// Widerständig in der Gefahr

Journalist*innen werden im Rahmen ihrer Arbeit tagtäglich bespuckt, bedroht, angegriffen, eingesperrt und sogar getötet. Das gilt insbesondere für Lateinamerika. In El Salvador beispielsweise hat der rechte Präsident Nayib Bukele höchstpersönlich die unabhängige Presse zu seinem Feind erklärt. Viele Medien und Journalist*innen haben das Land inzwischen verlassen. Im April sah sich auch das Onlinemagazin El Faro dazu gezwungen, seinen Sitz nach Costa Rica zu verlegen. Seit Bukeles Amtsantritt 2019 habe dessen Regierung versucht, das Medium und seine Mitarbeiter*innen zu verunglimpfen. „Wir wurden physisch überwacht und bedroht, mit Pegasus-Spionageprogrammen angegriffen, von Anzeigenkunden belästigt und von Beamten und Abgeordneten der Regierungspartei diffamiert“, heißt es in einer Erklärung der Chefredaktion.

El Salvador ist kein Einzelfall. In Nicaragua gibt es mittlerweile gar keine unabhängige Presse mehr. Die Medien Confidencial, 100%Noticias und La Prensa mussten nach 2018 nicht nur ihr Erscheinen einstellen. Bei Razzien beschlagnahmten staatliche Stellen auch ihre Räumlichkeiten und Produktionsmittel. Journalist*innen wurden inhaftiert oder mussten ins Ausland fliehen. Die Regierung von Daniel Ortega entzog ihnen kürzlich gar die Staatsbürgerschaft und nennt sie „Feinde des Vaterlands“.

Es sind nicht allein die Regierungen, die unabhängige Pressearbeit bekämpfen. In Guatemala wird deutlich, wie sehr staatliche Stellen im Interesse mächtiger internationaler Wirtschaftseliten handeln. So im Fall des indigenen Journalisten Carlos Choc. Choc berichtete für das linke Onlinemedium Prensa Comunitaria unter anderem über die korrupten Machenschaften des Schweizer Bergbauunternehmens Solway Investment Group. In der zum Konzern gehörenden Mine Fénix in El Estor wird ohne Einverständnis der indigenen Gemeinden der Region Nickel abgebaut. Heftige Umweltzerstörungen in der Nähe der Mine sind die Folge. Wegen seiner Berichterstattung erlebte Choc massive Bedrohungen, Angriffe und staatliche Repressalien. Doch er wehrt sich: „Ich bin kein Krimineller, ich bin Journalist.“

Das Onlineportal Prensa Comunitaria, für das Choc arbeitet, ist eines der letzten Medien in Guatemala, die – gerade aus dem ländlichen Raum – unabhängig berichten. Wie in vielen Ländern Lateinamerikas befinden sich in Guatemala die meisten Medienhäuser in den Händen weniger Unternehmer. So gehören allein dem mexikanischen Medienmogul Ángel González drei bedeutende Fernsehsender, mehrere Radiofrequenzen und verschiedene Kinos. Indigene Journalist*innen versuchen, diesem Informationsmonopol mit eigenen Basismedien etwas entgegenzusetzen.

Das zeigt: Für echte Pressefreiheit braucht es nicht nur sichere Arbeitsbedingungen für Journalist*innen, sondern auch von Wirtschafts- und Regierungsinteressen unabhängige Medien. Das gilt auch für Deutschland, wo die Medienvielfalt stetig abnimmt – etwa, weil Printmedien den Sprung ins digitale Zeitalter nicht schaffen und ihre Arbeit einstellen müssen. Vor allem jedoch, weil Medienkonzerne wie Springer und Co. über viel Macht verfügen. Die jüngst öffentlich gewordenen Ausfälle des Vorstandsvorsitzenden des Axel Springer-Verlagsimperiums, Mathias Döpfner, lassen einmal mehr die Weltanschauung großer Konzernchefs erkennen. Ihr Einfluss zeigte sich zuletzt an der unisono diffamierenden Berichterstattung über Umweltaktivist*innen, Streikende oder an der menschenfeindlichen Scheindebatte über den Umgang mit Geflüchteten. Wie jedes Jahr bietet der Tag der Pressefreiheit am 3. Mai also auch 2023 Anlass zur Sorge. Der nötige Druck, der Regierungen und Konzerne davon abhält, die Pressefreiheit weiter einzuschränken, kann aber nur an der Basis erzeugt werden. Es braucht also auch in der Zukunft viele kleine unabhängige Medien – in Lateinamerika genauso wie in Deutschland.

EIN PARADIES FÜR ZENSURFANS

Preisgekrönter Dokumentarfilm Nuestra Libertad handelt von Frauen, die aufgrund von Fehlgeburten kriminalisert werden (Foto: @Pråmfilm @Flysofar)

Die Einladungen waren verschickt, der Kinosaal gebucht. Dennoch blieb die Leinwand des Kinosaals in San Salvador an diesem Dienstagabend dunkel. Dabei war für den 16. August eigentlich eine ganz besondere Vorpremiere angesetzt gewesen. Auf dem Programm stand Nuestra Libertad (Unsere Freiheit; englischer Titel: Fly so far), ein mit internationalen Preisen dekorierter Film aus salvadorianischer Produktion. Sein Thema: Die ultra-restriktive Gesetzgebung in El Salvador, die jeglichen Schwangerschaftsabbruch unter härteste Strafen stellt. Dass der Film nicht gezeigt werden konnte, hat viel damit zu tun, dass er den Nerv eines Landes trifft, dessen Rechtsprechung Frauen kolossale Ungerechtigkeiten zufügt. Aber auch damit, dass eben diese Rechtsprechung in El Salvador aktuell völlig unkalkulierbar ist.

Mit Nuestra Libertad – Fly so far hat die salvadorianisch-schweizerische Regisseurin Celina Escher einen Dokumentarfilm über die Menschen gedreht, die am härtesten von der juristischen Situation im Land betroffen sind. Über einen längeren Zeitraum hatte sie dafür die Gruppe der 17 (Las 17) begleitet und gefilmt. Als Gruppe der 17 wurden junge Frauen, ausnahmslos aus prekären Verhältnissen, bekannt, die wegen Fehlgeburten zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt wurden und aus verschiedenen Gründen nicht ausreichend Möglichkeit bekamen, ihre Unschuld zu beweisen. Eschers Film erregte hohe internationale Aufmerksamkeit. In vielen Staaten lief Nuestra Libertad – Fly so far im Kino, in einigen auch im Fernsehen. So zum Beispiel in Polen, einem Land, das ebenfalls nicht für seine liberale Haltung in der Abtreibungsfrage bekannt ist. Laut der Regisseurin kein Thema für die Veröffentlichung ihres Werks: „Nie gab es Probleme, nie wurden wir bedroht“.

Erst als der Film in den Kinos ihres Heimatlandes El Salvador anlaufen sollte, änderte sich das. Es regte sich Widerstand ultrakonservativer Aktivist*innengruppen, die sich selbst als Pro Vida (Für das Leben) bezeichnen und die diskriminierende Rechtsprechung des Landes unterstützen. Diese kriminalisiert, unabhängig von Umstand und Verlauf der Schwangerschaft, jeglichen Versuch der Abtreibung. Selbst Fehlgeburten unterliegen einem Generalverdacht, von dem sich alleinstehende, aus prekären Verhältnissen stammende Frauen, wie die Gruppe der 17 nur schwer befreien können, da sie sich keinen teuren Rechtsbeistand leisten können. Ihre Fälle lesen sich vergleichbar, wie aus einem Horrorfilm, der beständig die gleiche Szene wiederholt: Schwangerschaft, Fehl- oder Frühgeburt unter meist unzureichenden medizinischen Bedingungen, kurz darauf trotz nicht bewiesener Schuld Verurteilung zu Haftstrafen in absurder Höhe wegen Kindesmordes. 30 Jahre Gefängnis lautet das häufigste Urteil. Einige Frauen wurden durch die Situationen traumatisiert oder verloren während ihrer Fehlgeburt sogar das Bewusstsein. Auf mildernde Umstände durften sie trotzdem nicht hoffen. Von den Vätern der Kinder fehlt ohnehin meist jede Spur.

Celina Escher ist die Regisseruin des Films “Nuestra Libertad – Fly so far” (Foto: @escher.celina)

Nuestra Libertad – Fly so far wurde auf 50 Festivals weltweit gezeigt, der Film gewann 18 Preise. Ein Meilenstein für ein Land wie El Salvador mit einem eher bescheidenen cineastischen Output. Durch den großen Erfolg konnte eine Kinokette für die Distribution des Films in heimischen Kinos gewonnen werden. Allerdings wartete das Filmteam bis eine Woche vor der Premiere auf die Freigabe durch eine Regierungsstelle. „Das ist eine Standardprozedur, durch die jeder Film durch muss, der hier im Kino gezeigt wird. Trotzdem waren wir natürlich besorgt, dass es Probleme geben könnte“, erzählt Escher. Aber die Freigabe erfolgte am 11. August, die Premiere hätte also wie geplant am 18. des Monats in San Salvador stattfinden können. Doch die Aktivist*innen der Pro-Vida-Gruppen wollten das verhindern. Erstaunlich koordiniert und gut vorbereitet gingen sie bereits am Tag nach der Entscheidung mit einem gemeinsamen offenen Brief, der haltlose Verleumdungen und Rekriminalisierungen des Filmteams und der Frauen der Gruppe der 17 enthielt, an die Öffentlichkeit. Gleichzeitig drohten die Abtreibungsgegner*innen den Kinobetreiber*innen mit rechtlichen Schritten, falls der Film in ihren Sälen gezeigt werden sollte. Eine rechtliche Prüfung durch das Kino ergab, dass die Vorwürfe vor einem Gericht keinen Bestand haben dürften, da der Grundsatz der Pressefreiheit durch den Film nicht in Frage gestellt würde. Dennoch entschied sich die Kette dafür, den Film aus dem Programm zu nehmen – zumindest so lange, bis wieder Rechtssicherheit in El Salvador herrscht. Seit fast einem halben Jahr ist diese nämlich in dem zentralamerikanischen Land nicht mehr gegeben.

Absurde Strafen Viele Frauen wurden zu 30-jährigen Haftstrafen verurteilt (Foto: @Pråmfilm @Flysofar)

„Komplex“ nennt Celina Escher die Gemengelage. Von direkter staatlicher Zensur könne man nicht sprechen, schließlich sei die Veröffentlichung des Films genehmigt gewesen. Doch ihrer Rechte sicher sein kann sich im Moment fast keine Organisation, die politische oder soziale Missstände in El Salvador beim Namen nennt. Grund dafür ist der parlamentarische Ausnahmezustand, den Staatspräsident Nayib Bukele Ende März mit der Begründung des Kampfes gegen Bandenkriminalität verhängt hat und der seither mit schöner Regelmäßigkeit jeden Monat verlängert wird. Dadurch sind Grundrechte außer Kraft gesetzt, zu denen zwar nicht die Pressefreiheit, aber dafür wichtige Rechte von Angeklagten in Strafprozessen gehören. Unter diesen Umständen könnte deshalb aktuell niemand eine Garantie dafür übernehmen, dass ein möglicher Prozess auf der Grundlage der laut Verfassung gültigen Rechtsnormen durchgeführt würde. Die einzig sichere Form, in El Salvador vor Gericht nicht verurteilt zu werden, ist momentan, es gar nicht erst zu einer Anklage kommen zu lassen. Ein Paradies für aggressive und finanziell gut ausgestattete Zensurfans wie das Pro-Vida-Bündnis, das so mit Drohungen und Einschüchterungen leichtes Spiel hat, die Veröffentlichung missliebiger Berichterstattung zu verhindern. Zumindest vorerst. „Natürlich haben wir weiterhin vor, den Film auch in El Salvador zu zeigen“, erklärt Celina Escher. Wann dies sein wird, steht aber angesichts der aktuellen Lage in den Sternen.

Viele Fragen zum Fall Nuestra Libertad – Fly so far bleiben ungeklärt. Zum Beispiel, wer die Freigabe des Films durch die staatlichen Stellen so blitzschnell an das Pro-Vida-Bündnis durchstach, dass dieses sich umgehend organisieren konnte. Oder warum der Staat von selbst so wenig unternimmt, um das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Pressefreiheit durchzusetzen. Die wichtigste aber bleibt, wann Frauen in El Salvador endlich vor willkürlichen Gefängnisstrafen nach Schwangerschaftsabbruch bewahrt werden und wer sie und ihre Unterstützer*innen vor den fanatischen Abtreibungsgegner*innen beschützt. „Wir wissen, wozu diese Gruppen fähig sind“, sagt Celina Escher, die vor allem in Sorge um die Protagonistinnen ihres Films – manche mittlerweile frei, manche noch im Gefängnis – ist. Aber auch für sich hat die Regisseurin bereits Maßnahmen getroffen: Aus Selbstschutz hat sie ihren Aufenthaltsort dauerhaft ins Ausland verlegt und wird vorerst nicht nach El Salvador zurückkehren.

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KARIKATUR IST KRITIK

Illustration: Pedro X. Molina

Sie sind ein international bekannter und mit vielen Preisen bedachter Karikaturist. In Berlin halten Sie sich derzeit auf Einladung des Lateinamerika Instituts auf. Wie wurde Ihr Interesse für diese Kunstrichtung angeregt? Und wohin hat sie Sie geführt?
Ich habe als Kind aus Spaß angefangen zu zeichnen. Ich wuchs während der Wirtschaftsblockade in den 1980er Jahren in Estelí im Norden von Nicaragua auf. Wegen der Blockade kamen viele Dinge nicht ins Land. Für ein Kind, das Superhelden-Comics lesen wollte, gab es keine Möglichkeit, sie zu bekommen. Es gab nur einen Fernsehkanal, der eineinviertel Stunden Kinderprogramm ausstrahlte, nicht viel, womit man sich unterhalten konnte.

Damals fuhr meine Mutter nach Managua, um dort Dinge einzukaufen, die sie in Estelí verkaufte. Am Busbahnhof in Managua wurden mexikanische, kubanische, argentinische und auch spanische humoristische Comics verkauft. Meine Mutter ließ mich die Comics kaufen oder kaufte mir selbst welche. Es gab auch die Semana Cómica, ein Comicheft des Cartoonisten Roger Sánchez. Ich las das ganze Material und versuchte, die Bilder und die Karikaturen aus dem Fernsehen zu kopieren. Semana Cómica war politisch und kritisch, so dass ich schon sehr früh eine Verbindung zwischen Zeichnen und Kritik herstellte, und wie man die Gesellschaft durch Humor hinterfragen kann. Bei der Berufswahl habe ich mich für Grafikdesign entschieden, doch schon bald habe ich gemerkt, dass das nichts mit dem zu tun hatte, was ich machen wollte. So begann ich, mich autodidaktisch weiterzubilden.

