, geschweige denn für neue Häuser.
Doch die Bombardierungen sind nur ein Element der von der DEA dirigierten Politik. Die von der Menschenrechtsversammlung von Cochabamba dokumentierten Menschenrechtsverletzungen reichen von direkter Körperverletzung bis zu willkürlichen Verhaftungen. Zwei Beispiele:
– Am 15.8.1990 wurde der Busfahrer Lucio López Claros von der Drogenpolizei ohne Haftbefehl verhaftet und mehrere Stunden verhört. Danach wurde sein Haus einschließlich ihm nicht gehörender Räume durchsucht, schließlich wurden Fingerabdrücke genommen und eine schriftliche Erklärung angefertigt.
– Am 26.7.1990 wurde Víctor Soria Galvarro von der Drogenpolizei festgenommen, danach wurde eine Haussuchung durchgeführt. Bei der Protokollaufnahme auf der Wache wurde ihm bedeutet, daß er für 5000 US$, die von seiner Schwester, einer Apothekerin, in ihrer Apotheke übergeben werden sollten, freigelassen würde. Falls er dieses “Angebot” bekannt werden ließe, würde er erneut festgenommen und ins Gefängnis geworfen.
In vielen dieser Fälle werden einfache Bauern und Bäuerinnen als schwächstes Glied in der Drogenkette Opfer der Korruption in Poli¬zei und Militär. Wer mit Dollars oder pasta básica zahlen kann, wird laufengelassen, wer nichts hat, wird dem Richter übergeben.
Die im Ansatz richtige Substitutionsstrategie leidet aber nicht nur an den oft willkürlichen Verboten durch die DEA und die UMO¬PAR, sondern vor allem unter dem Fehlen wirklicher Produktionsalternativen für die Bauern. “Wir haben”, so Evo Morales von einer der Bauernorganisationen, “den politischen Wil¬len zur Kokareduzierung bewiesen. Die Regierung hat uns jedoch keine wirklichen und praktikablen Lösungen angeboten. Wir sind zur Zeit einfach gezwungen, Koka anzupflanzen, um zu überleben.” So gibt es auf fast jedem Hof in der Region neben den anderen Produkten wie Mais, Reis, Zucker, Kakao, Kaffee etc. ein bis zwei Hektar Koka als eine Art “Überlebensversicherung”, da die Kokapflanze leichter anzubauen ist und einen weit höheren Verkaufspreis hat. Dabei handelt es sich um ein rein marktwirtschaftliches Verhalten.
Trotzdem spricht das “Subsekretariat zur alternativen Entwicklung”, das dem Landwirtschaftsministerium untersteht, vom Erfolg der Substitutionspolitik. “Wir haben”, meint Rechtsberaterin Nancy Romero, “die gesteckten Ziele bei weitem übertroffen, was die Reduzierung angeht.” Das ist zwar richtig, doch gleichzeitig ist die Gesamtanbaufläche ständig gestiegen, was Romero auf weitere illegale Anpflanzungen zurückführt. “Nur wenn wir den Bauern mittels technischer und ökonomischer Hilfe reale Alternativen bieten, werden sie die Substitution unterstützen.” Damit appelliert sie an die Mitverantwortung der Industrienationen, denn nur sie können für eine profitable weltweite Vermarktung der Alternativprodukte sorgen, etwa durch direktere Vermarktungsmechanismen.
Peru: Im Gefängnis San Jorge in Lima
Vom nationalen Strafvollzugsinstitut (INP) geht man am Justizpalast vorbei durch La Victoria, ein unfreundliches Armenviertel mitten im Zentrum von Lima, und gelangt nach etwa 15 Minuten zum Gefängnis San Jorge. Das Tor wird von einem Mitglied der Guardia Republicana widerwillig geöffnet, der Ausweis eingezogen und das Tor wieder geschlossen. Da hilft es auch nichts, daß man vor¬her den Gefängnisdirektor angerufen hat und dies der Guardia mit¬teilt: Seit den Gefängnismassakern von 1986 ist die Guardia alleine für die “innere und äußere Sicherheit” der Gefängnisse zuständig, eine vom zivilen INP und Fachkreisen als “krasse politische Fehlentcheidung” des Ex-Präsidenten García charakterisierte Situation. So bedarf es großer Überredungskunst, um überhaupt zum Chef der Gefängnispolizei zu gelangen, der wiederum die Erlaubnis zum Eintritt in den Innenbereich erteilen muß.
Im Innenbereich mit Polizeibegleitung (zu wessen Sicherheit?) und ohne Kamera und Aufnahmegerät (warum so viel Mißtrauen?) sieht man das typische Bild lateinamerikanischer Gefängnisse: Überfüllung (bis zu acht Personen in einer Zelle), katastrophale hygienische Bedingungen, fehlende Waschgelegenheiten und unzureichende Wasserversorgung, mangelhafte medizinische Versorgung und Gefangene, die zu 80% nicht einmal verurteilt sind und sich – teils auf Hilfe hoffend, teils deprimiert – über die Situation beklagen. “Wir haben alle das Recht, glücklich zu sein”, so ein Gefangener, der wegen “illegaler Ausübung der Medi¬zin” in Untersuchungshaft sitzt: “Der Coronel, der mich festgenommen hat, wollte 5000 US$. Weil ich nicht zahlen konnte, bin ich hier. Seit 40 Tagen habe ich keinen Richter gesehen.” Jeder und jede prangert hier die Korruption an, als ob es etwas ganz Selbstverständliches wäre: “Wenn Du Geld hast, regelst du hier alles, du hast eine bessere Zelle, Frauen, Drogen und du kommst auch früher raus.” Der Satz ist stereotyp, findet auf alle in Kolumbien, Peru und Bolivien besuchten Gefäng¬nisse Anwendung: Ob “El Modelo” in Bogotá, das Frauengefängnis in Medellín, “San Pedro” in La Paz oder “San Jorge” – das System krankt an Korruption, Willkür der Sicherheitsorgane, einer zu langsamen Justiz und der allgemeinen wirtschaftlichen Misere (in den Strafvollzug wird zuletzt Geld investiert, das brächte kaum Wählerstimmen).
Nie war es so leicht, an Drogen heranzukommen, wie im Gefängnis…
Und der Drogenkrieg? Der endet an den Toren der kolumbianischen, peruanischen oder bolivianischen Gefängnisse. In keinem der Länder existiert ein Rehabilitationsprogramm für Drogenabhängige im Strafvollzug, nur in Kolumbien wird zur Zeit ein Entwurf diskutiert. In der Praxis werden die Gefangenen wahllos auf die Zellen verteilt. Die aufgrund der Drogengesetze Festgenommenen werden nicht von den übrigen Gefangenen getrennt, geschweige denn beson¬ders behandelt. Das Ergebnis ist erhöhter Drogenkonsum in den Ge¬fängnissen auch durch Mitgefangene, die vorher keine Schwierigkeiten mit Drogen hatten. Die wenigen PsychologInnen sind völlig überfordert. “Ich kann”, so eine von ihnen, “vielleicht sechs bis acht Patienten am Tag sehen, aber das sind nicht nur Leute, die Probleme mit Drogen haben. Es gibt überhaupt keine Kontrolle. Wenn der Gefangene nicht selbst auf sich aufmerksam macht, wissen wir überhaupt nicht, ob er ein und welches Problem er hat.” Außerdem gibt es überall Drogen: “Ich bekomme”, so ein Gefangener, “hier jeden Tag meine Dosis pasta básica. Du brauchst nur etwas Geld und gute Beziehungen zur Guardia. Hier ist der Konsum viel leichter als draußen.”
Die Frage, wie denn die Droge ins Gefängnis gelangt, wird mit vielsagenden Gesten und Augenzwinkern beantwortet. Es gibt nicht viele Möglichkeiten: BesucherInnen werden in der Regel sehr genau kontrolliert – außer in “San Pedro” in La Paz -, das zivile Personal hat wenig direkten Kontakt mit den Gefangenen, aber die Guardia…Da gibt es jedenfalls genügend Indizien: kaum zum Leben reichendes Gehalt und Verzehn- oder Verzwanzigfachung mit geringem Risiko, niedrige Schulbildung, direkter Kontakt mit den Gefangenen. Im übrigen beschuldigt jeder die Guardia.
Weiter ist interessant zu sehen, wie die soziale Zusam¬mensetzung der Gefange¬nen ist. Nach offiziellen Statistiken verfügt die Mehrzahl über keine oder nur geringe Schulbildung, fast alle stammen aus den Armenvierteln der großen Städte, sie sind diejenigen, die der Polizei ihre Freiheit nicht bezahlen können. Das gilt auch für die aufgrund von Drogendelikten Festgenommenen, was einen Rechtsanwalt beim Gefängnisbesuch in Medellín zu der Bemerkung veranlaßte: “Siehst du, hier wird die Armut bestraft, die Tatsache, daß du kein Geld zur Bestechung hast….deswegen wirst du nie einen größeren Dealer im Gefängnis treffen.
Von denen werden, so ist zu ergänzen, allerdings viele an die USA ausgeliefert und einige, jedenfalls in Kolumbien, ohne Verfahren liquidiert. Tatsache ist jedoch, daß nur ein einziger wirklich “Großer” sitzt, und zwar Roberto Suárez, ehemaliger Kokainkönig Boliviens, in La Paz. Er genießt jedoch eine Sonderbehandlung, lebt in einem eigens für ihn eingerichteten Kellergeschoß und empfängt alle alle BesucherInnen, einschließlich JournalistInnen, sofern er will (bei mir wollte er nicht). Im übrigen, so wird erzählt, hat er sich freiwillig der Polizei gestellt, da er auf der Todesliste des Medellín-Kartells stand (sein Sohn war schon liquidiert worden). Als die Polizei schwerbewaffnet sein Haus betrat, soll er, eine Zigarre rauchend und ein Glas Wein trinkend, sie mit den Worten empfangen haben: “Meine Herren, ich habe Sie etwas früher erwartet.”

