Festival der Frauen

Invasion der Feministinnen

San Bernardo, ein Badeort, der 9 Monate im Jahr schläft und nur 3 Monate durch die Touristen zum Leben erwacht, wird jäh aus seinem Winterschlaf gerissen noch bevor die Saison beginnt. 70 Omnibusse bringen 3.000 Frauen aus 39 Län­dern, aus ganz Lateinamerike und der Karibik und Gästinnen aus Nordamerika, Europa, Asien und Afrika, die sich hier zum 5. lateinamerikanischen Feministin­nenkongreß trafen, um über 10 Jahre Feminismus in Lateiname­rika Bilanz zu ziehen. Den knapp 4.000 Einwohnern San Bernardos mag die Ankunft der Massen von Frauen wie eine Invasion vorgekommen sein. Neugierig bis ablehnend beäugten sie die Ankommenden und in nicht wenigen Gesichtern stand die bange Frage geschrieben: Warum gerade in San Bernardo? So standen sie staunend angesichts der vielen Frauen, die mit ihrer Buntheit, Vielfältigkieit und ihrem Selbstbewußtsein eine Woche lang das Straßenbild be­stimmten.
Das Feministinnentreffen in Lateinamerika hat bereits Geschichte: Zum 5. Mal innerhalb von 10 Jahren trafen sich Frauen aus Ländern Lateinamerikas und der Karibik. Die Treffen ermöglichen, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen und bieten die seltene Gelegenheit, Frauen aus anderen Ländern zu treffen und wiederzusehen. So hat der Kongreß mittlerweile eine enorme Wichtigkeit er­langt, dementsprechend steigt auch jedesmal die Zahl der Teilnehmerinnen: Beim ersten Mal in Kolumbien 1980 waren es noch 260 Frauen, 1983 in Peru be­reits 600, nach Brasilien kamen 1985 850 und in Mexiko waren es 1987 bereits 1 500. Daß zum Kongreß nach Argentinien 3.000 Frauen kamen, erfüllte alle mit Stolz. Doch das Treffen in Argentinien hat mittlerweile eine Größenordnung erreicht, die organisatorisch kaum mehr zu bewältigen ist, noch dazu unter den gegebenen schlechten Bedingungen.

Herzlich willkommen

Eigentlich sollte der Frauenkongreß in den Räumlichkeiten der Energiegewerk­schaft stattfinden, einem riesigen Komplex mit 800 Hotelbetten und zahlreichen Tagungsräumen. Doch kurzfristig wurde der vereinbarte Sonderpreis um über 300% erhöht. Der Kongreß drohte zu scheitern, doch konnten die Organisatorin­nen mit der Stadtverwaltung einen Kompromiß erreichen und viele Hotels, Cafés und Boutiquen stellten in Erwartung einer finanzkräftigen Invasion von kauf und konsumfreudigen Frauen ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. Der Stadt­verwaltung war offensichtlich das leidige Vorgeplänkel sehr unangenehm. Sie sah sich bemüßigt, ein Kommuniqué zu veröffentlichen, das die Frauen in San Bernardo herzlich willkommen hieß. Auch der kirchliche Vertreter begrüßte aus­drücklich die ankommenden Frauen, um Gerüchten entgegenzuwirken, die Kir­che wolle den Kongreß verhindern.
Die Veranstaltungen fanden an allen möglichen und unmöglichen Stellen statt: die großen Cafés und Hotels waren ausnahmslos alle besetzt. Sogar in den Ho­telhallen, in Garagen, in Staßencafés und in noch leerstehenden Boutiquen saßen diskutierende Gruppen, wobei es der vorbeitosende Verkehr der Hauptstrasse oft unmöglich machte, auch nur ein Wort zu verstehen. Nicht selten nervten neugierige Auto- oder Motorradfahrer mit laufendem Motor, die versuchten her­auszubekommen, was die Feministinnen zu bereden hatten. Zudem wurde aller­orts gebaut, gebohrt und gehämmert: der Badeort machte sich fertig für die Saison, die 14 Tage später beginnen sollte.

Das “Nicht-Treffen” und das “Suchen” statt “Treffen”

Einen Großteil der Zeit auf dem Treffen verbrachte frau damit, ihre Workshops zu suchen. Hunderte von Frauen wanderten mit dem Tagesprogramm und dem Stadtplan in der Hand die Hauptstraße rauf und runter, suchten und fragten sich durch, trafen zufällig Bekannte, blieben auf ein Schwätzchen stehen, vergaßen die Zeit, hetzten weiter, um wenigstens noch ein halbes Stündchen mitzube­kommen, oder blieben unterwegs in einem der einladenden Straßencafés hängen und gaben frustriert die Suche auf.
War dann endlich der Ort gefunden, mußte frau nicht selten feststellen, daß der Workshop ausgefallen, die Veranstaltung auf den nächsten Tag verschoben war oder tags zuvor bereits stattgefunden hatte. Los gings dann auf die Suche nach dem nächsten Workshop, mit der Hoffnung, da wenigstens noch ein paar inter­essante Sätze zu ergattern, oder ab ins nächste Café oder an den Strand.

San Bernardo – Stadt der Frauen

Die Frauen erobern San Bernardo. Endlich keine Angst mehr haben müssen nachts beim Nachhausegehen, denn immer sind Frauen in der Nähe unterwegs. Die Frauen erobern sich die Discos, die Cafés, und sogar die Männerklos.
Vielen Männern in San Bernardo waren diese Feministinnen sehr suspekt. Die einen sahen in ihnen eine Gefahr für San Bernardo, sie hatten Angst, daß die Feminis­tinnen, ihnen ihre Frauen wegnehmen oder ihnen zumindest den Kopf verdrehen wollen. Andere machten sich große Hoffnungen (“von den 3.000 Frauen kommen mindestens 2-3 auf mich”). Sie wollten mitfeiern und verstanden die Welt nicht mehr, weil diese vielen Frauen nichts von ihnen wissen wollten, weil sie draußen bleiben mußten. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, was es soviel zu reden und diskutieren gab und manche beschwerten sich, keiner habe sie vorher gefragt, ob sie mit dieser Invasion einverstanden wären.
Auch die Frauen von San Bernardo beäugten zunächst recht skeptisch bis ableh­nend die fremden Artgenossinnen, die selbstbewußt, schwatzend und singend durch die Straßen zogen und sich nicht um Konventionen und Machos scherten. Einige wenige machten bei den Workshops mit, andere nahmen in den Cafés oder bei den abendlichen Festen Kontakt auf oder sahen begeistert oder befrem­det zu.
Und als die 70 Busse wieder wegfuhren, war wieder Frauenalltag angesagt.

Der Mammutkongreß – ein organisatorischer Wahnsinn

Trotz guter Laune und Frauenpower erschwerten die schlechten infrastrukturel­len Bedingungen die ohnehin schwierige Aufgabe organisatorisch einen solch riesigen Kongreß zu bewältigen! Die Suche kostete viel Zeit und erschwerte die Kommunikation untereinander. Das stundenlange Schlangestehen mit hungri­gem Magen zum Mittag- oder Abendessen nervte und nur besonders Unverdros­sene sahen darin die Möglichkeit, sich im Gespräch näher zu kommen.
Als am dritten Tag der Regen prasselte und alle Straßen überflutete und der Strom ausfiel und es weder Programme gab noch Veranstaltungen stattfanden, drohte der Kongreß im Chaos zu ersticken. Doch dank der hervorragenden Im­provisationsgabe der lateinamerikanischen Organisatorinnen und der uner­schütterlichen Geduld der Teilnehmerinnen lief er trotzdem irgendwie weiter.
Es war schier unmöglich, auch nur ansatzweise einen Überblick über das Diskus­sionsgeschehen der einzelnen Veranstaltungen zu bekommen. Ein gezieltes Tref­fen und Austausch mit Frauen aus anderen Ländern schien unmöglich und dem Zufall überlassen. Es gab kein gemeinsames Diskussionsziel. Zu groß war das Angebot an Workshops, Gesprächskreisen und Kultur. An sechs Tagen wurden 300 offizielle Veranstaltungen angeboten, nicht mitgerechnet die zahlreichen selbstorganisierten spontanen Diskussionsrunden und Foren. Es gab viel zu viele interessante Angebote, die alle zur selben Zeit stattfanden: Von der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Feminismus, seiner Beziehung zur Macht, Politik oder Basisbewegung, über gesundheitliche Themen (Abtreibung und Verhü­tungsmittel, Psychopharmaka…) Gewalt gegen Frauen hin zu religiösen ethischen Fragen, zu Selbsterfahrungsgruppen, Körperübungen, Lesungen, Videos … für jeden Geschmack etwas. Bedauerlich, daß Diskussionen über wich­tige Themen mangels Zeit nur angerissen und kaum vertieft werden konnten.
Beeindruckend auch das Angebot an Publikationen, vor allem deswegen, weil noch vor wenigen Jahren feministische Publikationen in Lateinamerika fast aus­schließlich aus Übersetzungen von Artikeln US-amerikanischer und europäischer Feministinnen bestanden.
Aus der Masse der Angebote möchte ich trotzdem einige Diskussions- oder Kri­tikpunkte aus diversen Workshops erwähnen.

Diversität und Ungleichheit – Herausforderung oder Komplikation?

Die Diversität und Ungleichheit innerhalb der feministischen Bewegung (die Autonomen, die Sozialistinnen …) von vielen als bremsend beargwöhnt, werden jedoch auch als eine Herausforderung und eine Bereicherung für die Diskussion innerhalb der Bewegung erkannt. Genauso verhält es sich mit neuen Themen, wie Ökologie, Gewalt gegen Frauen, Ethik…
Ein Widerspruch, der immer wieder auftaucht, ist der Ruf nach charismatischen Führerinnen einerseits, die die Bewegung voranbringen sollen, der aber anderer­seits mit dem Wunsch nach kollektiver Arbeitsweise kollidiert.
Eine immer wieder spannende Frage taucht auf: Radikalität oder Kompromisse? Im Workshop “Feminismus 90” zum Beispiel einigten sich dazu die Frauen auf die Grundaussage des Feminismus: Demokratie, Diversität und Kompromisse. Das bedeutet: Zusammenarbeit mit offiziellen (auch staatlichen) Stellen ist mög­lich und fördert mehr interne Demokratie innnerhalb der Bewegung. Gewalt wird als Grundhindernis für die Entwicklung der Frauen in ganz Lateinamerika und der Karibik angeprangert. Die Konzepte für Entwicklungspolitik werden als sexistisch und gegen die Frauen gerichtet verurteilt. Die Rechte der Frauen sollen als Menschenrechte festgeschrieben und das Konzept der Menschenrechte, dem bisher jegliche Frauenperspektive fehlt, umdefiniert werden.
Bei vielen Themen wiederholten sich die Diskussionen und die Argumente aus den vorherigen Treffen und bei bestimmmten Punkten traten auch diesmal wie­der dieselben Konflikte auf, die unüberbrückbar scheinen: Zum Beispiel die Fra­gen: Sollen Frauen, die an der Macht sind, unterstützt werden? Vertreten sie die Interessen der Frauen oder sind sie mehr ihrer Partei verbunden? Wird sich für Frauen etwas verändern, wenn Frauen als Politikerinnen an die Macht kommen? Oder ändern sich Frauen, sobald sie an der Macht sind? Welche Macht ist das, die angestrebt wird, eine feministische Macht?

Feministometer

Manche der Alt-Feministinnen denken noch wehmütig an das erste Treffen in Kolumbien, wo noch der reine feministische Geist herrschte. Denn schon in Peru kamen auch Frauen aus anderen Bereichen mit dazu: Frauen aus politischen Or­ganisationen, Gewerkschaften, aus Basisbewegungen etc., die sich alle als mehr oder weniger feministisch definierten, was zu Konflikten führen mußte. In Me­xiko, als die mittelamerikanischen Frauen mit ihrer spezifischen Problematik mit dazu kamen, mußte endlich erkannt werden, daß es nicht nur einen Feminismus gibt. So auch in Argentinien: “Was ist das für eine Feminismus, der uns nicht be­achtet”, fragt Sergia, eine schwarze Frau aus der Dominikanischen Republik. “Die weißen Frauen distanzieren sich von uns”, klagten die indianischen Frauen über ihre “feministischen Schwestern”. Eine Frau aus einer Villa Miseria in Argenti­nien berichtete, daß sie in ihrer Arbeit mit den Frauen
nicht dazu kommt, spezifische Frauenthemen anzusprechen, denn “in einem Jahr starben uns 12 Kinder, so daß Erziehung und Gesundheit Vorrang haben.”
In einem Workshop zum 500. Jahrestag der Kolonisation meldet sich eine Gua­temaltekin zu Wort, die, wie sie sagt zum ersten Mal auf so einem Treffen mit Frauen aus unterschiedlichen Ländern ist und alles ganz toll findet, “aber”, bittet sie, “es würde mir besser gefallen, wenn Sie etwas konkreter reden würden, in Worten, die wir auch verstehen, die aus dem Gefühl jeder einzelnen Frau kom­men.” Nach der Veranstaltung sprach ich eine der Wortführerinnen darauf an, eine Chilenen, die in der Dominikanischen Republik an der Uni arbeitet. Ihre Antwort spricht für sich: “Tja, wir müssen sie halt auch mal reden lassen.”
Rassismus? Nein, den gibt es bei uns nicht! Bekräftigen mir einhellig die weißen Frauen aus Uruguay, Argentinien und Chile, die sich am Abend vorher in der Kneipe ausführlich über den Rassismus in Deutschland ereifert hatten. Doch viele Teilnehmerinnen auf dem Kongreß haben dazu eine andere Meinung.

Schwarze Frauen

Auf dem Kongreß waren nur relativ wenige schwarze Frauen vertreten und nur wenige definieren und organisieren sich als schwarze Frauen. Ihre alltägliche Diskriminierung zeigt sich schon in der Sprache: schwarzes Schaf, Schwarz­markt. Sie als schwarze Frauen werden am meisten ausgebeutet, haben den geringsten Zugang zu Bildung, Aus­bildung und Arbeit. Viele versuchen der Diskriminierung zu entgehen, in dem sie sog. Weißmachungsmittel vermitteln: spezielle Cremes um die Haut heller zu machen, oder Mittel, die das krause Haar glätten. Untersuchungen haben mitt­lerweile bewiesen, daß diese Weißmachungsmittel im höchsten Grad krebserre­gend sind.
Eine Informationskampagne über AIDS, nach der der AIDS-Virus aus Afrika kommt, hatte zur Folge, daß die schwarzen Prostituierten nicht mehr so stark frequentiert werden, weil sie als Überträgerinnen von AIDS stigmatisiert werden. In Uruguay war der erste AIDS-Fall, der bekannt wurde, eine schwarze Frau. Daraufhin führte die Gesundheitsbehörde eine starke Kontrolle bei den schwar­zen Prostituierten durch, sperrte sie ins Gefängnis, mißhandelte sie und läßt sie ihre Arbeit nicht mehr durchführen. Der Arbeitsmarkt für schwarze Frauen ist jedoch sehr eingeschränkt (55% von ihnen arbeiten als Hausmädchen) und eine schwarze Frau, die als Prostituierte gearbeitet hat, wird kaum mehr eine andere Arbeit finden.
Schwarzen Frauen hängt der Mythos nach, besonders “sexy” zu sein. “Aber das ist eine Interpretation des weißen Mannes. Sie sehen uns als exotische Sexualob­jekte, die sie zu ihrer Befriedigung nutzen können. Die schwarzen Männer be­nutzen uns auch, aber bei den weißen Männern kommt neben dem Sexismus noch der Rassismus hinzu.”