In der Bibliothek in Managua suchte ich die Karikaturen der Meinungsseiten nicaraguanischer und ausländischer Zeitungen und kopierte sie. So begann ich, Zeichnen zu lernen. Dann zeichnete ich meine erste Karikatur und brachte sie zu einer Zeitung, um zu sehen, ob man sie veröffentlichen würde. Ich wurde zwei-, dreimal abgelehnt, dann einmal veröffentlicht. Aber ich habe nicht aufgegeben, ich sagte mir, das ist das, was ich beruflich machen will: Meinungskarikatur.

Kulturschaffende und Journalist*innen sind derzeit in Nicaragua einer harten Repressionswelle ausgesetzt. Wann war für Sie der Zeitpunkt gekommen, Nicaragua endgültig zu verlassen?
Das war eine schwierige Entscheidung, denn es ist mein zweites Exil. In den achtziger Jahren musste meine Familie wegen des Krieges ins Exil gehen – später konnten wir zurückkehren. Daher wusste ich, wie schwierig das Exil ist, und ich wollte diese Entscheidung nur treffen, wenn es absolut notwendig würde. Künstler in Nicaragua haben schon vorher unter Repressionen gelitten, ebenso Journalisten. Ich habe journalistisch für Confidencial in Estelí gearbeitet und visuell über meine Stadt berichtet. Gleichzeitig habe ich meinen Job als Karikaturist gemacht und davon erzählt, was von April 2018 (Beginn der Proteste, Anm. d. Red.) bis Dezember 2018 passiert ist.

Bei dieser Arbeit ist man bis zu einem gewissen Grad daran gewöhnt, Hassmails zu erhalten: Unter den Leuten, die sich über deine Arbeit ärgern, gibt es immer jemanden, der den Ton verschärft, bis hin zu Drohungen. Vor allem seit Ortega 2007 wieder an die Macht kam, sind die Drohungen härter, gröber und vulgärer geworden. Nach dem April 2018 lief die Sache gezielter: Journalisten wurden ständig an ihrer Arbeit gehindert. Sie wurden auf der Straße ausgeraubt, verprügelt und verunglimpft. Angel Gahona (Journalist und Kameramann, der am 21.4.2018 erschossen wurde, während er live über die Proteste berichtete, Anm. d. Red.) war bereits getötet worden, und es herrschte große Anspannung.

Im Dezember 2018 beschlagnahmte die Diktatur die Redaktion von Confidencial, doch Journalisten waren keine mehr anwesend. Damit war der Punkt gekommen, an dem ich mir sagen musste, es reicht. Als sie in der darauf folgenden Woche dasselbe mit 100% Noticias machten, waren unglücklicherweise die Journalisten Miguel Mora und Lucía Pinera noch im Gebäude, die dann verhaftet wurden.

Künstler*innen werden fast immer gefragt, ob Kunst Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse nehmen kann. Wie würden Sie diese Frage beantworten?
Ich denke, die Kunst ist ein Teil der sozialen Prozesse und Veränderungen werden nie durch einen einzigen Faktor hervorgerufen, der sie freisetzt oder zu ihrem Erfolg führt. Sie sind die Summe vieler Dinge. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch das, was einzelne tun, Teil dieses Wandels ist. Denn was man mit einer Karikatur − mit ihrer Kritik − anstrebt, ist soziales Bewusstsein: Zu hinterfragen, wie wir leben, ob es richtig oder falsch ist, was wir tun sollten oder zumindest − wenn wir die Antwort nicht geben können − uns zu unterstützen, uns gegenseitig zu fragen, was wir tun können, um aus der Situation, in der wir uns befinden, herauszukommen. All das lädt zu Veränderungen ein, es lädt zum Nachdenken über die Gesellschaft ein. Ich denke, dass Kunst − Kunst im Allgemeinen − sicherlich ein großer Motivator für sozialen Wandel ist.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Kontroverse zurückkommen, die sich 2016 abgespielt hat, also zwei Jahre vor Ausbruch der Jugendproteste: Einige von Ihnen in Confidencial verfasste Comics zur politischen Apathie der Jugend riefen wutentbrannte Kommentare zu Ihrer Person hervor. Wie haben Sie auf die Angriffe der jungen Leute reagiert? Und hat sich für Sie der Vorwurf des Eskapismus und Konformismus nach dem April 2018 relativiert?
Wir sprechen hier über eine soziale Gruppe, milenials genannt, auf die sich zu diesem Zeitpunkt die Kritik richtete: Erstens weil sie kritikwürdig ist und zweitens, weil sie glaubt, dass alle anderen Sektoren Kritik verdienen, nur die eigene Gruppe nicht. Als ich die Comics machte, war es das, was ich in diesem Moment bei den jungen Menschen beobachtete: Jugendliche, die nur daran interessiert waren, ihr Studium zu beenden, am Wochenende auszugehen und sich zu amüsieren, ein Guthaben auf dem Handy zu haben, sich für spanischen Fußball interessierten und für wenig mehr. Und die sich nicht im geringsten um die institutionelle Erosion und den Verfall kümmerten, der gerade in Nicaragua stattfand, die sich hinter der Ausrede versteckten, damit hätten sie nichts zu tun, es sei nicht ihre Schuld, das sei „unsere” Schuld.

Unabhängig davon, wessen Schuld es ist: Sie werden diese Suppe auslöffeln müssen, deshalb sollte es sie interessieren. Also habe ich diesen Cartoon gemacht, der heftigst kommentiert und kritisiert wurde. Einige Jugendliche, von denen manche sich als Sprecher ihrer Generation bezeichneten, begannen mit der Kritik. Dabei ging es nicht um inhaltliche Argumente, das Argument war, dass wir adulteros seien, „Alte“, die junge Leute nicht verstehen. Das andere war: „Ihr wart die Generation, die uns das angetan hat, warum wälzt ihr das Problem auf uns ab?” Mir schien, als würde man der Generation die Schuld geben wollen, die in den achtziger Jahren von der FSLN begeistert war, ohne zu wissen, was aus ihr einmal werden würde. Aber die Kritik war auch sehr nützlich, weil sie eine Diskussion eröffnete. Das Thema wurde debattiert, was ja die Aufgabe der Meinungskarikatur ist: eine Debatte anzustoßen, die damals hauptsächlich in den sozialen Netzwerken stattfand. Dann begann der Protest von 2018 und das veränderte alles. Die Studierenden waren eine sehr wichtige Stimme und übernahmen am Anfang die Führung. Für mich waren sie nicht nur die wichtigste Stimme, sondern die Stimme überhaupt. Also begann ich, dies in meinen Karikaturen und Comics darzustellen und die Position der Studenten zu verteidigen und zu bestätigen, dass ihre selbstorganisierte Bewegung eine Bürgerbewegung war, auch wenn die Regierung etwas anderes behauptete. Viele von ihnen begannen, eine starke Sensibilität zu entwickeln, womit sie die gesamte Bevölkerung ansteckten, was schließlich zu einem mehrheitlich geteilten Empfinden wurde. Nachdem das passiert war, haben mir einige die gleiche Frage gestellt, die Sie mir gestellt haben. Über die sozialen Netzwerke fragten sie: „Nun, da Sie gesehen haben, wie die Dinge liegen, müssen Sie sich für das entschuldigen, was Sie 2016 über uns gesagt haben.” Meine Antwort war deutlich: Nein! Warum? Ich arbeite kontextbezogen, ich schaue mir an, was Tag für Tag passiert. In dem Moment, als ich es kritisierte, war es wahr. Sollten sie in Zukunft zu derselben Situation zurückkehren, werde ich sie wieder kritisieren, denn das ist meine Aufgabe. Die meisten Menschen beider Generationen erkennen an, dass es 2018 einen grundlegenden Wandel gab. Bedeutet das, dass es in Nicaragua keine apathischen jungen Leute mehr gibt? Nein. Denn es gibt immer noch viele. Aber auch viele engagierte junge Menschen und viele, die gezwungen waren, Nicaragua zu verlassen, weil sie verstanden haben, dass dieses System, für das sie bis 2018 blind waren, als Lebensprojekt nicht tragfähig ist.

Die Somoza-Diktatur wurde erst nach jahrzehntelangem bewaffneten Kampf beendet. Gibt es unter den Exilant*innen noch Zuversicht oder Ideen, wie sich in Nicaragua ein Systemwechsel erreichen ließe?
Ich denke, so schwierig es auch ist, die Hoffnung aufrechtzuerhalten, gibt es Gründe, sie zu haben. Nicaraguas Geschichte zeigt uns, dass Diktaturen unter Umständen fallen und das Volk für Überraschungen sorgen kann. Den April 2018 hat niemand vorhergesagt − niemand! Nicht einmal die seriösesten Analysten sagten für 2018 so etwas voraus. Damit will ich sagen, dass in einem bestimmten Moment die geringfügigste Sache der Tropfen sein kann, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich bin besorgt, weil sich 2018 wiederholen wird und vielleicht wird es mit noch größerer Gewalt und zu einem noch höheren Preis für die nicaraguanische Gesellschaft passieren – genau das hätten wir verhindern sollen, die Welt hätte es verhindern müssen, aber es ist leider bisher nicht gelungen.

Ich möchte zurück, aber ich will nicht zurück in ein Nicaragua, das kapituliert hat, das versklavt, unterworfen, resigniert ist. Ich will ein freies Nicaragua, in dem man jedes Thema diskutieren kann, ohne Angst haben zu müssen, dass man für einen Tweet 15 Jahre ins Gefängnis kommt. Das ist mein Kampf und der Kampf so vieler Menschen, um Veränderungen herbeizuführen. Wie erreichen wir diese Veränderungen? Das ist eine wichtige Debatte und ich verstehe all die Leute, die frustriert sind und sagen: „Wenn Somoza mit Waffengewalt gestürzt wurde, und wenn diese Diktatur mehr und mehr identisch ist mit der Diktatur von Somoza, dann muss das ebenso die Antwort sein.” Ich glaube nicht, dass dies der richtige Weg ist, es muss einen anderen Weg geben als eine bewaffnete Revolution. Eine Reihe von Dingen muss geschehen, um eine Gesellschaft zu verändern. Natürlich liegt die Verantwortung dafür zuerst bei den Nicaraguanern selbst und unter ihnen bei denjenigen, die über mehr Energie und Möglichkeiten verfügen, um zu handeln; ihre größte Verantwortung besteht darin, einen Konsens über ein Mindestprogramm herzustellen, das eine Lösung der Probleme ermöglicht. Ich glaube, dass die internationale Gemeinschaft hier ebenfalls eine Rolle zu spielen hat, denn was in Nicaragua geschieht, hat Auswirkungen auf die gesamte Region.

// STAATSFEINDIN PRESSE

Diese Ausgabe der LN beginnt mit einer außergewöhnlichen, weil positiven Nachricht für Journalist*innen in Lateinamerika. Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Entführung, Folter und sexualisierten Gewalt gegen die kolumbianische Journalistin Jineth Bedoya hat der Interamerikanische Gerichtshof am 18. Oktober 2021 ein unmissverständliches Urteil gefällt: „Seriöse, präzise und kohärente Indizien“ sprächen für die direkte Beteiligung von staatlichen Akteuren an der Entführung von Bedoya. Der kolumbianische Staat sei, laut Gericht, nicht nur verantwortlich für die an ihr begangenen Verbrechen, er habe auch das Recht des Opfers auf eine angemessene juristische Aufarbeitung des Falles missachtet und sie geschlechtsspezifisch diskriminiert. Jineth Bedoya wurde im April 2000 vor einem Gefängnis in Bogotá entführt, als sie dort einen ranghohen Paramilitär interviewen wollte.

Die symbolische Bedeutung dieses Urteils ist aus vielen Gründen kaum zu unterschätzen. Vor dem Interamerikanischen Gerichtshof hat Bedoya Gerechtigkeit erfahren, was ihr in Kolumbien trotz jahrelanger Prozesse und akribischer eigener Aufklärungsarbeit systematisch verwehrt wurde. Sie wurde ihr verwehrt, weil ihre Recherchen in den Gefängnissen sowie die Aufklärung ihrer eigenen Entführung die systematische Verstrickung von paramilitärischen und staatlichen Strukturen offenlegt. Doch so groß die symbolische Bedeutung des Urteils auch sein mag, für die meisten Medienschaffenden in Lateinamerika wird sich dadurch leider wenig ändern. Wenn sogar eine der Top-Journalist*innen Kolumbiens 20 Jahre um Gerechtigkeit kämpfen muss, sind die Aussichten für weniger renommierte, vernetzte und finanziell ausgestattete Medienschaffende düster.

Schon seit Jahren ist die Situation für Journalist*innen in vielen Teilen Lateinamerikas katastrophal. Die von Reporter ohne Grenzen herausgegebene Karte zeigt auch dieses Jahr wieder den desaströsen Zustand der Pressefreiheit. Ein tiefroter, großer Fleck zieht sich über die Landkarte Lateinamerikas – von Bolivien bis nach Mexiko. Das Fazit ist – mal wieder – besorgniserregend: In keiner anderen Region haben die Verletzungen der Pressefreiheit so stark zugenommen wie in Lateinamerika. Laut eines UNESCO-Berichtes wurden mehr als ein Viertel aller zwischen 2016 und 2020 weltweit dokumentierten Fälle getöteter Journalist*innen in Lateinamerika und der Karibik verzeichnet. Wer über Korruption, Drogenhandel oder Waffengeschäfte schreibt, muss damit rechnen, zum Staatsfeind und zur Zielscheibe (para-)staatlicher Gewalt zu werden.

Das Urteil im Fall Bedoya wird an dieser Situation so schnell nichts ändern, aber immerhin ist es ein bedeutender Schritt nach vorn. Auch deshalb, weil es sexualisierte Gewalt gegen Journalist*innen sichtbar macht. Es verpflichtete den kolumbianischen Staat unter anderem dazu, Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Bedrohungen und Gewalt gegen Pressevertreter*innen in Zukunft zu registrieren und öffentlich zugänglich zu machen. Dass das Gericht geschlechtsspezifische sexualisierte Gewalt als Verbrechen betrachtet, ist ein Novum und könnte künftigen Verfahren als Präzedenzfall dienen. Auch für die Aufarbeitung des rund 50-jährigen bewaffneten Konflikts in Kolumbien könnte das Urteil eine wichtige Strahlkraft entwickeln. Die Vize-Chefredakteurin der größten kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo appellierte bereits am Tag nach der Urteilsverkündung an die Sonderjustiz für den Frieden, einen Prozess zur Ahndung sexualisierter Gewalt im bewaffneten Konflikt zu initiieren.

