
Körperlichkeit, Individualität und Identität sind die aktuellen Themen, die der Film Simón de la montaña aufgreift. Der junge Simón ist mit Pehuen befreundet, der in einem Heim für geistig Behinderte in der argentinischen Steppe wohnt. Er fühlt sich von dieser Gruppe Jugendlicher angezogen und beginnt nach und nach ihre Bewegungen zu studieren, eine eigene Körpersprache und Ticks zu entwickeln, bis er geradezu eins mit ihnen wird. Simón de la montaña ist der erste Spielfilm des Argentiniers Federico Luis (Koproduktion Argentinien, Chile, Uruguay und Mexiko) und lief in San Sebastián in der Sektion Horizontes Latinos. Die Sozialstudie lässt die Grenzen zwischen Simón und seiner Darstellung verschwimmen. Der andere wird repräsentiert, bis sich das eigene Ich geradezu auflöst. Im Titel weckt der Film Assoziationen mit Luis Buñuels gleichnamiger biblischer Figur aus Simón del desierto. Der argentinische Simón sucht seine Identität und erlangt durch diesen Schelmenstreich eine gewisse Narrenfreiheit. Parallelen zu Filmen wie Rainman, Forrest Gump oder Idioten von Lars von Trier sind ebenfalls zu erkennen.
Wesentlich politischer kommt Zafari, der neue Film der venezolanischen Regisseurin Mariana Rondón, daher. Er erzählt von der Rivalität zweier Familien aus unterschiedlichen sozialen Schichten in einem Wohnblock. Alles beginnt mit der Ankunft des Nilpferds Zafari im gegenüberliegenden Zoo. Während eine bürgerliche Familie von zu Hause mit Ferngläsern verbissen beobachtet, wie eine Arbeiter*innenfamilie das Schwimmbad belagert und sich um das neue Tier kümmert, scheint Letztere ihr Leben zu genießen. Strom- und Wasserausfälle sind jedoch an der Tagesordnung, die Bewohner*innen des Häuserblocks haben Hunger und schon bald wird klar, dass es hier um das nackte Überleben geht. Die meisten Wohnungen stehen leer, die alten Mieter*innen sind schon längst weg. Unter einem Vorwand betritt die Protagonistin Ana alle Wohnungen auf der Suche nach Dosenfutter, Kleidung und was sie sonst noch ergattern kann. Eines Tages haben die Nachbar*innen Fleisch organisiert. Da fragt man besser nicht nach, woher es kommt.
Mariana Rondón hatte bereits 2013 in San Sebastián mit ihrem Film Pelo Malo die Goldene Muschel, den Hauptpreis des Festivals, gewonnen. Zafari war nur als Gemeinschaftsprojekt vieler Länder möglich (Koproduktion zwischen Peru, Venezuela, Mexiko, Frankreich, Brasilien, Chile und Dominikanische Republik).
Erwähnenswert ist auch der Film Querido Trópico von Regisseurin Ana Endara aus Panama. Ein tropischer Garten wird darin zum Schauplatz der Komplizinnenschaft zweier einsamer Frauen: eine bürgerliche Frau aus der Oberschicht, die an Demenz leidet, und ihre Pflegerin – eine Migrantin ohne Aufenthaltserlaubnis und ohne sozialen Anschluss, aber mit einem Geheimnis. Nach anfänglicher Ablehnung der neuen Pflegerin kommen sich beide allmählich näher.
Es ist ein Film der ruhigen Töne, der sich Zeit lässt, um die Stimmung und Gemütsverfassung der beiden Frauen festzuhalten. Die Kamera ist nah dran, beobachtet kleine Gesten voller Empathie und intimer Momente. Blicke und Schweigen sagen in Querido Trópico oft mehr als Worte.
Demokratie braucht Erinnerung
In der Sektion Perlas war Brasiliens Altmeister Walter Salles mit Ainda estou aquí (I’m still here) vertreten. Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur: Eine Mutter kämpft im Jahr 1971 um ihre Familie, nachdem ihr Mann festgenommen wurde. Der Regisseur war seinerzeit mit den Kindern von Rubens Paiva befreundet. Der autobiografische Roman des Sohnes Marcelo Paiva diente als Vorlage für den Film. Salles erinnert sich an das Haus als Oase der Freiheit, in dem über Politik debattiert und zu tropischer Musik getanzt wurde. Das alles nahm ein jähes Ende, als die Junta Familienvater Rubens entführt, der nie wieder auftauchen sollte. Heldin ist die Ehefrau und Mutter Eunice, eine engagierte Anwältin, die sich ihr Leben lang für Menschenrechte stark gemacht hat. Salles schildert durch einen intimen Blick auf die gewaltsame Zerstörung einer Familie, wie die kollektive Vision eines Landes verloren ging. Dabei versteht er es, den Schmerz der Protagonist*innen einzufangen, ohne dabei in Sentimentalität zu verfallen. Ein Land ohne Erinnerung ist dazu verdammt, Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Der abscheulichen Glorifizierung dieser dunklen Zeit durch Bolsonaro setzt der Regisseur diesen Film entgegen, als mächtiges Medium gegen das Vergessen. Salles möchte dabei aber mehr als Schmerz vermitteln: Es geht vielmehr um die Erforschung der menschlichen Seele. Er erkundet, wie wir mit menschlichem Verlust umgehen und die Erkenntnis, dass wir selbst in düsteren Zeiten Kraft und Mut schöpfen, um uns zu heilen.