Lesbenphobie

Nur relativ wenige Lesben in Lateinamerika bekennen sich offen als Lesben, zu stark sind die Vorurteile der Gesellschaft, der Einfluß der katholischen Kirche und zu stark ist auch die Repression durch den Staat. In einigen Ländern gibt es spezielle Gesetze gegen Homosexualität, worin die Lesben einbezogen sind, an­derswo wird das Gesetz über Sodomie so ausgelegt, daß lesbische Liebe auch im privaten Rahmen unter Strafe steht. Auch das Gesetz der “Erregung öffentlichen Ärgernisses” wird benutzt, um Lesben festzunehemn, zu schlagen, zu demütigen und etliche Jahre ins Gefängnis zu werfen. Viele Lesben leben auch in der Angst, als Lesben erkannt zu werden und ihren Arbeitsplatz zu verlieren… Aber auch auf dem Feministinnen-Kongreß in San Bernardo mußten sie vielen Vorurteilen begegnen: Eine Frau aus Brasilien berichtet, daß ihre Tischnachbarin beim Mit­tagessen aufgestanden ist und sich woanders hinsetzte, als sie erwähnte, daß sie Lesbe sei. Es wurden anonyme Forderungen gestellt, die Lesben von Tanzveran­staltungen auszuschließen, sie wurden als Exhibitionistinnen beschimpft, die öf­fentlich ihre Zärtlichkeiten austauschen, und würden dem Ansehen des Femi­nismus schaden…
In ihren Veranstaltungen und in einer Pressekonferenz wandten sich die lebsbi­schen Frauen energisch gegen die Lesbenphobie, die ihnen massiv von vielen Feministinnen entgegenschlug. Sie forderten für das nächste Treffen mehr Raum für sich und ihre Themen und wollten die spezifische Lesbenproblematik, die Lesbenphobie und Zwangsheterosexualität in allen Workshops behandelt wis­sen. Sie verlangten, respektiert zu werden in ihrer Lebensphilosophie. Amparo aus Costa Rica bringt das Problem auf den Punkt: “Wir wollen dahin kommen, daß ich nicht erklären muß, warum ich Lesbe bin und du nicht erklären mußt, warum du heterosexuell bist, sondern daß wir Feministinnen sind, in einer Be­wegung, in der wir gemeinsam kämpfen. Wir Lesben sind solidarisch mit allen Feministinnen und kämpfen für die Legalisierung der Abtreibung, obwohl das für viele von uns kein Thema mehr ist, und für alle Problematiken der Frau. Wir wollen nun auch Solidarität von den Hetero-Feministinnen, daß sie nicht nur für ihre eigenen Forderungen, sondern auch für die Forderungen der Lesben kämp­fen.”

Abtreibung

Ein zentrales Thema bei diesem Treffen war wie immer die Abtreibung. Zu ei­nem der diversen Abtreibungs-Workshops hatte die argentinische Frauenorgani­sation “Nonnen für die Legalisierung der Abtreibung” eingeladen. In der Einfüh­rung begründeten sie ihre Position mit einem sehr einleuchtenden Argument aus der Bibel: Als Maria erfuhr, daß sie ein Kind bekommen sollte, ließ ihr der Verkündi­gungsengel einige Zeit zum Überlegen, ob sie die Schwangerschaft an­nehmen wollte oder nicht. Maria entschied sich schließlich dafür, das Kind zu bekommen. Die Atheistinnen in der Gruppe haben dazu eine andere Meinung, aber allen gemeinsam ist die Forderung nach Legalisierung der Abtreibung, die auf dem lateinamerikanischen Kontinent mit Ausnahme von Kuba in allen Län­dern verboten ist. Die einzelnen Länderbeispiele zeigten zwar Unterschiede in der Gesetzeslage (in einigen wenigen Ländern ist Abtreibung nach einer Vergewalti­gung oder aus gesundheitlichen Gründen erlaubt), überall gibt es je­doch eine erschreckend hohe Zahl der illegalen Abbrüche, die die Haupttodesur­sache bei Frauen im gebärfähigen Alter ist. In Nicaragua haben die Frauen mitt­lerweile zur Selbsthilfe gegriffen und kämpfen dafür, daß der von ihnen bereits praktizierte ambulante Abbruch legalisiert wird.

Konkrete Ergebnisse

Es gab viel Kritik an diesem fünften lateinamerikanischen FeministinnenKon­greß. Es gab kein gemeinsames Abschlußkommuniqué, doch es gab viele Vor­schläge aus einzelnen Workshops. Hier die wichtigsten davon: Um von der ewi­gen Jammerei wegzukommen, hin zu konkreten Aktionen, wurden zu diversen Themen kontinentweite Netze gegründet: Zum Beispiel zu Medien, physischer Gesundheit, zu Gewalt von Frauen… Der Straferlaß der argentinischen Regierung gegenüber der Verbrechen den Militärs wurde verur­teilt und die Ablehnung der Zahlung der Auslandsschulden bekräftigt. Außerdem wurde die Solidarität mit dem revolutionären Prozeß in Kuba betont.
Der Vorschlag der Vertreterinnen der spanischen Frauenorganisation Flora Tri­stan aus Madrid, die Feierlichkeiten zum 500.Jahrestag der “Entdeckung” Latein­amerikas zu einer großen Protestveranstaltung von Frauen aus Lateinamerika und Europa im Oktober 1992 in Sevilla zu nutzen, wurde mit großem Protest ab­gelehnt. Die Lateinamerikanerinnen fühlten sich von den Spanierinnen domi­niert. Sie wollten nicht feiern, sondern lieber selbst auf ihren eigenen Spuren der Geschichte nachgehen.
Das nächste Treffen wird 1992 in Mittelamerika stattfinden, in einem noch aus­zuwählenden Land. Den mittelamerikanischen Frauen bleibt es überlassen, wie des nächste Kongreß gestaltet werden soll: ein weiterer Mammutkongreß mit dann vielleicht 57.000 Frauen oder Delegiertenprinzip oder dezentrale themenbezogene Treffen.

“Diese Politik begünstigt nur die herrschenden Klassen”

Frage: Fujimori ist im Juni mit einem erdrutschartigen Sieg zum Präsidenten gewählt worden. Es war vor allem auch die einfache Bevölkerung, die ihn ge­wählt hat. Aber es fällt auch auf, daß er in den Gebieten unter Ausnahme­zustand, wo Sendero Luminoso aktiv ist, Ergebnisse weit über dem Landes­durchschnitt erzielen konnte. Wenn man noch die Unterstützung durch die im “informellen Sektor” tätige städtische Bevölkerung hinzunimmt, so entsteht der Eindruck, daß er ein Präsident des Volkes ist. Danach jedoch überraschten seine Wirtschaftsmaßnahmen, unter denen ja vor allem diejenigen zu leiden haben, die ihn wählten. Wie erklärst Du Dir diesen Widerspruch?

Walter Palacios: Alberto Fujimori wurde von einer so breiten Mehrheit gewählt, weil er zwei Sachen auszunutzen verstand: auf der einen Seite die Ablehnung gegenüber der Programmatik der rechten Frente Democrático (FREDEMO), die, von Mario Vargas Llosa angeführt, Wirtschaftsmaßnahmen verkündete, die für das Volk sehr hart gewesen wären. Auf der anderen Seite die weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Führung der IU. Aber das bedeutet nicht, daß Alberto Fujimori eine soziale Basis hat. “Cambio 90” ist keine Partei, das ist ein Name, den sich Fujimori ausgedacht hat, um seine Wahlkampagne zu führen. Nach den Wirtschaftsmaßnahmen und angesichts der Repression ist es absurd, wenn jemand meint, Fujimori habe seine Basis in der armen Bevölkerung. Seine Basis sind der IWF, die Großunternehmer und das Militär, das gegen die protes­tierende Bevölkerung vorgeht.

Frage: Wenn wir mal die Frage nach der Unterstützung durch die Bevölkerung beiseite lassen, so könnte man/frau vielleicht dennoch sagen, daß die Re­gierung von Fujimori zumindest eine Regierung von Fachleuten ist, die im Gegensatz zu vorherigen Regierungen wenigstens nicht versuchen, die Staatsein­nahmen zu unterschlagen oder irgendwelchen Fremden zuzu­schachern. Ist es nicht auch in den Augen der UDP ein Fortschritt, daß die Re­gierung tatsächlich versucht, Lösungen für die Probleme des Landes zu fin­den?

Dieser Begriff der “Fachleute” wird benutzt, um die öffentliche Meinung in die Irre zu führen. Der Premierminister Juan Carlos Hurtado Miller, der zugleich das Amt des Wirtschaftministers bekleidet, ist z.B. ein hochrangiger Vertreter von Acción Popular, einer der Parteien der FREDEMO, und er war schon unter Belaúnde Minister. Das zeigt klar, was von diesen angeblichen Fachleuten zu halten ist. Andere Beispiele sind Minister wie Sánchez Salavera, ein Fürhrer der Partido Socialista Revolucionaria von der Izquierda Socialista (IS) oder Gloria Helfer, die einen wichtigen Posten in MAS, einer der Parteien der IU bekleidete. Die Regierung Fujimori wird von Politikern gebildet. Ganz abgesehen davon meinen wir von der UDP, daß das Entscheidende nicht ist, wer die Regierung bildet, sondern welche Maßnahmen diese Regierung trifft. Wichtig ist, ob die Maßnahmen dieser Regierung dem Land und der Bevölkerungsmehrheit helfen oder nicht. Und unserer Meinung nach bringen die vom IWF diktierten Wirtschaftmaßnahmen dem Volk seit dem achten August nichts weiter als Unglück und Elend.

Frage: Aber glaubst Du nicht, daß gerade diese Wirtschaftsmaßnahmen Aus­druck einer realistischen Politik sind, die sich an der tatsächlichen internatio­nalen und nationalen Situation orientiert und nicht an irgendwelchen Wunschvorstellungen? Ist es nicht sinnvoll, mit dem IWF und den US-ameri­kanischen Banken auch über die Auslandsschuld zu reden?

Diese Politik ist schon realistisch, aber nur im Sinne der Großunternehmen und der herrschenden Klassen. Es ist keine realistische Politik, wenn man vorhat, die Probleme des Landes und das Elend der Bevölkerung zu lindern. Es heißt, es gäbe keinen anderen Ausweg, als sich wieder in die internationale Finanzwelt zu integrieren und mit dem IWF zu verhandeln. Wir denken, daß man damit die Unabhängigkeit Perus aufgibt. Wenn man die Wirtschaftskraft Perus betrachtet, weiß man, daß die Auslandsschuld nicht bezahlt werden kann. Wenn jetzt irgend­jemand trotzdem versucht, sie zu zahlen, indem er die Löhne senkt und die indirekten Steuern erhöht, um den Staatshaushalt zu sanieren, dann ist das auch auf lange Sicht keine Politik, die dem Volke nützt, da diese Politik die Rezes­sion verstärkt. Diese Politik begünstigt nur die herrschenden Klassen, deren Interessenvertreter eben jene vermeintlichen Fachleute sind.

Frage: Ist es nicht vorstellbar, daß das jetzt zwar eine harte Phase für das Volk, für die Armen, ist, daß sich aber langfristig die wirtschaftliche Situation bes­sert, und dann auch die Armen von der Verbesserung profitieren?

Unserer Meinung nach gibt es keine Lösung für die Probleme des Landes inner­halb dieses Systems des abhängigen Kapitalismus. Es kann zwar vorübergehende Erfolge für diese Regierungen geben, wie z.B. die Inflation zu senken, aber das geschieht immer mit enormen sozialen Kosten. Und die Schwächsten der Gesell­schaft – die Kinder, die Frauen und die Allerärmsten – sind diejenigen, die es am härtesten trifft. Die Erfolge dieser Maßnahmen werden dem Volk also überhaupt nichts nützen. Das gilt nicht nur in Peru sondern in ganz Lateinamerika. Diese Maßnahmen verschärfen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und führen zu sozialen Explosionen.

Frage: Manchmal hat es den Anschein, daß die Opposition – und nicht nur die IU, sondern auch andere Parteien – eigentlich keine Alternativen zu der herr­schenden Politik entwickeln können. Stimmte das Volk nicht auch deshalb für Fujimori, weil die IU offensichtlich nicht wußte, wie sie das Land regieren sollte?

Die Opposition gegen Fujimori und auch gegen die vorherigen Regierungen war und ist vielfältig. Es gibt die legale Linke im Parlament, es gibt die konkreten und täglichen Kämpfe der Bevölkerung, die in Gewerkschaften und anderen Zusam­menschlüssen organisiert ist. Und es gibt eine bewaffnete Opposition. Unserer Meinung nach hat die legale, parlamentarische Linke es bisher leider nicht geschafft, eine konsequente Opposition zu entwickeln und gleichzeitig mögliche Alternativen vorzuschlagen. Das ist ein Ergebnis der Desorientierung und der Krise von Sektoren der parlamentarischen Linken der IU. Das ist auch ein Ergeb­nis davon, daß Teile dieser Linken Alberto Fujimori nicht nur im Wahlkampf geholfen haben, sondern ihn auch heute noch unterstützen. Mitglieder von Par­teien der Linken haben wichtige Posten in der Regierung Fujimoris, und das zeigt, daß die parlamentarische Linke die Wirtschaftsmaßnahmen Fujimoris nicht konsequent ablehnt und auch keine gangbare Alternative präsentieren kann.

Frage: Du siehst in der IU keinerlei Ansatz für eine solche Opposition?

Die parlamentarische Linke arbeitet nicht in der Form, in der sie arbeiten müßte. Wo sich etwas entwickelt, das ist in den direkten Aktionen der Massen.

Frage: Es sieht so aus, als hätte die IU jeglichen Anstand verloren. So schloß sie sich zum Generalstreik gegen das Schockprogramm Fujimoris mit der APRA zusammen. Wie kann die IU nach fünf Jahren Opposition gegen die APRA eine solche Oppositionskoalition mit dieser machen – einen Monat, nachdem die APRA die Regierung verlassen hat?