DIE MACHT DER MAFIA

Er war einer der Bekanntesten und einer der Mutigsten. „Einer, der uns vom Territorium El Chapos aus gelehrt hat, wie man über die Drogenmafia berichtet“, schrieb die Reporterin Marcela Turati auf ihrer Facebook-Seite über ihren Kollegen Javier Valdez. Kurz zuvor war der Redakteur der Wochenzeitung Riodoce in seiner Heimatstadt Culiacán im nordmexikanischen Bundesstaat Sinaloa erschossen worden. Wie kein anderer hatte er über die Geschäfte des „Sinaloa-Kartells“ berichtet, dessen Chef Joaquín „El Chapo“ Guzmán in den USA im Gefängnis sitzt. Wenige Stunden später starb Héctor Jonathan Rodríguez Cordova. Unbekannte feuerten auf den Journalisten, der im Bundesstaat Jalisco tätig war. Dort, wo das Kartell „Jalisco Nueva Generación“ das Sagen hat.

Die beiden Morde vom 15. Mai stellten den traurigen Höhepunkt einer Serie von Angriffen dar, die Mexiko in den ersten Monaten des Jahres erlebte. Innerhalb von acht Wochen wurden sieben Medienschaffende ermordet und weitere entführt oder überfallen. So raubten etwa 100 Wegelagerer eine Gruppe von sieben Reportern aus, die im südlichen Bundesstaat Guerrero in der von der kriminellen „Familia Michoacana“ kontrollierten Region Tierra Caliente recherchierten.

Vor allem der Tod des preisgekrönten Journalisten Valdez rief eine Welle des Protests hervor. In vielen Städten gingen Pressevertreter*innen auf die Straße, auch in Chile und Spanien fanden Aktionen statt. 186 internationale Korrespondent*innen, die in Mexiko tätig sind, forderten von der Regierung, die Pressefreiheit zu garantieren und die Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen. Vertreter*innen der UNO sowie der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beantragten einen offiziellen Besuch. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, der gerade in Mexiko zu Gast war, sprach mit der kritischen Moderatorin Carmen Aristeguí und stellte Hilfe für die Angehörigen in Aussicht.

Angesichts des politischen Drucks berief Präsident Enrique Peña Nieto zwei Tage nach den Morden eine Sondersitzung seines Kabinetts mit Gouverneuren mehrerer Bundesstaaten ein. Es sei der Tag gewesen, an dem der Staatschef festgestellte, dass in Mexiko Journalist*innen getötet werden, merkte Marcela Turati zynisch an. Erstmals trauerte Peña Nieto öffentlich um einen ermordeten Medienschaffenden, obwohl mindestens 35 gewaltsam starben, seit er 2012 sein Amt übernommen hat. Seit 2000 sind es nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 126 ermordete Journalist*innen. Laut Reporter ohne Grenzen ist Mexiko damit nach Syrien das Land mit den meisten getöteten Medienschaffenden. Praktisch keines der Verbrechen wurde aufgeklärt.

Die Straflosigkeit sei fehlender Schulung, mangelnder Infrastruktur und der Gleichgültigkeit der Behörden geschuldet.

Die Straflosigkeit sei fehlender Schulung, mangelnder Infrastruktur und der Gleichgültigkeit der Behörden geschuldet, erklärte der CNDH-Präsident Luis Raúl González Pérez und sprach von schweren Versäumnissen. Journalist*innen würden diffamiert, Beweise nicht gesichert, Ermittlungen verschleppt. Bereits 2012 hat die Regierung deshalb eine Sonderstaatsanwaltschaft für Delikte gegen die Pressefreiheit ins Leben gerufen, seit demselben Jahr existiert auch ein Gesetz, das Mechanismen zum Schutz von Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen vorsieht.

Beiden Einrichtungen versprach Peña Nieto nach der Sondersitzung mehr Unterstützung. Ob aber tatsächlich eine Abkehr von der staatlichen Ignoranz gegenüber den Angriffen stattfindet, muss sich erst noch zeigen. In den vergangenen Jahren mussten die Sonderstaatsanwält*innen mit weniger Mitteln auskommen. Ihr Budget wurde trotz der Zunahme an Überfällen von 2014 auf 2016 um die Hälfte gekürzt. Die Konsequenz: Bei 743 Vorermittlungen gab es drei Verurteilungen. „Sie führen politische Diskurse mit uns, obwohl es eigentlich darum geht, die Straflosigkeit zu beenden“, resümiert Edgar Cortez vom Mexikanischen Institut für Menschenrechte und Demokratie.

Auch die Schutzmechanismen sind umstritten. Nottelefone, Kameras und hohe Zäune sollen für mehr Sicherheit sorgen, doch häufig, so kritisieren die Betroffenen, käme die konkrete Hilfe dann viel zu spät. Vor allem aber will kaum ein*e Reporter*in die angebotene Polizeibegleitung wahrnehmen. Nicht nur, weil nach Angaben der Organisation Artículo 19 die Hälfte aller Angriffe auf Journalist*innen von Sicherheitskräften ausgeht. Wer mit einem Polizisten oder einer Polizistin unterwegs ist, wird kaum einen Interviewpartner oder -partnerin finden, der oder die mit ihm oder ihr spricht. Zu groß ist das Misstrauen, da viele Sicherheitskräfte mit den Banden der organisierten Kriminalität zusammenarbeiten.


Die Hoffnung, dass die Regierung die zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende in den Griff bekommt, ist gering.

Die Hoffnung, dass die Regierung die zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende in den Griff bekommt, ist gering. Deshalb haben sich nach dem Mord an Valdez Journalist*innen in verschiedenen Gruppen zusammengetan und wollen über eigene Maßnahmen beraten. Die einen planen für Ende Juni große Foren und Diskussionsveranstaltungen, andere – politisch sehr unterschiedlich ausgerichtete Medien – verkündeten in einer gemeinsamen Großanzeige: „Es reicht.“ Rogelio Hernández Lopez von der Union der Journalisten ist optimistisch: „Wenn wir alles umsetzen und uns für gemeinsame Aktionen zusammenschließen, können wir diesem unglückseligen Zyklus, der uns alle und Mexiko so verletzt, etwas entgegensetzen.“

Doch der Feind erscheint übermächtig: Ob das Sinaloa-Kartell, die Nueva Generación Jalisco oder die Familia Michoacana, alle Banden der organisierten Kriminalität arbeiten mit Polizei, Staatsanwaltschaft, Bürgermeisterämtern und auch Gouverneur*innen zusammen. Ihre Kontrolle ist fast total. In Sinaloa, Guerrero, Michoacán und vielen anderen Bundesstaaten können Journalist*innen deshalb nicht frei berichten. Die Macht kommt dort aus den Gewehrläufen, ein Auftragskiller ist angesichts der Armut für wenige Pesos zu haben, und kaum ein*e Richter*in würde sich trauen, eine*n Mörder*in zu verurteilen. Wer sich nicht an die Regeln der Mafia hält, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Die Tageszeitung El Norte de Juárez aus dem nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua hat daraus eine deprimierende Konsequenz gezogen: Nachdem deren Korrespondentin Miroslava Breach ermordet worden war, stellte das Blatt am 2. April sein Erscheinen ein. „Es gibt keine Garantien und keine Sicherheit für einen kritischen und ausgewogenen Journalismus“, erklärte der Eigentümer von El Norte, Oscar A. Cantú Murguía, auf der Titelseite der letzten Ausgabe.

Javier Valdez wollte sich dem Terror nicht fügen. „Wenn man mit dem Tod dafür bestraft wird, über diese Hölle zu berichten, dann sollen sie uns eben alle ermorden“, schrieb er nach der Ermordung Breachs, die wie er auch für die linke Tageszeitung La Jornada tätig war. Über die Risiken machte er sich keine Illusionen. Es gebe immer jemanden im Apparat, der für die Kriminellen arbeite und so mancher Mafiaboss werde nur vorgeblich von der Regierung verfolgt, sagte er in einem Gespräch, das nach seinem Tod in der Wochenzeitung Proceso erschien. Darin verdeutlicht er die Macht der Mafia, die sich als Machtstruktur in der Bevölkerung etabliert habe. „Sie ist die Polizei: effektiv, aktiv, omnipräsent. Sie bestraft, tötet und foltert Vergewaltiger, Angreifer und auch einfach Leute, die ohne ihre Erlaubnis agieren.“ Es war das letzte Interview, das Javier Valdez gegeben hat.

„ICH BIN ÜBERZEUGT, DAS RICHTIGE ZU TUN“

Die kritische Journalistin Carmen Aristegui im Interview (Foto: Tobias Lambert)

Mexiko gehört für Journalist*innen seit Jahren zu den gefährlichsten Ländern der Welt, wie ist aktuell der Stand der Pressefreiheit?
In bestimmten Regionen des Landes herrscht ein extremes Gewaltniveau. Seit die Regierung Felipe Calderón vor zehn Jahren den sogenannten Krieg gegen Drogen ausgerufen und den Kampf gegen das organisierte Verbrechen militarisiert hat, sind zehntausende Menschen verschwunden und getötet worden. Und diese Fälle sind praktisch alle straflos geblieben. Diese Gewalt hat auch Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit. In manchen Regionen reicht es aus, eine bestimmte Meldung zu veröffentlichen, um ermordet zu werden. Es sind Regionen, in denen Politik und organisiertes Verbrechen miteinander verbündet sind und unabhängiger Journalismus nicht möglich ist.

2012 wurde das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen verabschiedet. Warum greift es nicht?
Es ist so, wie mit vielen Gesetzen in Mexiko. Nicht zuletzt durch Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat es eine Reihe progressiver Reformen gegeben, doch die große Herausforderung ist die Umsetzung. Es ist schizophren: Wir haben fortschrittliche Gesetze, doch die Gerichte verhalten sich, als wären wir noch immer im vergangenen Jahrhundert. Oder sie haben nicht die nötige Unabhängigkeit für eine Rechtsprechung, die sich an Menschenrechten orientiert.

Sie wurden vor zwei Jahren von MVS-Radio unter einem Vorwand entlassen, nachdem zwei ihrer Mitarbeiter*innen sich mit dem Logo ihrer Sendung an der Enthüllungsplattform Mexicoleaks beteiligt hatten. Was steckte tatsächlich dahinter?
Es macht überhaupt keinen Sinn, dass ein privates Medienunternehmen das Programm abschafft, das die meisten Zuhörer*innen hat, also auch das meiste Geld bringt. Es sei denn, es mischt sich jemand von oben ein. Wir hatten zuvor recherchiert, dass der amtierende Präsident in einem Luxusviertel von Mexiko-Stadt ein Anwesen im Wert von über sieben Millionen US-Dollar besitzt. Wie er soviel Geld aufbringen konnte, ist aber aus seinen Einkünften nicht zu erklären. Die Immobilie war auf den Namen eines befreundeten Unternehmers eingetragen, der von der Zentralregierung und der Regierung des Bundesstaates Mexiko Aufträge erhalten hatte, als Peña Nieto dort Gouverneur war. In einem wirklich demokratischen Land hätte ein solcher Skandal ein Amtsenthebungsverfahren oder zumindest eine unabhängige Untersuchung nach sich gezogen, um die möglichen Interessenskonflikte zu ermitteln. Stattdessen wurde jedoch unser Rechercheteam angefeindet und nach sechs Jahren im Radiosender auf üble Art und Weise entlassen.

Wie ging es mit den Anschuldigungen gegen Peña Nieto anschließend weiter?
Unsere Recherchen konnte niemand widerlegen und der Präsident hat sich für den Skandal sogar öffentlich entschuldigt. Aber trotzdem gehen die Gerichte weiter gegen mich und mein Team vor. Neben Morden, Einschüchterungen und Entlassungen nutzen die Mächtigen auch die Justiz, um kritischen Journalismus zu verhindern. Gegen mich liegen eine Reihe von Anzeigen vor und mittlerweile gab es ein erstes Urteil. Es ging um ein Vorwort, das ich für ein Buch geschrieben habe, in dem es um den Fall von Peña Nietos Anwesen geht. Der zuständige Richter hat mich verurteilt und mir allen Ernstes vorgeworfen, „einen exzessiven Gebrauch der Pressefreiheit“ gemacht zu haben. Doch das ist nicht alles. Ende letzten Jahres sind fünf Personen in unsere Redaktionsräume eingebrochen. Es ging allein darum, uns einzuschüchtern, denn gestohlen wurde kaum etwas.
Welche Auswirkungen hat diese Situation auf Ihr persönliches Leben? Fühlen Sie sich bedroht?
Ich bin überzeugt, das Richtige zu tun, und glaube, dass wir unsere journalistische Arbeit unabhängig, mit Haltung und Freude ausüben müssen. Diese Motivation wiegt schwerer als die Sorge um die körperliche Unversehrtheit. Der größte Schutz, den wir haben, ist die Aufmerksamkeit des Publikums, dass die Leute sich dafür interessieren, was wir machen.

Welche Botschaft geht von Ihrer Entlassung für andere Journalist*innen aus?
Ich hatte dank der öffentlichen Wahrnehmung meiner Person und meiner Popularität einen sehr guten Vertrag ausgehandelt, der mir die alleinige inhaltliche Verantwortung für meine Sendung zugestand. Dieser Vertrag sicherte mir und meinem Team die notwendige Unabhängigkeit zu, die wir für unsere Arbeit brauchten. Dass ein Medienunternehmen solch einen Vertrag im Falle einer bekannten, etablierten Journalistin einfach brechen kann, sendet in einem Land, in dem viele Journalisten prekär arbeiten, ein furchtbares Signal aus. Denn wenn selbst ich einfach so entlassen werden kann, kann es jeden treffen. Doch auch wenn die Behinderung meiner Arbeit schlimm ist, ist sie nichts im Vergleich zu den Bedrohungen, denen viele meiner Kollegen ausgesetzt sind.

Ihre Entlassung hat nicht zuletzt ein Schlaglicht auf den staatlichen Einfluss auf den Journalismus in Mexiko geworfen. War der Sender wegen des Bezugs öffentlicher Werbeeinnahmen erpressbar?
Viele Medien hängen von staatlichen Werbemitteln ab. Es ist ein Werkzeug der Regierung, um Medienunternehmen je nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu belohnen oder zu bestrafen. Und das Geld wird diskret und ohne Transparenz verteilt. Wenn nun einzelne Medien ohne staatliche Zuwendungen nicht überleben können, ist klar, dass sie genau das berichten, was die Regierung wünscht. Peña Nieto hat bei seinem Amtsantritt angekündigt, diese Art der Zuwendungen zu regulieren. Bisher ist allerdings nichts passiert und letztlich haben weder die Regierung noch die großen Medienunternehmen ein Interesse daran. Aber der Präsident hat damit ein zentrales Thema angesprochen, da er vielfach dafür kritisiert worden ist, die Wahlen mit Hilfe einer unfassbaren Medienkampagne gewonnen zu haben. Er galt international als „Kandidat des Fernsehens“ und brachte die PRI nach zwölf Jahren zurück an die Macht.

