In der argentinischen Verfassung sind indigene Rechte verankert. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander: Das Recht der indigenen Bevölkerungen auf Schutz ihrer Territorien wird häufig mit Füßen getreten. Im Süden des Landes schwelt seit Jahren ein Konflikt mit den Mapuche, zu denen sich etwa 100.000 Menschen in Argentinien zugehörig fühlen. Bereits seit ihrer Vertreibung und Dezimierung in der Kolonialzeit fordern die Mapuche ihre Gebiete zurück. Doch erst als in den neunziger Jahren große Ländereien in Patagonien an private Investor*innen verkauft wurden und mit Öl- und Gasbohrungen unter den Regierungen der Kirchners (2003-2015) fortgeschritten wurde, brachen die Konflikte zwischen Mapuche und argentinischem Staat offen aus. Die derzeitige Regierung von Mauricio Macri versucht, die Mapuche als Terrorist*innen und Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Sie hat sogar nachweislich den argentinischen Geheimdienst mit der Aufgabe betraut, Delikte zu erfinden, die die Indigenen hinter Gitter bringen.
Auch das lof (“Gemeinde” auf Mapudungún) Cushamen gehört zum Konfliktgebiet, da es auf dem 900.000 Hektar umfassenden Grundstück des italienischen Kleiderherstellers und Multimillionärs Luciano Benetton liegt. Nach dem Staat und den Provinzen besitzt Benetton am meisten Land in Argentinien. Mehrmals versuchte die Polizei bereits gewaltsam das lof zu räumen. Ihr lonko (“Anführer”), Facundo Jones Huala, sitzt seit Ende Juni im Gefängnis.
Am 1. August griff die Polizei bei einer Straßenblockade für die Freilassung Hualas erneut hart durch. Laut der Aussage von Zeug*innen ging die Polizei mit Schusswaffen gegen die Mapuche vor und brannte deren Zelte nieder. Auch Santiago Maldonado war vor Ort. Maldonado ist selbst kein Mapuche, solidarisiert sich aber mit ihren Forderungen und war zu diesem Zweck in die Gemeinde gereist. Nach dem Angriff der Polizei floh er mit den anderen Aktivist*innen in Richtung eines Flusses. Da er jedoch nicht schwimmen kann, kehrte er auf halbem Weg wieder um. Maldonado versteckte sich in einem Busch, wo die Polizei ihn aufspürte. Die Polizeibeamt*innen verprügelten den jungen Mann, zerrten ihn in ihr Polizeiauto und verschwanden. Laut der Mapuche leitete Pablo Noceti, die rechte Hand von Innenministerin Patricia Bullrich und Vorsitzender des Kabinetts des Ministeriums für innere Sicherheit, die Operation. Dies konnte später durch Fotos und Filmaufnahmen belegt werden.
Nach dem Verschwinden von Santiago Maldonado machten zahlreiche Gerüchte die Runde. Zuerst äußerte die Regierung Zweifel daran, dass er zum Tatzeitpunkt überhaupt am Ort des Geschehens war. Bald fanden Ermittler*innen jedoch in dem Gebüsch, wo sich der Aktivist laut Zeugenaussagen versteckt gehalten hatte, seine Mütze und Blutspuren. Die Auswertung der DNA ist noch nicht abgeschlossen. Regierungsnahe Medien verbreiteten die Aussagen von Personen, die Maldonado gesehen oder sogar im Auto mitgenommen haben wollten. Tatsächlich handelte es sich jedoch nicht um den Verschwundenen. Innenministerin Bullrich ließ verlauten, dass die Familie Maldonado nicht ausreichend mit der Justiz kooperiere, weshalb die Ermittlungen nur schleppend vorankämen.
Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte.
Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte. Dafür sorgt auch eine Liste der unterlassenen oder verspätet eingeleiteten Maßnahmen durch die Verantwortlichen. Denn inzwischen gibt es Informationen darüber, dass auf dem Grundstück Benettons, nahe Cushamen, ein Posten der Militärpolizei stationiert ist. Von dort aus koordiniert die Polizei Aktionen gegen die Mapuche. Doch trotz der Aussagen einiger Zeug*innen, Maldonado sei dorthin verschleppt worden, ordnete der verantwortliche Richter bislang keine Durchsuchung an. Ebenso wenig wurden die Telefonate von Pablo Noceti mit der Polizei ausgewertet. Die Begründung: Es läge kein Verdacht gegen Noceti vor. Menschenrechtsorganisationen sind überzeugt, dass die Ministerin selbst ein Vorankommen bei der Suche nach Maldonado verhindere. Sie fordern ebenso wie viele andere Argentinier*innen ihren Rücktritt.
Währenddessen haben die Familie Maldonado und eine Reihe sozialer und politischer Organisationen eine Öffentlichkeitskampagne gestartet. “Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück – JETZT” lautet das Motto, das jede Aktion begleitet. Das Gesicht des 28-Jährigen und die Frage nach seinem Verbleib haben inzwischen die Grenzen des Landes überschritten. Fotos machen die Runde, auf denen Persönlichkeiten wie Noam Chomsky oder die Fraktion von Podemos im spanischen Parlament Poster mit Maldonados Konterfei hochhalten. Hinzu kommen Solidaritätsaktionen vor der argentinischen Botschaft in unterschiedlichen Ländern – so auch in Berlin am 1. September. Auch Lieder, Gottesdienste und Nachtwachen sind Teil der Kampagne. “Es ist entscheidend, soviel Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Nur so können wir hoffen, dass die Untersuchungen weitergehen, Santiago lebendig auftaucht und niemand ungestraft davonkommt, so wie es leider schon in anderen Fällen geschehen ist”, sagt Roberto Cipriano, Anwalt und Vorsitzender des Exekutivstabs der Gedächtniskommission der Provinz von Buenos Aires, der als Nebenkläger an dem Fall beteiligt ist.
Am 1. September, einen Monat nach dem Verschwinden Maldonados, fand in Buenos Aires eine Demonstration statt. Mehr als 250.000 Menschen versammelten sich auf der zentralen Plaza de Mayo. Am Ende der Demonstration lieferten sich Polizei und Demonstrant*innen Auseinandersetzungen. Mehr als 30 Personen wurden festgenommen. Zahlreiche Hinweise darauf, dass Polizeibeamte den Protestzug infiltriert und Gewalt provoziert hätten, sorgten für Empörung in der Bevölkerung. Die Festgenommenen mussten jedoch nach 48 Stunden freigelassen werden, da es keine Beweise gab und soziale Bewegungen starken Druck ausübten. Ein kleiner Erfolg für die Protestbewegung. Doch von Maldonado fehlt nach wie vor jede Spur…