Ich glaube, man muß hier zwei Sachen differnzieren. Zum einen ist die IU ein Zusammenschluß verschiedener politischer Parteien, die zu bestimmten Proble­men auch unterschiedliche Meinungen haben. Und zum anderen muß man bei der IU auch zwischen Basis und nationaler Leitung unterscheiden. Es gab immer Sektoren in der IU, die den Kontakt zur APRA suchten und das nicht erst, seit­dem Fujimori an der Macht ist. Andere Sektoren der IU und vor allem die Basis waren immer dagegen und wollten eine unabhängige und in der Volksbewegung verwurzelte Position entwickeln. Und man muß auch sehen, daß die APRA nach ihrem Scheitern als Regierungspartei eine völlig opportunistische Politik macht, während die IU tatsächlich Repräsentanten hat, die die Kämpfe des Volkes unter­stützen.

Frage: Es ist auch hier in der BRD davon gesprochen worden. daß die MRTA (Movimiento Revolucionario Tupac Amaru – neben Sendero Luminoso derzeit die zweite wichtige Guerilla in Peru) mit der Regierung Fujimoris – nicht mit Fujiomori persönlich – verhandeln will. Weißt Du etwas darüber?
In der Presse konnte man lesen, daß die MRTA meint, der Dialog könne eine Waffe sein, um die Unehrlichkeit der Herrschenden offenzulegen. Sowohl Alan García als auch Fujimori haben vor Amtsantritt gesagt, sie wären zu einem Dia­log mit den bewaffneten Gruppen bereit. Die MRTA hat diese Vorschläge aufge­griffen, worauf dann sowohl Alan García als auch Fujimori abgewinkt haben. Diese Dialogvorschläge sind also ein Mittel der herrschenden Klassen, um die Unterstützung des Volkes zu gewinnen.

Die Dialogvorschläge sind ein Mittel der herrschenden Klassen

Denn das Volk will keine irrationale ungebremste Gewalt. Es will kein Blutbad, auch wenn es bereit ist zu kämpfen. Nach den kriminellen Wirtschaftsmaßnah­men Fujimoris hat die MRTA über verschiedene Zeitungen mitteilen lassen, daß es weder mit Fujimori noch mit seiner Regierung einen Dialog geben kann.

Frage: Die überdurchschnittlichen Wahlergebnisse für Fujimori in den Gebieten unter Ausnahmezustand zeigen, daß die Bevölkerung mit Fujimori eine Humanisierung der Streitkräfte erwartete, denn von Vargas LLosa und der FREDEMO erwarteten alle eine Verschärfung des schmutzigen Krieges. Was kann man nach den ersten Monaten der Präsidentschaft Fujimoris sagen? Hat sich diese Hoffnung erfüllt? Fangen die Streitkräfte und die Polizei lang­sam an, die Menschenrechte zu beachten?

Nein, diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die Repression wird im Gegenteil immer härter, denn diese Politik ist nicht von einer Regierung oder einer Person gemacht worden, sondern von den herrschenden Klassen und dem nordamerika­nischen Imperialismus. In einem krisengeschüttelten Land hat das Volk das Recht zu rebellieren und zu kämpfen. Das geschieht in Peru. Genauso wie sich Fujimori ökonomisch auf die großen Monopole, auf den IWF und die internatio­nalen Banken stützt, so stützt er sich intern, um die “Ordnung” aufrecht zu hal­ten, auf die peruanischen Streitkräfte, vor allem auf das Heer. So wird ein aktiver General des Heeres Innenminister und damit zum Chef der Polizei und das, ob­wohl das Innenministerium traditionell mit einem Zivilisten oder einem ranghohen Polizisten im Ruhestand besetzt wurde. Auch der Verteidigungsminis­ter ist ein aktiver General. Klarer kann man die Beziehung zwischen Fujimori und der Armee nicht ausdrücken. Das Heer hat die Hände frei für den schmutzigen Krieg und die Repression.

Frage: Angesichts dieser Situation: Was sind die Alternativen, die Deine Organisa­tion, die UDP, vorschlägt?

Das Land befindet sich in einer strukturellen Krise, deswegen können die Proble­me nur durch tiefgreifende revolutionäre Veränderungen gelöst werden. Trotz­dem meinen wir, daß wir auch Forderungen aufstellen müssen, die schon inner­halb dieses liberalen kapitalistischen Systems erfüllt werden können. Es gibt einen Forderungskatalog, den nicht nur die UDP, sondern auch andere linke Kräfte wie die Nationale Volksversammlung und die Verteidigungsfronten unter­stützen: eine unabhängige Wirtschaftspolitik, die nicht den Diktaten des IWF, der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank folgt; keine inflationäre und rezessive Wirtschaftspolitik, die den Produktionsapparat des Landes gefährdet, sondern im Gegenteil Reaktivierung des Produktionsapparates durch Erhalt der Kaufkraft der Bevölkerungsmehrheit; eine gerechte Steuerpoli­tik, die hohe Steuersätze für die großen Unternehmen und reiche Privatpersonen vorsieht und die indirekten Steuern, die das ganze Volk zahlt, beseitigt; keine Steuervergünstigungen für die großen ausländischen Firmen, vor allem nicht für die Erdöl- und Bergbauunter­nehmen, die unsere Bodenschätze ausbeuten; besondere Vergünstigungen für die Landwirtschaft, um durch höhere Erträge die Versorgung mit Lebensmitteln zu verbessern; Verurteilung aller, die sich in illegitimer Weise auf Staatskosten be­reichert haben, Ende des schmutzigen Krieges und Demilitarisierung des Landes; Rücktritt der Generäle von Innen- und Verteidigungsministerium und von anderen öffentlichen Ämtern; Strafe für diejenigen, die Kriegsverbrechen begangen haben und schließlich eine Politik, in der soziale Gerechtigkeit und Frieden gleichzeitig angestrebt werden. Jede Regierung, die die Leiden des Volkes wirklich mindern will, kann diese Vorschläge aufgreifen, die die Nationale Volksversammlung, die UDP und andere Organisationen gemacht haben.

Kasten:

Als Mitbegründer und Mitglied des Zentralkomitees des MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria – “linksrevolutionäre Bewegung”) beteiligte sich Walter Palacios an der Guerilla von 1965. Von 1988 bis 1989 war er Chefredakteur der Wochenzeitung “Cambio”. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Unidad Democrática Popular (UDP), einer linken Partei außerhalb der Izquierda Unida (vereinigte Linke).

Fujimori: Der Mythos zerplatzt

6.000 Verhaftungen und mindestens 15 Tote weist die Bilanz der ersten Woche nach dem 8.August aus. Schon vor der Verkündung des Wirtschaftsprogramms war das Land in Ungewißheit über die zu erwartenden Reissteigerungen praktisch stillgelegt. HändlerInnen hielten die Waren zurück, oder verkauften nur zu astronomisch hohen Schwarzmarktpreisen, während die Polizei dafür eingesetzt wurde, gehortete Waren demonstrativ zum offiziellen Preis zwangszuverkaufen. Kaum war das Ausmaß der von Fujimori geplanten Anpassungsmaßahmen bekannt, entlud sich die Entrüstung der Bevölkerung in Demonstrationen und Plünderungen. Einen Tag vor der Vorstellung des Programms hatte der Präsident gerade noch rechtzeitig den Ausnahmezustand für Lima und neun weitere Departements verlängert, so daß Militär und Polizei nahezu ungehindert von gesetzlichen Beschränkungen einschreiten konnten.
Die Radikalität der Maßnahmen Fujimoris dürfte vor allem das Ergebnis seiner vor kurzem in Japan und den USA geführten Gespräche sowohl mit Regierungsstellen als auch mit Vertretern von IWF und Weltbank sein. Um die Kredit-ürdigkeit Perus wiederherzustellen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich nach den aus Washington gestellten Bedingungen zu richten. Die völlige Ausplünderung der Devisenreserven mangels anderer Geldquellen und die tiefste wirtschaftliche Krise der neueren peruanischen Geschichte lassen ihm da keine andere Möglichkeit. Obwohl er die Wahl gegen Mario Vargas Llosa gerade wegen seiner Ablehnung eines Schockprogramms zur “Gesundung” der Wirtschaft gewonnen hatte, hält sich Fujimori an die von den Washingtoner Institutionen etablierten Spielregeln: Der Wechselkurs des Inti wurde freigegeben. Ab sofort soll das freie Spiel der Marktkräfte den Wert des Inti gegenüber dem Dollar regulieren. Die Beschränkungen auf Importe wurden weitgehend aufgehoben. Grundsätzlich gilt wie 1985 in Bolivien, 1989 in Brasilien, und in so vielen anderen Ländern der Peripherie, daß freie importe die nationalen Produzenten der internationalen Konkurrenz aussetzen und somit effektivieren sollen. Es sei denn, die nationale Produktion stirbt vorher eines schnellen Todes. Die Erfahrungen mit der Durchführung von Strukturanpassungsprogrammen in vielen Ländern zeigen, daß die Gefahr einer Rezession bis hin zur Existenzbedrohung der nationalen Produktion außerordentlich groß ist. Genauso oft ist dies heraus-gestellt und kritisiert worden, aber nichtsdestotrotz wird das universal gültige IWF-Sanierungsrezept bisher nicht modifiziert.
Der für die Menschen in Peru am unmittelbarsten spürbare Teil des Maßnahmenkataloges besteht in den Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel und Benzin. Für Zucker, Milch, Brot und Nudeln stiegen die Preise zwischen 200 und 300%. Am schwersten wiegt die Benzinpreissteigerung um das Dreißigfache(!). Jede Verteuerung des Benzins bedeutet höhere Transportkosten und schlägt somit wiederum auf fast alle anderen Preise durch. Zur sozialen Abfederung erhöhte Fujimori den Mindestlohn auf umgerechnet 50 US$.Fast gleichzeitig wurde der Warenkorb des Mindestnotwendigen amtlich mit 270 US$ im Monat angegeben: Die Kapitulation vor der Armut, statistisch fixiert.

Der Präsident auf der Suche nach Verbündeten

Fujimori wurde gewählt, weil er den Ausweg aus der Wirtschaftskrise ohne Schockprogramm versprach. Nun führt er genau dieses durch und muß sich um politische Unterstützung bemühen. Entgegen verbreiteter Spekulationen und Unterstellungen im Wahlkampf hat Fujirnori die APRA konsequent von den wichtigen Positionen seiner Regierung ferngehalten. Die APRA ihrerseits erregt sich über den Wahlbetrug und darüber, daß sich das Wirtschaftsprogramm kaum von den Vorschlägen Vargas Llosas unterscheidet. Dies kann allerdings kaum darüber hinwegtäuschen, daß die Ex-Regierungspartei zunächst einmal mit ihrer eigenen Krise beschäftigt ist und außerdem wohl eine Einladung zum Mitregieren nicht ausgeschlagen hätte. Der verschmähte Bräutigam ist beleidigt.
Programmatisch steht Fujimori inzwischen Vargas Llosas Vorschlägen am nächsten, ohne jedoch auf die Unterstützung der Rechten bauen zu können, nachdem er ihr in der Wahl gerade erst den sicher geglaubten Sieg abgenommen hat. Vargas Llosa hat sich nach Europa zurückgezogen. Sein “Movimiento Libertad”, in-zwischen in “Liberale Partei” umbenannt, soll nach dem Verständnis der Parteiführer um Alvaro Vargas Llosa und Enrique Ghersi die reine Lehre der totalen Marktwirtschaft in Opposition zur Regierung weitertragen. Ihr Diskurs beruft sich auf Modernität und Effektivität. Die traditionellen Konservativen sind für sie die eigentlichen Schuldigen an der Wahlniederlage, da sie zu sehr der “alten” Klientelwirtschaft und Korruption verhaftet seien. Stattdessen soll wiederum Vargas Llosa diese neue Rechte 1995 in den Wahlkampf führen. Trotz der inhaltlichen Nähe zu Fujimori können sie ihn von rechts durch einen zumindest verbal noch radikaleren marktwirtschaftlichen Diskurs attackieren, ohne für die Folgen der Anpassungsmaßnahmen jetzt politisch verantwortlich zu sein. Nur müßten sie es schaffen, bei einem Scheitern Fujimoris das Volk für ein, gegenwärtig nicht gerade populäres, noch radikaleres marktwirtschaftliches “Rettungsprojekt” zu gewinnen.

Das Kabinett: Alle dürfen mal

Abgesehen von der eindeutigen Ablehnung der Ex-Regierungspartei und der (zumindest bisherigen) Opposition der Neuen Rechten zeigt Fujimoris Kabinettsliste eine eklektische Mischung von Inhalten und Personen:
Starker Mann im Kabinett ist Juan Carlos Hurtado Miller, in Personalunion Ministerpräsident und Wirtschaftsminister. Er kommt aus der Acción Popular(AP) des konservativen Ex-Präsidenten Belaunde, eine der im Wahlkampf zum Rechtsbündnis FREDEMO zusammengeschlossenen Parteien zur Unterstützung der Kandidatur Mario Vargas Llosas. Hurtado hätte die AP wohl gerne in eine Koalition mit Fujimoris “Cambio 90 geführt. Trotz des Bruchs der FREDEMO konnte er die AP aber nicht dazu bewegen, und so mußte er aus der Partei aus-treten, um das Regierungsamt antreten zu können. ihm blieb die undankbare Aufgabe überlassen, für den Wirtschaftsplan der ersten Tage zusammen mit Fujimori verantwortlich zu zeichnen.
Drei Ministerien gingen an linke PolitikerInnen : Fernando Sanchez Albaneyra als Minister für Energiewirtschaft und Carlos Amat y León für Landwirtschaft kommen von der “Izquierda Socialista”(IS), Erziehungsministerin Gloria Helfer von der “Izquierda Unida”(IU) . Die politische Linie der beiden zerstrittenen Bruchstücke der einstmals starken IU ist noch nicht auszumachen. Einerseits befinden sich die drei MinisterInnen im Kabinett, andererseits stehen die Parteiführungen, ganz zu schweigen von der Basis, in klarer Opposition gegen die Schockpolitik.

