Arce und Morales verweigern den Dialog

“Entschlossene Entscheidungen in schwierigen Zeiten” Präsident Arce kündigt ein Plebiszit an. (Foto: Comunicación Presidencial / ABI)

„Schwierige Zeiten erfordern entschlossene, reife, gut durchdachte Entscheidungen und Menschen, die angesichts von Widrigkeiten nicht aufgeben.” Boliviens Präsident Luis Arce wählte diese Worte in der Hauptstadt Sucre bei seiner Rede zum Unabhängigkeitstag am 6. August. Und er kündigte eine Volksabstimmung an. Angesichts der wirtschaftlichen Probleme im Land solle die Bevölkerung über drei zentrale Themen entscheiden: die Wiederwahl von Präsident*innen, die staatlichen Subventionen für Benzin und Diesel sowie die Sitzverteilung im Parlament. Dem Plan einer Volksabstimmung kann sein parteiinterner Rivale Evo Morales (Präsident 2006-2019) nichts abgewinnen. Er wies die Initiative sofort als Versuch zurück, seine Wiederwahl 2025 zu verhindern: „Luis Arce will ein Referendum einberufen, mit dem einzigen Ziel, mich als Kandidat zu disqualifizieren”, kritisierte er.

Nicht nur Evo Morales hat am geplanten Plebiszit etwas auszusetzen. Teile der Opposition bezweifelten die Verfassungsmäßigkeit des Referendums. Tatsächlich wies das Oberste Wahlgericht (Tribunal Supremo Electoral, TSE) die vorgelegten Fragen zunächst zurück. Sie seien parteiisch und unklar formuliert, zudem könne über die Verteilung der Parlamentssitze nicht auf diesem Weg entschieden werden. Die Regierung Arce korrigierte die Fragen entsprechend, verpasste jedoch die Frist von 90 Tagen für die Vorbereitung des Referendums, das am 1. Dezember – gleichzeitig mit den Wahlen von Richter*innen – stattfinden sollte. Eine Volksab­stimmung vor der Ausschreibung der Präsident­schafts­wahlen im März 2025 wird somit immer unwahrscheinlicher, obwohl Präsident Arce an dem Vorhaben festhält.

Zentral und politisch brisant bleibt die Frage zur Wiederwahl von Präsident*innen: Soll Artikel 168 der bolivianischen Verfassung geändert werden und die einmalige Wiederwahl auch nach einer Pause erlaubt werden? Denn der Verfassung zufolge dürfen Präsidentin und Vize eigentlich nur einmal und zwar direkt nach der ersten Amtszeit wiedergewählt werden.

Evo Morales will fünfte Kandidatur

Evo Morales konnte nach 2005, 2009 und 2014 bei der Wahl 2019 trotzdem sogar zum vierten Mal kandidieren. Möglich war das, weil seine erste Amtszeit vor dem Inkrafttreten der neuen bolivianischen Verfassung im Jahr 2009 gelegen hatte. 2016 scheiterte zwar ein Referendum, das Morales eine erneute Kandidatur ermöglicht hätte (51 Prozent der Wähler*innen stimmten dagegen), doch das Plurinationale Verfassungsgericht entschied 2017 grundsätzlich zugunsten einer unbefristeten Wiederwahl, begründet mit dem Menschenrecht auf politische Teilhabe. Im Anschluss an Morales’ Sieg bei der Wahl 2019 hatte die rechte Opposition diesem Wahlbetrug vorgeworfen und tagelang protestiert. Auf Druck hochrangiger Militärs trat Morales schließlich zurück. Die rechte Senatorin Jeanine Áñez ließ sich zur „Übergangspräsidentin“ erklären und regierte bis zur Neuwahl im Oktober 2020. Bei dieser Wahl gewann Luis Arce als Kandidat der MAS deutlich mit 55 Prozent der Stimmen. Die Debatte um die Verfassungsmäßigkeit der Entscheidung zur unbefristeten Wiederwahl ist ein zentrales Thema in der bolivianischen Politik. Im vergangenen Jahr hob das Verfassungsgericht sein Urteil von 2017 selbst wieder auf. Morales besteht jedoch darauf, 2025 zu kandidieren.