Eskalation der Armut – Versagen der Politik

Die Entwicklung der 80er Jahre

Die Ausschreibung freier Wahlen war sicherlich auch ein Erfolg der immer stärker werdenden Volksbewegung, die 1977 in einem erfolgreichen Generalstreik vorläufig kulminierte. Doch selbst die Solidaritätsbewegung war sich bewußt, daß das Militär auch deshalb auf die Macht verzichtet hatte, weil es keine politischen Konzepte zur Sanierung der “ruinierten” Wirtschaft besaß. Im demokratischen Spektrum boten sich drei Grundströmungen an, die allerdings stark zersplittert waren: eine aus einer Vielzahl von Parteien bestehende Linke (später IU), eine mit großer Vorsicht als sozialdemokratisch zu bezeichnende Mitte (Apra), und eine populistische, neoliberale Rechte (AP und PPC). Alle drei Gruppierungen waren in der Wählergunst etwa gleich stark. Zur allgemeinen Überraschung gewann die Präsidentschaftswahl von 1980 der 12 Jahre vorher in einem unblutigen Putsch aus dem Regierungspalast gejagte Belaúnde Terry von Acción Popular (AP).
Belaúnde Terry tat nicht viel anderes als sein diktatorischer Vorgänger, nähmlich die rigurosen Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF anzuwenden. Durch die Streichung von Subventionen und die schrittweise Anhebung der Preise für zentrale Güter (z.B. Benzin) auf Weltmarktniveau sollte die Wirtschaft konkurrenzfähig werden. Eine Reduzierung der Inlandsnachfrage war gewünschter Bestandteil des Modells, wobei die Rezession die Inflation bremsen sollte. Belaúnde erreichte weder die Umstrukturierung der Wirtschaft noch eine Eindämmung der Inflation, die vielmehr von rund 30% Ende der 70er Jahre auf 100% im Jahr 1985 geklettert war. Das einzige, was er erreichte, war eine tiefgreifende Rezession mit gleichzeitiger Umverteilung der ohnehin verminderten Einkommen von unten nach oben. Bis 1985 wurde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung auf den Stand von 1969, dem ersten Jahr der peruanischen Revolution, gesenkt.
Bei diesen verheerenden Resultaten einer weltmarktorientierten Politik war es kein Wunder, daß bei den Präsidentschaftwahlen von 1985 die AP in der Versenkung verschwand. Die APRA unter Alan García konnte die Massen hinter sich bringen mit ihrem Programm zur Erhöhung der Inlandsnachfrage und Beschäftigung bei gleichzeitiger Reduzierung der Schuldendienstleistungen. Die Vereinigte Linke (IU) wurde zweitstärkste politische Kraft.
Die Regierung Belaúndes hatte das Land derartig ruiniert, daß der Journalist Victor Hurtado den Satz prägte, daß jede folgende Regierung zwangsläufig besser sein wird. Er täuschte sich. Nach zwei Jahren staatlich stimulierten Wirtschaftswachstum zeichneten sich der schleichende Bankrott des Staates und der beschleunigte Verfall der Wirtschaft ab.
Daß es nicht übertrieben ist, inzwischen vom völligen Zusammenbruch von Staat und Wirtschaft zu sprechen, mögen folgende Daten belegen: 1988 und 1989 sank das BIP pro Kopf um jeweils rund 12% und liegt nun bei dem Stand von 1961, allerdings bei wesentlich ungleicherer Verteilung der Einkommen. Die Hyperrezession war verbunden mit einer Hyperinflation von rund 3.000 %, 1990 gar von 10.000 %. Die Staatsreserven waren vollständig aufgebraucht und die Steuereinnahmen lagen nur noch bei 4% des BIP (USA und BRD rund 25%). 40% der Landstraßen sind nicht mehr befahrbar und weitere 30% sind in sehr schlechtem Zustand. Das Elektrizitätssystem wird nicht nur durch die beständigen Angriffe von Sendero Luminoso, sondern auch durch die staatliche Politik selbst beschädigt. Die Investitionen sanken von 2% des BIP 1985 auf 0,6%, und die staatlichen Strombetriebe haben einen Verlust von 600 Mio. US$ eingefahren. Die Agrarbank, die trotz Hyperinflation zinslose Kredite gegeben hat, ist ruiniert und inzwischen liquidiert. Die Ausgaben für Gesundheit sanken von 6% des Staatshaushalts auf 3,5%. Dies sind nur einige Beispiele, die sich endlos fortsetzen ließen.

Szenarium der Armut

Einer der wichtigsten Indikatoren für eine Veränderung der Situation der Armen ist die Entwicklung des Mindestlohns. Dieser, der schon 1980 nur ein Überleben in gewöhnlicher Armut erlaubte, sank bis 1989 auf nur noch 23,2% des Wertes von 1980 (vgl. Graphik). Wer nun glaubt, daß viele Beschäftigte zwei oder drei Mindestlöhne verdienen, irrt leider. Das Gegenteil ist der Fall: 33,5% Erwerbsbevölkerung Limas erhalten nur ein Drittel des offiziellen Mindestlohnes!