Machtgrundlage Militär: Priorität für dasautoritäre Modell

Zwei wichtige Positionen werden von Militärs besetzt: Innenminister wurde General Adolfo Alvarado, ein aktiver Offizier, während das Verteidigungsministerium von einem General im Ruhestand, Jorge Torres Aciego, übernommen wurde. Torres war Berater des reformistischen Militärregimes Velasco Alvarado gewesen. Neben der Suche nach einer Mehrheit in Abgeordnetenhaus und Senat baut Fujimori offensichtlich auf die Streitkräfte als Machtbasis. Direkt nach Amtsantritt nahm er Umbesetzungen an der Spitze des Militärs vor. Marineoberbefehlshaber Admiral Alfonso Panizo mußte gehen, ebenso wie Luftwaffengeneral Germán Vucetich. Solidantätsadressen an die abgesetzten Offiziere zeigen, daß die Entscheidungen im Militär nicht unumstritten sind. Die argentinische “Página12 berichtet sogar von offener Rebellion in der Marine gegen die Degradierungen. Aber Fujimori hat sich in der ersten Machtprobe durchgesetzt. Dazu der FREDEMO-Senator Raúl Ferrero: “Fujimori scheint ein autoritäres Herrschaftsmodell mit der Unterstützung der Streitkräfte anzustreben.” Zunächst einmal hat Fujimori seine Kandidaten in Führungspositionen untergebracht, aber eine weitere Machtprobe steht ihm bevor. Spätestens im November stehen die Beförderungen bei den Streitkräften an, die vom Senat ratifiziert werden müssen. Es ist denkbar, daß die unter Fujimori Zukurzgekommenen versuchen werden, direkt mit den großen Fraktionen im Senat zu verhandeln. Fujimori selbst verfügt dort nur über 23% der Stimmen -nicht genug, um sich ohne politischen Partner bei den Streitkräften den Rücken freizuhalten. Womit er wiederum vor dem Problem der Partnersuche steht …
Während Fujimori am Heranziehen zusätzlicher Stützen seiner Macht arbeitet, bröckeln schon die Pfeiler, auf die er sich verlassen zu können glaubte. Wichtige Mitarbeiter seiner eigenen Partei kündigten ihm bereits die Mitarbeit auf. Darunter ist Santiago Roca, der als Wirtschaftsberater Fujimoris im Wahlkampf gegen die Schockstrategie Vargas Llosas ein Konzept der graduellen Anpassung setzte und vom Sinneswandel Fujimoris genauso kalt erwischt wurde wie die Öffentlichkeit.

Zunehmende Militarisierung der Auseinandersetzungen

Der Verlauf des ersten Monats nach der Verkündung des Wirtschaftsprogramms bestätigt die Befürchtungen über die zunehmende Militarisierung der politischen Auseinandersetzung. Für den 16. August riefen die beiden großen Gewerkschaftsdachverbände, die kommunistische CGTP (Confederacion General de Trabajadores del Perú) und die apristische CTP (Confederacion de los Trabajadores del Perú) zu einem nationalen Protesttag auf. Versuchte Demonstrationen wurden von Polizei und Militär aufgelöst. Von Gewerkschaftsseite wurde von 30 Verletzten und über 200 Verhafteten gesprochen. Eine Streikwelle angefangen von den Bankangestellten bis zu den Sozialversicherungen legt immer wieder Teile des Landes lahm. Für den 21/22. erklärte die CGTP den Generalstreik, ebenso wie die CTP für den 24.August. Die Berichte über dessen Verlauf sind scheint weitgehend befolgt worden zu sein.
Ebenfalls für den 2l.und 22.August rief Sendero Luminoso zu einem “Paro Armado”, einem bewaffneten Streik, auf. Sowohl Sendero als auch MRTA haben seit Anfang August wieder durch ganze Serien von Anschlägen auf sich aufmerksam gemacht. So plazierte Sendero z.B. eine Autobombe direkt hinter dem Präsidentenpalast. Die Meldungen von Juli über die tiefe Krise Senderos scheinen etwas verfrüht gewesen zu sein. Trotzdem war der 21.August offenbar kein voller Erfolg für die Senderistas. Der Streik verlief -unter dem Druck der Repression-relativ ruhig.

Allein gegen fast alle

Die Frage für Fujimori ist, ob er das Strukturanpassungsprogramm gegen die entschiedene Opposition der meisten politischen Kräfte, ohne Mehrheit im Parlament, diskreditiert in der öffentlichen Meinung und gestützt fast nur auf bestimmte Kreise der Streitkräfte und einige Abgeordnete durchsetzen kann. In Bolivien 1985 waren die Maßnahmen kaum weniger einschneidend, aber die Volksbewegung befand sich in einer tiefen Krise, und in der Bevölkerung gab es eine ausgeprägte “Da müssen wir durch” -Stimmung. Die Proteste der Opfer -der Bevölkerung der Minengebiete z.B. -wurden in der öffentlichen Meinung schlicht nicht zur Kenntnis genommen, noch weniger auf politischer Ebene. Zwar ist inzwischen eine leichte Stabilisierung zu beobachten, einige Preise wurden wieder etwas herabgesetzt, weil die Nachfrage fast auf Null gesunken war. Trotzdem wird in Peru eine höhere Opferbereitschaft der Bevölkerung für den wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung nicht so leicht zu erreichen sein. Ohne ein Konzept zur Beendigung des Krieges wird kein peruanischer Präsident eine breite Unterstützung im Volk bekommen. In den “Sectores Populares”, der Masse der Bevölkerung, sind Sympathien für Sendero nur sehr begrenzt vorhanden. Eine Zusammenarbeit mit den Organisationen der Volksbewegung, ohne die Sendero nicht zu bekämpfen ist, ist aber unter den Prämissen von wirtschaftlichem Schockprogramm und Militarisierung der politischen Auseinandersetzung nicht vorstellbar. So scheint Fujimori schließlich auf dem Weg in die gleiche Sackgasse wie seine Vorgänger zu sein. Er wählt Repression und erklärt damit nicht nur Sendero, sondern auch gleich Gewerkschaften und Volksorganisationen zu seinen Gegnern. Bis jetzt ist er konsequent in der Anwendung seiner Mittel: für die Woche vor dem 18.9. werden allein aus Lima 25.000 vorläufige Verhaftungen gemeldet. 4.000 der Betroffenen wurden bis jetzt nicht wieder frei-gelassen. Als Legitimation dient der “Kampf gegen die Subversion”.
Wie sagte Herr Alberto Fupmori so schön, als er sich zum ersten mal nach Amts-antritt wieder in der Öffentlichkeit zeigte: “Alles, was heute scheinbar nicht vorteilhaft für das Volk ist, ist es im Grunde genommen doch.” Na also!

Integrationsfieber

“Die große ökonomische Lehre diese Jahrhunderts ist, daß der Protektionismus den Fortschritt verhindert und daß der freie Markt Wachstum und Entwicklung gewährleistet”, meinte George Bush, Präsident des Landes, welches laut einer OECD*-Studie die meisten und höchsten Handelsbarrieren in der Welt aufweist. Doch dieser neoliberale Exkurs war nur die Einleitung seiner “historischen” Rede am 27. Juni, mit der er eine “neue” Politik der USA gegenüber Lateinamerika ankündigte.
Eine gesamt-amerikanische Freihandelszone schlug er seinen NachbarInnen vor, damit “Amerika der erste völlig freie und demokratische Kontinent wird”. Drei Standbeine hat diese “Bush-Initiative”: 1) Reduzierung eines Teiles der lateiname­rikanischen Schulden bei der US-Regierung 2) Schaffung eines “Entwicklungs­fonds” zur Förderung der Auslands-Investitionen in Lateiname­rika und 3) völlige Liberalisierung des Handels in der Region, also Abbau aller Zölle und Handels­schranken (Freihandelszone). So weit, so einfach. Interessant wird es bei den Zahlen: Die US-Regierungsforderungen gegenüber Lateiname­rika betragen 12 Mrd. US-Dollar. Das sind 2,4 % der Gesamtschuld Lateinameri­kas, die nach neuesten Zahlen 437 Mrd. US-Dollar beträgt. Und davon sollen 7 Mrd. erlassen werden… Der “Entwicklungstopf” für Lateinamerika soll sage und schreibe 300 Millionen US-Dollar für die ersten fünf Jahre zur Verfügung haben, wobei sich die USA, Japan und die EG in gleichem Maße beteiligen sollen, so zumindest Bush’s Idee. Zum Vergleich: Die zur Investitionsförderung und für Strukturmaß­nahmen geschaffene Entwicklungsbank für Osteuropa hat ein Volumen von 12 Mrd. US-Dollar für fünf Jahre. Allein im Jahr 1989 hat Latein­amerika 25 Mrd. US-Dollar durch Zinszahlungen ins Ausland transferiert, daß sind 84 mal mehr als der vorgesehene Betrag für den Lateinamerika-Topf. Dar­überhinaus betonte der US-Regierungschef, daß natürlich nur die Länder in den “Genuß” der Freihan­delszone kommen könnten, die sich vorher einer Liberalisie­rungskur mit Unter­stützung des IWF unterziehen.
Dennoch ist der Optimismus der Regierungen Lateinamerikas bei ihren Reaktio­nen auf den Bush-Plan kaum zu bremsen: “Ein guter Schritt vorwärts”, kommen­tierte der argentinische Präsident Menem. “Der Plan ist geeignet, die Entwick­lung und die Lösung der Probleme Lateinamerikas ein gutes Stück voranzubrin­gen”, sagte ein Sprecher der UNO-Wirtschaftsorganisation für Lateinamerika CEPAL und Chiles Finanzminister meint gar: “Lateinamerika kann mit Optimis­mus in die Zukunft sehen”.

Schwindende Hegemonialmacht bekommt Torschlußpanik

Der eigentliche Grund für diesen US-Vorschlag dürfte weniger im Interesse an einer Entwicklung des Subkontinents als vielmehr an den Problemen im eigenen Landes liegen. Das chronische Außenhandelsdefizit der USA braucht eine Lö­sung, soll die Wirtschaft nicht noch weiter den Bach runter gehen. Für die Löcher in der Handelsbilanz werden natürlich Absatzmärkte gesucht. Die USA sind für Lateinamerika immer noch der wichtigste Handelspartner. 1989 gingen 52% der lateinamerikanischen Exporte in die Vereinigten Staaten, während 59% der Importe Lateinamerikas aus den USA kamen. Dennoch ist die US-Handelsbilanz mit Lateinamerika extrem negativ: in den letzten fünf Jahren hat sich ein Saldo von 48 Mrd. US-Dollar angesammelt. Es geht den USA also offensichtlich nicht darum mehr zu kaufen, sondern mehr zu verkaufen. “Neue Märkte für US-Pro­dukte und mehr Arbeit für nordamerikanische Arbeiter” verspricht der Präsident dann auch unverhüllt seinen Landleuten. Gleichzeitig könnte es dem Weißen Haus darum gehen, durch eine gezielte Intervention die lateinamerikanischen Integrationsbemühungen zu unterminieren und zu vereinnahmen, zielt der Plan doch hauptsächlich auf Länder, die sich zum einen bereits einer weitgehenden Liberalisierung unterzogen haben und zum anderen eine regionale Integration anstreben.
Die USA geraten darüberhinaus angesichts der sich anbahnenden wirtschaftli­chen Machtkonzentrationen in Europa und Asien in Zugzwang , wollen sie ihre Hegemonie in der Welt nicht gänzlich verlieren. Eine Rückbesinnung auf den traditionellen “Hinterhof” und eine noch stärkere wirtschaftliche Dominierung des Kontinents könnten dieses “Defizit” ausgleichen. So ist es nicht verwunder­lich, daß Bush diese Initiative wenige Tage vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston (G7) aus dem Hut zauberte. Stärke zeigen! Doch die dort Anwesenden waren zwar nicht angetan von Bushs Plan, lamentierten allerdings weniger über eine ökonomisch gewendete Monroe-Doktrin, als daß sie vielmehr sofort ihre Chancen, in Amerika einen größeren Absatzmarkt zu finden, kalkulierten.

“Die Zukunft Lateinamerikas liegt im freien Markt…”

In Lateinamerika findet Bush mit seiner Initiative einen guten Nährboden vor. Die Länder stehen wirtschaftlich fast alle mit dem Rücken zur Wand. Nicht, daß sie, wie noch in den 70er Jahren durch Militärdiktaturen zur neolibearlen Anpas­sung á la IWF gezwungen werden müßten: Heute führen die demokratisch ge­wählten Präsidenten genau dieselbe Wirtschaftspolitik durch wie ihre Vorgänger in Uniform. Die Wirtschaftspläne von Collar, Menem Fujimori und wie sie alle heißen gleichen sich dabei fast aufs Haar. “Es ist eine neue Art von Führung ent­standen, die sich auf das Mandat des Volkes berufen kann und versteht, daß die Zukunft Lateinamerikas in der freien Regierung und im freien Markt liegt”, zollt Bush dieser Entwicklung Beifall.
Was dieser “freie Markt” für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet, wird am tagtäglich wachsenden Elend in der Region deutlich. Mehr als ein Drittel der städtischen und fast zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung des Kontinents le­ben unterhalb der Armutsgrenze. Die Verelendung in Lateinamerika hat gerade in den 80er Jahren, in denen in fast allen Ländern die neoliberale Politik trium­phierte erschreckende Ausmaße angenommen und zeigt sich in allen Bereichen des sozialen Lebens. Doch diese Bevölkerungsmehrheit wird natürlich nicht ge­fragt, wenn von “Wachstum und Entwicklung dank des freien Marktes” gespro­chen wird.
Nach den ersten euphorischen Reaktionen aus Lateinamerika wurde der Bush-Plan nun erst einmal zur weiteren Begutachtung an verschiedene Ausschüsse und Organisationen übergeben, die den genauen Inhalt prüfen sollen. SELA (Sístema Económico Latinoamericano, lateinamerikanisches Wirtschaftssystem) legte Anfang September einen ersten Zwischenbericht vor, in dem zwar der Wandel in der US-Politik gegenüber Lateinamerika von der militärischen zur ökonomischen Motivation begrüßt, der Plan an sich allerdings eher skeptisch betrachtet und kritisiert wird. Der Versuch der USA, einen neuen Block zu bil­den, stelle einen “Handel zwischen sehr ungleichen Partnern dar” und könne leicht in ein Instrument zum einseitigen Nutzen der USA umgewandelt werden. Dennoch sehen die Wirtschaftsexperten in dem Plan eine Möglichkeit, IWF und andere Gläubigerinstitutionen zu beeinflussen und zu einer Reduzierung der Auslandsschulden zu bewegen.

