Schreiben als Heilung

Wie ist das Kollektiv „Nacen Voces” und die Idee für das Buch entstanden?
Edwin: Ich war auf der Suche nach Dichter*innen, um für Leukemia Literaria ein Interview zu führen. Das ist eine kolumbianische Zeitschrift über Literatur, Gedichte, Essays und Kurzgeschichten. So habe ich Diana und Catalina kennengelernt. Dann begann 2021 die soziale Revolte in Kolumbien (siehe LN 563; 564; 568; Dossier 19) und wir fingen an, uns über die Situation auszutauschen. Bekannte in Kolumbien schickten uns Videos von dem, was geschah, und baten uns um Hilfe. Das schmerzte uns sehr und wir überlegten, was wir tun können, obwohl wir so weit weg sind: Abgesehen davon, die Videos zu teilen, sie an die internationale Presse zu schicken und sie auf der Website der Zeitschrift zu veröffentlichen. Da kam uns der Gedanke, über die Geschehnisse zu schreiben, denn Schreiben hilft manchmal, den Schmerz zu lindern und wir begannen mit dem Projekt.

Catalina: Davor hatten wir eine Facebook-Seite mit dem Namen „Verschwundene aus Kolumbien“ eingerichtet, in die viele Menschen eingetreten sind. Dort prangerten wir an, was während der Proteste geschah. Wir fingen auch an, eine Liste mit allen Personen zu erstellen, von denen uns mitgeteilt wurde, dass sie vermisst wurden. Aber wir hatten das Gefühl, dass man uns nicht beachten würde, weil wir nicht in Kolumbien waren und weil der kolumbianische Staat schon in so vielen Jahren des Verschwindenlassens und der Gewalt seine Bevölkerung nicht beachtet hatte. Es war eine sehr angespannte Lage. Es gab Sabotagen gegen unsere Facebook-Gruppe mit falschen Nachrichten, die versuchten, unsere Arbeit zu diskreditieren. Also beschlossen wir, dass wir mehr tun mussten als nur die Verbrechen anzuprangern. Und da unsere Stärken die Literatur ist, entschieden wir, dass wir eben auf diesem Gebiet einen Beitrag leisten könnten. Da wir nicht nur für uns selbst sprechen wollten, haben wir einen internationalen Aufruf gestartet. Wir wollten den Menschen, die unter staatlicher Gewalt gelitten haben und Opfer waren, eine Stimme geben und Prozesse der Erinnerung unterstützen. So begann der Prozess, uns als Kollektiv zu konsolidieren.

Manche Texte handeln von Kolumbien, manche von anderen Ländern Lateinamerikas, es gibt neuere und ältere Texte… Wie habt ihr diese ausgewählt?
Edwin: Ein Kriterium war, dass es sich um Texte über das gewaltsame Verschwindenlassen, staatliche Gewalt, geschlechtsspezifische Gewalt, willkürliche Verhaftungen und die Opfer all der Jahre des bewaffneten Konflikts handeln sollte. Diese Themen sind nicht nur in Kolumbien präsent, sie vereinen uns leider auch mit anderen Ländern Lateinamerikas.

Catalina: Wir haben ein breites Spektrum eröffnet, das all diese Verbrechen einschließt und natürlich auch das, was genau zu diesem Zeitpunkt geschah, nämlich die soziale Revolte. Da wir Kolumbianer sind, haben wir natürlich an Kolumbien gedacht, aber durch den internationalen Aufruf kamen auch Texte, die von der Diktatur in Venezuela sprachen, ein Gedicht erwähnt Chile, ein anderes das Verschwindenlassen in Mexiko. Lateinamerika ist nicht nur durch die Sprache, sondern auch durch sozioökonomische Probleme und Gewalt miteinander verbunden

Besteht das Kollektiv auch nach der Veröffentli­chung des Buches weiter?
Edwin: Sagen wir es mal so: das Kollektiv tut, was das Buch tut. Das Buch geht seinen eigenen Weg und das Kollektiv lebt von der Kraft des Buches selbst. Außerdem sind daraus Freundschaften entstanden. Nach der Buchvorstellung in Bogotá sind wir jetzt dabei, es zu verbreiten. Wir wollen es an alle Personen und Institutionen verteilen, die sich für das Thema des gewaltsamen Verschwindenlassens engagieren.

Catalina: Wir befinden uns jetzt in einem Prozess mit der Casa de la Memoria in Medellín und anderen Institutionen, um eine Ausstellung mit den Illustrationen und einigen Fragmenten des Buches zu gestalten. Davon ausgehend wollen wir auch andere Räume schaffen, etwa für Konferenzen und Vorträge. Das Kollektiv arbeitet also weiter und eins führt zum anderen. Und wir haben sehr interessierte Menschen in Kolumbien gefunden, die aktiv mithelfen und sich nach und nach dem Projekt anschließen.

In der Einleitung erwähnt ihr nicht die Soziale Revolte, obwohl diese der Entstehungsgrund für die Veröffentlichung war…
Edwin: Der Zweck des Buches ist ein Projekt des Schreibens als Heilung, die Idee, dass durch Worte Schmerz geheilt und transformiert werden kann. Wir wollten keine voyeuristischen Texte, deshalb haben wir sehr sorgfältig recherchiert. Das Ergebnis ist ein gewaltfreies Buch, obwohl es all den Terror und das Leid der Opfer anprangert. Es ist nicht voller Blut, nirgendwo fliegen Bomben, sondern es ist ein hoffnungsvolles Buch. Wir wollten vermeiden, wie die Boulevardnachrichten zu schreiben, die die Gewalt während der Soziale Revolte auf die Titelseite setzten.

