KARNEVAL DER KRITIK

Foto: Brasil de Fato (CC BY-NC-SA 2.0)

Der kritische Geist, der in den Anfängen des Karnevals so deutlich präsent war, kehrte dieses Jahr bis zum Aschermittwoch in die Samba-Schulen von Rio de Janeiro zurück. Herausragend war die Parade der Samba-Schule Paraíso do Tuiuti, die aus der gleichnamigen Favela im Viertel São Cristóvão stammt. Ohne um den heißen Brei herum zu reden und ohne sich zu verstecken, zeigte Tuiuti Kunst, Samba und Sozialkritik auf höchstem Niveau, unter dem Motto „Meu Deus, Meu Deus, Está Extinta a Escravidão?“ (Mein Gott, mein Gott, ist die Sklaverei ausgestorben?) Schnell zeigte sich in den Reaktionen der Öffentlichkeit und der sozialen Medien, dass diese Frage der Sambaschule aus der armen Nordzone von Rio de Janeiro rhetorisch war.

Die Mitglieder von Tuiuti tanzten als Lohnsteuerkarten, eine Anspielung auf die Reform der Arbeitsgesetze, und schufen mit einem Vampir mit Präsidentenschärpe, einer direkten Repräsentation von Michel Temer, eines der markantesten Bilder. Der Refrain des Sambas fand sein Echo weit über Rio de Janeiro hinaus und wurde weltweit von Zeitungen aufgegriffen, die die expliziten politischen Anspielungen erklärten, die in den letzten Jahren nicht sehr häufig im Sambódromo vorkamen. Gleichzeitig forderte dieses große Medienecho das Narrativ der großen brasilianischen Medienkonzerne heraus, die in ihrer Mehrheit die Reformen der brasilianischen Bundesregierung unterstützen.

„Wir sagen, was das Volk will“, erklärte Thiago Monteiro, Direktor der Samba-Schule Paraíso Do Tuiuti in einem Interview mit dem Blog von Intervozes. Das Ziel war, das alltägliche Brasilien zu zeichnen, so wie es im Karneval in den 1970ern und 1980ern üblich war. Zum Aufsehen, das der Auftritt erregt hatte, und zu der Interpretation, dass Medienkritik ebenfalls ein Teil der Präsentation war, sagte er nur: „Die Antworten muss die Gesellschaft geben. In unserer Parade stellen wir als Samba-Schule nur Fragen. Alle Elemente wurden eingesetzt, damit das Volk die Antworten gibt.“

Und offenbar hat die Samba-Schule einen Nerv getroffen. Nach der Parade stand der Hashtag #tuiuti an der Spitze der Trends des Nachrichtenportals Uol sowie bei Twitter. Am Rosenmontag wurde die Parade von Tuiuti von 92 Prozent der Befragten als beste Präsentation des Karnevals in Rio de Janeiro bezeichnet. Unter den wenigen Samba-Schulen, die politische Kritik äußerten, war Paraíso de Tuiuti sicher die mit der mutigsten Haltung. Ihr Auftritt provozierte „Temer Raus!“-Rufe von den Tribünen, was sich in zahlreichen Straßenumzügen in verschiedenen Bundesstaaten wiederholte. Während der 74 Minuten ihrer Parade präsentierte die Samba-Schule eine scharfe und aktuelle Gesellschaftskritik, die von der Fortdauer gesellschaftlicher Strukturen des Zeitalters der Sklaverei ausgeht und die Ausbeutungsverhältnisse der Arbeit, in der Stadt wie auf dem Land, zeigte. Sie machte so die zunehmende Prekarisierung der Arbeiter*innen Brasiliens deutlich sichtbar. Am Ende der Parade kritisierte Tuiuti sehr direkt die Reform der Arbeitsgesetze: In einer Sektion mit dem Titel „Guerreiros da CLT“ (Krieger der Arbeitsgesetze) trugen die Tänzer*innen ein Kostüm voller Arme, die „schmutzige Lohnsteuerkarten“ hielten.

Beredtes Schweigen der Presse zum “neoliberalen Vampir”.

Wer den Umzug im Fernsehen anschaute – exklusiv vom Fernsehsender O Globo übertragen – verstand den Kontext aus den Bildern, die so plastisch von den Kostümen und riesigen Karnevalswagen geschaffen wurden. Der Kommentar im Fernsehen beschränkte sich auf die Bezüge zur Vergangenheit in der Präsentation. Angesichts der letzten Reihen der Parade, die als „manifestoches“ kostümiert waren – eine Anspielung auf die Mittelschicht-Demonstrant*innen, die ab 2013, stets in Trikots der Nationalmannschaft gekleidet, auf Töpfe schlugen – blieben die Kommentator*innen Fátima Bernardes, Alex Escobar und Milton Cunha rein beschreibend, ohne irgendeinen Bezug zur aktuellen Situation in Brasilien herzustellen. Als auf dem Höhepunkt der Parade schließlich der Vampir mit Präsidentenschärpe auftauchte, stellte Fátima Bernardes nur den Namen der Figur vor: „Das ist der neoliberale Vampir.“ Es folgten exakt acht Sekunden Schweigen, ohne irgendeinen zusätzlichen Kommentar, während das Abschlussbild des Umzugs mit dem Titel „Neues Sklavenschiff“ vorüberzog, was zu großem Erstaunen bei den Fernsehzuschauer*innen führte. Kein weiteres Wort über das Thema. Weder die Reform der Arbeitsgesetze, die im Juli 2017 verabschiedet wurde, noch die Rentenreform, die von der Regierung Temer durchgedrückt werden soll, waren Themen während der Übertragung aus dem Sambadrómo.