Welche Rolle spielen alternative Medien in der öffentlichen Debatte in Mexiko?
Das hängt davon ab, was man als öffentliche Debatte bezeichnet. Alles deutet darauf hin, dass diese heute nicht mehr im traditionellen Fernsehen mit seiner einseitigen Kommunikation, sondern vor allem im Internet stattfindet. Die Zuschauerzahlen und Einnahmen des mexikanischen Fernsehduopols aus Televisa und TV Azteca gehen deutlich zurück. Ich glaube, das liegt daran, dass die Zuschauer*innen ins Internet abwandern, wo jeder eine Information veröffentlichen und damit eine Wirkung erzielen kann. Das bringt natürlich auch Gefahren mit sich, man denke nur an die Fake News, wie man heute sagt. Wir Journalist*innen müssen die Rolle der Journalist*innen für uns beanspruchen und zwar ebenso in den Zeitungen oder im Radio wie im Internet, wo die Qualitätsstandards genauso hoch sein müssen, wie in jedem anderen Medium. Erst, wenn du Informationen überprüft hast und die Verantwortung dafür übernimmst, bist du Journalist*in.

Seit Anfang des Jahres produzieren Sie Ihre neue Morgensendung selbst und streamen sie im Internet. Wie finanziert sich das Programm?
Bisher ausschließlich über die Werbeeinnahmen, die wir über die Klicks von Youtube beziehungsweise Google erhalten. Das funktioniert, weil wir im Moment eine feste Zuschauer- und Zuhörerschaft haben, die einen hohen Traffic generiert. Aufgrund des Volumens ist es uns möglich, eine Redaktion und die technischen Geräte zu bezahlen, um live als Radio- und Fernsehprogramm zu senden. Wir hoffen, dass das Publikum uns treu bleibt, denn nur so können wir auf Dauer weitermachen. Das heißt aber nicht, dass ich für die Zukunft ausschließe, auch andere Finanzierungsquellen zu nutzen, sofern sie transparent sind und unsere journalistische Unabhängigkeit garantiert ist.

 

“NICHT EINE WENIGER, NICHT EINE TOTE MEHR!”

Foto: Josefina Jauregiberry

Am 19. Oktober kamen tausende Frauen und Mädchen zum Nationalstreik der Frauen zusammen und protestierten unter dem gemeinsamen Motto „Ni una menos, ni una muerta más“ („Nicht eine weniger, nicht eine Tote mehr“) gegen die machistische Kultur, die die Zahl der Feminizide im ganzen Land alarmierend ansteigen lässt. Allein im Oktober sind neunzehn Frauen durch machistische Gewalt gestorben, für das gesamte Jahr 2016 liegt die Zahl der bekannten Frauenmorde bei 226.

Der Plaza de Mayo versank in einem Meer aus Regenschirmen. Tausende Frauen schrien aus Wut und Empörung, bis ihnen die Stimme versagte. Und so wie der Regen am 19. Oktober in Buenos Aires nicht aufhören wollte zu strömen, riss auch der Strom von Frauen und Mädchen nicht ab, die aus den Straßen auf den Platz kamen, um sich vor dem Regierungsgebäude, der Casa Rosada zu versammeln. Mit Plakaten und Rufen prangerten Frauen jeden Alters, darunter auch viele Trans-Frauen und Lesben, die misogyne Kultur an, die schon so vielen das Leben genommen hat und sich unter dem Mantel des Normalen zu verstecken versucht.
Anfang Oktober dieses Jahres fand auf dem Nationalen Frauentreffen in Rosario ein Diskussionsforum unter dem Namen „Ni una menos“ statt, in dem die Themen Feminizid und Bekämpfungsstrategien diskutiert wurden. Das Nationale Frauentreffen versammelt seit 1986 jedes Jahr tausende Frauen aus dem ganzen Land, die gemeinsam in verschieden Workshops und Foren speziell über Themen diskutieren, die sie als Frauen betreffen. Dieses Jahr nahmen 70.000 Frauen teil. Während die Frauen und Mädchen bei der traditionellen Abschlussdemonstration von der Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen angegriffen wurden, wurde die 16-jährige Lucía Pérez in Mar del Plata vergewaltigt, gefoltert und ermordet. Die schreckliche Nachricht verbreitete sich über die Medien und sozialen Netzwerke rasend schnell und führte auch weit über Argentiniens Grenzen hinaus zu Wut und Empörung.
Der lateinamerikanische Kontinent ist geprägt von Plünderung, Missbrauch und kolonialer Unterdrückung. Dies zeigt sich auch in der tiefen Verwurzelung von Gewalt und Ungleichheit in seinen Kulturen, der Machismus ist nur ein Beispiel dafür. Doch dieses schwierige Erbe bringt auch das Vermächtnis des ehrfurchtslosen Widerstands und der Selbstorganisation mit sich, wie der Fall Argentinien momentan eindrücklich zeigt. Argentiniens Gesellschaft hat im Widerstand und über die Tragödie gelernt. Seit dem Staatsterrorismus der 70er und 80er Jahre kennt sie die Angst, aber auch den Mut, sie kennt die Zensur und die Erinnerung. Und nachdem sie 2001 in das wohl brutalste Gesicht des Kapitalismus geblickt hat, ist sie außerdem vertraut mit der Macht der Selbstverwaltung und des Kooperativismus.
Der Geist, der heute durch Argentinien und viele andere Länder des Kontinents wandelt heißt Feminismus. Ein Feminismus, der sich nicht zufriedengibt mit der Zerschlagung des Patriarchats, sondern eine Neustrukturierung der gesamten Gesellschaft fordert. Nur Stunden nach dem Bekanntwerden der schrecklichen Tat in Mar del Plata entschlossen sich 50 Organisationen und etwa 300 Frauen in einer kurzfristig organisierten, offenen Versammlung zu einem Nationalstreik der Frauen.
Der Streik und die Demonstration richteten sich nicht nur gegen die Feminizide, sondern auch gegen das hierarchische und patriarchalische System als Ganzes, das das Leben der Frauen in Argentinien bestimmt und dessen maximaler Ausdruck die Morde an Frauen sind. Dieses System bestimmt, ob wir nachts zu Fuß gehen oder welches Verkehrsmittel wir nehmen, es bestimmt unser Gehalt und den Moment, in dem wir der Justiz gegenüberstehen. Es ist kein Zufall, dass Frauen 27 Prozent weniger verdienen als Männer oder wir in prekären Arbeitsverhältnissen sogar bis zu 76 Prozent weniger Lohn bekommen. Es ist auch kein Zufall, dass im Fall einer Klage wegen Belästigung oder Vergewaltigung, zunächst die psychologische Verfassung der Frau in Frage gestellt und gegen sie, anstatt gegen die Täter, ermittelt wird, wie im Fall der 19-jährigen Ayelén Arroyo geschehen. Sie hatte ihren Vater wegen mehrmaliger Vergewaltigung angezeigt, woraufhin der zuständige Richter eine psychologische Untersuchung anordnete. Ayelén wurde kurz darauf von ihrem Vater ermordet.
Der Machismus herrscht, wenn die sexuellen Belästigungen auf der Straße normal sind, wenn der frühe und gewaltvolle Tot von Transvestiten als natürlich betrachtet wird und wenn das Recht auf legale, kostenlose und sichere Abtreibung hartnäckig ignoriert und bestraft wird. Und es ist auch kein Zufall, dass die Aktivistin und politische Anführerin Milagro Sala seit Januar unrechtmäßig inhaftiert ist (siehe LN 503). Der Grund ist „weil sie eine Frau ist, weil sie indigen ist und weil sie sich organisiert hat“, wie es auf den Plakaten bei der Demonstrantion in Buenos Aires heißt.
Es geht also nicht bloß darum, das Strafgesetz zu verschärfen, sondern darum, die strukturelle Ungleichheit sichtbar zu machen und das System zu dekonstruieren, in dem Gewalt gegen Frauen kein Verbrechen wie andere ist, sondern ein geschlechtsbedingtes: ein Feminizid. Diese Art von Gewalt liegt in der Institutionalisierung der ungleichen, hierarchischen und gewaltvollen Beziehungen, die aus Frauen Besitzgegenstände machen.
“Die Mädchen und Frauen, die sich jetzt dem Feminismus nähern und anfangen, über das Patriarchat nachzudenken und zu protestieren, machen Hoffnung. Aber es ist schade, dass wir uns immer wieder das mansplaining (aus „man“ und „explain“ im Englischen, bezieht sich auf herablassendes besserwisserisches Erklärverhalten, meistens von Männern gegenüber Frauen*, Anm. d. Red.) anhören müssen und Energie darauf verwenden, genau die Männer aufzuklären, die nicht die geringste Intention haben, sich zu verändern. Oder dass wir Frauen, die den Machismus hassen, uns mit Frauen streiten, die ihn immer noch verteidigen. Das ist ein großer Sieg des Patriarchats“, meint Rana Vegana, eine der Demonstrantinnen auf dem Plaza de Mayo.
Die Proteste und der Ruf „Ni una menos“ haben sich ausgebreitet und in Uruguay, Brasilien, Chile, Bolivien, Mexiko, Spanien und Frankreich ein Echo hervorgerufen, das deutlich macht, dass dies kein nationales Problem Argentiniens ist. „Auch wenn die Bewegung in Argentinien begann, umfasst sie doch eine Problematik, die in ganz Lateinamerika existiert. Dass ‚Ni una menos‘ auf Spanisch ist, bewirkt, dass sich viele lateinamerikanische Länder damit identifizieren können, was die Bewegung repräsentiert und es als etwas Eigenes übernommen haben. Was diese Bewegung so besonders macht, ist, dass unsere Stimmen immer dann viel lauter sind, wenn sie geeint sind“, sagt Amy Ramírez, eine andere Demonstrantin.
Auch Érika Díaz findet den Zusammenhalt besonders wichtig: “‚Ni una menos‘ drückt aus, worüber ich als Frau schon oft nachgedacht habe. Auf der Demonstration trifft man Leute, die genau so denken, vorher fühlte ich mich damit alleine. Jetzt ist klar, dass es eine große Gruppe in der Gesellschaft gibt, die fordert, dass diese Situation sichtbar gemacht wird. Außerdem fangen Leute an, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, die das vorher nicht getan haben. Das einzige Merkwürdige, sowohl heute auf der Demo, als auch am Tag der Frau und dem Nationalen Frauentreffen, sind die Fahnen. Jede mit ihrer politischen Partei, dabei geht es doch darum, gemeinsam etwas sichtbar zu machen, alle unter dem Motto ‚Ni una menos‘.“
Nach Schätzungen waren es bis zu 400.000 Frauen, die in Buenos Aires auf die Straße gingen und immer wieder „Ni una menos, ni una muerta más“ riefen, wie es die mexikanischen Dichterin und Aktivistin Susana Chávez Castillo sagte, bevor sie umgebracht wurde – weil sie kämpfte, weil sie Feministin war, und weil sie eine Frau war.

Wie David gegen Goliath

Máxima Acuña de Chaupe wirkt mit ihren 1,50 Metern Körpergröße, dem Mittelscheitel und den langen Zöpfen, wie sie die indigenen Frauen im Andenhochland tragen, auf den ersten Blick eher mädchenhaft. Der Eindruck täuscht. Ihrem Namen – Máxima, die Größte – wird sie mehr als gerecht. Denn seit bald vier Jahren kämpft die zierliche Bäuerin aus der Region Cajamarca im Norden Perus gegen die peruanische Bergbaufirma Yanacocha, die das Land kaufen will, auf dem Máxima mit ihrer siebenköpfigen Familie lebt. Ein Rechtsstreit, der sinnbildlich für den Schulterschluss von Regierung und Unternehmen steht und die fehlenden Rechte der Zivilbevölkerung.

Deshalb ist Máxima Acuña in den letzten Jahren zum Symbol für den Widerstand gegen die skrupellosen Methoden bei der Goldförderung in Peru durch internationale Unternehmen, Armee und Nationalstaat geworden.
Vor vier Jahren begann der Streit um das Land, auf dem Máxima lebt. Denn sie sitzt buchstäblich auf einem Berg von Gold. Das Bergbauunternehmen Yanacocha hatte auf dem Andenhochplateau der peruanischen Region Cajamarca bereits 5.400 Hektar Land an der Blauen Lagune rund um das Dorf Sorochuco aufgekauft. Auch die vier Hektar Grundbesitz Acuñas wurden für die Erweiterung der 260 Quadratkilometer großen Yanacocha-Mine – der größten Goldmine Lateinamerikas und der zweitgrößten weltweit – gebraucht. Aber Máxima Acuña lehnte das Kaufangebot des US-Konzerns Newmont Mining ab. Sie lebt, wie 60 Prozent der Bevölkerung in dieser Gegend, vom Landbau. Kartoffeln, Yuca, Weizen und Hafer wachsen auf dem fruchtbaren Boden, das restliche Land nutzt sie als Weide für das Vieh. „Ich bin in Sorochuco geboren und aufgewachsen“, sagt sie, „ich habe mein Land in der Hoffnung gekauft, mein ganzes Leben dort zu verbringen“. Also blieb sie. Yanacocha ließ sich das nicht gefallen. Bald tauchte Minenpersonal auf, unterstützt von Polizisten in Uniform. Es gab Morddrohungen, Prügel, ihr Vieh verschwand oder wurde getötet. Der Angriff auf die Landwirtschaft der Bäuerin wurde nicht geahndet. Im Gegenteil: Obwohl Máxima, anders als die Minengesellschaft, eine Besitzurkunde über ihr Land in den Händen hält, verklagte Yanacocha sie des Landfriedensbruchs.

 

Zerstörter Berg. Leben im Schatten des Tagebaus (Foto: David Vollrath)

 

Seit 19 Jahren betreibt Yanacocha Goldabbau im Tagebau in Cajamarca. Nachhaltige Entwicklung ist dabei nicht gerade eine Spezialität des Unternehmens. Ständig steht es unter der Kritik seitens Menschenrechts- und Umweltorganisationen. Auch das geplante Conga-Projekt zur Erweiterung der Mine hätte massive Eingriffe in die Umwelt zur Folge: Bergseen würden verschwinden, riesige Landflächen vernichtet, Wasser verseucht und die Lebensgrundlage von Menschen und Tieren bedroht. Das Gold wird mit einem Zyanid-Wasser-Gemisch gelöst, wofür pro Stunde 250.000 Liter Wasser benötigt werden. Das hat zur Folge, dass es in der Landeshauptstadt Cajamarca pro Tag nur noch zwölf bis 14 Stunden Leitungswasser gibt. Gleichzeitig werden Schwermetalle wie Arsen, Kadmium und Blei freigesetzt. Laut Untersuchungen, die nach 20 Jahren Minenbetrieb vor Kurzem erstmals durchgeführt wurden, haben die rund 200.000 Einwohner*innen Cajamarcas über Jahre hinweg verseuchtes Wasser getrunken.