Das von Arce geplante Referendum könnte endgültig festlegen, ob Morales kandidieren kann oder nicht – deshalb heizt es den Streit zwischen dem Präsidenten und Morales weiter an. Arce warf Morales vor, demokratische Instrumente abzulehnen und Boliviens Wirtschaft bewusst zu boykottieren. Morales konterte, die Regierung Arce sei „zweifelsohne die schlechteste für die bolivianische Demokratie” und kündigte einen Protestmarsch zum Regierungssitz La Paz sowie landesweite Straßenblockaden an. Am 18. September machte sich dieser „Marsch zur Rettung Boliviens“ (Marcha para salvar Bolivia) von der Kleinstadt Caracollo aus ins etwa 200 Kilometer entfernte La Paz auf. Unter den 16 Forderungen der Protestierenden war die Anerkennung des nationalen Parteikongresses der MAS, der im Oktober 2023 in Lauca Ñ stattfand und Evo Morales zum „einzigen Kandidaten” für die Präsidentschaftswahl 2025 erklärte. Das Oberste Wahlgericht hatte diesen Kongress für ungültig erklärt. Zudem forderten die Protestie­renden Lösungen für die aktuellen wirtschaft­­lichen Probleme. Während der Fußmarsch der Morales-Unterstützer*innen mit ihm selbst an der Spitze La Paz jeden Tag näherkam, wuchs dort die Sorge vor gewalttätigen Auseinandersetzungen. Regierungsminister Eduardo del Castillo diskreditierte die Proteste als „Marsch des Todes” und behauptete, das Ziel der Demonstrationen sei ein Staatsstreich. Von verschiedenen Seiten wurden Arce und Morales zum Dialog aufgerufen, beide stellten aber strikte Bedingungen, was ein Treffen verhinderte.

Am 25. September, eine Woche nach Beginn des Marsches, trafen Schätzungen zufolge wenige Tausend Protestierende in La Paz ein. Arces Anhänger*innen und die Polizei hatten dort die Plaza Murillo umstellt, den zentralen Platz vor dem Präsidentenpalast. Auf einer Kundgebung stellte Morales Arce ein Ultimatum von 24 Stunden, um Minister*innen auszutauschen. Anschließend kam es zu Auseinandersetzungen in den Straßen von La Paz, bei denen mehrere Menschen verletzt wurden. Am folgenden Tag zogen sich die Protestierenden zurück und die Lage beruhigte sich. Nach dem Rücktritt von Justizminister Iván Lima zog Morales auch seine Drohung zurück, im ganzen Land Straßenblockaden zu errichten und erklärte eine Unterbrechung der Proteste, bekräftigte jedoch seine Kandidatur für 2025.

Es ist offen, wann der Konflikt erneut eskalieren wird oder ob eine Lösung in Sicht ist. Das politische Ränkespiel zwischen Morales und Arce, der während Morales’ Amtszeit Wirtschaftsminister war und lange als dessen Verbündeter galt, spaltet seit Monaten nicht nur die Partei, sondern auch die Anhänger*innen in den Basisorganisationen und Gewerkschaften in zwei Flügel, die „Arcistas” und „Evistas”.