Welche Rolle spielt für euch Kunst in Kontexten von politischer Gewalt?
Catalina: Wenn man dir eine Boulevardnachricht zeigt, siehst du den explodierenden Schädel, das Hirn, das Blut und die Eingeweide. Dann werden die Nachrichten mehr zu einem Spektakel als zu einer Möglichkeit, sie mit Bewusstsein zu verarbeiten. Die Kunst hilft einem, ein wenig vom Blut wegzukommen. Sie hat die Fähigkeit, das Grauen und die Tragödie durch einen Filter der „Schönheit“ zu zeigen. Obwohl es nicht schön ist, es ist unangenehm. Aber die Funktion der Kunst ist es, dir etwas zu vermitteln, ein friedliches Gefühl und zugleich dieses Unbehagen, sowie Traurigkeit und Freude. Das ist auch die Funktion des Wortes für uns. Es soll wie ein Filter sein, damit wir nicht im Spektakel verharren.

Präsident Petro hat sich im Wahlkampf dazu verpflichtet, sich für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer der Proteste und allgemein des Konflikts einzusetzen. Seht ihr da Fortschritte?
Catalina: Was getan wird, um die Verschwundenen zu finden, gibt mir Hoffnung. Einige Akteure des Konflikts liefern Informationen über Massengräber. Ich habe auch gehört, dass forensische Teams aus Guatemala mit Experten in Kolumbien zusammenarbeiten, um Leichen aus Brunnen zu bergen, in die Menschen geworfen wurden. Für mich ist diese Suche der Verschwundenen und die Tatsache, dass sich eine Regierung dafür einsetzt, bereits ein großer erster Schritt. In Europa gibt es Regierungen, die dies nicht getan haben. Ich lebe im Baskenland und im spanischen Bürgerkrieg gab es viele Verschwundene, die bis heute nicht wiedergefunden wurden. Es gibt viele Menschen, die immer noch nicht wissen, wo ihre Großeltern und Eltern sind. Das ist ein ständiger Schmerz und ich denke, dass die Arbeit an der Suche der Verschwundenen ein großer Schritt zur Wiedergutmachung ist. Nach so vielen Jahren der Gewalt und angesichts der Schwierigkeiten, mit denen diese Regierung konfrontiert ist, ist das nicht einfach. Aber im Gegensatz zu früheren Regierungen versucht sie es zumindest.

Edwin: Ich komme aus Jamundí im Valle del Cauca, eine Region, die stark von Gewalt betroffen ist. Meine Familie lebt im Herzen der Gewalt. Dort können die Kinder nicht zur Schule gehen, weil sie Angst vor Bomben haben. Wir müssen natürlich alle Prozesse, die gerade stattfinden, anerkennen. Aber in der Gegend, aus der ich komme, geht der Krieg weiter, und zwar auf sehr gewaltvolle Art und Weise. Das alles macht es schwierig, die Dinge hoffnungsvoll zu sehen. Wenn die Kinder deiner Geschwister nicht zur Schule gehen können und deine eigene Familie mitten im Krieg steht, ist das Problem sehr komplex. Natürlich sind dies Prozesse, die unter anderen Regierungen nicht stattgefunden hätten, wir sehen also Fortschritte, aber es ist nur ein Anfang und wir stehen vor einer jahrelangen Arbeit.

Natürlich, es ist sehr schwierig eine Übergangs­justiz umzusetzen, während der Gewaltkontext weiterhin besteht. Aber ist es nicht auch wichtig, Räume zu finden, um mit den Tätern zu sprechen? Denn sie sind diejenigen, die wissen, was sie getan haben und wo die Massengräber und die Leichen der Verschwundenen sind…
Edwin: Gerade mit diesen Menschen ist der Dialog notwendig, aber er ist wirklich schwierig. Ich hatte die „Möglichkeit“, in einem Kriegsgebiet zu leben und nicht nur mit den Akteuren zu sprechen, sondern mit ihnen aufzuwachsen. Viele meiner Schulkameraden haben sich am Ende für eine Seite entschieden, einige sind mit den Versprechungen der Guerilla gegangen, andere mit denen der Paramilitärs. Und leider mussten die wenigen von uns, die sich nicht für eine Seite entschieden haben, den Ort verlassen. Wenn man also mit ansehen musste, wie sein Freund zerstückelt wurde, was kein Mensch mit ansehen sollte, ist es ziemlich kompliziert, sich mit diesen Akteuren zu unterhalten.

Verfolgt ihr weiterhin die Fälle von Personen, die während der Proteste verschwunden sind?
Edwin: Wir haben irgendwann damit aufgehört, zum einen, weil die Sabotage und die Drohungen begannen. Andererseits, weil es eine unheimliche Last war. Das war sehr schwer zu ertragen und wir haben uns dazu entschieden, das Projekt der Heilung durch Schreiben fortzusetzen, und haben uns ein wenig von der Dokumentation der Fälle entfernt. Es wäre interessant, das wieder aufzugreifen, aber es ging damals wirklich zu Lasten unserer psychischen Gesundheit.

LA VOZ DIGNA – EIN AUSZUG

NO SIGUIERON EL JUEGO

Los niños dejaron
de jugar a las pistolas.
Temían disparar de verdad,
temían matar a los vecinos
o a los muchachos que iban pasando,
temían los cargos de conciencia,
las pesadillas de rostros y gritos,
temían decepcionar a la mamá
o la abuela,
temían ir a la cárcel,
temían no poder aprender más
en la escuela,
temían dormir solos
en un lugar lejano —y oscuro—,
temían ser juzgados de asesinos,
temían parecerse a los policías.

Julio César Plata Rueda
Colombia, 2021

Sie spielten das Spiel nicht mehr mit

Die Kinder haben aufgehört
mit Pistolen zu spielen.
Sie hatten Angst davor tatsächlich zu schießen,
sie hatten Angst die Nachbarn zu töten
oder die vorbeilaufenden Jungs,
sie hatten Angst vor der Last auf dem Gewissen,
vor den Albträumen von Gesichtern und Schreien,
sie hatten Angst ihre Mutter zu enttäuschen
oder ihre Großmutter,
sie hatten Angst im Gefängnis zu landen,
sie hatten Angst nichts mehr lernen zu können
in der Schule,
sie hatten Angst davor alleine zu schlafen
an einem weit entfernten – und dunklen – Ort,
sie hatten Angst davor als Mörder verurteilt zu werden,
sie hatten Angst, den Polizisten zu ähneln.