„Wir tun alles, um Umweltbelastungen zu vermeiden“, versichert der Yanacocha-Betreiber, „wir halten uns an die Gesetze“. Die Gesetze werden allerdings immer mehr zu Gunsten der freien Wirtschaft formuliert. Erst im vergangenen Sommer unterschrieb der peruanische Präsident Ollanta Humala ein neues Umweltgesetz, mit dem die Strafen bei Umweltvergehen deutlich reduziert werden. Umweltverträglichkeitsprüfungen sind nun innerhalb von 45 Tagen abzuschließen – einer lächerlich kurzen Zeit – und Bergbau und Erdölproduktion auch in Naturschutzgebieten erlaubt.

2011 versuchte Yanacocha, eine Straße durch das Land Máximas zu bauen. Die Bäuerin zeigte das Unternehmen an, aber der Staatsanwalt legte die Geschichte direkt ad acta. Im Sommer desselben Jahres verschafften sich Sicherheitsbeamte Yanacochas mit Unterstützung der Polizei gewaltsam Zutritt zu Máximas Hof. Die Beamten schlugen und misshandelten die Familie. Máxima wehrte sich gegen die Enteignung ihres Landes, erstattete Anzeige und ging vor Gericht. Aber das Oberste Gericht in Cajamarca gab am 5. August 2014 der Firma Yanacocha recht. Máxima, ihr Ehemann Jaime, ihre Tochter Ysidora und Schwiegersohn Elías Chavez wurden zu zwei Jahren und acht Monaten Bewährungsstrafe und einer Entschädigung von 5.500 Soles (etwa 1.500 Euro) an den Minenkonzern verurteilt. Die Anwältin der Familie, Mirtha Vásquez, legte dagegen Berufung ein. Bis heute hält die 44-jährige Máxima trotz aller Drohungen Stellung auf ihrem Grundstück, einer Insel inmitten von Yanacocha-Land. Es ist ein Kampf wie die Gallier gegen die Römer, wie David gegen Goliath.

Das Urteil gegen die Familie Chaupe löste in der peruanischen und lateinamerikanischen Öffentlichkeit große Betroffenheit aus, aber auch viel Sympathie für die Verurteilten. In den sozialen Netzwerken häufen sich die Solidaritätsbekundungen, es gibt Demonstrationen in der Hauptstadt, offene Briefe an die Regierung und generell viel Rückhalt aus der Bevölkerung. Máxima Acuña ist zum Symbol des Widerstands gegen die Praktiken der Goldkonzerne in Peru geworden. „Ja zum Wasser! Nein zum Gold!“ lautet der Slogan der Protestbewegung, der auch auf dem Alternativgipfel zur Weltklimakonferenz, der jüngst in Lima stattgefunden hat, zu hören war (siehe LN 487). Máxima bezeichnet sich selbst als „Beschützerin des Wassers“. „Wasser bedeutet Leben“, sagt sie, „das können wir nicht einfach an ein Unternehmen verkaufen“.

Die Macht der Akteur*innen ist in Peru sehr ungleich verteilt. Die Gesellschaft für bedrohte Völker zeigte Ende 2013 zusammen mit peruanischen Organisationen auf, wie Rohstofffirmen mit meist unter Verschluss gehaltenen Verträgen jederzeit Einsätze der Nationalpolizei gegen die Bevölkerung beantragen können. Die Rohstofffirmen unterstützen die Einsätze finanziell, materiell und logistisch. Staatliche und wirtschaftliche Interessen verbünden sich damit gegen die Interessen der lokalen Bevölkerung.

Gegen Widerstand aus der Zivilbevölkerung geht die Regierung dagegen hart vor. Bereits 2004 hatte es wegen der Umweltbelastungen durch den offenen Tagebau heftige Protestdemonstrationen gegeben, woraufhin Newmont – mit Buenaventura und der Weltbank größter Aktionär der Mine – erklärte, dass es vorläufig keine weiteren Erkundungen in der Region geben würde. Im Sommer 2012 rief die Bevölkerung Cajamarcas zu einem Generalstreik auf. Der Präsident Ollanta Humala verhängte daraufhin den Ausnahmezustand über drei Provinzen und ließ die Demonstrationen gewaltsam unterdrücken. Fünf Menschen wurden von der Polizei erschossen, Dutzende verletzt oder willkürlich verhaftet. In den vergangenen drei Jahren wurden bei Demonstrationen insgesamt 41 Menschen erschossen. Das peruanische Gesetz aber sichert Polizist*innen, die im Dienst Zivilist*innen erschießen, Straffreiheit zu.

 

Bedrohte Mutter Erde. Die Bäuerin Máxima Acuña de Chaupe ist Perus Symbolfigur im Widerstand gegen den Raubbau an der Natur. Der Künstler Roberto Lopez hat dieses Portrait von Maxima gemalt. Er stellt sie, vom Kampf gegen Yanacocha und Co gezeichnet, wesentlich älter dar.

Die Unterdrückung des Widerstands macht auch vor politischen Vertreter*innen keinen Halt. Der Gouverneur der Provinz Cajamarca, Gregorio Santos, ein deklarierter Gegner des Goldabbaus in der praktizierten Form, wurde seit 2011 von der Zentralregierung mit 38 Anzeigen konfrontiert. Im Juni 2014 verurteilte das Gericht Santos zu 14 Monaten Untersuchungshaft. Und sogar in der Berichterstattung diktieren die Unternehmen, unterstützt durch die Regierung, die Spielregeln. Mitte Februar wurde der Journalistin Martha Meier Miró Quesada von der Tageszeitung El Comercio gekündigt, weil sie in einer Kolumne allzu kritisch über die Machenschaften Yanacochas und seine Übergriffe gegen die Familie Chaupe berichtet hatte. Der ehemalige Antikorruptionsbeauftragte des Landes, Julio Arbizu, warnte, dass die Zensur und der Rauswurf der Journalistin deutlich zeige, wie die Tageszeitung nach ökonomischen Interessen handele und nicht im Sinne der Pressefreiheit.

Nach Monaten von Verhandlungen nahm Máximas Geschichte dagegen Ende letzten Jahres eine positive Wendung: Das Höchste Gericht in Cajamarca sprach sie kurz vor Weihnachten frei. Aber die Freude über diese Nachricht währte nicht lang. Am 3. Februar 2015 betraten Sicherheitskräfte der Firma Yanacocha und der peruanischen Spezialeinheit DINOES das Grundstück der Familie Chaupe und zerstörten einen Anbau ihres Hauses. Als Grund nannten sie die ungeklärte Rechtslage. Einige Tage später errichteten Mitarbeiter*innen Yanacochas in Sichtweite der Familie ein Alpaca-Gehege – „als Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung“ – und installierten rundherum eine Reihe von Überwachungskameras. Dass es dem Unternehmen vor allem um die Überwachung der Familie geht, liegt auf der Hand.

Angesichts dieses Szenarios wird Máxima weiterkämpfen. „Mein Schweiß steckt in jedem Zentimeter Land“, sagt sie. Das werde sie sich nicht von Yanacocha wegnehmen lassen. „Die Behörden können sagen, was sie wollen, ich werde mein Land nicht weggeben“, bekräftigt die Bäuerin. Sie beklagt, dass das Unternehmen Yanacocha nie auf sie direkt zugekommen sei, um mit ihr zu sprechen oder zu verhandeln. Vieles erfahre sie erst durch die Medien und vieles davon seien schlichte Unwahrheiten. Unterstützung erfährt sie vor allem aus der Zivilbevölkerung und durch die peruanische Nichtregierungsorganisation Grufides in Cajamarca, bei der auch die Anwältin der Familie, Mirtha Vásquez, arbeitet. „Todos somos Máxima, wir alle sind Máxima“, heißt es im Blog der NGO. Die Hoffnung, dass sich die Hartnäckigkeit der kleinen großen Máxima am Ende auszahlen wird, bleibt bestehen. Es wäre ihr zu wünschen.

Das Rennen um die öffentliche Meinung

Bogotá, 4. Dezember 2014. Während sich die Stadt im Weihnachtstrubel auf die Feiertage vorbereitet, laufen in einer Büroetage im nördlichen Stadtviertel La Castellana die Telefone heiß. Gerade sind Drohungen der paramilitärischen Verbindung Águilas Negras gegen 17 Journalist*innen, ihre Familien und Mitarbeiter*innen bekannt geworden. In einer Email erklären die Águilas Negras diese 17 Journalist*innen und 13 alternative Medienkollektive, vor allem aus den ländlichen Regionen Kolumbiens, zu Zielobjekten bewaffneter Aktionen. Die Begründung: Sie seien von den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC-EP) unterwandert und somit „Feinde der Nation“. In den Büros des unabhängigen Onlinemagazins Las2Orillas in der Hauptstadt werden daher in aller Eile die Solidaritätsmechanismen für die bedrohten Kolleg*innen angekurbelt.

Für eine unabhängige Medienlandschaft Pacho Escobar bei der Redaktionsarbeit

Laut einem aktuellen Bericht der Organisation Reporter ohne Grenzen (RoG) ist Kolumbien nach Mexiko das Land mit der zweithöchsten Mordrate an Journalist*innen weltweit. Zwischen Januar 2000 und September 2014 wurden mindestens 56 kolumbianische Journalist*innen ermordet, während sie ihren Beruf ausübten. Laut Aussagen der lateinamerikanischen Zentrale der Organisation wurden die meisten von ihnen „Opfer ihres Strebens, Menschenrechtsverletzungen, das Organisierte Verbrechen, Korruption oder ähnliche Einmischungen zu denunzieren“. Auch stocken die Ermittlungen bei einem Großteil der Verbrechen gegen Journalist*innen oder die Verbrechen bleiben ungestraft, da der politische Wille und ein effizientes juristisches System fehlen oder korrupte Autoritäten die Strafverfolgung behindern, so die Organisation. 2014 findet sich Kolumbien im Jahresbericht über die Pressefreiheit von RoG deshalb auf Platz 126 von 180 Plätzen, dicht gefolgt von Ländern wie Afghanistan oder Syrien.

Laut der kolumbianischen Stiftung für die Pressefreiheit (FLIP) tauchten alleine im September 2014 zwei schwarze Listen der paramilitärischen Gruppierungen Los Urabeños und Los Rastrojos auf, die acht beziehungsweise 24 Journalist*innen aus den Bezirken Valle de Cauca und Córdoba mit dem Tode bedrohten, da sie „die Anweisung zum Schweigen“ nicht eingehalten hätten. Nachdem im Februar 2014 der Kameramann Yonny Steven Caicedo in der Hafenstadt Buenaventura ermordet worden war, sorgte zuletzt vor allem die Ermordung von Luis Carlos Cervantes in der Kleinstadt Tarazá, Antioquia, für Schlagzeilen. Am Nachmittag des 12. August wurde der Radiojournalist auf der Straße erschossen – nur drei Wochen, nachdem ihm die staatliche Schutzbegleitung aus finanziellen Gründen entzogen worden war, unter der er seit Todesdrohungen im Jahr 2012 gestanden hatte.

Auch wenn es in den letzten Jahren in Bogotá mehrere Attentate oder Bedrohungen gegen Journalist*innen gab, ist die Bedrohung in den Provinzen doch ungleich höher. „Es gibt einige Journalisten, die ständig inmitten von Bedrohungen leben“, erzählt Pacho Escobar, Mitarbeiter von Las2Orillas, und fährt fort: „Zu diesen gehören zwar einige der bekannteren Journalisten von Revista Semana oder El Tiempo (neben der Tageszeitung El Espectador die bedeutendsten überregionalen Printmedien Kolumbiens; Anm. der Red.), aber im Allgemeinen bemerkt man in Bogotá von den Bedrohungen eher wenig. Wenn wir allerdings mitbekommen, dass Kollegen aus den Provinzen bedroht werden, versuchen wir natürlich ihnen mit allem, was in unserer Macht steht, zu helfen“. So auch an diesem vierten Dezember. Die Telefondrähte glühen inzwischen, schnell werden Pressemitteilungen und Artikel verfasst, um die Bedrohungen öffentlich bekannt zu machen. Denn das ist die Aufgabe, die Las2Orillas in solchen Fällen übernimmt: „Wenn wir von Bedrohungen hören und es Beweise für diese Bedrohungen gibt, berichten wir sofort – aus Solidarität und um zu zeigen, dass Journalisten in Kolumbien eine große Gemeinschaft sind“, berichtet Pacho Escobar.

Laut Carlos Gutiérrez, Direktor des linken Medienkollektivs Desde Abajo, entspricht es regelrecht dem Selbstmord, investigativen Journalismus in den ländlichen Regionen zu betreiben: „Hier in Bogotá stört uns niemand. Aber wenn wir in die Provinzen gehen, wo die politische und ökonomische Macht immer noch in den Händen der Großgrundbesitzer oder der (para)militärischen Gruppierungen liegt, sieht die Situation anders aus. Sie kontrollieren dort nicht nur die Informationen, sondern jeder, der in irgendeiner Form Kritik anbringt, wird automatisch zum militärischen Zielobjekt.“

Medien wie Las2Orillas versuchen diesen Bedrohungen entgegenzuwirken, indem sie die Artikel von Bogotá aus veröffentlichen: „Wir haben Informanten in fast allen Teilen Kolumbiens. Diese versorgen uns mit Daten, die wir dann unter unserem Namen veröffentlichen. Sie wollen nie als Protagonisten auftreten, sie machen das eher aus einer Gefühl bürgerlicher Verpflichtung heraus oder weil sie Gerechtigkeit wollen. Wir hier in der Hauptstadt übernehmen dann die Verantwortung“, beschreibt Pacho Escobar das Informationsnetzwerk der Onlineplattform, und erläutert: „Natürlich überprüfen wir die Daten, manchmal fahren wir in die Regionen oder rufen die Beteiligten an, um zu sehen, was sie uns zu sagen haben.“

Eine weitere Bedrohung der Informationsfreiheit ergibt sich aus den engen Verbindungen zwischen der politischen Macht, der Wirtschaft und den traditionellen Medien. Das Medienkonglomerat, das etwa 95 Prozent der Informationen auf dem kolumbianischen Markt liefert, liegt in den Händen der drei Unternehmensgruppen Grupo Ardila, Santo Domingo und Sarmiento Angulo. Diese drei Gruppen sind Eigentümer eines Großteils der kolumbianischen Radio- und TV-Sender – so unter anderem Caracol und RCN, der beiden wichtigsten Fernsehsender – und dominieren auch den Zeitungsmarkt. Zum Wirtschafts- und Bankenimperium Sarmiento Angulo gehört zum Beispiel El Tiempo, die wichtigste überregionale Zeitschrift des Landes. Sie wurde von der Familie des aktuellen Präsidenten Juan Manuel Santos gegründet. Derlei enge Verflechtungen mit der Politik beeinflussen die Journalist*innen in ihrer Arbeit. Die Selbstzensur sei deswegen in Kolumbien viel stärker als die Zensur, wie Carlos Gutiérrez erklärt: „Journalisten zensieren sich selbst aus Angst, ihre Stelle zu verlieren, wenn die veröffentlichten Informationen nicht mit den Interessen der Eigentümer des Mediums übereinstimmen“.

Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass die meisten Medien, selbst wenn sie nicht zu den großen Wirtschaftskonzernen gehören, sich doch hauptsächlich über staatliche und kommerzielle Werbung finanzieren: „Regionale Medien leben von der Werbung der regionalen Institutionen“, berichtet Miguel Suárez, der für Desde Abajo und für die kolumbianische Ausgabe von Le Monde Diplomatique arbeitet. Auch die prekären Bedingungen, unter denen viele Journalisten arbeiten, spielen dabei eine Rolle: „Zum Beispiel werden Radiojournalisten in Kolumbien nicht mit Geld, sondern mit Sendezeit bezahlt. Du musst dich also über Werbung selbst finanzieren. Und somit bist du wiederum davon abhängig, wirtschaftliche oder staatliche Interessen nicht zu verletzen“, so Suárez.

Um dennoch eine gewisse Unabhängigkeit in der Berichterstattung erreichen zu können, nutzen die meisten alternativen Medien vor allem das Internet, um ihre Artikel zu veröffentlichen. Juanita Léon, Gründerin und Chefredakteurin des Online-Magazins La Silla Vacía, betont: „Wir haben es geschafft, durch Unabhängigkeit Einfluss zu erhalten. Tatsächlich haben wir eine Freiheit, die viele Medien in Kolumbien nicht haben, weil ihnen mit Entzug der Werbung gedroht wird. Da wir durch die billige Onlinewerbung ein schlechtes Geschäft sind, sind wir auch weniger angreifbar“. Auch Las2Orillas und andere alternative Medien, wie das Polit-Analyse-Magazin Razón Pública, das vor allem von Akademiker*innen parallel zur wissenschaftlichen Arbeit betrieben wird, erscheinen ausschließlich online. Las2Orillas finanziert sich zum Beispiel hauptsächlich über internationale Fördermittel, die die Online-Zeitschrift für Journalist*innenschulungen in den Provinzen erhält. Das Medienkollektiv Desde Abajo, das neben einer eigenen Monatszeitschrift auch die kolumbianische Ausgabe von Le Monde Diplomatique herausgibt und aktuell eine Online-Fernsehsendung plant, finanziert sich neben den Einnahmen aus dem Zeitschriftenverkauf vor allem über die Veranstaltung von Kongressen und die Herausgabe kritischer Literatur- und Sachbücher.

María Fernanda Gónzalez, Politikdozentin an der Universidad Nacional de Colombia und freie Autorin für Zeitungen wie Revista Semana, El Espectador und Razón Pública, betont, dass die Medien in Kolumbien einen großen Einfluss auf die politische Debatte hätten: „Aber obwohl sich gerade die Printmedien in einer wichtigen Position befinden und insbesondere alternative Medien einen recht hohen Grad an Unabhängigkeit aufweisen, ist es ziemlich enttäuschend, dass es nach wie vor keine wirklich linke Medienlandschaft und damit auch keinen wirklichen Meinungspluralismus gibt“. Medien wie Las2Orillas oder La Silla Vacía mögen zwar mittlerweile bis zu hunderttausend Leser*innen täglich haben, die Rolle der alternativen Medien ist jedoch nach wie vor eher marginal. So erklärt Miguel Súarez: „Unsere Hauptaufgabe ist eine Art Machtkampf. Wir streiten um die öffentliche Meinung. Deswegen sehen wir uns auch eher als Aktivisten denn als Journalisten. Wir stehen nicht nur einer konzentrierten Macht der einflussreichen Medienmacher gegenüber, sondern auch vielen kleinen, sehr versprengten Medien, die um spezialisierte Leserschaften streiten. Denn wer liest zum Beispiel die Zeitung der Kommunistischen Partei? Doch nur die Mitglieder der Kommunistischen Partei.“ Auch bestehe nach wie vor die Gefahr, mit linker Berichterstattung als „Guerilla“ denunziert zu werden, wie Carlos Gutiérrez betont.

Doch auch der Zugang zu Information hängt stark vom Medium ab. Zwar werden Journalist*innen allgemein recht gut angesehen, gerade auf politischer Ebene, aber „den Status erhältst du vor allem durch das Medium“, erzählt Pacho Escobar. „Wenn man sagt, dass man für eines der traditionellen Medien arbeitet, dann bekommt man viel schneller und unkomplizierter Zugang zu den Daten, die man sucht“. Zugleich betont Juanita León, dass „viele Informationen immer noch davon abhängen, dass jemand einem einen ‚Gefallen‘ tut. Es ist nach wie vor schwierig, an bestimmte Informationen zu kommen, vor allem in Bezug auf die Polizei, das Militär oder den Wahlrat – einfach weil diese Institutionen nicht sehr transparent sind“. So haben viele Journalist*innen schon die Erfahrung gemacht, dass Anfragen auf Datenherausgabe schlicht nicht beantwortet werden. „Man muss schon sehr stark insistieren. Obwohl es einen gewissen Respekt gegenüber Journalisten gibt, hoffen die Institutionen oft, dass man irgendwann aufhört nachzufragen“, ergänzt Pacho Escobar, „und selbst wenn es Daten gibt, sind die oft nicht verlässlich“.

So bleibt die alternative Berichterstattung in Kolumbien ein tägliches Ringen. Es geht einerseits um den Zugang zu Informationen, genauso wie um das schlichte Überleben als Person und als Institution. Andererseits aber geht es vor allem um Einfluss, wie Miguel Suárez beschreibt: „Die politische Opposition, die Linke, hat einfach noch nicht verstanden, dass die Kommunikation ein Schlüssel zum politischen Wandel ist. Wir müssen um die öffentliche Meinung kämpfen, um die Menschen davon zu überzeugen, dass es ein anderes Kolumbien bereits gibt und dass der Wandel möglich ist.“

Televisa geht shoppen

Die Verfassungsreform, die 2013 im Telekommunikationsbereich verabschiedet wurde, ist von vielen Aktivist_innen, auch von Ihnen, positiv bewertet worden. Sie schien das Fernsehduopol von Televisa und TV Azteca zu schwächen. Wie kann man erklären, dass die Ausführungsgesetze eine völlig andere Stoßrichtung haben?
Im Wesentlichen sind zwei Dinge passiert: Die Verfassungsreform aus dem Jahr 2013 war ein sehr wichtiger Fortschritt und hat die Grundlage für einen Wandel des Mediensystems geschaffen. Aber im Anschluss daran ist die Vereinbarung „Pakt für Mexiko“ auseinandergebrochen. Im Dezember 2012 hatten sich im Rahmen des Paktes die politische Linke und Rechte zusammengeschlossen, um Reformen wie die Telekommunikationsreform zu verabschieden. Die Partei der Demokratischen Revolution (PRD) hat den Pakt im April 2014 wegen der geplanten Reformen im Energiebereich verlassen. Nachdem der Pakt auseinanderbrach, wurden die alten Vereinbarungen zwischen der Regierung und dem Fernsehsender Televisa wiederhergestellt. Die Partei der Nationalen Aktion (PAN) hat die Durchsetzung einer Telekommunikationsreform, die der Verfassungsreform entspricht, aufgegeben, um bei der geplanten Energiereform ihre Position durchzubringen. Und während sich die politische Rechte für die Energiereform verkauft hat, haben die Regierung und Televisa ihre historisch gewachsene Beziehung wieder gestärkt. Das Ergebnis besteht in Ausführungsgesetzen, die eindeutig Televisa begünstigen.

Welche Inhalte der Gesetze schützen die Interessen von Televisa besonders?
Sie schränken beispielsweise die Befugnisse des Föderalen Telekommunikationsinstituts (IFT) erheblich ein. Diese Institution wurde 2012 gegründet. Ihre Aufgabe ist vor allem die Regulierung und Überwachung der Radio- und Telekommunikationsmärkte, um eine Marktkonzentration zu verhindern. Die Übergangsregelung 9 ermöglicht es Unternehmen im Radio- und Telekommunikationssektor nun aber zu fusionieren und Zukäufe zu tätigen, ohne dass die Regulierungsbehörde zustimmen muss. Zumindest, wenn es sich nicht um ein Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Position handelt. Damit wird der Behörde eine ihrer wichtigsten Kompetenzen entzogen. Nur einen Tag nach Inkrafttreten der Gesetze hat Televisa den Kauf von Cablecom, einem der größten Kabelfernsehanbieter des Landes, angekündigt. Die entsprechende Regelung im Gesetz nennen wir mittlerweile Cablecom-Klausel, weil sie ganz offensichtlich für Televisa eingeführt wurde. Damit kontrolliert Televisa nun 63 Prozent des Pay-TV-Marktes in Mexiko. Und das Unternehmen kann weitere Kabelanbieter aufkaufen. Im Augenblick befindet es sich auf einer Shoppingtour. Und die Behörde kann nichts dagegen unternehmen, weil die Gesetze es unmöglich machen.

Aber Televisa hat doch eine marktbeherrschende Position und sollte dementsprechend reguliert werden können…
Die sogenannte marktbeherrschende Position wird innerhalb eines Sektors bestimmt. Das bedeutet, dass es im gesamten Telekommunikationssektor per Definition nur einen Anbieter mit marktbeherrschender Position geben kann. Dabei ist es offensichtlich, dass es auch auf Teilmärkten Unternehmen mit einer solchen Position gibt. Im mexikanischen Telekommunikationssektor sollten eigentlich zwei anerkannt sein: im Bereich der Telefonanbieter die Unternehmen von Carlos Slim (Telmex und América Móvil, Anm. d. Red.). und im Bereich des Fernsehens Televisa. Televisa beherrscht 50 Prozent des mexikanischen Fernsehmarktes, in bestimmten Stadtteilen der Hauptstadt sind es sogar 70 Prozent. Da Televisa jedoch in der Folge des Gesetzes nicht als marktbeherrschend gilt, können keine regulierenden Maßnahmen ergriffen werden.

Im März hatte die Regierung eine erste Gesetzesinitiative eingebracht, die breite Proteste hervorgerufen hat. Stellen die Ausführungsgesetze vom 9. Juli eine Verbesserung dar?
Nein, in vielen Punkten gab es gravierende Rückschritte. Neben den bereits genannten Aspekten gab es Verschlechterungen, die die Medieninhalte und den Schutz der Zuschauer betreffen. Es gibt bestimmte normative Maßgaben, die Medien erfüllen müssen. Im Gesetzestext sind die Vorgaben sehr knapp gehalten und es wird auf die Ethikcodes der jeweiligen Medien verwiesen, die damit die Rechte der Zuschauer zu einem Großteil selbst festlegen können. Das Gesetz kann Zuschauerrechte auch aus einem anderen Grund nicht effektiv schützen: Jedes elektronische Medium ist verpflichtet, einen Verteidiger von Zuschauerrechten einzusetzen. Wenn ein Medium die Rechte der Zuschauer verletzt, wird dieser Verteidiger sanktioniert, nicht der Lizenzinhaber oder die jeweilige Sendeanstalt. Das ist absurd – der Überbringer einer schlechten Nachricht wird verantwortlich gemacht. Und wenn der Betreiber nichts ändern möchte, wird auch nicht passieren – denn er kann ja nicht bestraft werden.
Ein weiterer Punkt ist, dass die Gesetze weiterhin die Überwachung von Telefongesprächen ermöglichen, ohne dass es dafür rechtliche Kontrollinstrumente oder Transparenzmechanismen gibt. Die Tatsache, dass Sicherheitsbeamte Telefongespräche abhören, Personen orten und die Daten zwei Jahre speichern können, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen, öffnet einer massiven Überwachung Tür und Tor.

Die Möglichkeit, gegen zivilgesellschaftliche Akteur_innen mit Zensur vorzugehen, war einer der großen Kritikpunkte an der Gesetzesinitiative im März. Welche Veränderungen gibt es in diesem Bereich?
Die Gesetzesinitiative sah es vor, Internetverbindungen und -seiten im Falle der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu sperren. Das ist mit den verabschiedeten Gesetzen nicht mehr möglich. So gibt es zwar keine direkte Möglichkeit mehr, sozialen Protest mit Zensur zu bekämpfen. Aber Journalisten, Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger können auf Grundlage der Artikel 189 und 190 überwacht werden, wie ich gerade erklärt habe.
Sehr bedenklich ist, dass gegen diese Artikel kein Einspruch wegen Verfassungswidrigkeit erhoben wurde. Weder im Senat noch im Abgeordnetenhaus konnten bis zum Ablauf der Frist 33 Prozent der Unterschriften gesammelt werden, die dafür notwendig sind. Auch das Bundesinstitut für den Zugang zu Information und Datenschutz IFAI, das eigentlich für den Schutz von personenbezogenen Daten und der Privatsphäre zuständig ist, hat keinen Einspruch erhoben. Also sind die Bürger der Überwachung schutzlos ausgesetzt.

Sie setzen sich seit vielen Jahren für die Stärkung kommunitärer Radios ein. Welche Folgen hat die Reform in diesem Bereich?
Die Gesetze beinhalten eine Reihe technischer und finanzieller Restriktionen, die kommunitäre Radios erheblich diskriminieren. Auch hier kam es zu Verschlechterungen im Vergleich zur Gesetzesinitiative. Kommunitäre Radios sind erstens dadurch im Nachteil, dass ihnen die Frequenzen zugeteilt werden, die niemand haben möchte. Dadurch haben sie keinerlei Vermarktungsmöglichkeiten und sind von Werbung der Regierung abhängig. Zweitens beschränken die Gesetze die Werbeeinnahmen erheblich – lediglich ein Prozent der Werbeausgaben der Bundesregierung darf an kommunitäre Radios fließen. Regierungen von Bundesstaaten und Kommunen sind zu Werbeausgaben an kommunitäre Radios nicht verpflichtet. Der entsprechende Etat muss zudem zwischen allen Stationen in gleichen Anteilen aufgeteilt werden. Je mehr kommunitäre Radiosender es gibt, desto weniger finanzielle Ressourcen stehen ihnen also zu.