Der Machtkampf entbrannte im September 2022, als Morales einen „schwarzen Plan“ gegen sich anprangerte. Auf dem nationalen Parteikongress der MAS am 3. Septeber dieses Jahres im Departamento Cochabamba, das als politische Hochburg von Morales gilt, wurden Arce und Vizepräsident David Choquehuanca aus der Partei ausgeschlossen. Bereits zum zweiten Mal, denn schon im Oktober 2023 hatten die Delegierten des Parteikongresses der MAS in Lauca Ñ den Parteiausschluss der zwei Politiker beschlossen und Morales als Parteivorsitzenden bestätigt. Beide Parteitage wurden jedoch vom Obersten Wahlgericht für nichtig erklärt und der Parteiflügel der Arcistas erkannte sie nicht an. Der Streit zwischen Arce und Morales ist geprägt von martialischer Rhetorik und Protesten, übertönt jedoch die ernsten wirtschaftlichen und gesellschaftliche Probleme in Bolivien, vor allem für Arbeiter*innen sowie Indigene und ländliche Gemeinschaften. Während der Präsidentschaft Morales´ profitierte das Land von hohen Marktpreisen für Erdgas und investierte in Sozialprogramme zur Bekämpfung von Armut und Ungleich­heit. Diese Abhängigkeit vom Rohstoff­export schlägt jetzt ins Negative um, denn die Gasreserven gehen zur Neige, die Exporte nehmen ab, es fehlt an Infrastruktur für den Abbau der Lithiumvorkommen. Die sinkenden Erlöse führen zum Dollarmangel. Seit eineinhalb Jahren ist der US-Dollar knapp, mit dem im Alltag Handelswaren und Mieten bezahlt werden. Engpässe bei der Versorgung mit Benzin und Diesel führen auch zu steigenden Lebensmittelpreisen.

An weiteren Problemen mangelt es in Bolivien derweil nicht. Starke Brände im Osten Boliviens haben nach Schätzungen etwa sieben Millionen Hektar Wald und Sträucher zerstört und mehr als 10 Millionen Tiere getötet. Für Aufregung sorgte auch ein mutmaßlicher Putschversuch, als am 26. Juni der General Juan José Zúñiga mit einer Gruppe Militärs den Präsidentenpalast einnehmen wollte und bei seiner Festnahme behauptete, er habe den Staatsstreich im Auftrag von Präsident Arce inszeniert.

Andrónico Rodríguez als möglicher Kompromisskandidat


Bolivien steht in dieser angespannten Situation politisch an einem Wendepunkt, falls innerhalb der MAS keine Einigung erzielt wird oder sich eine der beiden Strömungen durchsetzt und danach die volle Unterstützung erhält. Die politische Opposition wirkt zwar schwach, nicht zu unterschätzen sind aber die möglichen Folgen des Streits für die einflussreichen gesellschaftlichen Organisationen wie die Landfrauenorganisation Bartolina Sisa an der Basis der MAS. Morales’ früherer Vizepräsident Álvaro García Linera hatte im Februar 2024 betont, dass die erste Phase des Plurinationalen Staates zu Ende gehe: Er forderte die MAS-Führung auf, Platz für neue Akteure zu schaffen.

Als möglicher Kompromisskandidat gilt Andrónico Rodríguez. Er ist Präsident des bolivianischen Senats, 35 Jahre alt und könnte einen Generationswechsel verkörpern. Seine enge Verbindung zu Morales könnte aber die Hoffnungen auf einen echten Wandel dämpfen, zudem wird er von vielen Arcistas abgelehnt. Wichtig ist, dass die politischen Strukturen den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht werden. Ein echter Generationswechsel sollte zudem auch progressive und transformative Ideen hervorbringen, die Perspektiven der Basisorganisationen und Gewerkschaften einbeziehen, aber auch von Organisationen, die sich für den Schutz der Umwelt und den Kampf gegen Gewalt an Kindern und Frauen einsetzen. Durch die Stärkung dieser Bewegungen könnten die MAS und Bolivien nicht nur die politischen Konflikte überwinden, sondern auch den Grundstein für eine gerechtere, solidarische und nachhaltige Gesellschaft legen.