Laut Angaben der UNICEF leben heute 60% der Bevölkerung in kritischer Armut mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen pro Person von 15,5 US$. Im ländlichen Raum sinkt dieser Wert noch auf 12,3 US$, und 83% der Landbevölkerung sind extrem arm.
Eine Vorstellung von der extrem ungleichen Verteilung der Einkommen, und somit auch des inzwischen auf den Wert von 1961 gesunkenen BIP, mögen folgende Zahlen verdeutlichen: Die 10% reichsten Haushalte konzentrieren 37,3% der nationalen Einkommen auf sich, während die 10% Ärmsten nur über 0,45% der Einkommen verfügen, und die reichsten 2% verdienen das 24-fache von den zwei Drittel Armen. Für die Kinder stellt sich diese Situation noch schlimmer dar: 89% der Kinder unter fünf Jahren leben in Armut (Caretas 1140).

Ein Beispiel der Überlebenswirtschaft: städtische Schweinezüchter

Der größte Teil der Armen sucht sein Überleben durch sogenannte informelle Wirtschaftsformen zu sichern. Es handelt sich meist um Kleinbetriebe, die zum Teil auch mit Lohnarbeitern wirtschaften. Die Arbeitsverhältnisse sind “ungeschützt”, es bestehen keine schriftlichen Arbeitsverträge, es werden keine Sozialabgaben bezahlt und es gibt keine gesetzlichen Sicherheiten. Der neue Staatspräsident Fujimori sieht in ihnen eine aufkommende Schicht von Kleinunternehmern.
Wie prekär das informelle Wirtschaften ist, zeigt sich an einer Gruppe dieser Kleinunternehmer, städtischen Schweinezüchtern des Großraums von Lima. Am Strand Oquendo in Callao, vor den Mauern der chemischen Fabrik El Pacífico, halten 80 “Kleinbetriebe” ingesamt 4.000 Schweine. Sie kaufen illegal den Abfall der “städtischen” Müllabfuhr aus den Vierteln der Wohlhabenden. Jede Fuhre wird zunächst nach wiederverwertbarem Material durchsucht. Metall, Plastik, Textilien, Glassplitter und Altpapier werden aussortiert und an ebenfalls informelle Kleinhändler verkauft. Anschließend werden die Schweine in der Müllhalde “geweidet”.
Die gesundheitlichen Gefahren dieser Art von “Überlebenswirtschaft im Abfall” sind natürlich sehr groß. Auch die Kinder “spielen” im Müll und freuen sich gelegentlich über einen Bonbon, den sie finden. Die Leute sind sich der Gefahren zumindest ansatzweise bewußt. Sie versuchen ständig, die Kinder vom Müll fernzuhalten. Aufgrund der katastrophalen hygienischen Situation ist auch die Sterblichkeitsrate unter den Schweinen sehr hoch. Die “SchweinezüchterInnen” impfen deshalb nach Angaben der Zeitung „El Peruano“ diejenigen Schweine gegen Cholera, die das Überlebenskapital darstellen, gegen Cholera.
Schon vor Ausbruch der Cholera-Epidemie versuchte die Regierung, diese Abfallwirtschaft zu unterbinden. Sie drohte den Leuten mit Vertreibung und stellte die Lieferung von Abfall unter Strafe. Das einzige Resultat ist eine Verschlechterung der ohnehin prekären Situation der “Schweinezüchter”, weil seitdem nur noch wenige LKWs als “Blokadebrecher” in das Elendviertel kommen.
Daß die Leute sich gegen ein Verbot ihrer Abfallwirtschaft wehren, liegt nicht nur an ihrer verzweifelten ökonomischen Situation. Eine viel größere gesundheitliche Gefahr birgt für sie die chemische Fabrik, vor deren Mauern sie leben. Hochgiftige Abwässer laufen unmittelbar an ihrer Siedlung ungeklärt vorbei ins Meer, und die Bewohner sind ständig auf der Hut, Tiere und Kinder von den tödlichen Abwässern fernzuhalten. Außerdem läßt die Fabrik immer wieder Chlorgas in die Luft ab. Das Gas kriecht dann am Boden durch die Siedlung zum Meer. Um sich vor diesem Giftgas zu schützen, haben die Leute ein Haus aus Zement gebaut – alle anderen Häuser sind aus Abfallstoffen – und dieses hermetisch abgedichtet. Läßt die Fabrik Gas ab, so stürzen alle in diesen “Bunker”. Wenige Tage bevor die regierungsamtliche Zeitung EL Peruano die zitierte Reportage erstellte, schaffte es ein alter Mann nicht mehr rechtzeitig und starb auf halber Strecke (EP 2-12-90).
Dieses sicherlich extreme, aber durchaus glaubwürdige Beispiel der Überlebenswirtschaft der Armen verdeutlicht hoffentlich, was es heißt, wenn innerhalb nur eines Jahrzehnts das ohnehin niedrige Bruttosozialprodukt per capita um 25% und der Mindestlohn gar um 77% gefallen sind. Vor diesem Hintergrund scheint es nur verwunderlich, daß die Cholera-Epidemie nicht schon früher ausgebrochen ist.