Als weitere filmische Perle hat Apocalypse in the Tropics von Petra Costa aus Brasilien schon in Venedig Eindruck hinterlassen. Ein Land am Rande des Kollapses: Treue Evangelikale beten um die Rettung durch Jesus, während im Amazonasgebiet Tausende von Covid-Opfern in Massengräbern begraben werden. TV-Priester versprechen Seelenheil und Reichtum und fordern ihre treue Gefolgschaft zu einem Putschversuch auf. Bolsonaro-Anhänger*innen stürmen den Präsident*innenpalast mit der Forderung nach einer Militärintervention.
Die oscarnominierte Regisseurin Costa betont, “Apokalypse” heiße eigentlich “Offenbarung”: Wir sollten die Augen öffnen, um zu begreifen, was gerade weltweit mit rechtem Fundamentalismus passiere – ein Film als Roadtrip in die Herzen und Köpfe der Zuschauer*innen, als Zeug*innen des Erosionsprozesses der Demokratie.
Apocalypse in the Tropics spiegelt wider, wie Glauben im Zeitalter der unregulierten Information wirkt, die von Politiker*innen und Multimillionär*innen zu fake news manipuliert werden. Dies geschieht unter direkter Beteiligung der USA, die Evangelikale nach Brasilien schickte, um Politik enger an Religion zu binden. Der Film ist eine dringende Warnung vor der Manipulation einer geschwächten Demokratie durch religiösen Fundamentalismus im Auftrag politischer Interessen. Dadurch werden demokratische Prinzipien nicht nur in Brasilien, sondern auch weit über seine Grenzen hinaus angegriffen.
Rechtspopulismus als Gefahr für den Film
Angesichts der systematischen Zerstörung der argentinischen Filmindustrie durch die Kahlschlagpolitik des rechtspopulistischen Präsidenten Javier Milei hat das Festival in diesem Jahr einen besonderen Fokus auf den derzeit um sein Überleben kämpfenden argentinischen Film gesetzt.
Die Academia de las Artes y Ciencias Cinematográficas de Argentina hat mit Unterstützung des Festivals, der Jurys, Programmleiter*innen und aller anwesenden Filmschaffenden aus Lateinamerika ein starkes Zeichen gesetzt. Festivalleiter José Luis Rebordinos bekundete in einem Manifest seine Solidarität und betonte die Relevanz des argentinischen Films für die globale Filmlandschaft. Dieses Jahr sind allein in den Hauptsektionen 16 argentinische Werke im Programm vertreten, aber es sei ungewiss, wie viele es im nächsten Jahr sein werden – vielleicht gar keine mehr, denn es werden keine Projekte mehr finanziert. Dabei gibt jede einzelne erzählte Geschichte dem Land Identität, Kultur und Arbeit. Film ist in Argentinien als Beitrag zum kollektiven Gedächtnis auch ein wichtiges Medium, damit die schmerzvolle Geschichte des Landes nicht in Vergessenheit gerät.
In diesem Zusammenhang erzählte der Dokumentarfilm Traslados von Nicolás Gil Lavedra von den “Vuelos de la muerte”, den Todesflügen der Militärdiktatur Videlas. Minutiös recherchiertes, ausführliches Archivmaterial zeichnet auf niederschmetternde Weise die barbarische Methode nach, mit der tausende Menschen unter Drogeneinfluss von Flugzeugen ins Meer geworfen wurden. Viele Verschwundene wurden an der Küste Uruguays angeschwemmt. Filme wie dieser sind umso wichtiger in Zeiten, in denen populistische Regierungen versuchen, Staatsterror totzuschweigen und den künstlerischen Ausdruck mundtot zu machen.
Beim Verlesen von Rebordinos’ Manifest waren unter anderem Regisseur Diego Lerman und Schauspieler Leonardo Sbaraglia präsent, deren von Netflix produzierter Wettbewerbsfilm El hombre que amaba los platos voladores wenige Minuten zuvor tobenden Applaus geerntet hatte. In der skurrilen und wahren Geschichte aus dem Jahr 1986 reisen der Journalist José de Zer und sein Kameramann Chango auf Einladung von zwei zwielichtigen Gestalten, die von paranormalen Phänomenen erzählen, in das Dorf La Candelaria in die Provinz Córdoba. Dort angekommen gibt es jedoch nichts Interessantes zu berichten: Ein abgebranntes Kornfeld in den Bergen ist alles, was die beiden Besucher vorfinden. Mit viel Einfallsreichtum schaffte José de Zer dennoch eine bemerkenswerte Berichterstattung über außerirdische Präsenz, die in die Geschichte des argentinischen Fernsehens einging. Dafür nahm er es mit der Wahrheit nicht sehr genau und scheute keine Mühe, um die Zuschauer*innen vor dem Bildschirm zu fesseln: Der Journalist organisierte einen Helikopter und trainierte die Einwohner*innen, um sie als Zeug*innen von Ufosichtungen vorzuführen. Dabei war keine Erzählung absurd genug: Ein kleiner Junge mit hell gefärbten Haaren sollte etwa voller Angst berichten, wie sein Haar durch ein außerirdisches Licht plötzlich weiß wurde. Für die grenzenlos phantasievollen Reportagen wird José de Zer noch heute verehrt. Eine fantasievolle Geschichte voller Humor und Leichtigkeit – willkommene Abwechslung zu den in vielen anderen Filmen präsenten düsteren politischen Realitäten.