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Diplomat gegen Maduro

 Nicht mehr nur Platzhalter Präsidentschaftskandidat Edmundo Gonzáles Urrutia (Foto: Screenshot / Wahlkampfvideo)

Lange Zeit sah es nicht danach aus, als würde sich die rechte Opposition noch auf eine gemeinsame Präsidentschaftskandidatur einigen können. Doch Mitte April verkündete Omar Barboza, Generalsekretär des bedeutendsten Oppositionsbündnisses „Plataforma Unitaria Democrática“ (PUD), die überraschende Entscheidung. „Ich habe eine sehr gute Nachricht für die venezolanische Bevölkerung“, erklärte er gegenüber der Presse. Die zehn Mitgliedsparteien stellen sich demnach „einstimmig“ hinter die Kandidatur des Ex-Diplomaten Edmundo González Urrutia. Führende Politiker*innen aus den Reihen des PUD-Bündnisses bekräftigten in dem sozialen Netzwerk X (vormals Twitter) anschließend ihre Zustimmung. „Venezolaner, wir schreiten voran“, ließ Oppositionsführerin María Corina Machado verlauten, die bei der anstehenden Präsidentschaftswahl am 28.Juli nicht antreten darf. Der zweifache Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles drückte seine „absolute Unterstützung“ aus. Die Universitätsprofessorin Corina Yoris, der die Einschreibung als Ersatzkandidatin für Machado seitens des Nationalen Wahlrates Ende März ohne Begründung verwehrt worden war, erklärte, die Kandidatur habe „selbstverständlich auch meinen Rückhalt.“

Seitdem herrscht innerhalb der Opposition Aufbruchstimmung. Erstmals seit Jahren sehen die Regierungsgegner*innen eine realistische Chance, Nicolás Maduro durch eine Wahl im Präsidentenamt abzulösen. Dabei hatte das PUD-Bündnis González Urrutia ursprünglich nur als Platzhalter eingeschrieben, um Zeit zu gewinnen. Die PUD-Mitgliedspartei Un Nuevo Tiempo (UNT) stellte daneben Ende März den Gouverneur des westlichen Bundesstaates Zulia, Manuel Rosales, als Kandidat auf. Dieser trat bereits 2006 als Präsidentschaftskandidat gegen Hugo Chávez an. Über eine Unterstützung von Rosales gab es innerhalb des Oppositionsbündnisses jedoch keinen Konsens – auch, weil er als zu nachgiebig gegenüber der Regierung gilt. Schließlich zog Rosales seine Kandidatur zurück. Vor allem Machado sprach sich gegen ihn aus. Da sie am 22. Oktober die von der Opposition selbst organisierte Vorwahl ohne ernstzunehmende Konkurrenz gewonnen hatte, führte an ihrer Positionierung dazu, wer statt ihr antreten soll, aus oppositioneller Sicht kein Weg vorbei. Die Regierung sieht Machado nicht als akzeptable Mitbewerberin an. In den vergangenen Jahren hatte sie sich offen für Sanktionen sowie eine US-Militärintervention in Venezuela ausgesprochen und steht deutlich weiter rechts als die meisten anderen Oppositionspolitiker*innen.

Der Druck auf die Regierung wächst

Darüber hinaus treten acht weitere moderate Regierungsgegner (ausschließlich Männer) an, die das PUD-Bündnis überwiegend als eine „gekaufte“ Opposition ansieht. Linke Gegenkandidaturen wurden nicht zugelassen. Im August vergangenen Jahres hatte das Oberste Gericht (TSJ) in die Parteistruktur der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) eingegriffen, die bereits vor Jahren mit Maduro gebrochen hatte (siehe Interview mit Hector Rodríguez von der Kommunistischen Partei Venezuelas). Das TSJ übertrug die Kontrolle über die PCV wie bereits zuvor bei mehreren linken und rechten Parteien mitsamt Namen und Symbolen einer regierungsnahen Ad hoc-Führung. Die staatlich gekaperte PCV unterstützt nun Maduro.