…und die Vergangenheit auch

Anders urteilte die lateinamerikanische Linke auf ihrem Anfang Juli in Sao Paulo abgehaltenen Kongress: “Der Bush-Plan zielt darauf ab, unsere nationalen Öko­nomien für den unlauteren und ungleichen Wettbewerb mit dem ökonomischen Hegemonieapparat komplett zu öffnen, uns ihrer Hegemonie völlig zu unterwer­fen und unsere produktiven Strukturen zu zerstören, indem er uns in eine Frei­handelszone integriert, organisiert und bestimmt von den nordamerikanischen Interessen.” So wahr wie einfach, aber aus dem Dilemma der wirtschaftlichen Krise hilft ein solches Anprangern des US-Imperialismus auch nicht heraus.
Kubas Staatschef Fidel Castro setzt noch einen drauf: Eine gemeinsame Verteidi­gungsfront gegen diesen imperialistischen Angriff der USA solle gebildet wer­den, um eine noch größere Penetration durch die nordamerikanischen Multis zu verhindern.
Die ist allerdings auch ohne Freihandel schon viel zu groß: 7 Mrd. US-Dollar Reingewinn zogen die US-amerikanischen Multis allein 1989 aus dem strangu­lierten Kontinent. Das Lamentieren darüber, daß der Plan lediglich dazu dient, die lateinamerikanischen Märkte für ein besseres Vordringen der US-Industrie zu öffnen, hilft ebenfalls wenig weiter, denn die Märkte der meißten Länder sind be­reits in den letzten Jahren auch ohne die Freihandelszone durch den Druck des IWF sperangelweit aufgerissen worden. Klar ist allerdings, daß die nationalen lateinamerikanischen Industrien in der Konkurrenz mit den US-Produkten in den wenigsten Fällen eine Chance haben. Die USA versuchen eher Lateinamerika weiterhin auf die Rolle des billigen Rohstofflieferanten für die eigene Industrie und als Absatzmarkt für ihre Produkte festzuschreiben. “In den letzten zehn Jah­ren haben die USA einen Großteil ihrer traditionellen Märkte verloren”, gesteht dann auch der US-Finanzsekretär David Mulford freimütig ein.

Menem und Collor heben ab

Zehn Tage nach der Offensive des US-Präsidenten warteten der argentinische Präsident Carlos Menem und sein brasilianischer Amtskollege Collor de Mello mit einem etwas kleiner dimensionierten Plan auf: Schaffung eines gemeinsamen argentinisch-brasilianischen Marktes zum 1.1.1995 “In dieser Zeit der Krisen ist es gut, daß wir große Dinge tun können”, kommentierte Menem schlicht und ergrei­fend. Großes haben die beiden Regierungen vor, wollen sie bis Anfang 1995 alle Voraussetzungen für die Einführung eines gemeinsamen Marktes nach dem Vorbild der EG geschaffen haben.
Die Idee fußt auf den Integrationsprotokollen der vorhergehenden Präsidenten Alfonsín und Sarney, die 1986 einen ökonomischen Integrationspakt unterzeich­neten, der die Grundlage für die spätere Einführung eines gemeinsamen Marktes bilden sollte. Im Januar 1987 wurden dann 20 Integrationsprotokolle unterzeich­net, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit für einzelne Sektoren regelten. Im April des darauffolgenden Jahres legten sie den Termin für einen gemeinsamen Markt auf das Jahr 2000 fest. Mit der wirtschaftlichen Integration der beiden Ländern tat man sich allerdings in den letzten Jahren erheblich schwerer, als er­wartet wurde. So stieg der Handel zwischen beiden Ländern seit 1985 zwar um 81% an, besitzt allerdings am jeweiligen Gesamtexport der beiden Länder gemes­sen immer noch eine sehr geringe Bedeutung.
Collor und Menem wollen nun dieser Integration mehr Schubkraft verleihen und zogen den Termin für den gemeinsamen Markt kurzerhand fünf Jahre vor. Gleichzeitig soll eine Komission, die seit Anfang September tagt, alle Weichen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche und Problemfelder stellen und konkrete Maß­nahmen ausarbeiten, um den Termin einzuhalten. Mit der Unterzeichnung dieses Plans wurden außerdem die bestehenden Integrationsprotokolle um mehrer hundert Produkte ausgeweitet, so daß eine Erhöhung des Handelsvolumens um 530 Millionen Dollar allein in diesem Jahr ermöglicht werden soll. Gleichzeitig wurden die Quoten für die bisherigen Produkte erhöht und die Schaffung von bi-nationalen Unternehmen soll forciert werden.
Bezüglich des Bush-Plans merkten die beiden Staatschefs an, daß “die Integration des Cono Sur mit der Bush-Initiative vereinbar ist” und schufen eine gemeinsame Komission zur Beratung über den Plan. Das lateinamerikanische Vorhaben ist allerdings weitgehender, sieht es doch nicht nur Freihandel zwischen den Län­dern, sondern eben einen gemeinsamen Markt, mit gemeinsamer ökonomischer Außenpolitik, einer gemeinsamen Währung und dem vereinigten Auftreten der Delegationen im Ausland vor, um eine bessere internationale Verhandlungspo­sition zu erlangen. In der Uruguay-Runde des Gatt (Allgemeines Zoll- und Han­delsabkommen), welche den weltweiten Freihandel regeln will, werden die bei­den Länder auf jeden Fall gemeinsam ihre Interessen vertreten, die sich in erster Linie gegen den Protektionismus der EG bezüglich der Agrargüter richten.

Die “Kleinen” dürfen auch mitmachen

Ignoriert wurde bei diesen Verhandlungen allerdings der Juniorpartner Uru­guay, welcher in den vorangegangenen Integrationsbemühungen immer mitein­geschlossen war. So mokierte der uruguayische Präsident Lacalle noch am Tag des Treffens Collor-Menem, daß er nicht einmal eingeladen worden sei. Auf einer Sitzung Anfang August wurden dann allerdings nicht nur Uruguay, sondern gleich auch noch Chile mit in das Vorhaben einbezogen. Paraguay wurde als fünfter im Bunde direkt aufgefordert, sich an dem “Integrationsprogramm 1995” zu beteiligen. In einer zweiten Phase sollen dann nach der Schaffung des gemein­samen Marktes zwischen diesen fünf Ländern alle anderen Staaten der “Lateinamerikanischen Integrations-Organisation” (ALADI) miteinbezogen wer­den, also Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela. Doch dieses Wunschdenken lenkt davon ab, daß der eigentliche Kern, die Integration im Cono Sur durchaus realistische Verwirklichungschancen hat. Der gemeinsame Markt von Chile, Uruguay, Argentinien und Brasilien wäre die Heimat von zwei Dritteln der Bevölkerung Lateinamerikas mit einem jährlichen Wirtschaftsvolu­men von 280 Mrd. US-Dollar.
Voraussetzung für all diese Zukunftspläne dürfte allerdings die Bewältigung der derzeitigen Krise in Brasilien und Argentinien sein. Denn einen gemeinsamen Markt der Inflation und Armut wollen die Herren wohl kaum. Anscheinend hilft eben kein neoliberales Konzept, um die Inflation der Länder unter Kontrolle zu bekommen, sondern stürzt sie vielmehr gleichzeitig in eine tiefe Rezession.

Kasten:

Fußball-Integration

“Wir Brasilianer haben im Endspiel der Fußball-WM für Argentinien geschrien, denn die lateinamerikanische Integration vollzieht sich auch über die Zuneigung – und die Leidenschaft für den Fußball ist eine der gemeinsamen Sachen unserer beiden Länder.” (Collor de Mello) Na dann können wir ja auf eine gemeinsame argentinisch-brasilianische Auswahl bei der nächsten oder übernächsten WM gespannt sein.

Amazonien

Die COICA ist ein Organ, das am 26. März 1984 in Lima von den nationalen indianischen Organisationen selbst gegründet wurde. Zur Zeit gehören ihr fünf nationale Organisationen (aus Peru, Bolivien, Ecuador, Kolumbien und Brasilien) mit jeweils diversen Unterorganisationen an, die zusammen Bevölkerung von über 1 Millionen Menschen vertreten. Als ihre Funktionen gibt die COICA an:
-die Mitgliedsorganisationen vor verschiedenen zwischenstaatlichen Instanzen und Nicht-Regierungs-Organisationen auf nationaler Ebene zu vertreten;
-die territorialen Forderungen, die Selbstbestimmung und die Respektierung der Menschenrechte der indianischen Völker durchzusetzen;
-die Einheit und gegenseitige Zusammenarbeit zwischen allen indianischen Völkern zu stärken;
-die Erneuerung der kulturellen Werte und die integrale Entwicklung all ihrer Repräsentanten in jedem Land, zweisprachige interkulturelle Erziehungsprogramme und Gesundheitsarbeit in jedem Mitgliedsland bei gleichzeitiger Achtung seiner Autonomie und unter Wahrung seiner Sitten und Besonderheiten zu gewährleisten.
die COICA durch Einbeziehung oder den Anschluß weiterer indianischer Organisationen zu erweitern.

Indianisches Leben und Territorium als Strategie zur Verteidigung Amazoniens

1. Wir sind hier -indianische Völker und Umweltorganisationen -da wir ein Interesse gemein haben: den Respekt für die Welt, in der wir leben, und den Schutz dieser Welt, sodaß die gesamte Menschheit ein besseres Leben haben kann. Ein wesentlicher Punkt dieses Anliegens ist die Erhaltung des amazonischen Regenwalds. Wir indianischen Völker und unsere Territorien in Amazonien gehören uns gegenseitig, wir sind eins. Die Zerstörung eines Teiles von Amazonien betrifft alle anderen Teile.

2. Seit langer Zeit haben wir in dem Wald gelebt und ihn genutzt, ohne ihn zu zerstören. Wir haben ihn in einer ganzheitlichen und integralen Weise bewirtschaftet-und wir waren jahrhundertelang seine Verteidiger. Unsere Völker wurden geschwächt und als Resultat dessen ist auch der Schutz Amazoniens verringert worden. Heute sind wir erneut die wichtigsten Protagonisten der Verteidigung und des Schutzes Amazoniens.

3. Wir sind an einem Scheideweg angelangt. Werden wir verschwinden oder werden unsere Völker und der Wald überleben? Da der Wald für uns keine Ressource ist, ist er das Leben selbst. Er ist für uns der einzige Ort zum Leben. Die Abwanderung bedeutet, als Volk zu sterben, da der Amazonas das einzige Erbe ist, das wir unseren Kindern hinterlassen können. Diese Tatsache steht hinter unserer Energie und Entschiedenheit ohne Zaudern oder Umkehr.

4. Der Wald wurde von jenen ausgebeutet, die auf unmittelbaren Gewinn aus waren, der zur Überausbeutung der Ressourcen führt und uns die Möglichkeit einer Zukunft vernichtet. Im Gegensatz dazu denken wir indianischen Völker sowohl an uns wie an den Wald als eine Einheit.

5. In dem Maße wie die Zerstörung alarmierend wird, hat sich die Sorge um Amazonien ausschließlich auf die Natur konzentriert, ohne die Zerstörung der indianischen Völker in Betracht zu ziehen. Millionen Dollars wurden in Parks und in den Naturschutz investiert, wobei die Hauptgaranten die durch kurzfristige Interessen motivierten Regierungen waren.

6. In einigen Fällen haben leider Parks und andere Schutzmaßnahmen dazu gedient, uns Indianern weitere Grenzen aufzuerlegen. Sie engen uns ein und wir verlieren die Kontrolle über unsere Gebiete. Oftmals haben sich Parks nur als Reserven für eine zukünftige Ausbeutung von 01, Gold und Holz erwiesen. Parks sind keine Realität in dem Sinne wie Völker es sind. Parks sind nur ein Dekret, etwas, das sich jederzeit ändern kann, das abhängig ist und vergewaltigt werden kann.

7. Technische Kriterien für Parks und wissenschaftliche Interessen an ihnen stellen eine Schranke dar, die viel weniger effektiv ist als die Verteidigung, die ein Volk mit einer Projektion in die Zukunft ausübt. Aber gemeinsame Aktionen beider könnten effektive Resultate erzielen.

8. Daher ist es unser Anliegen, daß indianisches Territorium anerkannt und zurückgewonnen wird, durch welche legalen Mittel auch immer. Konzept und Richtlinie für die Bewirtschaftung der Territorien sollte die Kultur der indianischen Völker, die dort leben, sein. Wie es dem Recht aller Völker entspricht, sollten die Indianer die breitest mögliche Kontrolle haben über alle Ressourcen, die auf ihren Gebieten zu finden sind.

9. Das indianische Territorium als ein physischer Raum, eder in einer diversifizierten und integralesn Weise bewirtschaftet wird, ist Naturschutz im besten Sinne des Wortes. Es ist kein Schutz wie in einem Museum, dessen Resultate so enttäuschend waren.

10. Wir haben kein Lehrbuch, sondern vielmehr eine uralte Kultur.

14. Das Recht auf Territorien bedeutet für uns, eine direkte Vertretung als Volk -nicht nur als Bevölkerung -ausüben zu können, in welcher Diskussion auch immer, sei sie national oder international, politisch oder wissenschaftlich.

15. Wenn diese Kriterien in logischer und gerechter Weise angewandt werden, dann ist es klar, daß unsere Präsenz in Amazonien viel größer ist als die offizielle Politik zugibt, die uns spaltet und als Minderheiten, die im Aussterben begriffen sind, darstellt. Unsere Präsenz in Amazonien und unsere Fähigkeit, seine Zukunft zu bestimmen, wird anerkannt werden, wenn wir die notwendige ideologische Unterstützung erhalten.

16. Aufgrund aller oben genannter Gründe schlagen wir vor, daß die Umweltschützer der Welt sich mit den indianischen Völkern verbünden, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen.

Wir laden Euch ein, diesen Schritt hier und heute zu tun.

Iquitos, 9. Mai 1990

Die Abschlußdeklaration, die den Forderungen der COICA voll entspricht, wurde von 26 teilnehmenden und 14 beobachtenden Organisationen aus Amerika und Europa unterschrieben. Ein Folgetreffen im September 1990 in Washington D.C.wurde vereinbart.