Tatsächlich ist die Liste dessen, was in den Medien nicht gesagt wurde, sehr lang. Dazu gehört auch, dass das Oberste Bundesgericht in der Woche vor Karneval die Landrechte der Quilombolas (Nachfahren von geflohenen Sklav*innen, Anm. d. Red.) bestätigt hatte. Obwohl dieses Thema bei den Aktionen der sozialen Bewegungen zentral war, ein Ergebnis der heftigen Debatten in der Gesellschaft, wurde kaum darüber berichtet, beeinträchtigt doch das Urteil die Interessen der mächtigen Agrarindustrie. Selbst angesichts eines Motto-Wagens, der die Quilombolas als Beispiel für den Widerstand der schwarzen Bevölkerung des Landes feierte und die verschiedenen Formen der Sklaverei bis zum heutigen Tag skizzierte, schwiegen die Journalist*innen von O Globo.

Vielen Zuschauer*innen schien das peinliche Schweigen der O Globo-Kommentator*innen eine Folge ihrer Überraschung über die Themenwahl von Tuiuti. Doch die Fakten gehen in eine andere Richtung: Der Direktor des Karnevals von Tuiuti erklärte, dass der Sender gleich dreimal die Werkstätten der Samba-Schulen besucht hätte. Er habe vorab alle Informationen über die Kostüme, die Motto-Wagen und die Themen erhalten. Die Kommentare hätten also sehr gut vorbereitet gewesen sein können, doch O Globo wählte die diskrete Linie der Selbstenthaltung, ohne viele Adjektive und zusätzliche Informationen.

Monteiro betonte, dass die Samba-Schule auf die große Bedeutung der Medien für die Bildung der öffentlichen Meinung ausdrücklich hinwies. Ein Mottowagen thematisierte die Erstveröffentlichung der Zeitung O homem de Cor (Der farbige Mann) Anfang des 19. Jahrhunderts, während der Debatte um die Abschaffung der Sklaverei. „Das war die erste Zeitung gegen die Sklaverei, die von einer schwarzen Person herausgegeben wurde. Wir reden hier von den Medien dieser Zeit, sie haben sicher dazu beigetragen, dass das Goldene Gesetz [Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei vom 13. Mai 1888, Anm. d. Red.] unterzeichnet wurde. Das war eine wichtige Mobilisierung“, erklärte er. Während der Fernsehübertragung erwähnten die Kommentator*innen zwar, dass die Zeitung von Schwarzen geschrieben wurde und dass diese, aus Furcht vor Repressionen, anonym publizierten. Doch sie erwähnten mit keinem Wort, dass Schwarze bis heute in den brasilianischen Medien unterrepräsentiert sind, eine konkrete Form der Fortsetzung der Ausgrenzung, was die Präsentation von Tuiuti sehr wohl problematisierte.
So blieb es schließlich dem alternativen Medienportal Mídia Ninja überlassen, den „Vampir des Neoliberalismus“ zu interviewen. In dem über Instagram veröffentlichten Interview erklärte der Tänzer: „Wir haben viel unter den Korruptionsskandalen gelitten. Wir haben gesehen, wie die gewählte Präsidentin, die mehr als 54 Millionen Stimmen erhalten hatte, daran gehindert wurde, weiter zu regieren, durch einen höchst zweifelhaften politischen Prozess. Und das brasilianische Volk protestiert, verlangt, dass dieser Präsident zurücktritt. Wir wollen diesen Präsidenten nicht!“

Die Samba-Schule Tuitui versteht sich als urbaner Quilombo, also Widerstandsorganisation.

Bei O Globo gab es kein Interview mit dem Hauptdarsteller der Parade von Tuiuti. Aus dem Studio des Senders sandte aber der Komponist des Sambas von Tuiuti, Cláudio Russo, noch eine Nachricht: „Dieser Samba ist ein Widerstandsschrei gegen die schlimmste Institution, die es je gegeben hat, die Sklaverei. Mit dem Samba sagen wir, dass wir in Tuiuti nicht die Sklaven eines Herren sind.“

In den sozialen Netzwerken war davon die Rede, dass während der Live-Übertragung die Mikrofone ausgeschaltet wurden, als die „Temer Raus!“-Rufe im Sambódromo die verstärkte Musik zu übertönen drohten – diese Information konnte allerdings noch nicht bestätigt werden. Doch die Frage bleibt: Warum wurde auf diesen Protest gegen die aktuelle politische Situation auf der größten populären Kulturveranstaltung des Landes nicht näher eingegangen? Warum sind die brasilianischen Medien nicht in der Lage, die Debatte zu zeigen? Auf die Bildschirme zu bringen, was das Volk möchte – das, was Paraíso do Tuiuti auf so meisterhafte Weise geschafft hat?

Die Antworten sind vielfältig und sie sind struktureller Natur. Um einen Anfang zu machen, muss man sagen, dass sich die Samba-Schule Tuiuti als urbaner Quilombo versteht, als Widerstandsorganisation. Und der Karneval, insbesondere die Samba-Schulen, kommen aus der Arbeiter*innenklasse. Auf der anderen Seite waren die brasilianischen Medien immer in der Hand einiger weniger weißer Familien, Repräsentanten der Eliten des Landes.

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