Julio César Plata Rueda
Kolumbien, 2021


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Lyrik aus Lateinamerika

Ilustration: Joan Farías Luan (Cuadroimaginario.cl)

Hipoxilarva

Hay un punto exacto de presión
necesaria y suficiente
sobre las vías respiratorias
para que la hipoxifilia sea
erótica, no mortal.
líderes de la miseria
entrego las difusas líneas
de mi cuerpo
al goce mórbido
de la deriva
adicta al vértigo
de los extremos
trafico mis terminales nerviosos
por fuego
ofrendo mi sed
al hilo
de saliva
que arrojas
perder
hasta mi olvido
en griego, parafilia decanta
de pará y philía
cerca de amar
hago todos los intentos por amar
tan solo logro acercarme
infinitesimal de tejido cardíaco
me elijo trozo
reduzco todo
mi peso
al rosado
de la carne

Hypoxie-Larve

Es gibt eine exakte Stelle, wo
erforderlich- und ausreichender
Druck auf die Atemwege
bewirkt, dass die Hypoxyphilie
erotisch, nicht tödlich wird.
Anführer des Elends
ich gebe die diffusen Linien
meines Körpers
der kranken Lust hin
fortzutreiben
süchtig nach dem Schwindel
der Extreme
bezahle ich mit meinen Nervenenden
für Feuer
Ich spende meinen Durst
dem Faden
des Speichels
den du ausstößt
Verlieren
bis auf mein Vergessen
im Griechischen entspringt parafilia
aus pará und philia
nah an Lieben
ich versuche alles, um zu Lieben
und doch gelingt mir nur ein Annähern
unendliches Klein des Herzgewebes
ich werde zu Klumpen
reduziere all
mein Gewicht
auf das rosarote
des Fleisches


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Lyrik aus Lateinamerika

Illustration: Joan Farías Luan / cuadernoimaginario.cl

Qué bueno está buscar en Google

me separo? me parte?
si me parte me destroza o me agranda?

en qué bar sucede buenos aires?

dónde te encuentro?
me esperaste?

cómo hago para desescribir al monstruo que me destruye por la noche el alma?
quién es el que me grita que no?

cómo amarrarme la lengua cómo explotar la nube negra cómo quitarme el nombre

cómo saber de dónde soy?

Google-Suchen sind toll

soll ich mich trennen? was heiß das physisch?
bin ich zweigeteilt klein gemacht oder größer?

in welcher bar passiert buenos aires?

wo finde ich dich?
hast du auf mich gewartet?

was mache ich, um das monster, das nachts meine seele frisst, zu entschreiben?
wer entgegnet mir ein geschrienes nein?

wie kann ich meine zunge zäumen, wie die schwarze wolke zerpplatzen, wie meinen namen ablegen

wie wissen woher ich bin?


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Politik und Poesie

Widerstand in Quito In der Hauptstadt Ecuadors kam es 2019 und 2022 zu Protesten (Foto: Karen Toro für laperiodica.net)

Wie haben Sie ihren Weg zur Poesie gefunden?

Ich schreibe schon, seit ich Kind bin. Ich war sehr introvertiert und die Umstände, unter denen ich aufwuchs, zwangen mich dazu, schnell erwachsen zu werden. Ich hatte immer das Gefühl, reifer zu sein, als die anderen Kinder in meinem Alter. Durch das Schreiben isolierte ich mich von ihnen. Die Lehrer bemerkten das und sagten: „Du kannst dein Gedicht schreiben“, wenn die anderen Kinder sangen oder tanzten. Mir gefiel das besser. Seitdem schreibe ich. Im Jahr 2017 habe ich mein erstes Buch veröffentlicht.

Wovon handelt Ihr erstes Buch?

Im Jahr 2006 ist mein Vater gestorben. Das war ein einschneidendes Erlebnis und ich begab mich auf die Suche nach mir selbst. In dem Umfeld, in dem ich aufwuchs, wurde ich nicht als indigen wahrgenommen, meine Indigenität wurde nicht anerkannt. Meine Familie gehört zwar der indigenen Bevölkerungsgruppe der Kayambi an, aber geboren bin ich im Territorium der Kitu Kara, etwa fünf Autostunden entfernt vom Rest meiner Familie. Ich bemerkte, dass meine Tanten und Onkel, zu denen ich zuvor kaum Kontakt hatte, Kichwa sprachen und sich anders kleideten. Das war ein Schock für mich. Ich hatte nie in die Welt der mestizos gepasst. Ich sah anders aus, hatte andere Gesichtszüge, andere Nachnamen. Ich gehörte den Kayambi an. Ich begann, mich mit den Ältesten der Gemeinschaft zu unterhalten, nahm an Zeremonien teil. Ich sammelte Eindrücke. Ich entdeckte die Kunst. Ich begann, das System infrage zu stellen, eine politische Position zu entwickeln. Das war erst möglich, nachdem ich meine eigene Identität gefunden hatte. Dieser Prozess dauerte zehn Jahre. Jemand sagte mir: „Das musst du aufschreiben.“ Und so kam es zu meinem ersten Buch.

Ihre Poesie ist sehr politisch und spricht viel über die Strukturen der indigenen Bewegung. Für die anstehenden Wahlen gab es einen indigenen Präsidentschaftskandidaten, der nun nicht mehr kandidiert. Warum?

