
Was passierte mit Herus an jenem Morgen auf der Festa Junina?
Mehr als hundert Menschen feierten in der Gemeinde die Festa Junina, als es plötzlich zu einer Invasion durch die Spezialeinheit BOPE kam – eine Situation, die inzwischen zum Normalfall geworden ist. Herus, das Opfer, war mit seiner Familie unterwegs, um in der Nähe einen Snack zu kaufen. Er kehrte nicht zurück. Die BOPE schoss auf ihn und holte nicht einmal Hilfe.
Dies ist eine gängige Praxis der Militärpolizei bei ihrem Vorgehen in den Gemeinden. Es hat sich die Vorstellung verfestigt, dass jeder in der Favela ein Krimineller ist. Selbst wenn dies der Fall wäre – wenn jemand also etwas tut, was in der brasilianischen Verfassung, im brasilianischen Staat, nicht als legal angesehen wird – die Todesstrafe ist abgeschafft. Allerdings nur auf dem Papier. In der Realität wird sie tagtäglich praktisch angewendet.
Wir müssen den Kampf aufnehmen, um dieser Vorstellung und der damit verbundenen tödlichen Repression entgegenzuwirken.
Die öffentliche Sicherheit muss diskutiert werden. Die Linke muss über den „Krieg gegen die Drogen“ diskutieren. Sie muss die Dringlichkeit einer ernsthaften und tiefgreifenden Debatte über die öffentliche Sicherheit aufgreifen.
Und wie zerstören Sie die Vorstellung, dass die Favela nur von Kriminellen bewohnt wird? Was ist Ihre Vision der Favela?
Man braucht viel Mut, eine Haltung und eine sehr kritische Vision, um der Repression entgegentreten zu können. Denn heute ist die Favela gefährlich, es gibt die Miliz, den Drogenhandel und den repressiven Staat. Verschiedene Kräfte arbeiten gegen eine Entwicklung der Favela, aber trotzdem reagieren die Menschen. Heute gibt es eine Bewegung, zum Beispiel auch durch Musikgenres wie Rap und Trap. Die Menschen leisten Widerstand.
Die Favela ist ein täglicher Kampf. Das alltägliche Leben in der Gemeinde besteht aus Aufbau. Wir gehen raus, um zu arbeiten, um zu studieren, und wir fordern dabei konsequent unsere Rechte ein. Wir schließen uns in Nachbarschaftsvereinen zusammen und lernen, mit Unterschieden umzugehen. Es gibt nicht nur Schwarze in der Gemeinschaft, es gibt nicht nur Heteros. Wir leben mit LGBT-Leuten, weißen, Menschen aus dem Nordosten des Landes, Menschen, die mehr Geld haben, und anderen, die weniger haben. Es ist gleichzeitig ein freudiges Leben, in dem wir unsere Freundschaften aufbauen, weil wir Kultur mitbringen. Diejenigen, die Schwarz sind, bringen die afrikanische Kultur mit; Samba, Capoeira. Die Menschen aus dem Nordosten des Landes bringen Forró (Tanz aus dem Nordosten Brasiliens, Anm. d. Red.) mit. Diese Vielfalt macht die Favela aus.
Hatte die Polizei schon immer eine solche Haltung gegenüber den Favelas?
Ja, das war schon immer so. Die Militärpolizei wurde nicht geschaffen, um die Bürger zu schützen, sondern die gesellschaftliche Elite. Das ist so, seit der brasilianische Staat gegründet wurde. So wurde Capoeira anfangs verboten. Und wer machte Capoeira? Ehemals versklavte Schwarze. Samba wurde verboten, weil es als Landstreicherei galt.
Heute sind Samba und Capoeira ist nicht mehr verboten, aber der Krieg ist jetzt ein anderer. Die Polizei und der Staat wollen diesen Mythos vom Krieg gegen die Drogen aufrechterhalten. Die Favelas wurden schon immer überwacht, um revolutionäre und transformative Aktionen zu verhindern.
Doch selbst in dieser angespannten Situation schaffen wir es, uns zu bewegen. Die Favela wird sich nicht selbst verändern. Sie ist Teil der Gesellschaft, des Staates, der Stadt. Wenn wir also keinen Staat haben, der sich wirklich für das Wohlergehen der brasilianischen Bevölkerung einsetzt, werden wir keine Veränderung erleben.