Die gegenwärtige Krise ist offenbar nicht konjunturell, sondern Resultat einer 15-jährigen kontinuierlichen Abwärtsentwicklung, von ein- bis zweijährigen Boomphasen abgesehen. Fujimori war angetreten, mit der Politik seiner Vorgänger zu brechen, auf die Wirtschaftskraft der Informellen zu vertrauen und die staatlichen Funktionen wiederherzustellen. Weil er jedoch Peru in das internationale Finanzsystem zurückführen will – dies ist sein wichtigstes politisches Ziel für 1991, so Fujimori in einer programmatischen Rede zum Jahreswechsel -, ist er gezwungen, die Politik des IWF zu übernehmen. Zwar sind einzelne Silberstreifen am Horizont zu erkennen, wenn man sich jedoch vor Augen hält, daß die bislang noch nicht erfolgreich abgeschlossenen Bemühungen um einen 800 Mio. US$ Überbrückungskredit vornehmlich dazu dienen, die seit letztem Jahr überfälligen Zinsen an internationale Finanzorganisationen zu zahlen, so scheint die massive Verelendung ungebrochen weiterzugehen.

Peru in den Zeiten der Cholera

Es ist ja richtig, daß die Cholera-Epidemie in Peru zu einem Zeitpunkt ausgebrochen ist, als es wahrlich genug andere Probleme im Land gab und gibt (mensch lese nur den Artikel in dieser Nummer). Auch sprechen viele Indizien dafür, daß die peruanische Regierung, möglicherweise aus Furcht vor sozialen Unruhen, die Bekanntmachung des Ausbruchs der Epidemie verzögert hat, und erst, als die Zahl der Erkrankten schon in die Hunderte ging, öffentlich Maßnahmen verkündete. Daß inzwischen über 18.000 Menschen in Peru an Cholera erkrankt (in den Statistiken werden allerdings nur diejenigen “Krankheitsfälle” gezählt, die in Krankenhäusern oder -Stationen registriert sind) und offiziell bereits 144 gestorben sind, Tendenz steigend, könnte möglicherweise mit dieser Politik zusammenhängen.
Cholera ist nämlich eine vergleichsweise leicht zu bekämpfende Seuche, wenn die Erkrankten erstens sofort ausreichend medizinisch versorgt werden, und zweitens, wenn sofort Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung der Seuche ergriffen werden. Besonders letzteres ist in Peru versäumt worden.
Was ist Cholera? Krankheitsträger dieser Bakterienkrankheit sind “Vibrio cholerae”, die den Darm angreifen und eine äußerst heftige Durchfallerkrankung verursachen. Die hohe Sterblichkeit bei Infizierten, die keine medizinische Betreuung erhalten, ist durch den Flüssigkeitsverlust verursacht. Bis zu 70% sterben an Cholera, wenn sie nicht sofort behandelt werden. Die Chancen, eine Choleraerkrankung zu überleben, sind dagegen bei sofortiger ärztlicher Behandlung hoch. Die Therapie besteht vor allem aus Flüssigkeitszufuhr, das heißt, die Kranken müssen sofort viel trinken und Infusionen bekommen. Das Feldlazarett aus Frankreich, das nach Lima geschickt wurde, ist eine sehr sinnvolle Hilfe, weil die Kranken in der Tat gut in einer solchen Massenunterbringung versorgt werden können, geht es doch vor allem darum, sie schnell an Infusionströpfe zu hängen.
Als sogenannte Pandemie gehört Cholera zu den Krankheiten, die sich von Zeit zu Zeit wellenförmig über die ganze Erde verbreiten. Die letzte große Pandemie brach im 19. Jahrhundert im Gangesdelta in Indien aus, und erreichte damals auch Hamburg. Die jetzige Weile begann 1961 in Indonesien und verschob sich von dort nach Afrika und Europa. 1973 wurden Erkrankungen aus Portugal ge-meldet, in Afrika traten in praktisch allen Ländern Erkrankungsfälle auf. (In Zambia sind zwischen Oktober 1990 und Februar 1991 ca. 600 Menschen an Cholera gestorben, kaum wahrgenommen von den hiesigen Medien. Bis auf einige wenige Fälle an der Küste von Nordamerika blieb der amerikanische Doppelkontinent bis zum Ausbruch in Peru verschont.
Bis vor kurzem war als einzigeR TrägerIn der Bakterien der/die Mensch bekannt. (Eine Choleraimpfung von Schweinen, wie aus Peru berichtet, ist demnach völlig sinnlos). Zwischen den Epidemien “überwintern” die Bakterien auf “asymptomatischen TrägerInnen”, das heißt, daß sie von Menschen weiterhin ausgeschieden werden, die selber aber nicht (mehr) krank sind. Weitergegeben werden sie vor allem über Fäkalien, verseuchtes Trinkwasser und verschmutzte Nahrungsmittel. Zum Ausbruch der Krankheit ist aber jeweils eine große Menge von Bakterien nötig. Es ist also klar, daß Cholera eine Krankheit der Armen ist, weil sich sozial bessergestellte Menschen durch sauberes Trinkwasser und bessere hygienische Bedingungen vor der Ansteckung schützen können. Durch schon abgekochtes Wasser, Gemüse oder Fleisch können die Bakterien nicht weitergegeben werden.
In jüngster Zeit wird allerdings auch Zooplankton verdächtigt, Bakterienträger zu sein. Die paar Cholerakranken in den USA holten sich die Krankheit durch den Verzehr von Krabben. insofern macht es Sinn, daß die peruanische Regierung den Fang und Verkauf von frischem Fisch für drei Monate verboten hat. Allerdings dürften die sozialen Folgen, vor allem Arbeitslosigkeit unter den Fischern, fatal sein; allein schon der Verzicht auf rohen Fisch (sprich: die lokale Spezialität Cebiche) läßt einen Markt zusammenbrechen. Besonders aus Chibote, der Hafenstadt im Norden Perus, die von Öl- und fischverarbeitender Industrie lebt, werden verheerende Folgen gemeldet. Dort soll die Epidemie auch angeblich begonnen haben. Alles in allem macht dieses Verbot eher den Eindruck einer hektischen, aber sinnlosen Betriebsamkeit. Was versäumt wurde (möglicherweise durch die Taktik des Nicht-bekanntgebens), war, rasch den “Index-Fall” zu ermitteln, also die Person, die zuerst infiziert wurde. Wenn er oder sie bekannt ist, dann können in einem zweiten Schritt die möglicherweise angesteckten Personen festgestellt und überwacht werden. Auf diese Weise wurde in den USA und auch in Portugal die Ausbreitung der Krankheit verhindert. In Peru geschah dies nicht, und wenn die Bakterien einmal in das öffentliche Trinkwassersystem gelangt sind, ist es für eine systematische Eindämmung bereits zu spät.
Nach Auskunft von Frau Dr. Harms vom Tropeninstitut Berlin hat die peruanische Regierung sehr lange (bis Anfang Februar) erklärt, sie bekämen die Epidemie selbst in den Griff. Unterdessen hat sie sich aber im ganzen Land ausgebreitet, auch aus dem Hochland (z.B. Huancayo) werden Erkrankungen gemeldet. Besonders betroffen sind “natürlich” pueblos jovenes und alle Wohnviertel, die unter schwieriger Wasserversorgung leiden.
Von Cholera sind zwar hauptsächlich “die Armen” betroffen, der Ausbruch steht jedoch nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise, denn die hygienischen Bedingungen haben sich in den letzten Monaten nicht so gravierend verschlechtert, als daß die Krankheit nicht genauso gut oder schlecht vor einem Jahr hätte ausbrechen können. Schlimm nur ist, daß jeder Todesfall verhindert werden könnte, bei guter ärztlicher Versorgung, einem besseren Trinkwassersystem und bei sofortiger Eindämmung; der Epidemie, wozu rasche Aufklärung vonnöten gewesen wäre. Und das alles ist eben nicht geschehen.