Die Strukturen der indigenen Bewegung sind von außen schwer zu verstehen. Der Präsident der CONAIE sagt, dass es nicht seine eigene Entscheidung war, für die Präsidentschaftswahlen im August zu kandidieren, aber die Leute von außerhalb sagen: „Leonidas hat sich entschieden, zu kandidieren.“ Obwohl Leonidas selbst gar nicht kandidieren wollte. Er hat gesagt, dass die Bedingungen dafür nicht vorliegen, aber hat seine Kandidatur trotzdem eingereicht. Viele Menschen, die der Bewegung angehören, sehen nur, dass Leonidas einer von ihnen ist, und deswegen vertrauen sie ihm. Aber sie vergessen, die politische Situation zu analysieren. Andere von uns, die etwas mehr in den politischen Debatten stecken, wissen, dass die Bedingungen für eine Kandidatur gerade nicht gegeben sind. Die Entscheidung über die Kandidatur trifft eine Versammlung und Leonidas muss diese Entscheidung akzeptieren. Das hat er getan. Und als die Kandidatur zurückgezogen wurde, war es ebenso die Versammlung, die diese Entscheidung nach einer stundenlangen Debatte traf. Aber die großen Medien berichten, Leonidas hätte seine Kandidatur zurückgezogen. Das zeugt von einem Mangel an Verständnis. Es gibt in diesen Medien keine Journalist*innen, die das gemeinschaftliche System der indigenen Bewegung verstehen. Und so verbreitet sich dieser Diskurs landesweit.

Besonders der amtierende Präsident Guillerme Lasso hat Leonidas Iza regelmäßig beleidigt, ihm gedroht und ihn als Terroristen bezeichnet. Was macht das mit den Leuten?

Das macht die Menschen sehr wütend. Leonidas hat eine sehr wichtige Funktion, er repräsentiert die Bewegung und Lasso behandelt ihn wie einen Kriminellen. Diese Politiker wollen den Anführer der Bewegung zu Fall bringen und sie dadurch schwächen, aber sie verstehen die gemeinschaftliche Logik nicht. Seit 2019 ist ihnen das nicht gelungen und das wird wahrscheinlich auch so bleiben. Leonidas ist nicht nur jemand, der Entscheidungen fällt. Die Leute lieben und schätzen ihn. Er verbringt Zeit mit den Leuten. Wenn er Präsidentschaftskandidat wäre und es mit rechten Dingen zuginge, würde er gewinnen. Er würde die meisten Stimmen bekommen, weil wir, die Leute in den unteren Schichten, die armen Leute, mehr sind. Aber zum jetzigen Zeitpunkt sind die Voraussetzungen für eine Kandidatur nicht gegeben.

Welche Bedingungen müssten sich ändern, damit Iza bei künftigen Präsidentschaftswahlen kandidieren könnte?

Der Grund, warum eine Kandidatur zum jetzigen Zeitpunkt keinen Sinn macht, ist Pachakutik (Pachakutik ist die aus der indigenen Bewegung hervorgegangene politische Partei, die im Parlament vertreten ist, Anm. d. Red.). Viele Abgeordnete sind ihren Prinzipien und den Prinzipien der Partei nicht treu geblieben. Als sie an die Macht gelangt sind, haben sie ihre Stimmen verkauft und die Wähler betrogen. Sie wechselten zur politischen Rechten. Wir brauchen jedoch Abgeordnete, die sich treu bleiben. Leute, die an den Protesten 2019 und 2022 teilgenommen haben. Leute, die dafür gekämpft haben, dass das Öl im Yasuní Nationalpark im Boden bleibt. Diese Leute müssten aus der Bewegung heraus ernannt werden. Aber das ist momentan noch nicht der Fall.

Das politische Projekt des ehemaligen Präsi-denten Rafael Correa, die Revolución Ciudadana, gewinnt als Partei momentan wieder an Aufwind. Wie betrachten Sie diese Entwicklung und die Kandidatur von Luisa Gonzáles, die die erste Präsidentin Ecuadors werden könnte?

Woran ich als erstes denken muss, ist, dass diese Partei zehn Jahre lang alles dafür getan hat, um uns zu spalten. Dass sie sich als unbesiegbar hingestellt hat, als würden sie nichts und niemanden brauchen. So verhalten sie sich gerade wieder. Von der indigenen Bewegung als Einheit wird es keine Annäherung geben. Wenn wir uns eines Tages gemeinsam an einen Tisch setzen sollen, um uns im Sinne des Gemeinwohls zu unterhalten – zum Beispiel, wenn es um die Ressourcen im Yasuní Nationalpark geht – ist das möglich. Wenn es tatsächlich zum Wohle der Gemeinschaft ist, dann ja. Aber nicht, wenn es um das wirtschaftliche Wohlergehen ein paar Weniger geht. Eine Allianz wird es nicht geben. Und dass die aktuelle Kandidatin keine Berührungspunkte mit der feministischen Bewegung hat, ist ein großer Verlust. Die feministische Bewegung Ecuadors ist sehr breit aufgestellt und sie ist sehr stark geworden. Die Genossinnen haben hart gekämpft, um Räume zu erobern.

Um noch einmal auf Ihre Poesie zu sprechen zu kommen: Wie verbinden Sie Poesie und Politik?

Meine Inspiration finde ich im System der Gemeinschaft, in den Versammlungen der indigenen Gemeinden. Meine Poesie gehört eigentlich nicht mir. Ich transkribiere und veröffentliche sie nur. Für manche meiner Gedichte lese ich vierseitige Beschlüsse der CONAIE und fasse sie in einem poetischen Text zusammen. Das macht meine Gedichte zu kurzen Kommuniqués – nicht mehr und nicht weniger.

Was motiviert Sie, Ihre Poesie mit Menschen auf der ganzen Welt zu teilen?