Mit der Einigung auf González erhöht die Opposition den Druck auf die Regierung. Diese setzte bisher vor allem darauf, die Regierungsgegner*innen zu spalten, um die Wahl trotz schlechter Umfragewerte zu gewinnen. Das PUD-Bündnis strebt nach den gescheiterten Umsturzversuchen der letzten Jahre aber mittlerweile einen Machtwechsel über Wahlen an und lässt sich davon bislang auch durch Repressalien seitens der Regierung nicht abbringen. So kommt es im direkten Umfeld von Machado seit Monaten immer wieder zu Festnahmen wegen angeblicher Umsturzpläne. Letztlich musste die Regierung die bereits eingeschriebene Kandidatur von González akzeptieren. Selbst Verbündete der venezolanischen Regierung wie der brasilianische Präsident Lula sprachen sich öffentlich für kompetitive Wahlen in Venezuela aus. Im Hintergrund liefen zudem Verhandlungen mit der Opposition und der US-Regierung. Diese ließ kurz vor der Einigung auf González die bestehende Lockerungen der Sanktionen im Erdöl- und Gassektor mit der Begründung auslaufen, die venezolanische Regierung habe entgegen eines im Oktober geschlossenen Abkommens nicht ausreichend Schritte in Richtung transparenter Wahlen unternommen. Eine Frist von 45 Tagen zur Abwicklung bereits begonnener Projekte bietet allerdings eine Hintertür, um die Entscheidung zu überdenken.

Die Regierung scheint González als Kandidaten bisher nicht wirklich ernst zu nehmen. Sie bezeichnet ihn in der Öffentlichkeit schlicht als „Kandidat der USA“ und versucht weiterhin die Erzählung einer gespaltenen Opposition hochzuhalten. Der staatliche Fernsehsender VTV veröffentlichte kurz nach der oppositionellen Einigung ein offenbar 2015 abgehörtes Telefongespräch, in dem sich González despektierlich über Frauen, Homosexuelle, Afro-Venezolaner*innen und Indigene äußert. Dies könnte auf eine beginnende Schmutzkampagne hindeuten, die aber zunächst verpuffte. Die Wahlmaschinerie der Regierungspartei PSUV ist zwar keineswegs zu unterschätze

Unzufriedenheit in chavistischen Kreisen

Das Momentum scheint aber zunächst auf Seiten der Opposition zu sein. Die Unzufriedenheit mit der Regierung reicht längst bis in ursprünglich chavistische Kreise hinein. Und der wirtschaftliche Kurs der letzten Jahre hat die Angst vor einer rechten Machtübernahme in vielen Bereichen der Gesellschaft abgebaut. Viele Venezolaner*innen müssen sich heute mit mehreren Jobs über Wasser halten. Der Mindestlohn, der vor allem für den großen öffentlichen Sektor relevant ist, liegt umgerechnet bei 3,50 US-Dollar pro Monat. Hinzu kommen Lebensmittelgutscheine im Wert von 40 US-Dollar und ein „Wirtschaftskriegsbonus“, den Maduro am 1.Mai von 60 auf 90 Dollar erhöhte. Beides wird in Dollar berechnet, ist jedoch nicht Teil des Mindestlohnes, von dem sich weitere Rechte wie Urlaubsgeld oder Rentenansprüche ableiten. 133,50 US-Dollar reichen bei einem Preisniveau, das bei vielen Produkten an Europa erinnert, ohnehin nicht zum Leben. Auch die von der Regierung weiterhin sporadisch verteilten Lebensmittelpakete ändern daran nichts. Vor allem jüngere Menschen, die nicht unter Hugo Chávez politisiert wurden, verbinden mit den Begriffen Chavismus und Sozialismus heute vor allem eine höchst ineffiziente Regierung sowie die Bereicherung kleiner Kreise in deren Umfeld. Auch dass die Regierung jüngst einen gigantischen Korruptionsskandal in ihren Reihen publik gemacht hat, erweckt weniger den Eindruck beherzten Durchgreifens, sondern legt vielmehr den schlechten Zustand des Regierungslagers offen.