Manifestationen eines Kinos in der Krise

In diesem Jahr ist das Festival dem Fernsehen gewidmet und wird damit dem hohen Stellenwert gerecht, den TV-Produktionen im audiovisuellen Bereich ein­genommen haben. Gleichzeitig deutet die Würdigung des lateinamerikanischen Fernsehens aber auf die Krise des lateinamerikanischen Kinos hin. In einer Pres­sekonferenz werden wir auch schon gleich zu Anfang der Festspiele darüber in­formiert, in welchem Kontext die aufgeführten Filme zu sehen sind: Die Wirt­schaftskrise in den lateinamerikanischen Ländern, die sich in hoher Auslandsver­schuldung, Rückgang des Bruttosozialprodukts, fallenden Löhnen und immen­sen Inflationsraten äußert, hat auch vor dem Kino nicht haltgemacht. In Brasilien wurde aufgrund von Sparmaßnahmen über Nacht die Filmförderung ausgesetzt und das Filminstitut “Embrafilme” aufgelöst. Der Entzug der staatlichen Mittel führte dazu, daß 1990 statt den durchschnittlich über 50 langen Spielfilmen nur noch ein einziger gedreht wurde. Das kleinere Filmland Ecuador hat es in den letzten fünf Jahren gerade mal auf einen Film gebracht. Und in Argentinien, so Cipe Fridman, die Produzentin von “Flop” kann man nur noch als Verrückter Filme machen. Das argentinische Filminstitut – immerhin noch nicht aufgelöst wie das brasilianische – hat dieses Jahr nicht die vom Finanzministerium zuge­sagten Mittel erhalten. Die argentinischen Kinos sind wie überall auf dem Sub­kontinent von US-amerikanischen Filmen überschwemmt. Produktionskosten, die zwischen einer halben und eineinhalb Millionen US$ liegen, können nicht al­leine durch Zuschauererlöse gedeckt werden. Wer geht schon bei einem monatli­chen Einkommen zwischen 20 und 50 US$ in einen Film, für den er ungefähr einen Dollar Eintritt zahlen soll?
In noch folgenden Pressekonferenzen und Seminaren wurde dann auch nach Lö­sungen, wie das lateinamerikanische Kino überleben kann, gesucht und Ansätze vorgestellt. Zum einen sind da die Koproduktionen des spanischen Fernsehens. Dessen finanzielle Beteiligung – in den letzten vier Jahren an über 100 Projekten – machte angesichts der schlechten finanziellen Lage lateinamerikanischer Produ­zentInnen und Filminstitute oft erst die Herstellung von Kino- Fernseh- und Vi­deofilmen möglich. Beispiele hierfür sind die auch schon in Deutschland gezeig­ten “Ultimas imagenes del naufragio ” (Letzte Bilder des Schiffbruchs), “La nación clandestina” (Die heimliche Nation) und “Un señor muy viejo con unas alas enormes” (Ein sehr alter Herr mit gewaltigen Flügeln) sowie “Sandino”, auf den ich später noch eingehen werde. Zum andern existiert zwischen den Filmbehör­den verschiedener lateinamerikanischer Länder ein Abkommen über einen ge­meinsamen Filmmarkt, womit Filme aus den beteiligten Ländern die gleichen Vergünstigungen erhalten wie die eigenen Filme. Das “Abkommen zur latein­amerikanischen Integration im Filmwesen”, das im November 1989 in Caracas von Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Kuba, Ecuador, Mexiko, Nicaragua, Pa­nama, Peru, Venezuela, der Dominikanischen Republik und Bolivien verabschie­det wurde, soll die Vermarktung von Kino- Ferseh- und Videofilmen in den je­weils anderen lateinamerikanischen Ländern erleichtern und damit sowohl zur kulturellen Integration als auch zur Verteidigung gegen die kulturelle Überfrem­dung seitens der US-amerikanischen Filme beitragen. Ansonsten gab es eine Menge Appelle, das bestehende Konkurrenzverhältnis zwischen Kino, Fernsehen und Video in den lateinamerikanischen Ländern in ein Miteinander umzuwan­deln.
Nichtsdestotrotz gab es in den folgenden Tagen eine Menge lateinamerikanisches Kino zu sehen. Manchmal drängte sich dabei jedoch die Frage auf, was denn das “Neue” an diesen Filmen sei. Und ein kubanischer Mitarbeiter des Festivals ge­steht, daß die Auswahl der lateinamerikanischen Filme durch die Kommission doch recht beliebig gewesen sei. So mußten wir uns bei den zwar technisch per­fekt gemachten, aber inhaltlich und dramaturgisch schwachen venezuelanischen Filmen “Cuchillos de fuego” (Feuermesser) und “Con el corazón en la mano” (Mit dem Herzen in der Hand) langweilen, den derben Witz der argentinischen Fami­lienkomödie “Cien veces no debo” (100 mal soll ich nicht) ertragen und uns über das peinliche Portrait der kolumbianischen Gewerkschaftsführerin Maria Cano ärgern.
Die größte Enttäuschung stellte wohl ein mit berühmten Schauspielern realisier­ter und eine berühmte Person der lateinamerikanischen Geschichte dar­stellender Film eines berühmten Regisseurs dar. Die Rede ist von “Sandino” des Chilenen Miguel Littín (mit Kris Kristofferson und Angela Molina) über den gleichnami­gen Freiheitskämpfer Nicaraguas. Mit viel Spannung in Kuba erwar­tet, ent­puppte sich das Werk dann allerdings als oberflächliche, unpolitische Großpro­duktion im Stile Hollywoods, bestehend aus Liebe, Intrige und Schieße­reien. Böse Zungen behaupten, das Beste an dem Film sei, daß er Sandino zum Thema habe. Und der ehemalige sandinistische Innenminister Tomás Borge wollte erst gar keinen Kommentar zu dem Produkt Littíns abgeben.Aber noch einmal zu­rück zu dem Eröffnungsfilm “Caidos del cielo” (Vom Himmel Gefal­lene): In dem schon auf den Festivals von Montreal und Orleans ausgezeichneten Film erzählt der Regisseur Lombardi simultan drei tragisch absurde Geschichten. Da ist zum einen ein altes Ehepaar, das alle seine Wertgegenstände und sogar sein Haus verkauft, um den Preis für ein Mausoleum aufzubringen, eine im Slum lebende alte blinde Frau, die ihre Enkel schikaniert und schließlich als Futter für ein zu mästendes Schwein endet und ein mißgestalteter Sprecher eines Radio­programms unter dem Motto “Du bist dein Schicksal”, dem es im wirklichen Le­ben nicht gelingt, eine Selbstmörderin vom Sprung in die Tiefe abzuhalten.