Wenn wir eine Veranstaltung besuchen – zum Beispiel zum Thema Klimaschutz – sehen wir dort immer wieder dieselben Gesichter, dieselben engagierten Leute, die unsere Positionen teilen. Warum sollen wir also noch weiterreden? Wir müssen die Leute erreichen, die noch nicht überzeugt sind. Ich bin überzeugt davon, dass Kunst neue Räume erschließt. Ich möchte die Menschen erreichen, denen unsere Realität unbekannt ist. Die, die noch nicht überzeugt sind. In diese Räume gelangt Poesie. Darin möchte ich meine Energie investieren und diese Kraft habe ich in der Poesie gefunden.


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LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 

Posso vislumbrar meu futuro
num mundo de caricatos moribundos
Sou o anterior e assim sendo
mais belo, mais eu, mais puro
Era apenas uma sombra
hoje, sobra luz agonizante
como pás de cal em cima do assunto
Monólogo: monótono proparoxítona
ou seja, me sentas na sílaba fraca
A palavra mata.
A palavra mesmo morta mata.
Olho ao redor e pressinto
labirintos em espirais coloridos
longe do arco-íris; perto de ti
tão perto que te confunde
A roda emperra na areia da frase solta
e eu guardo meu riso de escárnio
para usá-lo na presença
de apenas uma testemunha:
O meu retrovisor.

 

Ich sehe den Schimmer meiner Zukunft
in einer Welt grotesker Moribunder
Der Vorige bin ich und darum
schöner, selbster, reiner
Kaum mehr als ein Schatten war ich
heute, verbleichendes Licht überflüssig
wie die Schippe Kalk aufs begrabene Thema
Monolog: monotones Proparoxytonon
das heißt, du setzt mich auf die schwache Silbe
Das Wort tötet.
Selbst das tote Wort tötet.
Ich sehe mich um und spüre
bunte Labyrinthe in Spiralen
fern dem Regenbogen; nah bei dir
so nah, dass es dich verwirrt
Das Rad blockiert im Sand des losen Satzes
und ich hebe mir mein höhnisches Lachen auf
zur Benutzung
vor nur einem Zeugen:
Meinem Rückspiegel.


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LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Sanguínea
(anotaciones sobre el corazón humano)

el estudio de la anatomía humana oculta una simbología detrás
de lo que entendemos como sistema / órgano / aurículas y
ventrículos y venas y arterias y válvulas y sangre

tenemos un corazón:
un músculo hueco y piramidal una bomba inteligente aspirante
formada por dos bombas en paralelo que trabajan al unísono
latiendo entre sesenta y ochenta veces por minuto bombeando
cinco litros por minuto

sientes cómo late
lees y hablas sobre él
morirás sabiendo
que lo tuviste y jamás se lo entregaste
a nadie
que no te arrepientes de nada

tenemos dos ojos / dos pulmones / dos riñones
y un estómago y a veces tenemos un corazón:
una bomba de tiempo cuando el cuerpo grita sobre sí mismo
no sé cuándo el mío ha tentado
explotar

he forzado la enfermedad para ser un arma
pero
contra quién

luego de cien mil latidos siete mil quinientos setenta y un litros
de sangre
a veces lo ignoro a veces
lo observo lento
a veces
solo
escucho
su vacío


Bluts-
(notizen zum menschlichen herzen)

das studium der menschlichen anatomie verbirgt eine symbolik hinter
dem, was wir als system / organ / vorhöfe und kammern und
venen und arterien und klappen und blut verstehen

wir haben ein herz:
einen pyramidenförmigen hohlmuskel eine intelligente saugpumpe
bestehend aus zwei parallelen pumpen die im einklang arbeiten
zwischen sechzig- und achtzigmal pro minute pochen fünf
liter pro minute pumpen

du fühlst wie es pocht
du liest und sprichst darüber
du wirst im wissen darum sterben
dass du es hattest und nie jemandem
überlassen hast
dass du nichts bereust

wir haben zwei augen / zwei lungen / zwei nieren
und einen magen und manchmal haben wir ein herz:
eine zeitbombe wenn der körper über sich selber schreit
ich weiß nicht wann meins versucht hat
zu explodieren

ich habe die krankheit gezwungen eine waffe zu sein
aber
gegen wen

nach hunderttausend schlägen 
siebentausendfünfhunderteinundsiebzig litern blut
ignoriere ich es manchmal und manchmal
kommt es mir langsam vor
manchmal
höre ich
nur
seine leere


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LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Fines del siglo XVI (1584), Pedro Sarmiento de Gamboa, a bordo del bajel «Nuestra Señora de la Esperanza», fundó la “Ciudad del Rey Don Felipe», hoy «Puerto del Hambre»: el sitio es testamento mudo del primer enclave español a orillas del Estrecho; murieron allí 300 colonos que quedaron esperando ese barco: “Nuestra Señora de la Esperanza”.

 

EN PUERTO DE HAMBRE UN NIÑO PIDE ENCONTRAR LA ESPERANZA

 

Detrás de la pared de la iglesia
yo pinté el ese barco que yo pido
para Navidad, yo pido cien barcos
entrando en el Puerto antes
que yo sea grande quiero
y también cien barcos de juguete
y un árbol lleno
de cosquillas, de terror.
Pero mejor los barcos y no
más lágrima para mi hermano, ni palabra
de mi madre, sino barcos
ese barco, uno, por favor
te prometo, portarme
bien yo quiero
que los barcos
me lleven hasta el sol.
Muchos más barcos quiero
cien más barcos, mejor
que sean mil.

_________________________________________________

 

Ende des 16. Jahrhunderts (1584) gründete Pedro Sarmiento de Gamboa an Bord des Fregattenschiffs „Nuestra Señora de la Esperanza“ (Unsere Liebe Frau der Hoffnung) die „Ciudad del Rey Don Felipe“ (Stadt des Königs Don Felipe), heute „Puerto del Hambre“ (Hafen des Hungers): Der Ort ist stummer Zeuge der ersten spanischen Enklave an der Magellanstraße; 300 Siedler verhungerten dort, weil das Schiff „Unsere Liebe Frau der Hoffnung“ nie zurückkam.