Indigenaaufstand im Hochland

Es stieß kaum auf öffentliches Interesse, als sich am 28. Mai rund 1000 Indigenas aus den Hochlandprovinzen in Quito versammelten, um der Regierung Borja einen Forderungskatalog zu präsentieren. Nicht einmal die Besetzung der Kirche von Santo Domingo im Stadtzentrum veranlaßte die Regierung zu einer anderen Reaktion, als die Polizei aufmarschieren zu lassen.
Eine Woche später rief der Dachverband der Indigenas CONAIE den Aufstand aus. In sieben der Andenprovinzen wurden Straßen blockiert und Haciendas be­setzt. Die Versorgung der Städte wurde weitgehend abgeschnitten. Als Präsident Borja das Militär gegen die Blockierer einsetzte und 30 Aktivisten verhaftet wur­den, nahmen die Indigenas ihrerseits zwölf Militärs als Geiseln. Eine Verhand­lungskommission unter Leitung des Erzbischofs von Quito, Antonio González, erreichte inzwischen die Beendigung der Kirchenbesetzung und die Freilassung der Geiseln; über den Verbleib der Verhafteten liegen noch keine Meldungen vor. Die Verhandlungen über die Forderungen der Indigenas blieben bisher ohne Er­gebnis.
Was unterscheidet das Geschehene von anderen Blockaden und Auseinanderset­zugnen zwischen Indigenaorganisationen und Regierungen, die etwa in Peru und Bolivien schon fast politische Routine geworden sind, ohne daß Nennens­wertes dadurch bewegt würde? Borja spekulierte darauf, die Bewegung werde im Sande verlaufen, als er die Mobilisierung mit repressiven Mitteln schnell zu beenden versuchte. Aber in Ecuador zeigen die Vorkommnisse eine neue Quali­tät der politischen Artikulation der Indigenas. Ihre Hauptforderungen, die Aner­kennung ihrer Landrechte, ihrer Wirtschaftsform und der Schutz vor den Akti­vitäten von Konzernen auf ihrem Land, sind nicht neu. Am 8.Mai 1989 unter­schrieb Borja sogar ein Abkommen mit den Indigenaorganisationen, die “Vereinbarung von Sarayacu”, in der er wesentliche Punkte ihrer Forderungen anerkannte. Sein Versuch, nach solchen Lippenbekenntnissen zur politischen Ta­gesordnung übergehen zu können, ist mit diesem Aufstand gescheitert. Die ecuatorianischen Indigenas haben einen Organisationsgrad erreicht, der ihnen eine neue politische Schlagkraft verliehen hat, die sie, wie man sieht, auch wil­lens sind zu nutzen. Dazu Mario Fárez, der Pressesekretär der Organisation der Hochlandindigenas ECUARUNARI: “Es gibt keine Möglichkeit des legalen Kampfes mehr. … In diesen zehn Jahren der sogenannten Demokratie haben wir keine politische Antwort auf das Landproblem bekommen Die Antwort waren Kugeln und Tränengas. Unser Weg ist, uns das Land zu nehmen, es zu verteidi­gen und zu bebauen, weil wir keinen anderen Ausweg mehr sehen”.

Professionalität statt Politisierung

Die Präsidentschaft Perus ist gegenwärtig wohl eines der denkbar undankbarsten politischen Ämter überhaupt. Alberto Fujimori übernimmt von seinem Vorgän­ger Alan García ein Land, das sich in der schwersten Wirtschaftskrise seiner Ge­schichte befindet. Allein im Mai lag die Inflation bei 32,8%. Die jährliche Inflati­onsrate erreicht 3000%. Nachdem García zu Anfang seiner Regierungszeit auf Konfrontationskurs zu IWF und Weltbank gegangen war, ist die Kreditwürdig­keit des Landes auf den Nullpunkt gesunken. Währungsreserven sind fast nicht mehr vorhanden. Neben einer Strategie gegen die Wirtschaftskrise muß der neue Präsident außerdem eine Politik zum Umgang mit Sendero Luminoso entwic­keln.

Gegen die Arroganz der weißen Oberschicht

Erste Wahlanalysen zeigen, daß Fujimori seinen Sieg zu einem großen Teil der Radikalität seines Gegenkandidaten zu verdanken hat. Mario Vargas Llosa hatte in seinem Wahlkampf Schockmaßnahmen angekündigt. Die Wirtschaftskrise sollte mit einem Programm à la Collor beigelegt werden, und gegen Sendero stand der totale Krieg im Programm des Schriftstellers. Gegenüber dem super-neoliberalen Vargas Llosa konnte Fujimori sich als Kandidat der Mitte profilie­ren, der den Menschen einen Ausweg mit geringeren Opfern versprach. Die Notwendigkeit von wirtschaftlichen Anpassungsprogrammen wurde nie von ihm bestritten, aber Fujimoris Diskurs war moderater: nicht alle Staatsbetriebe sollten privatisiert werden. Die Reallöhne sollten nicht weiter sinken. Ein “mittlerer Weg” der Anpassung an die ökonomischen Notwendigkeiten sei mög­lich. Darüberhinaus zeigt das Wahlergebnis aber auch die wachsende Polarisie­rung in der peruanischen Bevölkerung. Vargas Llosa war der Kandidat der städ­tischen weißen Oberschicht, für den die Welt der Mestizen und der indianischen Bevölkerung Perus völlig fremd ist. Die Wahl wurde so auch zu einer Protest­wahl der Nicht-Weißen und damit vor allem der sozial Benachteiligten gegen die Arroganz der hauptstädtischen Oberschicht. Auch wenn Fujimori als Sohn von japanischen Einwanderern und Professor an einer Landwirt­schafts­uni­ver­si­tät in Lima nicht viel mehr mit ihnen gemeinsam hat, blieb doch die Tatsache des Nicht-Weißseins, die ihn für sehr viele Menschen zum kleineren Übel machte. Nicht zufällig hat Vargas Llosa die Wahl vor allem auf dem Land verloren, nur in den Städten und vor allem in Lima konnte er rela­tiv besser abschneiden.

Wo bleibt Fujimoris Programm?

Durch sein Programm hat Fujimori kaum die Wahl gewinnen können, denn die­ses zeichnet sich durch Nebulosität aus. Schwerpunkt seiner Wirtschaftspolitik, soweit sie bisher bekannt ist, bildet die Wiederherstellung der Kreditwürdigkeit Perus. Das Land soll wieder Teil des internationalen Finanzsystems werden. Das heißt nichts anderes, als daß eine Übereinkunft mit den Washingtoner Weltwirt­schaftswächtern in IWF und Weltbank gefunden werden muß, um ein Finanzie­rungsmodell für die peruanischen Auslandsschulden in Höhe von rund 20 Mrd. US-$ zu finden. Darauf aufbauend braucht Fujimori den guten Willen potentiel­ler Geldgeber für neue Kredite. Für die geplante “Unterstützergruppe” sind – welche Überraschung – die USA, Japan und die EG als Mitglieder vorgesehen. Noch vor der für den 28. Juli vorgesehenen Übergabe der Präsidentschaft von García, versuchte Fujimori in den vergangenen Wochen bei einer Reise in die USA und nach Japan, die Perspektiven für eine Wiederaufnahme von Kredit­zahlungen an Peru auszuloten. Der Plan zur Stabilisierung der peruanischen Wirtschaft, den er den IWF und Weltbank-Managern vorstellte, sieht u.a. eine 300%ige Erhöhung der Staatseinkünfte aus Steuern, Gebühren für öffentliche Leistungen und Zolleinnahmen vor. Außerdem soll eine neue Währung einge­führt werden mit einem einheitlichen Umtauschkurs. Etwa 250 Staatsbetriebe sollen privatisiert werden. Die zur Sicherung grundlegender öffentlicher Lei­stungen nötigen Staatsbetriebe sollen von der Privatisierung ausgenommen wer­den, allerdings sollen die Preise dieser Leistungen solange steigen, bis die Be­triebe rentabel arbeiten. Fujimori will damit einen ersten Überbrückungskredit erreichen, um die akkumulierten Zahlungsrückstände bei multilateralen Geldge­bern zu begleichen, die etwa bei 1,5 Mrd. US-$ liegen. Er braucht das IWF/Weltbank-Gütesiegel, ohne das er die wichtigsten Industrieländer nicht zum Engagement in einer wie auch immer gearteten Unterstützungsgruppe wird bewegen können. Bisher halten sich die anvisierten Geldgeber allerdings bedeckt. Nachdem in Peru viel über die besonderen Beziehungen Fujimoris zu Japan spe­kuliert worden war, wurde dort eilig klargestellt, daß ein japanischstämmiger peruanischer Präsident noch keinen Anlaß für ein verstärktes finanzielles Enga­gement Japans darstelle.
Es wird vorläufig Fujimoris Geheimnis bleiben, wie er die Bedingungen der Washingtoner Institutionen mit dem Anspruch vereinbaren will, die Schulden­zahlungen an der realen Zahlungsfähigkeit Perus zu orientieren und keine rezes­sive Tendenz zuzulassen, die seinen Plan zur Schaffung beständigen Wirt­schaftswachstums beeinträchtigen könnte. So jedenfalls beschreibt sein Berater Santiago Roca, der als kommender Wirtschaftsminister gehandelt wird, die Leit­linien der zukünftigen Politik. Die Vermutung liegt nahe, daß das “bolivianische Modell” beim Design der wirtschaftspolitischen Strategie Pate steht. In einer ähnlichen durch Hyperinflation und drohendem Zusammenbruch der Wirtschaft gekennzeichneten Situation hatte seit 1985 die Regierung Paz Estenssoro durch ein radikales Liberalisierungsprogramm eine relative Stabilisierung der bolivia­nischen Wirtschaft erreicht. In Bolivien war dies allerdings mit erheblichen so­zialen Kosten verbunden. Massenentlassungen und die Stabilisierung der Preise auf einem hohen Niveau waren die für die BolivianerInnen schmerzhaft spürba­ren Folgen. Fujimori ist mit dem Versprechen angetreten, gerade diese sozialen Folgen in Grenzen zu halten, die von seinem Gegenspieler Vargas Llosa als un­vermeidlich vorausgesetzt worden waren. Wird ein Mittelweg unter den Kondi­tionen von IWF und Weltbank möglich sein?

Der Präsident ohne Mehrheit

Ein weiteres Problem für Fujimori wird sein, sich die notwendigen Mehrheiten für seine Politik im Parlament zu beschaffen. Seine “Partei” Cambio 90, eigentlich mehr ein eigens für seine Kandidatur gegründeter Wahlverein, ist hinter der FREDEMO Vargas Llosas und der bisherigen Regierungspartei APRA nur die drittstärkste politische Kraft. Er wird Koalitionspartner suchen müssen.
Nach seinem Wahlerfolg proklamierte er eine “Regierung der nationalen Einheit”, eine aus anderen lateinamerikanischen Ländern nicht unbekannte Forderung von gerade gewählten Präsidenten, denen die notwendige parlamentarische Mehrheit fehlt. Fujimori wird möglicherweise vom Zerfall der FREDEMO profitieren. Das “Movimiento Libertad” Vargas Llosas hat das Bündnis bereits aufgekündigt und will als “Liberale Partei” zur selbstständigen politischen Kraft in enger Allianz mit den Unternehmerverbänden werden. Diese ihrerseits verhalten sich abwar­tend. Unternehmerpräsident Jorge Camet: “Wir müssen erst einmal Fujimoris Regierungsprogramm kennenlernen”. Von den bis jetzt in der FREDEMO organi­sierten traditionellen, konservativen Parteien macht die AP (Alianza Popular) Fujimori bereits Avancen. Auch die APRA, die den Sieg Fujimoris als “Niederlage der Rechten und Ablehnung monetaristischer Wirtschaftsstrategien” feierte, würde gerne einen Teil ihrer Macht über ein Bündnis mit Cambio 90 be­halten. Hier aber bewegt sich Fujimori auf Glatteis, denn im Wahlkampf war ei­ner der beherrschenden Vorwürfe gegen ihn, versteckter Aprist zu sein. Ange­sichts der Diskreditierung der APRA in der öffentlichen Meinung nach dem Scheitern ihres Präsidenten García könnte er ein Zusammengehen mit der ge­scheiterten Ex-Regierungspartei nur schwer rechtfertigen.
Sogar der Führer der Guerillabewegung MRTA, Victor Polay, bot Fujimori aus dem Gefängnis einen Waffenstillstand an, um, verknüpft mit Bedingungen, einer anderen Politik eine Chance zu geben. Auf die Reaktion Fujimoris darf man ge­spannt sein, denn Polay ist vor kurzem zusammen mit mindestens 40 Militanten des MRTA aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Lima ausgebrochen und kann wieder aus dem Untergrund politisch aktiv werden, wenn er nicht wieder aufge­griffen wird.
Wie immer ein zukünftiges parlamentarisches Bündnis aussehen mag, die soziale Basis der Macht Fujimoris besteht in den WählerInnen, die ein Ende des rapiden Verfalls der Reallöhne und eine allgemeine Stabilisierung erwarten. Diese Er­wartungen nicht zu enttäuschen, wird ihm schwerfallen.

Der Krieg wird ausgeblendet

Für die Auseinandersetzung mit Sendero Luminoso scheint Fujimori bislang nicht die Spur eines Konzeptes zu haben. Es ist nicht ersichtlich, daß er der unge­bremsten und doch in der Bekämpfung Senderos weitgehend erfolglosen Repres­sion durch das Militär ein anderes Konzept entgegenzusetzen hat, das den Ursa­chen für die Existenz und Stärke Senderos Rechnung tragen würde. Seine bishe­rigen Äußerungen lassen nicht darauf schließen. Befragt nach seiner Haltung zu den Streitkräften und nach der Gefahr eines Putsches antwortete er, die Vorstel­lung eines Putsches sei ein psychologischer Trick seiner Gegner im Wahlkampf gewesen, und: “Unsere Streitkräfte haben genügend Reife erlangt und sind die besten Verteidiger unserer Verfassung!” Bei Fortsetzung der vom Militär prakti­zierten Form der “Verteidigung der Verfassung” werden die Gründe für die Exi­stenz Sendero Luminosos und für die in bestimmten Teilen der Bevölkerung vorhandenen Sympathien für Sendero nicht an Stichhaltigkeit verlieren.

Nur minimale Chancen auf Erfolg

Der Erfolg der Regierung Fujimori wird von Faktoren abhängen, die weitgehend außerhalb seiner politischen Entscheidungsmöglichkeiten liegen. Fujimori kann nur auf ein Einsehen der potentiellen Kreditgeber in die mehr als schwierige ökonomische Lage Perus hoffen, aber IWF, Weltbank und die führenden Indu­strieländer haben keinen Grund, Peru Sonderkonditionen einzuräumen, die über die in so vielen Ländern der Peripherie angewandten Strukturanpassungsmaß­nahmen mit allen sozialen Folgekosten hinausgehen. Die Hoffnung der Peruane­rInnen auf eine bessere wirtschaftliche Situation werden enttäuscht werden müs­sen, denn ohne ein Abwälzen der Kosten solcher Programme auf den Lebens­standard der Bevölkerung ist unter den gegebenen internationalen Rahmenbe­dingungen Stabilisierung nicht zu haben. Es ist eine offene Frage, in welcher Form sich der Protest der Bevölkerung äußern wird, ob es zu einem Anwachsen der Unterstützung für die verschiedenen Guerillas kommen wird, ob Gewerk­schaften und soziale Bewegungen zu einer neuen Stärke finden können, oder ob, wie in Bolivien, mangels politischer Alternative eine relative politische Stabilität erreicht werden kann. Da ein Ende des Krieges zwischen Militär und Guerillas nicht abzusehen ist, scheint Letzteres unwahrscheinlich. Eher zu erwarten ist vielmehr eine verschärfte Polarisierung, die das Militär tatsächlich zum Putsch bewegen könnte, sobald das Scheitern Fujmoris offensichtlich wird. Eine “Regierung der nationalen Einheit”, selbst wenn Fujimori ihre Formierung aus verschiedenen politischen Kräften gelingen sollte, wird eine Einheit nur auf Re­gierungsebene darstellen. Die gesellschaftlichen Konfliktlinien verlaufen anders, sie haben im Parteienspektrum schon lang keine adäquate Entsprechung mehr. Technokratisches Wirtschaftsmanagement à la Fujimori ohne Angehen der Pro­bleme extremer Ungleichheit und rassisch bedingter Unterdrückung wird in Peru nicht den Ausweg aus der Krise weisen können.