Auch nicht gerade ein optimistisches Bild der lateinamerikanischen Realitäten vermittelt am nächsten Tag “Después de la tormenta” (Nach dem Sturm) des Ar­gentiniers Tristán Bauer. Ein Film, der auch für das Forum des jungen Films im Rahmen der Berliner Filmfestspiele ausgewählt wurde. Protagonist ist ein Mann, der im Zuge der Unternehmenszusammenbrüche in Argentinien seinen Arbeits­platz verliert und damit gleichzeitig seine Stellung als Familienoberhaupt infrage gestellt sieht. Die Komposition schöner, melancholisch stimmender Bilder und nicht zuletzt der Einsatz des Hauptdarstellers Lorenzo Quintero erinnern oft an “Ultimas imagenes del naufragio” (Letzte Bilder eines Schiffbruchs) und “Hombre mirando al sudeste” (Der Mann, der nach Südosten schaut), was die kubanische Zeitung Granma veranlaßte Bauers Film ironisch mit “El hombre mirando el naufragio despues de la tormenta” (Der Mann, der den Schiffbruch nach dem Sturm betrachtet) zu betiteln. Inhaltlich und dramaturgisch vermag er jedoch nicht so zu überzeugen wie seine Vorbilder. Besser gefallen haben mir zwei an­dere argentinische Produktionen: “Flop” von Eduardo Mignona, die (wahre) Ge­schichte eines Varietekünstlers im Argentinien der 40er Jahre, mit den Mitteln des Theaters spielend, witzig und traurig zugleich. Und “Yo, la peor de todas” (Ich, die schlimmste von allen) von Maria Luisa Bemberg. Die argentinische Re­gisseurin, die auch in den vergangenen Jahren mit ihren Filmen große Erfolge auf dem kubanischen Festival feiern konnte – dieses Jahr ist ihr Werk der absolute Favorit des Publikums und der Presse – widmete sich auch dieses Mal einem Frauenthema. Nach dem Roman von Octavio Paz stellte sie wichtige Situationen im Leben der Nonne Juana Inés de la Cruz dar, einer der bedeutendsten latein­amerikanischen Schriftstellerinnen im 17. Jahrhundert. Da diese sich nicht in Mann und Kindern selbstverwirklichen wollte und ihr als Frau der Weg in die Universität versperrt blieb, wählte sie das Kloster, um dort zu lesen, zu schreiben und zu forschen.
Zwischen den Filmen mal eine Pause. Mit einem guagua, so heißen die Busse in Kuba, angeblich weil sie die Geräusche quengelnder Kleinkinder wiedergeben, geht es in einen Vorort von La Habana, eine Einladung zu einem trago, einem Schluck Rum, annehmend. Doch auch hier werden wir nicht von Filmen ver­schont. Das Oberhaupt der Familie, Doña Josefina, sitzt mit diversen Freunden, Bekannten und Nachbarn vor dem Fernseher und verfolgt gebannt die brasiliani­sche Fernsehserie “Roque Santeiro”. Zwischen Begrüßung, Fragen, wie mir denn Kuba gefalle und dem Ausschenken eines Glases Rum, diskutieren die Anwe­senden eifrig die neueste Missetat des Filmbösewichts. Antonio erklärt mir, daß seine Mutter keine der täglich zur besten Sendezeit ausgestrahlten Folgen aus­lasse und in den Unternehmen sogar ganze Betriebsversammlungen verschoben werden, damit die compañeros bei ihrer Lieblingstelenovela am Ball bleiben können.
Wieder zurück im dunklen Kinosaal der Innenstadt sehen wir uns den kubani­schen Film “Mujer transparente” (Durchsichtige Frau) an. Anders als die anderen von Kuba für den Wettbewerb ausgewählten Produkte, “Hello Hemingway”, ein nett gemachter Film, aber auch nicht mehr, der nach nicht ganz nachvollziehba­ren Kriterien den ersten Preis gewann und “Maria Antonia”, die beide in den 50er Jahren, also vor der Revolution spielen und es damit umgehen, sich mit der ge­genwärtigen Situation in Kuba auseinanderzusetzen, sind die sechs Kurzepiso­den von “Mujer transparente”, Portraits von sechs Frauen, in dem Kuba von heute angesiedelt. Besonders beeindruckend ist die Episode “Laura”. Eine junge Frau, besagte Laura, wartet auf ein Treffen mit ihrer ehemaligen Schulfreundin Ana, die vor zehn Jahren mit 100.000 anderen unzufriedenen KubanerInnen die Insel verlassen hat und nun, als Touristin nach Kuba zurückgekehrt, in einem teuren Dollar-Hotel abgestiegen ist. Der Film läßt die ZuschauerInnen an den Gedanken Lauras über die Beweggründe von Ana und die gegenwärtige Situa­tion in Kuba sowie an ihrer Wut über die Behandlung als Bürgerin zweiter Klasse gegenüber den devisenbringenden TouristInnen teilhaben. Die Stimmung im Kino ist aufgeheizt. Die Bilder auf der Leinwand treffen mit der Realität zusam­men: Gegen Dollars, deren Besitz den KubanerInnen streng verboten ist, kann man hier (fast) alles kaufen. Die normalen KubanerInnen haben dagegen schon seit Monaten keine Butter mehr gesehen und selbst das Grundnahrungsmittel Bohnen ist nur noch auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Dollars sichern auch den Zugang zu den Touristenhotels, während die Kubanerinnen ohne Einla­dungskarte draußen bleiben müssen. Im Kino wird dauernd Beifall geklatscht, Bravorufe ertönen, und auch bei der Abschlußveranstaltung – Laura gewinnt den ersten Preis in der Kategorie Kurzfilm – gibt es hier den meisten Applaus und die Regisseurin muß mehrere Male aufs Podium zurückkehren. Fidel Castro ist die­ses Mal nicht zur Preisverleihung erschienen, um eine seiner berühmten Reden zu halten. Die trägt er dann zwei Tage später bei einem Kongreß über Ersatzteile vor.
Und bei den rhythmischen, Optimismus verbreitenden Klängen der brasiliani­schen Band Morais Moraira – alles tanzt inzwischen, obwohl die Preise für die langen Spielfilme noch nicht vergeben sind – fragen wir uns wie es mit Kuba und dem lateinamerikanischen Kino weitergehen wird.