 

IN PUERTO DEL HAMBRE WÜNSCHT SICH EIN KIND, DIE HOFFNUNG ZU TREFFEN

 

Hinten auf die Wand von der Kirche
hab ich das Schiff gemalt, was ich mir wünsche
zu Weihnachten, ich wünsch mir hundert Schiffe,
die in den Hafen laufen, bevor
ich groß bin, genau, und außerdem
hundert Spielzeugschiffe
und ein Baum voll mit
Kitzeln, mit Schreck.
Aber lieber Schiffe und keine
Tränen mehr für meinen Bruder oder Wörter
von meiner Mutter, einfach nur Schiffe,
dieses Schiff, nur eins, bitte bitte
ich versprech dir, ich bin auch
brav, ich will,
dass die Schiffe
mich mitnehmen zur Sonne.
Und noch mehr Schiffe will ich, noch
hundert Schiffe mehr, noch besser
wären tausend.


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Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Pequeña acción militar con fondo musical wagneriano

El moscardón
como helicóptero de potencia extranjera
o emisario de una guerra incomprensible
se introduce en el cuarto
haciendo reconocimiento
de todos los rincones
Zumba feliz en la muerte del silencio

De súbito
es hallado y condenado a pena capital
En todo caso
nadie sabrá nunca
el motivo de su invasión
pero es sin duda necesario
desquitarnos del mundo
en sus perturbadoras alas

Un golpe certero
Una demolición
Una cacería
Un chivo expiatorio
Un mosco expiatorio
y ¡Zas! La vida

 

Kleine Militäraktion mit Wagner im Hintergrund

Die Schmeißfliege
dringt ins Zimmer ein
wie ein Hubschrauber einer fremden Macht
oder der Bote eines unverständlichen Krieges
und kundschaftet
alle Ecken aus
Summt zufrieden als die Stille stirbt

Plötzlich
wird sie aufgespürt und zum Tode verurteilt
Ganz sicher
wird nie jemand
das Motiv ihres Eindringens erfahren
aber es ist zweifellos notwendig
uns an der Welt zu rächen
auf ihren nervigen Schwingen

Ein treffsicherer Schlag
Ein Akt der Vernichtung
Eine Treibjagd
Ein Sündenbock
Eine Sündenfliege
und Zack! Das Leben


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LYRIK AUS LATEINAMERIKA

hoy no voy a escribir un poema

no puedo pensar en algo lindo
aunque la luna esté maravillosa
coronada por Júpiter, su seguidor
no quiero ver el video de Monsanto
y la maldad sembrada en la tierra
no quiero pensar en mi hermana
que mancha la felicidad de mis días
con su onda de siempre, agresiva y acelerada
hoy no puedo escribir un poema
pero no se preocupen
alguien más lo está haciendo
por todos nosotros,
alguien lo está haciendo por mí

 

(Illustration: Joan Farías Luan , www.cuadernoimaginario.cl)

 

heute schreibe ich kein Gedicht

ich kann an nichts Nettes denken
obwohl der Mond toll aussieht
gekrönt von Jupiter, seinem Follower
ich will nicht das Video über Monsanto sehen
über die Saat des Bösen auf der Welt
ich will nicht an meine Schwester denken
die das Glück meiner Tage besudelt
mit ihrer ewigen Aggressivität, ihrer Hektik
ich kann heute kein Gedicht schreiben_
doch keine Sorge
es macht schon jemand anderes_
für uns alle,
jemand anderes macht es für mich

 

(Illustration: Joan Farías Luan , www.cuadernoimaginario.cl)

 

Gabriela Becherman, geb. 1973 in Buenos Aires, ist nicht nur Autorin mehrerer Gedicht- und Erzählbände, sondern hat außerdem als Sängerin unter dem Pseudonym Gaby Bex das elektroakustische Album „Mandona“ aufgenommen. Als diesjähriger Gast des Poesiefestivals Latinale performte sie im Oktober ihre Gedichte und Songs zum ersten Mal in Deutschland.

Rike Bolte, in Spanien und Deutschland aufgewachsen, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und lehrt derzeit in Barranquilla (Kolumbien) frankophone, hispanophone und deutschsprachige Literaturen. Sie ist Mitbegründerin und Kuratorin des mobilen lateinamerikanischen Poesiefestivals Latinale sowie Übersetzerin aus dem Spanischen und Französischen – und aus dem Deutschen ins Spanische.


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LYRIK AUS LATEINAMERIKA

porque uma mulher boa
é uma mulher limpa
e se ela é uma mulher limpa
ela é uma mulher boa

há milhões, milhões de anos
pôs-se sobre duas patas
a mulher era braba e suja
braba e suja ladrava

porque uma mulher braba
não é uma mulher boa
e uma mulher boa
é uma mulher limpa

há milhões, milhões de anos
pôs-se sobre duas patas
não ladra mais, é mansa
é mansa e boa e limpa

________________________

denn eine gute Frau
ist eine saubere Frau_
und ist sie eine saubere Frau_
ist sie auch eine gute Frau

vor zig Millionen Jahren
stellte sie sich auf die Hinterbeine
die Frau war dreckig, barbarisch_
dreckig, barbarisch und blaffte

denn eine barbarische Frau
ist keine gute Frau
und eine gute Frau
ist eine saubere Frau

vor zig Millionen Jahren
stellte sie sich auf die Hinterbeine
sie blafft nicht mehr, ist sanft
ist sanft und gut und sauber


Hola!