Was kann unternommen werden, um der Reform etwas entgegenzusetzen?
Die Zivilgesellschaft hat große Anstrengungen unternommen. Sie hat sowohl die Abgeordneten als auch das IFAI unter Druck gesetzt, damit sie Einspruch wegen Verfassungswidrigkeit erheben. Gemeinsam mit anderen Medienexperten habe ich im August das IFT aufgefordert, eine sogenannte controversia constitucional einzuleiten. In diesem Fall muss die Institution beim Obersten Gerichtshof beantragen, dass er überprüft, ob das Gesetz ihre verfassungsrechtlich festgelegten Kompetenzen verletzt. Das IFT hat sich geweigert. Uns bleiben nur noch Verfassungsbeschwerden von Personen, die durch das Gesetz betroffen sind. Dass keine der Institutionen etwas unternommen hat, ist gravierend. Es zeigt, dass es kein Gegengewicht zur Regierung gibt. Diese kontrolliert ihre Kontrollinstanzen wie etwa den Kongress oder das IFAI. Es ist unfassbar, wie die Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) die Kontrolle nach ihrer Wiederwahl wiedererlangt hat. Wie kann es unter diesen Bedingungen gelingen, die demokratische Qualität zu verbessern und Debatten anzustoßen? Die Situation ist komplizierter für uns geworden – die PRI ist zurückgekehrt.

Infokasten

Aleida Calleja
ist Kommunikationswissenschaftlerin, Autorin und politische Aktivistin. Sie ist Expertin im Bereich Medienanalyse und Medienpolitik. Derzeit arbeitet sie als Advocacy-Koordinatorin für das Observatorio Latinoamericano de Regulación, Medios y Convergencia (OBSERVACOM), das die gesetzlichen Rahmenbedingungen und öffentlichen Politiken im Medienbereich Lateinamerikas analysiert. Von 2011 bis 2013 war sie Präsidentin der Mexikanischen Vereinigung für das Recht auf Kommunikation AMEDI. Zuvor war sie unter anderem Vizepräsidentin der Weltweiten Vereinigung kommunitärer Radios (AMARC) sowie Direktorin des Programms „Gesetzgebung und Recht auf Kommunikation“ der Sektion Lateinamerika und Karibik von AMARC. Aleida Calleja wurde 2009 für den Nationalen Journalist_innenpreis in Mexiko nominiert. Sie ist Mitherausgeberin zahlreicher Bücher im Bereich kommunitäre Medien und Recht auf Kommunikation

Schweigezonen

Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Journalist_innen weltweit. Inwieweit beeinflusst diese Situation Ihre Arbeit?
Emiliano Ruiz Parra: Viele Kollegen publizieren weit weniger, als sie wissen – nicht nur aus Angst ermordet zu werden. Gregorio (Jímenez, im Februar 2014 in Veracruz ermordet; Anm. d. Red.) zum Beispiel hat pro veröffentlichter Nachricht einen Euro verdient. Wenn man von einem Vollzeitjob nicht leben kann, beginnt die Versuchung, andere Angebote anzunehmen – und sich zum Beispiel gegen Bezahlung selbst zu zensieren. Die Eigentümer der Medien arbeiten sehr eng mit den lokalen Gemeindevorstehern zusammen und diese gehören in vielen Fällen dem Organisierten Verbrechen an. Kriminelle Vereinigungen finanzieren politische Kampagnen unter der Bedingung, bestimmte Bereiche der Kommunalpolitik, wie z.B. die Vergabe von Bauaufträgen, zu kontrollieren. Manchmal stellen sie aber auch direkt den Bürgermeisterkandidaten. Es gibt keine klaren Linien, wo das Organisierte Verbrechen aufhört und der mexikanische Staat anfängt. Die Journalisten, vor allem auf lokaler Ebene, befinden sich inmitten dieses verwirrenden Netzes aus Komplizenschaften.

Humberto Padgett León: In einem Fall hat ein Kartell in Michoacán nicht nur die Kandidaten aller Parteien gestellt, sondern auch eigene Medien gegründet. Den Journalisten mit einem monatlichen Einkommen von 100 Euro wurden die neuen Chefpositionen angeboten: „Du kannst die Inhalte auswählen und veröffentlichen, was du willst. Das Einzige, was du für mich tun musst, ist vom Abgeordneten A die Finger zu lassen und immer gegen den Abgeordneten B zu schreiben. Und du verdienst 1.000 Euro im Monat.“
In Zacatecas gibt es den Fall der Zeitung Imagen. Die Chefin der Zeitung erhielt konkrete Drohungen gegen sie und ihre Familie, weil sie bestimmte Artikel nicht veröffentlicht hatte. Es ging um eine Nachricht, laut der ein General der Armee das Sinaloa-Kartell bevorteilen würde. Die Veröffentlichung wurde von den rivalisierenden Zetas mit Morddrohungen eingefordert.

E.R.: Wegen dieser Umstände gibt es „Zonen des Schweigens“. Komplette Teile des Landes, wo man nicht weiß, was passiert.

Welche Landesteile sind das?
E.R.: Für lange Zeit war das Tamaulipas (Bundestaat an der Golfküste; Anm. d. Red.). Inzwischen weiß man, dass es dort Kämpfe gibt, weil sie dermaßen offen stattfinden. Aber zwei bis drei Jahre lang wurde außer vielleicht auf Twitter nichts über die dortigen Geschehnisse veröffentlicht. Viele Journalisten mussten die Region verlassen. Südlich von Tamaulipas, im Norden von Veracruz, wird ebenso wenig berichtet, was passiert. Und während der Aufstände der Bürgerwehren in Michoacán gelangte nichts davon in die Nachrichten – nicht weil es nicht wichtig war, sondern weil über diese Themen nicht geredet wird. Dies sind die drei Regionen, in denen das Schweigen am deutlichsten ist. Aber es gibt noch weitere.

Wie arbeiten Sie angesichts dieser Umstände bei Ihren Medien?
E.R.: In der Zeitschrift Gatopardo fühle ich mich wohl. Ich konnte dort bislang veröffentlichen, was ich wollte. Das einzige Manko ist vielleicht, dass ich freiberuflich arbeite und keine soziale Sicherheit habe. Deshalb muss ich auch für andere Zeitschriften schreiben und deren Aufträge erfüllen. Es gibt keine Zeitungen, in denen man sich in Ruhe auf ein Thema und einen Hintergrundtext konzentrieren kann, ohne sich um seine wirtschaftliche Situation sorgen zu müssen.

H.P.: Sinembargo ist ein digitales Medium. Das befreit uns von den Druckkosten, die den höchsten Anteil an den Produktionskosten eines Printmediums in Mexiko ausmachen. Und wir sparen uns das logistische Problem, eine Zeitung auszuliefern. Wir leben nicht von der Werbung der Regierung. Bis jetzt habe ich noch keine Situation erlebt, in der ich aufgefordert wurde, nicht über einen bestimmten Politiker oder eine Situation zu berichten.
Bei den Medien, für die ich früher gearbeitet habe, war das anders. Bei MX konnte die Regierung generell kritisiert werden, aber niemals direkt Felipe Calderón. Denn die Zeitschrift hat von den Anzeigen der Regierung gelebt. Einmal verweigerte Calderón uns ein Interview. Daraufhin haben wir als Titelfoto sein Gesicht gedruckt, in das wir unsere Fragen geschrieben hatten. Wegen der Vorwürfe des Wahlbetrugs 2006 fragten wir: „Werden Sie rechtmäßiger Präsident?“ Und wegen der Sonderbehandlung von Mitgliedern bestimmter Drogenkartelle: „Wer wird der narco dieser Legislaturperiode?“ Calderón wurde wütend und befahl seinem Pressechef Max Cortázar, die Werbung bei MX einzustellen. Zwei Nummern später konnte die Zeitschrift aus Geldmangel nicht mehr erscheinen. Der Leiter der Zeitschrift bat um ein Treffen mit Cortázar und letztlich bekamen wir wieder Anzeigen, aber Felipe Calderón durfte nicht mehr karikiert oder direkt angegriffen werden.
Die mexikanischen Medien hängen fast alle von der Werbung der Regierung ab, selbst die größten. Kritik an Politikern heißt also Kritik am größten Kunden. Wenn man die Titelseiten von gestern oder auch aus den letzten zehn bis 50 Jahren überprüft, sieht man das: Der Protagonist der Nachrichten ist ein Politiker, der ein Mexiko regiert, das nicht existiert – ein Mexiko, das die Menschen- und Frauenrechte respektiert, das die einkommensschwachen Menschen fördert, das seine Umwelt schützt und gute Bildung gewährleistet.

Herr Padgett, wie recherchieren Sie in Mexiko zu einem so heiklen Thema wie dem Organisierten Verbrechen?
H.P.: Ein Teil meiner Arbeit basiert auf der Analyse von Dokumenten. Seit acht Jahren arbeite ich an einer systematischen Zusammenstellung von gerichtlichen Ermittlungen. Diese Dokumente sind unter Verschluss, aber ich habe verschiedene Quellen gefunden, die mir den Zugang ermöglichen. Es sind Dokumente, die laufende Prozesse gegen Drogenhändler in Mexiko und den USA von 1959 bis 2013 auf allen Ebenen der kriminellen Strukturen beschreiben. Das heißt Prozesse gegen capos („Paten“), Geldwäscher, Importeure und Exporteure, Auftragskiller, Drogenkuriere… Das sind 60.000 Seiten Dokumente, die ich fotografiert habe. Ein anderer Teil meiner Arbeit findet in Drogenkonsum- oder -produktionsregionen statt.

Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um nicht bedroht oder angegriffen zu werden?
H.P.: Ich habe immer über alle Drogenkartelle gleichermaßen geschrieben. Es gibt keins, über dessen Verbindung zur Politik ich nicht geschrieben hätte. Das ist einerseits unter dem Aspekt ausgewogener Information angebracht, aber auch eine Sicherheitsmaßnahme. Denn man sieht, dass ich keine Gruppe bevorteile. Ich habe nie Geld akzeptiert oder etwas publiziert, das mir von einem Politiker zugespielt wurde. Auch das hat eine ethische und eine praktische Dimension.
Wenn ich für Recherchen reise, befolge ich ein Sicherheitsprotokoll. Ich reise grundsätzlich tagsüber und benutze keine auffälligen Autos. Ich gehe nachts nicht mehr aus – inzwischen auch nicht mehr in meiner Heimatstadt. Ich nehme keine Drogen, da mich dies der Gefahr aussetzt, verhaftet zu werden. Und dann könnte man mir einen Fall anhängen. Außerdem kenne ich das Leid, das der Handel mit Marihuana in meinem Land anrichtet.
Ich habe meine Informanten noch nie über das, was ich später über sie schreibe, getäuscht. Mein Wort muss gelten. Nach der Veröffentlichung muss ich meiner Quelle noch ins Gesicht sehen können. Diese Maßnahmen haben mich in eine privilegierte Position gebracht, um über diese Themen zu schreiben. Ich wurde noch nie bedroht.

Herr Padgett, haben Sie über Ihre Beschäftigung mit dem Organisierten Verbrechen Ansätze gefunden, wie dem Problem begegnet werden könnte?
H.P.: Verschiedene. Der größte Fehler ist die Straflosigkeit der Politiker und Beamten, die in das Organisierte Verbrechen verwickelt sind. Zudem wird das Problem sicherheitspolitisch aufgefasst, obwohl es vielmehr um Sozial- und Wirtschaftspolitik gehen sollte. Ein Bauer, der Mais oder Bohnen anpflanzt, ist leicht vom Organisierten Verbrechen zu korrumpieren, wenn der ihm garantierte Abnahmepreis unter den Produktionskosten liegt. Ich kenne Bauern, die Marihuana anpflanzen und sie haben nichts mit dem Stereotyp des mexikanischen Drogenhändlers zu tun. Sie sind keine gewalttätigen Personen, leben nicht in übermäßigem Reichtum und haben keine Gürtel mit Diamanten. Es sind Menschen, die ihren Söhnen eine bessere Bildung oder ihrer Frau professionelle medizinische Versorgung bieten können, weil sie Marihuana anbauen. Sie haben ein jährliches Einkommen von 5.000 bis 7.000 Euro. Sogar aus der mexikanischen Perspektive sollte dies kein Betrag sein, für den sich jemand einem solchen Risiko aussetzt und seine Freiheit, sein Leben und das seiner Familie aufs Spiel setzt. Aber wir sind eine extrem ungleiche Gesellschaft und die Ungleichheit ist eine Bedingung, die das Organisierte Verbrechen fördert.

Infokasten

Humberto Padgett León hat Journalismus an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) studiert. Er arbeitet zu Feminiziden, Korruption sowie Organisierter Kriminalität und deren Verbindungen zu Staatsbeamt­_innen. Derzeit ist er Redakteur des Internetportals www.sinembargo.mx.
Emiliano Ruiz Parra hat Hispanistik an der UNAM sowie Politische Theorie in London studiert. Als Journalist arbeitet er zu Kirche, Politik und Migration in Mexiko. Als freier Journalist veröffentlicht er regelmäßig Beiträge für die Zeitschrift Gatopardo. In letzter Zeit setzt er sich außerdem als Aktivist für die Pressefreiheit in Mexiko ein.
Emiliano Ruiz Parra und Humberto Padgett León sind die aktuellen Preisträger des Walter-Reuter-Medienpreises. Er wird jährlich von der Deutschen Botschaft in Mexiko in Zusammenarbeit mit weiteren deutschen Institutionen vergeben.