Bush besucht die “vertikale Hemisphäre”

Als Präsident Kennedy vor knapp 30 Jahren unter dem Eindruck der kubanischen Revolution die “Allianz für den Fortschritt” als Plan für ein großes gemeinsames Reformunternehmen der USA und Lateinamerikas aus der Taufe hob, galten als Voraussetzung einer grundlegenden Besserung noch soziale Gerechtigkeit, eine gründliche Agrarreform, Besteuerung des Luxus und des Reichtums, Kontrolle der Profite aus ausländischen Direktinvestitionen, staatlich geförderte Industrialisierung. Heute fliegt Kennedys später Nachfolger George Bush von einem Land Südamerikas in das nächste, um seine Präsidentenkollegen dazu zu beglückwünschen, daß sie “Reformen” durchgeführt haben, die im Namen von Demokratie und Marktwirtschaft mit den Illusionen von sozialer Gerechtigkeit und staatlicher Entwicklungspolitik gründlich aufgeräumt haben.
Die ganze erste Dezemberwoche war Bush unterwegs, in seinem neuen Regierungsflugzeug Air Force One jederzeit für die militärischen Planungen am Persischen Golf aufnahmebereit. Ziel waren die relativ reicheren und politisch wichtigeren Länder im Süden: Brasilien, Uruguay, Argentinien, Chile und Venezuela. Ausgespart wurden Länder, in denen wie in Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama Drogenproduktion und Drogenhandel den Zorn der Führung des Hauptkonsumlandes von Drogen – nämlich der USA – erregen und wo deshalb diese Führung nicht gerade gern gesehen wird.