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LYRIK AUS LATEINAMERIKA

De periférico a Madrid

Yo atravesaba un puente
en la mañana de un miércoles, de un jueves.
Los puentes son pura soledad a las 5 aeme:
Su hueso cuelga helado.
Hay homicidios o churros calientes, pero no locos,
sí pervertidos o señoritas decentes.
Yo andaba por el puente cuando/ mientras/ para.
¿cómo le explico de mi pasarela por sus andamios?
Allí era sigilo. Abajo el camión a Izazaga, el fordcito rojo, la ardiente prisa.
Sabía de mí como se entera uno de las corrientes de aire. Es que uno es otro
cuando recorre un puente. Sin metáforas, sin oxígeno,
la vida repartida en peldaños miserables.
Descubierto todo: su errática existencia, su débil osamenta
y el paso y paso de todos, de cualquiera.
Yo atravesaba un puente.

 

Vom Autobahnring nach Madrid

Ich überquerte eine Brücke
an einem Mittwoch-, einem Donnerstagmorgen.
Brücken sind pure Einsamkeit um 5 Uhr früh:
Ihr Knochen hängt eisig.
Es gibt Morde oder heiße Churros, aber keine Verrückten,
wohl Perverse oder anständige Fräulein.
Ich ging über die Brücke als/ während/ damit.
Wie kann ich Ihnen meinen Weg über ihr Gerüst erklären?
Dort war vorsichtige Stille. Unten der Bus nach Izazaga, der kleine rote Ford, die brennende Eile.
Sie wusste von mir, wie man Luftströme bemerkt. Man ist halt ein anderer,
wenn man über eine Brücke läuft. Ohne Metaphern, ohne Sauerstoff,
das Leben verteilt über elende Stufen.
Alles aufgedeckt: die unstete Existenz, das schwache Gerippe
und das Vorbei und Vorüber von allen, von irgendwem.
Ich überquerte eine Brücke.


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LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Utilidad del camino de sirga

Esos hombres embrutecidos por el clima,
el desarraigo, el escorbuto y el hambre
que acarrearon las cuatro chalupas
desde el camino de sirga rumbo oeste
por el Río Negro territorio tehuelche
haciendo valer, al margen de una imaginación
a prueba de balas,
únicamente el derecho de gentes
en favor de la flotación, navegación,
pesca, salvamento y, valga decir,
colonización de tierras indiferentes
al llamado y promesas de dios
iban al país de las manzanas
al país de las manzanas
para que mi mujer hoy pueda,
todavía aletargada por el sueño,
aplicar dos cortes, sin embargo, diestros,
perpendiculares,
sobre una manzana extranjera
mientras mi hija profiere
palabras, todavía, incomprensibles

Der Nutzen des Treidelpfads

Jene Männer, verroht durch das Klima,
Entwurzelung, Skorbut und Hunger,
die auf dem Treidelpfad Richtung Westen
den Río Negro hinauf ins Tehuelche-Gebiet
die vier Schaluppen zogen
und – abgesehen von einer felsenfesten
Überzeugung –
einzig das Recht von Menschen geltend machten,
die sich für Wassertransport, Schifffahrt,
Fischfang, Rettung und – natürlich –
Kolonisation gleichgültiger Landstriche einsetzten,
dem Ruf und Verheißungen Gottes folgend,
gingen ins Land der Äpfel
ins Land der Äpfel
damit meine Frau heute,
noch schläfrig nach dem Aufstehen,
aber geübt, mit zwei lotrechten
Schnitten
einen ausländischen Apfel teilen kann,
während meine Tochter – noch –
unverständliche Wörter brabbelt


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LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Otros miedos
Miedo a fumar sentada en el alfeizar hasta que rompa el alba; a que nadie abra la puerta; miedo a las resoluciones del domingo en la noche; a las sábanas planchadas; miedo a las palabras en lugares adecuados; miedo al no que antecede un apocalipsis; a la risa de los niños; a las listas; los supermercados; miedo a amar la herida; a dar, pedir, negar y –de cualquier otra manera– necesitar ayuda; miedo a huir o a quedarme; a tener la boca seca; a vacilar frente del pescuezo del gallo; miedo a vivir las historias; miedo al escribirlas; miedo a los gritos sordos; a las compañías telefónicas; miedo a las ambulancias; a los pasillos oscuros; miedo a los adverbios; miedo a lo que se dice en el tiempo del silencio; miedo a las canciones en repeat; miedo a tragedia que desencadena el encuentro entre un cuchillo sin filo y un tomate maduro; miedo a enviar todas las cartas; miedo a los platos que se apilan; a los buenos deseos; a despedir a una mascota; a coleccionar almohadas; miedo a morir con hambre o sin sudor en la frente; miedo a las duchas de agua tibia; a los días sin ironía; a un secreto gusto por los incendios; miedo a la unidad de flujo luminoso del sistema internacional, que equivale al flujo luminoso emitido por una fuente puntual uniforme situada en el vértice de un ángulo sólido de 1 estereorradián y cuya intensidad es 1 candela.

Andere Ängste
Angst davor, auf dem Fensterbrett sitzend zu rauchen, bis es dämmert; davor, dass niemand die Tür öffnet; Angst vor den Vorsätzen am Sonntagabend; vor gebügelter Bettwäsche; Angst vor den Worten an der richtigen Stelle; Angst vor dem Nein, das vor der Apokalypse kommt; vor dem Lachen der Kinder; vor Listen; vor Supermärkten; Angst davor, die Wunde zu lieben; zu geben, zu bitten, zu verweigern und – auf irgendeine andere Weise – Hilfe zu brauchen; Angst davor, zu fliehen oder zu bleiben; vor einem trockenen Mund; zu zögern vor dem Hals des Hahns; Angst davor, die Geschichten zu erleben; Angst, sie aufzuschreiben; Angst vor stummen Schreien; vor Telefonanbietern; Angst vor Krankenwagen; vor dunklen Fluren; Angst vor Adverbien; Angst vor dem, was in die Stille hinein gesagt wird; Angst vor Liedern auf repeat; Angst vor der Tragödie, die bei der Begegnung eines stumpfen Messers mit einer reifen Tomate losbricht; Angst davor, alle Briefe abzuschicken; Angst vor dem sich stapelnden Geschirr; vor guten Wünschen; vor dem Abschied von einem Haustier; davor, Kissen zu sammeln; Angst davor, hungrig oder ohne Schweiß auf der Stirn zu sterben; Angst vor einer lauwarmen Dusche; vor ironiearmen Tagen; vor einer geheimen Vorliebe für Brände; Angst vor der internationalen Maßeinheit für Lichtströme, die dem von einer punktuellen monochromatischen Lichtquelle am Scheitelpunkt eines Raumwinkels ausgehenden Lichtstrom von 1 Steradiant entspricht und deren Intensität 1 Candela beträgt.