Und welche Art von öffentlicher Politik ist Ihrer Meinung nach wichtig, um diesen Wandel herbeizuführen? Was muss getan werden, um ein menschenwürdiges Leben in der Favela zu garantieren?
Wir brauchen Würde, die volle Staatsbürgerschaft und das Recht, den Mund aufzumachen ohne dabei Gefahr zu laufen, verprügelt oder abgeknallt zu werden. Wir brauchen eine öffentliche Gesundheitsversorgung, die für alle da ist. Eine wirklich gute Bildung, die nicht nur eine leere Versprechung bleibt. Wir haben eine Schule, schön und gut, aber welche Ausstattung hat sie? Wie hoch ist das Gehalt der Lehrer? Wie hoch ist das Gehalt der Eltern der Kinder? All das hängt zusammen.
Die Menschen in den Favelas werden diesen Wandel nicht allein schaffen. Das Weißsein – und damit meine ich nicht die weißen Personen, sondern das Weißsein als Machtverhältnis – muss mitsamt seiner Privilegien diskutiert werden und ein kritisches Bewusstsein etabliert werden.
Wenn wir in der Linken das Thema Ethnie, Sexualität oder Geschlecht zur Sprache bringen, wird gesagt, das sei Identitarismus (politische Ideologie, die kollektive Identität über kulturelle Vielfalt stellt, Anm. d. Red.). Sie sehen nicht, dass ich als Frau aus der Arbeiterklasse schwarz und lesbisch bin und mich in meinem Job als schwarze lesbische Arbeitnehmerin wohlfühlen möchte.
Die Linke kann das nicht ganz begreifen, sie ist da sehr traditionell und sehr eurozentrisch. Sie stützt sich immer noch auf Marx, Engels oder Gramsci. Ihnen zufolge kann nichts die Welt bewegen, wenn es nicht aus der Perspektive dieser Denker geschieht. Und dann schaue ich mir die Quilombola (Nachfahr*innen von Gemeinschaften geflohener versklavter Menschen, Anm. d. Red.) und die Kosmovisionen der Indigenen Völker an. Hier finden sich soziale Artikulationen, Lebensweisen. Warum können wir also nicht etwas anderes neu erfinden? Das soll nicht heißen, dass die linken europäischen Denker nicht wichtig waren, das ist es nicht. Aber sie funktionieren nicht mehr.
Was erhoffen Sie sich für die Favela? Welche Zukunft würden Sie sich wünschen?
Ich wünsche mir für die Favela, dass sie sich organisiert. Dass sie ihren Geist, der auf der Achtung der Vielfalt beruht, immer beibehält und weiterkämpft. Wir werden Erfolg haben, wenn wir kämpfen. Aber nicht allein. Ich hoffe, dass die Zivilgesellschaft als Ganzes Verantwortung übernimmt und gemeinsam und organisiert einen Ort schaffen kann, an dem man sich wohlfühlen kann.
Ich bin eine Optimistin. Ich hoffe, dass wir die Dinge umkehren können. Aber heute leben wir in der Favela unter militarisierten Verhältnissen. Auch haben wir – ich nenne es mal Linke –, die gegen all diese Formen der Unterdrückung sind, keine Utopie mehr. Doch auch die Kritik muss mit einem Traum einhergehen. Wir müssen für uns selbst eine Utopie schaffen.
Ich glaube nicht mehr an die Demokratie. Sie ist eine Lüge. Die Demokratie, wie sie in der heutigen Welt besteht, begünstigt einige wenige Menschen, einige wenige Gruppen. Ich mache meinen Mund nicht auf, um zu sagen, dass ich Demokratie will. Ich will nicht sterben, ich will ein Leben haben. Ich weiß nicht, wie es genannt werden wird, aber ein Leben in Würde, wo die Menschen gesund sind, wo der Staat handelt, wo es eine soziale Perspektive gibt.
Ich weiß nicht, wie wir unsere Utopie nennen werden, welchen „Ismus“ wir ihr geben werden, aber heute hat das blutgetränkte Tuch der Demokratie seine Kraft verloren. Wir müssen es sehr deutlich, sehr gründlich und sehr ernsthaft überprüfen. Und wir müssen den Mantel des Eurozentrismus aus unserem Leben entfernen. Wir müssen uns davon befreien, um eine andere Weltsicht, eine andere Perspektive zu schaffen.

