Im Schatten der Wahlen -Verschleppung einer Menschenrechtlerin

Guadalupe gehört zu jenen Frauen, die die Last der alltäglichen Bewältigung der Folgen von Terror und Krieg schon seit Jahren zu tragen haben. Als ihr Mann 1983 enführt wurde und verschwand, mußte sie nicht nur ihr eigenes psychisches und physisches Weiterleben, sondern auch das ihrer vier Kinder organisieren. Sie arbeitete in Organisationen der Familienangehörigen von Verschwundenen mit, die seit langem von staatlicher Repression in Peru bedroht sind. Außerdem arbeitete sie für Serpaj Ayacucho (Servicio de Paz y Justicia) in einem Projekt, das sich um die Betreuung von Kindern kümmert, deren Familien durch Repression und Kriegssituation betroffen sind. Frauen wie sie sind den Militärs in Ayacucho im Wege. Denn das Department befindet seit Jahren im Ausnahmezustand, weswegen Polizei und Militärs nahezu ungehindert von demokratischen Institutionen agieren können. Personen, die auf Unrecht aufmerksam machen, stören da nur. L
1986 wurde Guadalupe verhaftet und saß etwa drei Monate in einem Gefängnis in Lima (In LN 151 druckten wir einen Brief über ihre Gefängniserfahrungen ab). Dort holte sie sich vermutlich die schwere Tuberkulose, unter der sie bis heute leidet. 1988 wurde sie erneut verhaftet. Als sie nach zwei Tagen wieder freikam, schien es ratsam, nicht mehr nach Ayacucho zurückzugehen und Peru vorerst zu verlassen. Sie brachte ihre Kinder in einem Kinderheim unter und verließ Peru. Es ist ein zusätzlicher Hohn, daß sie ihre Kinder legal nicht ins Ausland bringen kann, denn dazu bedürfte es der Unterschrift des Vaters, der “offiziell” noch lebt.
Als Guadalupe nach Peru zurückkam, brach die Tuberkulose aus. So konnte sie ihre Kinder schon bald wieder nicht mehr selbst versorgen. Zuletzt wurden sie von ihrer Mutter in Ayacucho versorgt, während Guadalupe aus Sicherheitsgründen in Lima wohnte. Anfang Juni diesen Jahres fuhr sie besuchsweise zu Mutter und Kindern, aber das war offenbar schon zu riskant.

Entführung mitten im Zentrum von Ayacucho

Am 10.6.) um halb drei Uhr nachts brachen fünfzehn bewaffnete Männer in Militärstiefeln, mit Militärpullovern und mit Kapuzen über dem Kopf im Haus ihrer Familie ein, das direkt im Zentrum von Ayacucho liegt. Die Entführer ließen ihr nicht einmal Zeit, sich anzuziehen oder Schuhe mitzunehmen. Sie brachen in mehrere Räume ein, auch in das Zimmer einer Nachbarin. Die Schwester Guadalupes wurde mit dem Tode bedroht. Kassettenrecorder, eine Uhr und Bargeld wurden gestohlen. Ein Nachtwächter des angrenzenden Marktes
beobachtete, wie Guadalupe Ccallocunto an Haaren und Armen die Straße entlang geschleift wurde. Er bezeichnete die Entführer als Militärs.
Alle Indizien sprechen dafür, daß Guadalupe in den Händen der Militärs ist. Ihre Entführung fand im Zentrum Ayacuchos statt, wenige Meter von den Haupt-quartieren zweier Polizeigattungen, zu einer Zeit, da Ausgangssperre herrschte. Weil die ganze Stadt am Wahltag aus Sicherheitsgründen praktisch vollständig militärisch überwacht wurde, muß die Entführung von Polizei und Militärs mindestens geduldet worden sein.
Seither fehlt von Guadalupe jede offizielle Spur. Ein Anrufer teilte allerdings ihren Verwandten mit, daß sie am 14.6. in der Kaserne “los cabitos” gesehen wurde. Seit Anfang des Jahres muß sie aufgrund einer Tuberkulosetherapie ständig Medikamente einnehmen und braucht ärztliche Versorgung. Selbst wenn Guadalupe zur Zeit nicht gefoltert wird, bedeutet doch die Unterbrechung der Therapie akute Lebensgefahr.
Der Koordinator des Limaer Büros von Serpaj Ayacucho, Esteban Cuja, forschte beim zuständigen Richter, Staatsanwalt, verschiedenen Polizeieinheiten und dem Militär nach ihrem Verbleib. Der Richter hatte Kriminal- und Schutzpolizei auf-gesucht und sich davon überzeugt, daß sich Guadalupe dort nicht befand. Zur Militärkaserne ging er jedoch nicht, sondern begnügte sich damit, in einem Amtsschreiben nach dem Verbleib von Guadalupe Ccallocunto zu fragen. Dies wurde nicht beantwortet. Esteban Cuya, der sich mit einem unterstützenden Schreiben des künftigen Vizepräsidenten von Peru, einem Pfarrer, ausweisen konnte, wurde vom stellvertretenden Kommandanten, Oberstleutnant Garces immerhin empfangen. Dieser bestritt jedoch jegliche Kenntnis des Falles. Der gleiche Offizier hatte zuvor zwei Journalisten erklärt, daß Guadalupe eine über- führte und geständige Terroristin sei. Zugleich beschwerte er sich, daß die Richter und “die Ausländer” die Militärs anschwärzten.
Was Guadalupe in den Händen der Militärs geschehen ist und was ihr noch geschieht, das weiß keiner. Ebensowenig, ob sie überhaupt lebend wieder her-auskommt und welche gesundheitlichen Folgen die Entführung gehabt haben wird. Auch scheint es den Militärs nicht zu genügen, daß ihre Kinder bereits Halbwaisen sind und seit Jahren umhergeschoben werden.

Behinderung verschiedener Menschenrechtsgruppen

Die Entführung ist jedoch nicht nur als Einzelschicksal zu begreifen, sondern dahinter steht eine politische Logik. Sie gehört in den Kontext einer Kampagne gegen alle Menschenrechtsorganisationen in Peru, die seit Jahresbeginn läuft. Bereits im Februar verschwand im Ayacucho benachbarten Department Huancavelica Angel Escobar, Vizepräsident des dortigen Menschenrechtskommittees. Mehrere andere führende Menschenrechtler erhielten Todesdrohungen. Gegen die Büros von amnesty international und der Andinen Juristenkommission, die sich seit geraumer Zeit dafur einsetzt, auch in den Gebieten, die unter Ausnahmezustand stehen, ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit zu wahren, wurden schwere Bombenattentate verübt.
Am Donnerstag, 14.6.) wenige Tage nach Guadalupes Entführung, mußte das Ayacucho-Büro von Serpaj Ayacucho, dessen stellvertretende Leiterin Guadalupe war, geschlossen werden. Die Besitzerin des Hauses, in dem das Büro zur Miete untergebracht war, wurde massiv bedroht. Wenn nicht binnen 24 Stunden das Büro aufgelöst sei, teilte man ihr mit, werde man sie verhaften und verschleppen und das Haus in die Luft jagen. Darauf räumten die Mitarbeiter des Büros in aller Hast die Räume. Das Büro ist vorerst somit aufgelöst.
Aber die Hiobsbotschaften reißen nicht ab. In der Nacht zum 7. Juli drangen Militärs in das Haus von Mauro Vega, einem weiteren Menschenrechtler ein, in dem er und seine Mitarbeiterin Gladys Acosta Wohnungen haben. Er konnte über das Dach entkommen. Einer der Militärs sagte, wenn Vega nicht sofort aus Ayacucho verschwände, würde er ungebracht. Er floh noch in derselben Nacht nach Lima.
Welche politische Logik steht hinter den Ereignissen? Zum einen ist ganz deutlich, daß in diesem Jahr eine massive Kampagne gegen Menschenrechtsgruppen in Peru läuft. Dies geschieht parallel dazu, daß das Thema der Menschenrechtsverletzungen in Peru aus den internationalen Schlagzeilen verschwunden ist.
Seitdem der Wahlkampf läuft, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf die Präsidentschaftskandidaten und den Wahlkampf. Zeit für die Militärs, ohne allzugroßes Aufsehen zu erregen, gegen die unliebsamen Störenfriede der uneingeschränkten Militärmacht in den Gebieten des Ausnahmezustands vorzugehen?
Ganz sicher kein Zufall ist, daß Guadalupe gerade am Wahltag entführt wurde. Die militärischen Machthaber wollten dem Präsidenten -wer auch der Gewinner sein würde -die Grenzen seiner Macht verdeutlichen. In Lima kann der Präsident Politik machen, sich auf internationalen Parketten bewegen ebenfalls. Aber ihre nationale Macht, vor allem die in den Gebieten des Ausnahmezustands wollen sie sich nicht nehmen lassen, die Herren Militärs. Auch Spekulationen über einen Zerfall von Sendero Luminoso -der ja immerhin die Legitimation für den Ausnahmezustand und damit für die Präsenz der Militärs abgibt -bedrohen letztendlich die Stärke der Militärs in den Gebieten. Und daß sie sich die nicht nehmen lassen wollen, das wird unter anderem durch solche Entführungs- und Überfallaktionen deutlich.

Demokratie und Marktwirtschaft – real existierend

Zwischen Liberalismus und Sozialismus

Den verbissenen Liberalen war die Demokratie schon im­mer unheimlich. Demo­kratie bedeutet zunächst einmal Po­litik. Demokraten maßen sich an, in das freie Leben der Gesellschaft und vor allem der Wirtschaft politisch einzugreifen. De­mokratie bedeutet weiter das Bemühen um kollektive Entscheidungen. Demo­kraten maßen sich an, sich über die freien Entscheidungen der Individuen und vor allem der Wirtschaftssub­jekte gemeinsam hinwegzu­setzen. Und schließlich bedeutet Demokratie eine Begün­stigung der Mehrheit. Demokraten dulden oder begrüßen es gar, daß den Interessen der zahlenmäßigen Mehrheit mehr Rech­nung getragen wird als der zahlungsfähigen Nachfrage.
Wo Demokratie überhaupt wirksam wird, greift sie in den freien Markt ein, setzt sie ihm Grenzen, reguliert sie ihn. Insofern erscheint eine funktionierende Demo­kratie den verbissenen Liberalen bereits als das Schlimmste, was sie sich vorstel­len können: als Sozialismus. Die Mili­tärputsche, die zwischen 1964 und 1976 in Südame­rika die demokrati­schen Regierungen Brasiliens, Boli­viens, Uruguays, Chiles und Argenti­niens hinwegfegten, wurden deshalb von ihnen als antisozia­listische “Befreiungsaktionen” begrüßt.
Nun steht Demokratie aber nicht umsonst unter dem So­zialismusverdacht. Was immer in den kapitalistischen Industriegesell­schaften an sozialem Fortschritt und so­zialer Gerechtigkeit gegen den Widerstand der Manche­sterkapitalisten und anderer erreicht worden ist, konnte nur in dem Maße erkämpft und gesichert werden, wie gleichzei­tig die Demokratie als politisches System erkämpft und ge­sichert wurde. Umverteilung zugunsten der zahlenmäßig starken, aber ökono­misch schwachen Schichten kann dauerhaft nur wirksam sein, wo aner­kannt ist, daß die Mehrheit das Recht hat, in einem kollektiven Ent­scheidungsprozeß ihre Interessen durch­zusetzen. Es ist daher auch nicht erstaunlich, daß die internatio­nale Arbeiterbewegung Demokratie immer als eine Voraussetzung für Sozialis­mus und diesen als die Vollendung der Demokratie begriffen hat.
Der real existierende Sozialismus osteuropäischer Prä­gung hat diesen Anspruch, Vollendung der Demokratie zu sein, durchaus aufrechterhalten. Aber er hat die Be­weisführung einfach umgedreht, um sich diesen Vorzug möglichst lange in die Tasche lügen zu können: Schon weil eine Entscheidung im vorgestellten Interesse oder auch nur im Namen einer strukturellen Mehrheit gefällt wurde, konnte sie nach dem dort geltenden Schema als sozialistisch und damit auch als demo­kratisch gelten. Schon weil das System den Kräften des Marktes keinen Raum ließ und alle Handlungen als bewußte politische Maßnahmen wer­tete und einem Plan unterordnete, glaubte es, den Anspruch auf Ver­wirklichung des Sozialismus und daraus dann auch noch den Anspruch auf Vollendung der Demokratie ab­leiten zu können. Es ist gerade diese An­maßung, die bei der ersten Befragung des wirklich exi­stierenden Volkswillens in den meisten Ländern Osteuro­pas zum Sturz des Systems geführt und die verheerende Diskreditierung des Begriffs So­zialismus offengelegt hat.