Die neue Morgenröte

Gefeiert wurde bei den Ansprachen vor den Parlamenten, den Treffen mit den Präsidentenkollegen Collor, Lacalle, Menem, Aylwin und Pérez sowie den Pressekonferenzen vor allem der Sieg der Marktwirtschaft, der nun – so Bush vor dem Parlament in Brasilia – die Möglichkeit “einer neuen Morgenröte für die Neue Welt” in Gestalt einer gigantischen Freihandelszone von Kanada bis Feuerland eröffne, einer “vertikalen Hemisphäre”, in der sich mehr als zwanzig marktwirtschaftlich orientierte Demokratien zusammenschließen könnten. Daß der Norden bei diesem Vertikalismus das Sagen hätte, ist gerade auch den brasilianischen Ökonomen klar, denen die Versuche einer eigenen Entwicklung von Mikroelektronik durch die erzwungene Öffnung ihres Marktes für US-Computer gerade erst ausgetrieben wurden.
Die Freihandelszone soll dem durch gewaltige Handelsbilanzdefizite angeschlagenen Imperium neue Absatzmärkte erschließen, Konkurrenzvorteile vor Japan, Südostasien und Westeuropa eröffnen und überhaupt ein Gegengewicht gegenüber der Europäischen Gemeinschaft begründen. Solange sich diese “Iniciativa para las Américas” darauf beschränkt, durch Abbau von Zollschranken und anderen Behinderungen den völlig freien Handel mit Waren und Dienstleistungen auf dem ganzen Kontinent zu organisieren, den freien Verkauf der Ware Arbeitskraft, das heißt: die freizügige Arbeitsmigration in die USA aber verhindert, so lange wird diese Art von Integration angesichts der relativen Marktmacht der “Partnerländer” und des herrschenden Produktivitätsgefälles nur im Sinne einer Verschärfung der Unterentwicklung Lateinamerikas wirken. Die in diesen Tagen verkündeten Änderungen der Einwanderungsbestimmungen der USA lassen aber nicht darauf schließen, daß solche Freizügigkeit innerhalb ganz Amerikas geplant sei.

Ohne Spendierhosen

Daß Präsident Bush seine Gastgeber zu kaufen versucht hätte, läßt sich nicht behaupten. Versprochen hat er ihnen zunächst gar nichts. Erst nach der Reise verlautete, daß die USA vielleicht zur Verbesserung der Absatzchancen für US-Produkte auf bis zu sieben der zwölf Milliarden US-Dollar verzichten könnten, mit denen die lateinamerikanischen Länder bei der US-Regierung verschuldet sind. Das wären gerade anderthalb Prozent der gesamten, ohnehin unbezahlbaren Außenschuld Lateinamerikas. Und dann wollen die USA so großzügig sein und 100 Millionen ( nicht Milliarden, Millionen! ) US-Dollar in einen multilateralen Investitionsfonds einzahlen, zu dem die europäischen Staaten noch das Doppelte beitragen sollen. Diese Summe entspricht einem Viertel eines Promille der lateinamerikanischen Auslandsschuld, oder anders: Sie entspricht der Summe, die in den letzten Jahren jeweils alle drei Tage netto aus Brasilien an die ausländischen Gläubiger geflossen ist. Das Imperium ist wahrlich bescheiden geworden.
Die gastgebenden Präsidenten gebärdeten sich wie Musterschüler. Argentiniens Menem konnte sogar mit einem zur rechten Zeit in Szene gesetzten und siegreich überstandenen Putschversuch rechtsradikaler Militärs sein Image als Vorkämpfer der Demokratie polieren, was alle Pläne für eine Demonstration der linken Opposition gegen den Bush-Besuch über den Haufen warf.
Der Chef der angeschlagenen Weltmacht konnte sich auf seiner ganzen Reise, sehen wir von ein paar Bombendetonationen in Buenos Aires und Santiago ab, über den freundlichen Empfang freuen, obwohl mindestens der eine Teil seiner frohen Botschaft, nämlich das neoliberale Programm für Privatisierung und ungehemmte Marktwirtschaft, in Brasilien und Uruguay, in Argentinien und Venezuela die schwere Krise der achtziger Jahre nicht behoben, sondern im Gegenteil noch verschärft hat. Einzig in Chile funktioniert die Marktwirtschaft, wenn auch nicht sozial und ökologisch orientiert, wie das heute gefordert wird, und schon gar nicht im Dienste der Mehrheit der Bevölkerung. Und wenn sie funktioniert, dann ist das nicht das Ergebnis der Demokratie, die immer als Zwillingsschwester der Marktwirtschaft erscheint, sondern Resultat einer langjährigen und brutalen Militärdiktatur. Der Ex-Diktator General Pinochet, heute noch immer Oberbefehlshaber des Heeres in Chile, ließ es sich denn auch nicht nehmen, zur Begrüßung des Präsidenten der USA persönlich zu erscheinen und auf seine Verdienste für die Freiheit des Kapitals hinzuweisen.
Was George Bush, dem Propheten von Demokratie und Marktwirtschaft, einzig zu seinem Glück noch fehlt, benannte er auf der letzten Station seiner Reise in Caracas: Kuba, “der einzige und einsame Winkel des Totalitarismus auf dem amerikanischen Kontinent”, werde sich bald seines kommunistischen Regimes entledigen ( und damit wieder den reichen US-Amerikanern als Ferienparadies und Spielhölle zur Verfügung stehen ). Mag sein, daß er Recht behält und der Wind in diese Richtung bläst, zumal eine große Bewegung zugunsten sozialer Reformen wie vor 30 Jahren von Kuba nicht mehr ausgeht. Der Glaube aber, daß die Massen der Bevölkerung in Lateinamerika nun für immer beschlossen hätten, auf Ettikettenschwindler wie Menem in Argentinien hereinzufallen und die Mittel der Demokratie nur für die Wahl einer unterentwickelten Marktwirtschaft einzusetzen, wäre mindestens so naiv wie der Glaube an die Naturgesetzlichkeit der Weltrevolution.
Die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist. Die Geschichte ist noch nicht am Ende.

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