Valentina Ramona de Jesús (Kolumbien) arbeitet als Journalistin für die Tageszeitung El Telégrafo sowie die Zeitschrift Cartón Piedra (beide Ecuador) und ist Redaktionsmitglied des Literaturmagazins alba.lateinamerika lesen (Berlin). Sie hat Gedichte, Essays und Erzählungen in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Dieses Jahr bringt der KLAK Verlag ihren ersten, zweisprachigen Gedichtband Si todas las lunas se alinearan, Würden alle Monde sich reihen heraus.

Christiane Quandt ist freie Übersetzerin für Spanisch und Portugiesisch und Redaktionsmitglied der Zeitschrift alba.lateinamerika lesen. Sie übersetzte unter anderem Ricardo Lísias, Veronica Stigger, Carmen Ollé, Ana García Bergua und María del Carmen Pérez Cuadra. Zuletzt erschien in ihrer Übersetzung Das Margeritenkloster von Lucero Alanís bei Ripperger & Kremers, Berlin. Sie ist Mitherausgeberin des Bandes Novas Vozes. Zur brasilianischen Literatur im 21. Jahrhundert (2013).


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KOSMOPOLIT PAR EXCELLENCE

Kurioserweise lernte ich ihn zunächst als Übersetzer kennen. Ich kann wohl behaupten, dass von allen Wörtern, die ich in Joseph Conrads Herz der Finsternis las, kein einziges von Conrad, sondern alle von Pitol stammten, mit Ausnahme der Eigennamen. Auch Tschechow und Andrzejewski lernte ich durch seine Stimme kennen. Jahre später sollte die Universität von Veracruz eine Reihe mit Sergio Pitols Übersetzungen von Autoren wie Witold Gombrowicz, Kazimierz Brandys oder Tibor Déry herausgeben. Dass ihre Werke in Mexiko gelesen wurden, ist Pitol zu verdanken – dem Kosmopoliten par excellence: Geboren in Puebla und aufgewachsen in Veracruz, zog er zum Studium der Rechtswissenschaften nach Mexiko-Stadt. Doch da es ihn drängte, in den Städten seiner Lieblingsschriftsteller zu leben, ließ er sich in verschiedenen Ländern nieder, arbeitete als freier Übersetzer, Kulturattaché und Botschafter. In seinen immer kurzweiligen Seminaren zur russischen und zentraleuropäischen Literatur war eine tiefe Leidenschaft für die erzählerischen Ausdrucksformen zu spüren, für meisterlich gesponnene Handlungsstränge.

An der Universität las ich viele seiner Essays und Erzählungen. Mich jetzt in Lob darüber zu ergehen, wäre ein Verstoß gegen die Ehrlichkeit: Manchmal spielt mein Gedächtnis gegen mich. Was jedoch die zehn Jahre überstanden hat, seit ich aus Xalapa weggezogen bin, ist eine Datei mit El mago de Viena („Der Zauberer aus Wien“, nicht ins Deutsche übersetzt; Anm. der Red.). Dank einer mit Pitol befreundeten Dozentin lasen wir das unveröffentlichte Buch wie eine Exklusiv-Nachricht. Im Gegensatz zur üblichen Universitätslektüre – Literaturklassiker und Standardwerke der Hispanistik – saß ich zum ersten Mal vor einem lebendigen, einem genialen Text, der in den Nullerjahren in eben der Stadt geschrieben worden war, in der ich wohnte, und der sich direkt an mich richtete. Ein schwindelerregender Erzählfluss in meiner eigenen Sprache, eine Kritik der „dummen Literatur“, die Verlage als gut anpreisen, die aber eigentlich platte Unterhaltung ist. Mit diesem Werk beschloss Pit ol seine autobiographische Trilogie, zu der auch Die Kunst der Flucht und Die Reise gehören. Ein Jahr später wurde ihm der Premio Cervantes verliehen.
Als ich von seinem Tod erfuhr, rief ich mir die Zeit an der Universität in Erinnerung: Warum hatte ich, anstelle meine Scheu zu überwinden, den merkwürdigen Plan einer zufälligen Begegnung im Morgengrauen ausgeheckt? Da ich nicht in die Vergangenheit zurückkehren konnte, kehrte ich zu seiner Literatur zurück. Ich las Die göttliche Schnepfe und vergewisserte mich seines einzigartigen Humors. Seine Sprach- und Erzählkunst wird nicht nur mein schlechtes Gedächtnis und die „dumme Literatur“ überleben, sondern einen Teil des weltliterarischen Schatzes bilden.


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otro de estudiante de postgrado

entre tantas otras cosas
impronunciables

que nos legó
la dictadura

la desprofesionalización
del profesorado

que leo en un artículo
comillas científico

la desprofesionalización
del profesorado

cuantas veces
es preciso

decirlo en voz alta
frente a una audiencia

para darle el acento adecuado

 

noch so ein doktorand

unter den vielen
unaussprechlichen dingen

die uns die diktatur
vermachte

die entprofessionalisierung
des lehrkörpers

lese ich in einem anführungszeichen
wissenschaftlichen artikel

die entprofessionalisierung
des lehrkörpers

wie oft
ist es nötig

es lauthals vor einer zuhörerschaft
zu wiederholen

um auch wirklich den richtigen ton anzuschlagen


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