Marktwirtschaft – fast allenthalben

Spätestens seither hat sich das Generalthema der welt­weiten politisch-ökonomi­schen Debatte gründlich ver­schoben. Statt eines Kampfes zwi­schen den extremen Po­len eines Manchesterkapitalismus einerseits und einer alle Marktmechanismen ablehnenden Planwirtschaft gibt es, sieht man von Fidel Castros Kuba ab, nur noch die allgemeine Akzeptanz der Marktwirtschaft. Und noch mehr: Auch daß sie sozial und ökolo­gisch orientiert sein muß, ist von Alaska bis Kamtschatka, von Spitzber­gen bis Feuerland völlig unumstritten. Der Streit geht nur noch darum, was das denn nun im einzelnen heißen soll: sozial und ökolo­gisch orien­tiert.
Diese Debatte ist auf merkwürdige Weise einförmig geworden. Als ob die Welt bereits eine einzige geworden sei, dreht sie sich in allen Län­dern, ob reich, ob arm, ob stark, ob schwach, nur um die scheinbar überall gleiche Frage nach dem grundsätzlich richtigen Ausmaß der Regulierung oder Deregulierung. Dabei wird übersehen, daß in einem armen, unterentwickelten Land im Rahmen der Marktwirtschaft mit keinem Grad von Regulierung oder Deregulierung auch nur ein Bruch­teil dessen erreicht werden kann, was etwa in der Bundesrepublik Deutschland an sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft im Prinzip durchsetzbar und finanzierbar wäre.
Es gibt eben nicht eine einzige, weltweite Marktwirt­schaft, über deren soziale und ökologische Orientierung weltweit gestritten werden könnte, sondern es gibt viele verschiedene Marktwirtschaften, die mit den in­ternationalen Märkten für Waren, Dienstleistungen, Ka­pital, Technolo­gien und Arbeitskräfte in unterschiedli­chem Ausmaß verbunden sind. Welche Marktwirtschaften sich von welchen internationalen Märkten abkoppeln dür­fen – wie Westeuropa von den internationalen Märkten für Arbeitskräfte und für Agrarprodukte – und welche Marktwirtschaften von welchen internationalen Märkten ausgeschlossen werden – wie Ost­europa von bestimmten Technologien -, darüber entscheiden allein die Regie­rungen der reichsten Länder. Sie sind deshalb die ein­zigen, die innerhalb dieses halbfreien Weltmarktes noch über ein Minimum an Kontrolle über die Koordinaten der eigenen Marktwirtschaft verfügen und damit im Prinzip für eine soziale und ökologische Orientierung sorgen könnten.
In den lateinamerikanischen Ländern dagegen erleben wir die Markt­wirtschaft, wie sie real existiert. Die für ein auch nur normales Funk­tionieren der inneren Markt­kräfte erforderliche Kontrolle der äußeren Bedingungen ist den Regierun­gen unmöglich gemacht. Dem Fluchtkapi­tal können keine Grenzen gesetzt wer­den, ihm sind die Tore der inter­nationalen Banken weit geöffnet. Dagegen haben Arbeitslose keine Chance, als Wirtschaftsflücht­linge im reichen Ausland Auf­nahme zu finden. Um auch nur die Zinsen für die enormen Auslandsschulden bezah­len zu können, müssen unentwegt riesige Exportüber­schüsse erzielt wer­den, während die reichen Länder gleichzeitig den Import bestimmter Produkte erschweren oder verwehren. Intensive Ausbeutung aller men­schlichen und na­türlichen Ressourcen, das Gegenteil also von so­zialer und ökologischer Orientie­rung, werden zur Pflicht.
Jede auf Wachstum zielende wirtschaftspolitische Stra­tegie hat zur Vorausset­zung eine noch tiefere Verbeu­gung vor der Macht des in- und ausländischen Ka­pitals und einen Panzerschutz gegen das Aufkommen sozialer Ge­fühle. Und Wachstum ist nicht nur gefordert, weil man gern etwas umverteilen würde, son­dern schon, weil die Zinsen zu bezahlen sind. Politik beschränkt sich auf die Ein­sicht in die Notwendigkeit des Sachzwangs.

Warum eigentlich Demokratie?

Seit langem ist die Abhängigkeit Lateinamerikas von den Zentren des Weltkapi­talismus nicht so eindeutig und so sichtbar gewesen wie heute, aber noch nie wurde so we­nig davon gesprochen. Die demokratisch ge­wählten Präsi­denten und Regierungen des Subkontinents erheben den Anspruch und erwecken den Anschein unbezweifelbarer Souveränität – und beugen sich vor dem Sachzwang, frei­willig, aus Einsicht in die Notwendigkeit. Von Abhän­gigkeit zu sprechen gilt nicht mehr als fein.
Nun hat Demokratie ja eigentlich nicht die Funktion, den Sachzwang zu vollzie­hen, sondern dem Volkswillen Ausdruck zu verschaffen. Und wo der Sachzwang ganz ein­deutig den unmittelbaren Interessen der großen Mehrheit entgegensteht, wäre eigentlich die große Revolte zu er­warten, die sich dann auch gegen eine als ungenügend oder betrüge­risch empfundene Demokratie richten würde. Es fehlt auch nicht an Revolten. Die heftigen Unruhen in Caracas vom Februar 1989, die poli­tischen Proteste in Mexiko nach den letzten Präsidentschaftswahlen, die Gue­rilla-Bewegungen in Peru oder die Streiks in Managua vom Juli 1990 sind Anzei­chen einer großen sozialen und politischen Unzufrieden­heit bei breiten Bevölkerungs­schichten. Aber sie verdecken nicht den anhaltenden Trend eines breiten Siegeszugs der Demokratisierung in (fast) ganz Lateinamerika. In einem Kontinent, in dem vor zehn Jahren Generäle in den meisten Ländern das un­beschränkte Sagen hatten, ver­geht heute kaum ein Monat, in dem nicht irgendwo das Volk zur Wahl­urne gerufen wird. Wer hat daran ein Interesse?
Die Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaft­ler, die sich mit den De­mokratisierungsprozessen in La­teinamerika beschäftigt haben, haben sich in der Regel auf die Logik der inneren Entwicklung der Militärdikta­turen konzentriert und aus dem sich kumulierenden Legi­timationsdefizit die geradezu zwangsläu­fig sich erge­benden Demokrati­sierungstendenzen erklärt. Auf diese Art sind viele kluge und differen­zierende Analysen ent­standen, über denen aber die hi­storisch-soziale Bedeu­tung der Militärdiktaturen nicht verloren gehen darf: Zwi­schen den Demokratien vorher und hinterher klafft ein himmelweiter Unter­schied.
Die lateinamerikanischen Demokratien, die in den sech­ziger Jahren mit der Hilfe ausländischen Kapitals die Strategie der importsubstituieren­den Industrialisie­rung verfolgten und dann Anfang der siebziger Jahre zusammen mit anderen Ländern der Dritten Welt für die Schaffung ei­ner Neuen Weltwirtschaftsordnung eintraten, haben sich unter dem Druck der Wählerinnen und Wähler bemühen müssen, ihrer Marktwirt­schaft eine soziale Orientierung zu geben – von ökologi­scher Orientie­rung sprach damals noch niemand. Die sozialisierenden Tenden­zen der Demokratien bedrohten die freie Bewegung des Kapitals.
Die historisch-soziale Bedeutung der Militärdiktaturen – mit der Aus­nahme der peruanischen von Velasco Alva­rado 1968-1975 – bestand un­ter diesen Umständen in der Herstellung der vollen Bewegungsfreiheit des Kapitals, einer völligen oder doch – im Fall Brasilien – weitge­henden Integration in den Weltmarkt und der Ausrottung aller soziali­sierenden Tendenzen. Diese liberale Revo­lution, die zwei­fellos in Chile am gründlichsten be­trieben wurde, aber in den anderen Diktatu­ren kaum we­niger effektiv funktioniert hat, hat zum Ergebnis ge­habt, daß die neu erstandenen Demokratien auf einer völlig neuen Basis operie­ren, gewisser­maßen auf einer tabula rasa. Die heute real existierende Demokratie ba­siert auf der nackten Marktwirtschaft. Wo der Sach­zwang dieser real existierenden Marktwirtschaft regiert, be­darf es der Militärs nicht mehr.
Das hindert nun nicht, daß der Volkswille etwas anderes fordert: Die Präsident­schaftskandidaten Menem in Argen­tinien, Aylwin in Chile oder Fujimori in Peru haben sich in der letzten Zeit mit der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit eindeutig gegen neoliberale Ri­valen durchgesetzt, die die herrschende Ungleich­heit auch noch zum Pro­gramm erhoben haben. Wenn man aber auch nur ihre er­sten Maßnah­men und Ankündigungen analy­siert, wird deutlich, mit welcher Konse­quenz sie sich dem Sachzwang der Marktgesetze gebeugt haben. Ihre wirt­schaftspolitischen Berater waren früher in der Re­gel die schärfsten Kritiker der neoliberalen Politik der Militärs. Heute dagegen warnen sie gelegentlich schon vor demagogischen Forderungen nach sozialer Ge­rechtigkeit wegen der damit verbundenen Gefahren für die frisch er­rungene Demokra­tie.
Und dennoch gibt es bei den Massen der Bevölkerung nur wenig wirkli­chen Überdruß. Sie wissen, daßie einzige reale Alternative die Dikta­tur ist, von der sie keine Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Situa­tion, wohl aber politische Unterdrückung und Menschenrechtsverlet­zungen erwarten können. Und man­che mögen immer noch hoffen, daß die innere Logik der Demokratie doch noch zu sozialer Gerechtigkeit oder zum Sozialismus führt.

Demokratie als Mittel der Aufstandbekämpfung

“Niemand würde auf die Idee kommen, eine Chauffeurs-Tochter demokra­tisch zu nennen, weil sie einen Millionär heiratet”
(Billy Wilder, “Sabrina”)

Die Verwirrung und Unsicherheit über den Begriff, die Kategorie DEMOKRATIE in unseren Köpfen ist umso größer, je mehr sich ein reduziertes Konzept von Demokratie in der veröffentlichten Meinung und der politischen Realität durchsetzt.
Die Rede ist von der Reduktion von Demokratie auf Wahlvorgänge – gerade eindrücklich vorgeführt am Beispiel der Liquidierung der “runden Tische” in der DDR zugunsten der Übernahnme eines Demokra­tiemodells, dessen Einseitigkeit und Begrenztheit zur zentralen GRÜNEN und nicht zur grünen Forderung nach Basisdemokratie geführt hat.
Die Beschränkung der Demokratie, der Volksherrschaft, der von unten nach oben laufenden Willensbildung auf einen von vielen Mechanismen, nämllich das Wählen, findet sich wieder im Modell der “beschränkten Demokratie”, das von der Neuen Rechten in den Verei­nigten Staaten vor allem für ihren lateinamerikanischen Hinterhof vorgeschlagenen und in die Tat umgesetzt worden ist. Einige Synonyme und Definitionen machen deutlich, um was es geht. Es wer­den abwechselnd die Begriffe “behütete Demokratie”, “kontrollierte Demokratie” gebraucht und wenn es in dem Dokument “Eine Strategie für Lateinamerika in den 90er Jahren” (Santa Fé) heißt “die Rückkehr der Demokratie war der größte Triumph der Reagan-Regierung in Lateinamerika.”, versteht mensch auch, was “verordnete Demokratie” heißt. Zehn Jahre Krieg in Nicaragua und El Salvador, die Invasionen in Grenada und Panama, das wachsende Massenelend und die beschleunigte ökologische Zerstörung in der Neu-Demokratie Brasilien, der Staatsterrorismus in Peru und Kolum­bien, ja selbst die (noch) prosperierende Volkswirtschaft und jüngst zurückgekehrte parlamentarische Demokratie in Chile, die noch ganz unter der Titulage der Militärs steht – illustrieren die “Triumphe” der Reagan-Ära.
In vielen Ländern Lateinamerikas hat es seit der Unabhängigkeit von Spanien und Portugal eine Abfolge von parlamentarischen Demo­kratien und Militärdiktaturen gegeben. Dabei war die Eroberung oder Rückeroberung der parlamentarischen Demokratie immmer auch ein Ergebnis sozialer Bewegungen, von Demeokratisierung als gesellschaftlichem Prozess. In den 80er Jahren, beim verordnen der Demokratie á la Reagan, bei der Wiederherstellung formaler Demo­kratie ohne Veränderungen der gesellschatlichen Machtverhältnisse, der Eigentumsverhältnisse und ihrer militärisch-repressiven Ab­sicherung, ist Demokratisierung von Unten immer kürzer gekommen.
Tatsächlich ist es bei den Demokratisierungen in Argentinien, Uruguay, Brasilien, Chile und in den zentralamerikanischen Ländern im Gefolge der sandinistischen Revolution von 1979 um zweierlei gegangen:
– Die Existenz von Militärdiktaturen mit weltweit registrierten Menschenrechtsverletzungen widersprach dem Anspruch der westlichen Führungsmacht “Freiheit und Demokratie” gen Osten zu tragen (das hat auch die CDU unter Geißler gemerkt und zu Beginn der 80er Jahre angefangen, das Chile Pinochets und das sandinistische Nicaragua in einen Topf zu werfen).
– Diesen Widerspruch galt es zu lösen, ohne die Wirtschaftsord­nung, zu deren Erhalt man die lateinamerikansichen Militärs trai­niert, ausgerüstet und an die Macht gebracht hatte, zu verändern, ohne soziale Bewegungen zuzulassen. Eben die Unterdrückung aller Bewegung für soziale Gerechtigkeit und strukturelle Reformen ohne offene US-Interventionen, aber auch ohne Militärdiktaturen ist moderne Aufstandsbekämpfung, “Kriegsführung niedriger Intensität”.
Die tiefe wirtschaftliche und soziale Krise, die sich heute in Lateinamerika von Tag zu Tag verschärft, zeigt, daß der “Triumph” der Reaganschen Demokratisierung Lateinamerikas keiner ist: Erstens hat die Bevölkerung von Demokratisierung nichts gemerkt und zweitens sind die Widersprüche der US-Hegemonialpolitik in ihrem Hinterhof nicht verschwunden.
Deshalb haben die rechten Intellektuellen, die Reagan schon 1980 berieten, ihr Konzept weiterentwickelt: “Es geht um den Kampf, welches Regime besser ist und nicht nur um die Formen und Wahlpro­zesse der Führer…unser Konzept für diese (demokratischen) Regi­mes beinhaltet eine zeitweise wie eine permanente Regierung. Die temporäre Regierung ist in der Demokratie die offiziell gewählte. Die permanente besteht aus den Iinstitutionellen Strukturen, die vom Wahlergebnis nicht verändert werden: die militärischen, juristischen und zivilen Institutionen” (Santa Fé II). Das hört sich wie ein Hinweis auf die Beschränktheit von Wahlen im Prozess der demokratsichen Willensbildung an, kommt auch daher als Plä­doyer für die “civic society”, scheint Rechtsstaatlichkeit und demokratische Institutionen zu meinen. Der ausführliche wirt­schaftspolitische Teil von Santa Fé II machen aber deutlich, um was es geht: “Ein gesundes …Wirtschaftssystem” ein “System der freien Unternehmerschaft und der freien Märkte, das eine unabhän­gige Gesellschaft trägt.” Unter der Hand wird also “civic society” zu “bourgois society”, werden Privateigentum und darauf gegründete Profitmaximierung zu absoluten demokratischen Institutionen.
Die Scheingleichheit der StaatsbürgerInnen an der Wahlurne, die Freiheit der einen, auf Kosten der anderen zu unternehmen, die Freiheit des Marktes, auf dem ssich ganz ungleiche Wirtschaftssub­jekte begegnen, die Wahrheit der “freien” Medien, behütet von den Institutionen Militär und Justiz – das ist dann Demokratie.
Wer anderer Meinung ist, ist KommunistIn, Gramsci-AnhängerIn, BefreiungstheologIn oder von selbigen verführt und muß vernichtet werden.
Wo sich das privatkapitalistische Definitionsmonopol auf den Be­griff der Demokratie durchsetzt, ist das materielle Gewaltmonopol nicht weit:
In der “Dritten Welt geht es darum, die Sowjetunion einzubinden in das Lager der “zivilisierten Welt”, das Lager der Demokratie, z.B. in “integrierte multinationale Einheiten”, um gemeinsam den “neuen militärischen Gefahren…durch die Entwicklung der Dritten Welt” zu begegnen (NATO-Generalsekretär Wörner, taz, 23.6.1990).

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