Öl, Korruption und Herausforderungen

Anfang April wurden der ehemalige Erdölminister Tareck El Aissami, Ex-Wirtschaftsminister Simón Alejandro Zerpa und der Geschäftsmann Samark José López verhaftet. Bereits ein Jahr zuvor war El Aissami im Rahmen umfangreicher Korruptionsermittlungen zurückgetreten, seitdem war sein Verbleib unklar. Sein Umfeld soll innerhalb des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA für einen Schaden von mehr als 20 Milliarden US-Dollar verantwortlich sein. Unter anderem sollen Erdölverkäufe ohne jegliche Kontrolle über Kryptowährungen abgefertigt worden sein. Später erklärte die Regierung, es sei dabei nicht nur um persönliche Bereicherung gegangen. Vielmehr habe El Aissami am Sturz der Regierung Maduro gearbeitet und sei dafür in Kontakt mit hochrangigen Oppositionspolitiker*innen gewesen. Die Geschichte klingt abenteuerlich. El Aissami war schließlich jahrelang einer der wichtigsten chavistischen Funktionäre, der verschiedene Posten bekleidete. Dass Maduro und andere hochrangige Politiker*innen nie etwas von dessen verdeckten Geschäften mitbekommen haben sollen, klingt wenig glaubwürdig. Bereits 2020 hatten die beiden jungen PDVSA-Mitarbeiterinnen Aryenis Torrealba und Alfredo Chirinos auf Missstände und Korruption hingewiesen. Daraufhin wurden sie zunächst der Spionage bezichtigt, inhaftiert und unter Hausarrest gestellt. Chavistische Basisorganisationen setzten sich jahrelang für die Beiden ein, bis sie im April vergangenen Jahres infolge des Rücktritts von El Aissami schließlich ihre Freiheit zurück erlangten. Auf eine Entschuldigung warten sie bis heute.

Die Herausforderung für die rechte Opposition besteht nun darin, die hohen Umfragewerte für Machado auf den weitgehend unbekannten und wenig charismatischen González zu übertragen. In der Öffentlichkeit hält sich dieser zurück und überlässt den Wahlkampf weiterhin Machado, die seit Monaten das Land bereist. Neben der im Auftreten aggressiven Machado gilt González als ehemaliger Diplomat vielen Beobachter*innen deutlich besser geeignet, eine mögliche Transition in Venezuela durchzuführen. Denn unabhängig vom Ergebnis würde diese ohne Verhandlungen nicht möglich sein. Zum einen hätte die heutige Opposition nach einem möglichen Wahlsieg noch immer alle anderen staatlichen Institutionen gegen sich. Zum anderen haben Maduro und andere chavistische Spitzenfunktionär*innen so viel zu verlieren, dass eine geordnete Machtübergabe schwierig erscheint. Nicht nur gibt es innerhalb der Opposition Strömungen, die eher auf Rache denn auf Versöhnung setzen. Auch in den USA sind juristische Verfahren gegen Maduro und sein Umfeld zu erwarten. Trotz permanent laufender Verhandlungen haben die US-Behörden bis heute ein Kopfgeld von 15 Millionen US-Dollar zur Ergreifung von Maduro ausgeschrieben. Aus diesem Grund schlug der kolumbianische Präsident Gustavo Petro vor, zeitgleich zur Präsidentschaftswahl ein Referendum durchzuführen, um juristische Verfolgung der Wahlverlierer auszuschließen. Ernsthaften Widerhall gab es darauf allerdings kaum. Sollte die Wahl wie geplant stattfinden und González tatsächlich gewinnen, würde es innerhalb des Chavismus unweigerlich zu Spannungen über den Umgang mit dem Ergebnis kommen. Eine wichtige Rolle für die breite Legitimation der Wahlergebnisse könnte auch die internationale Wahl­beobachtung spielen. Die Regierung ist darüber konkret mit der EU, der UNO und dem Carter Center im Gespräch. Da die Amtsübergabe aber laut Verfassung erst am 10. Januar kommenden Jahres stattfindet, bliebe die jetzige Regierung noch über fünf Monate nach der Wahl im Amt.


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