Zurück zu den Wurzeln – und auch wieder nicht

Los de Abajo gehen auf ihrem neuen Album zurück zu den Wurzeln – und auch wieder nicht. Die Songs klingen nicht mehr nach früheren Aufnahmen – kein Ska, kein Punk, kein Rock – doch gleichzeitig sind die zehn Musiker_innen seit jeher tief in der mexikanischen Folklore verwurzelt.
Mariachi Beat ist musikalisch verspielt und vielschichtig, wirkt aber trotzdem sehr strukturiert. Auf eine Art könnte man das achte Album der „ersten Salsa-Punk-Band“ sogar als Konzeptalbum bezeichnen, auf dem die Gruppe eine ganze eigene Antwort auf die Frage nach dem Klang mexikanischer Musik gibt.
Was teilweise schon auf dem vorherigen Tonträger Actitud Calle anklopfte, ist nun zu einem echten Stilwechsel herangereift – sofern das von einer Band behauptet werden kann, die sich musikalisch nie eindeutig einordnen ließ. Mariachi Beat polarisiert die bisherigen Hörbegleiter_innen der bunten Truppe aus Mexico Stadt, denn es ist nun eindeutig nicht mehr der schnelle Salsa-Ska-Punk, der auf Mariachi Beat das Hörerlebnis bestimmt – es sind Mariachi, Merengue und Co.
Der Name Los de Abajo („Die von unten“) bezieht sich auf den gleichnamigen Roman von Mariano Azuela, der sich mit der mexikanischen Revolution beschäftigt. Als politische Band, die unter anderem solidarisch mit der Zapatista-Bewegung ist, erscheint es nun verwunderlich, dass im Booklet kein einziger Songtext, sondern nur bunte Fotos der Bandmitglieder zu sehen sind. Das sei eine Frage der künstlerischen Gestaltung gewesen, heißt es dazu. Ästhetik vor Politik?
Für manche ist Mariachi Beat das unpolitischste Album der Band – für die Band selbst ist das Gegenteil der Fall. In der Vergangenheit haben Los de Abajo in Mexiko immer wieder mit Zensur zu kämpfen gehabt – das wird sich wohl auch mit dem neuen Album nicht ändern. Der politische Anspruch ist auf den ersten Blick allerdings schwer zu erkennen – nicht zuletzt durch die fehlenden Texte . Es wirkt, als haben sich Los de Abajo auf diesem Album mehr mit ihren musikalischen, nicht so sehr mit ihren politischen Positionen beschäftigt. Politisch sind die Texte aber trotzdem. Ab Oktober sollen sie schließlich auf Spanisch und in deutscher Übersetzung auf der Internetseite der Band zu finden sein.
Los de Abajo sind mittlerweile wohl an dem Punkt angelangt, den die meisten Bands nach längerem Bestehen erreichen – der Punkt des musikalischen Kurswechsels, der auf Mariachi Beat für manche auch nach einem Zurückschrauben der politischen Ansprüche klingt. Manche Stimmen lassen sogar verlauten, diese Band werde wie die meisten anderen irgendwann einmal erwachsen. Bei einer Band wie Los de Abajo ist das schwer vorstellbar. Ob das nun stimmt und ob das gut oder schlecht ist, davon kann sich ab jetzt jede_r selbst ein Bild machen.

Los de Abajo // Mariachi Beat // Flowfish Records

„Versteckte Wiederwahl“ gescheitert

Der 1. Juli wird kein leichter Tag für Ricardo Martinelli. An diesem Tag scheidet er als Präsident Panamas aus dem Amt; vor allem aber wird er erneut auf Juan Carlos Varela treffen, seinen ärgsten Widersacher. An den wird er dann den Stab der Macht weiterreichen. Nicht, dass man Martinelli dafür bemitleiden müsste – die Geschichte um die ehemaligen politischen Weggefährten, die zu erbitterten Feinden wurden, verleiht dem Machtwechsel in Panama jedoch eine besondere Note.
Juan Carlos Varela, unter der paradoxen Titulierung „Oppositionskandidat und Vizepräsident“ für die rechtsskonservative Allianz El Pueblo Primero („Das Volk zuerst“) aus der christdemokratischen Volkspartei und Partido Panameñista bei der Wahl am 4. Mai angetreten, hatte überraschend mit 39 Prozent der Stimmen den Sieg davon getragen. Zuvor hatten ihn alle Umfragen – wenn auch knapp – lediglich auf dem dritten Platz gesehen.
Varela war nach der Wahl 2009 zunächst selbst Teil der Regierung gewesen: als Außenminister und Vizepräsident unter Martinelli, ehe er sich mit ihm überwarf. Die Koalition zerbrach 2011 wegen Korruptionsvorwürfen. Varela wurde zunächst als Außenminister abgesetzt, später forderte ihn Martinelli auf, auch sein Amt als Vizepräsident niederzulegen, da er „ohnehin nichts mache“. Varela antwortete, er diene „dem Volk und nicht einer korrupten Regierung“. Formal blieb er bis zu seiner Wahl Vizepräsident. Nur, dass aus politischen Freunden nun erbitterte Gegner geworden waren.
Varela verwies den Kandidat des Regierungslagers, José Domingo Arias von der Partei Demokratischer Wandel (CD), der 32 Prozent erzielte, sowie den ehemaligen Bürgermeister von Panama-Stadt, Juan Carlos Navarro von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) mit 27 Prozent, auf die Plätze.
Weil der scheidende Präsident Ricardo Martinelli laut Verfassung nicht wiedergewählt werden durfte, hatte er Arias, seinen Wohnungsbauminister, zum Präsidentschaftskandidaten aufgebaut und diesem seine Gattin Marta Linares als Vizepräsidentschaftskandidatin an die Seite gestellt. Die Opposition sprach von einer „versteckten Wiederwahl“. Viele Wähler_innen durchschauten den Zug und straften das Regierungslager ab. Überhaupt verpassen die Panamaer_innen – schaut man sich vergangene Abstimmungen an – den Regierenden gerne einen Denkzettel.
Der Wahlsieg Varelas, laut BBC „Martinellis schlimmster Feind“, zerstört nun alle Hoffnungen Martinellis, weiterhin die Geschicke der Regierung – wenn auch indirekt – mitbestimmen zu können. Die Niederlage seines Kandidaten wird von den meisten Beobachter_innen vor allem als Ablehnung von Martinellis autoritärem Politikstil interpretiert.
Die Wahl vom 4. Mai war zugleich auch Parlaments- und Kommunalwahl. Varelas Wahlbündnis gewann dabei mit knappem Vorsprung auch das Bürgermeisteramt in Panama-Stadt, den zweitwichtigsten politischen Posten im Land. Darüber hinaus kann der neue Präsident im Parlament aber nur auf 12 von 71 Abgeordneten zählen. Auch in den Landkreisen ist seine Partei jeweils in der Minderheit. Varela hat zwar das Präsidentenamt gewonnen, seine Partei aber ist landesweit nur in der zweiten bzw. dritten Reihe gelandet.
Demgegenüber erzielte die von Martinelli selbst gegründete CD im Abgeordnetenhaus mit fast 30 Abgeordneten die relative Mehrheit, die PRD kam auf 23 Sitze. Beobachter_innen spekulieren über eine Koalition aus PRD und Varelas Partido Panameñista. Es wird aber auch nicht ausgeschlossen, dass sich der künftige Präsident mit der CD verständigt. Immerhin waren sie mal Verbündete und liegen inhaltlich nicht weit auseinander.
Bei den Kommunalwahlen wiederum siegte die PRD, die von General Torrijos nach dessen Machtergreifung 1968 gegründet wurde. Sie kann auf eine breite Mitgliederbasis bauen und gewann die meisten der 75 Landkreise. Der eigene Präsidentschaftskandidat Navarro dagegen fiel bei den PRD-Anhänger_innen durch. Trotz mehr als 600.000 Parteimitgliedern votierten nur gut 500.000 für ihn.
Die Linke konnte bei den Wahlen dagegen kaum nennenswert Stimmengewicht hinter sich versammeln. Linke Parteien sind in Panama traditionell schwach. Der unabhängige Kandidat Juan Jované erzielte weniger als ein Prozent der Stimmen. Immerhin gelang es ihm, soziale Probleme des Landes in die Wahlkampfdebatten einzubringen, wie den ruinösen Zustand des Bildungs- und Gesundheitswesens.
Auch der Kandidat der Breiten Front für die Demokratie (FAD), Genaro López, blieb hinter den Erwartungen zurück. Mit einem moderat linken Diskurs in Anlehnung an Lula in Brasilien, Sánchez Cerén in El Salvador oder Mujica in Uruguay versuchte er sich, von der radikalen Linken abzugrenzen. Eine Strategie, die in diesem Fall keinen Erfolg brachte. Mögliche Wähler_innen wechselten ins „Protestlager“, um die Abwahl Martinellis zu sichern.
Martinelli war immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht worden. Ein Silvio Berlusconi nahestehender Unternehmer soll Bestechungsgelder gezahlt haben, um an Staatsaufträge zu kommen. Bewiesen ist bislang nichts. Zudem wurde Martinelli die Einschränkung der Pressefreiheit, die Schwächung staatlicher Institutionen sowie die Verletzung der Gewaltenteilung vorgeworfen. „Die Regierung Martinelli hat die Institutionen des Landes ernsthaft beschädigt; mit der neuen Regierung hoffen wir, zum Respekt vor den Institutionen zurückzukehren“, erklärte die Anwältin María Fernanda Martiz gegenüber dem Nachrichtendienst PanAm Post mit Blick auf die anstehende Ernennung von Verfassungsrichter_innen und Postenvergabe in der Verwaltung des Panamakanals.
Martinelli selbst hatte im Wahlkampf dagegen vor allem die wirtschaftlichen Errungenschaften seiner Amtszeit hervorgehoben, inklusive diverser Infrastruktur-Großprojekte. Erst im April war publikumswirksam in Panama-Stadt die erste U-Bahn Zentralamerikas eröffnet worden. In den ersten Monaten ist die Benutzung kostenlos. Auch ein neues Fußballstadion wurde eingeweiht.
Panama hat sich in den vergangenen Jahren zum Finanzzentrum Mittelamerikas entwickelt. Der Immobilien-Boom der vergangenen Jahre hat der Baubranche volle Auftragsbücher beschert, zugleich aber die Grundstücksspekulation angeheizt. Während die Gewinne der Unternehmen exorbitant gestiegen sind (337 Prozent über die vergangenen acht Jahre), betrug der Lohnzuwachs bei den Bauarbeiter_innen im selben Zeitraum gerade einmal 18 Prozent. Der Bausektor ist einer wichtigsten Motoren von Panamas Wirtschaft, die Wachstumsrate ist mit neun Prozent die höchste in der Region. Auf der anderen Seite lebt jeder Dritte in Panama in Armut oder extremer Armut.
Diese soziale Schieflage wird eine der größten Herausforderungen für Varela werden. Wie zur Einstimmung wurde die Wahl von Lohnstreiks der Bauarbeitergewerkschaft Suntracs sowie Lehrerverbänden begleitet. Beide Arbeitskämpfe sind mittlerweile beigelegt, die sozialen Spannungen aber bestehen fort.
Varela gilt zwar als liberaler Konservativer, genießt aber eine gewisse Glaubwürdigkeit in der Sozialpolitik. Von ihm stammt unter anderem das Programm „100 por 70“ (100 für 70), nach dem über 70-Jährige ohne Einkommen monatliche Hilfen von 100 US-Dollar erhalten. Zudem hat er während seiner Zeit in der Regierung Martinelli die Anhebung des Mindestlohns, das Wohnungsbau-Projekt Curundú für einen der ärmsten Stadtteile der Hauptstadt sowie das Stipendienprogramm Beca Universal, von dem 800.000 Schüler_innen profitieren, mit vorangetrieben.
Als jungen Mann hätten ihn die Erziehung in der Jesuitenschule und die Bürgerkriege in El Salvador und Nicaragua geprägt, so Varela im Wahlkampf. Ein früherer Mathematiklehrer Varelas versicherte im Fernsehkanal Telemetro, dass Varela damals im Schulgebäude sandinistische Fahnen aufgehängt und Geld gesammelt habe, um die Revolution in Nicaragua zu unterstützen. Diese Anekdoten sollten vor der Wahl vor allem Varelas „soziale Ader“ hervorheben, um ihn auch von links wählbar zu machen.
Immer wieder hat sich Varela im Wahlkampf für höhere Sozialausgaben ausgesprochen. Eines seiner Hauptversprechen war die Preiskontrolle von 22 Basisprodukten, um die Inflation zu senken, neue Schulen, Zugang zu sauberem Trinkwasser für alle, sowie die Anhebung von Stipendien und Pensionen. Er setzte sich damit erfolgreich von Martinellis Modell ab, das Land nach unternehmerischen Kriterien zu regieren.
Er ist und bleibt aber ein konservativer Unternehmer, der der traditionellen Oligarchie in Panama entstammt. Seiner Familie gehört eine bekannte Rumfabrik, er selbst ist an mehreren Radiosendern beteiligt. Seinen Abschluss als Industrieingenieur hat er in den USA an der Georgia Tech gemacht. Darüber hinaus ist er Mitglied des Opus Dei, dem erzkonservativen Orden der katholischen Kirche.
Im Wahlkampf inszenierte sich Varela zudem als Kämpfer gegen die Korruption. Seine Regierung werde Leistungen erbringen und aufhören, ein Geschäft zu sein, so Varela noch in der Wahlnacht. „Wer Geschäfte machen will, sollte seine Sachen packen und Richtung Privatwirtschaft verschwinden.“ Und weiter: „Ich werde nicht zulassen, dass auch nur ein Centavo der Gelder, die den vier Millionen Panamaern gehören, ausgegeben wird, ohne dass er dem Volke zugute kommt.“ Dabei waren im Wahlkampf auch Korruptionsvorwürfe gegen Varela aufgetaucht. Die regierungsnahe Zeitung El Panamá América hatte Ende April Varela mit einem Geldwäsche-Netz in den USA in Verbindung gebracht, was von seiner Partei als Verleumdungskampagne zurückgewiesen wurde.
Allgemein wird erwartet, dass Varela die unternehmerfreundliche Freihandelspolitik seines Vorgängers fortsetzt. Seit der US-Invasion von 1989 verfolgt Panama ein neoliberales Wirtschaftsmodell, das auf den Kompontenten Reduzierung des Staates, Freihandel und Deregulierung aufbaut und von sozialer Repression von Gewerkschaften, Kleinbauern sowie Studierendenorganisationen begleitet wird. Der Politologe Marcos A. Gandásegui Jr. erwartet daher auch keinen radikalen Politikwechsel: „Der gewählte Präsident Varela verfolgt eine sehr ähnliche, wenn nicht gar identische Politik wie Martinelli. Varela unterliegt den Richtlinien, die aus den USA die wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Belange vorgeben.“
Immerhin hat Varela angekündigt, nach seinem Amtsantritt die diplomatischen Beziehungen zu Venezuela wieder aufzunehmen und den Handel beider Länder anzukurbeln – und sich damit schon mal von seinem Amtsvorgänger abgesetzt. Auch mit Kolumbiens Präsidenten will er zusammentreffen, um Handelsstreitigkeiten beizulegen und das Projekt, die Stromnetze beider Länder zu verbinden, wieder aufzunehmen. Das Schwierigste aber hat Varela noch vor sich: Er muss nun seine zahlreichen Versprechen auch einlösen.

Das Nicht-Erzählbare erzählen

Als Lateinamerika und die Welt sich am Montag, den 21. April im Palacio de Bellas Artes in Mexiko-Stadt von Gabriel García Márquez verabschiedeten, waren mehrere tausend Menschen anwesend – die Mehrheit von ihnen keine Staatsoberhäupter oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, sondern passionierte Leser_innen. Der weltweit meist gelesene lateinamerikanische Schriftsteller war am Donnerstag, den 17. April im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in Mexiko-Stadt verstorben.
Der Hauptvertreter des lateinamerikanischen Booms der Literatur der sechziger und siebziger Jahre hat mit Cien años de soledad (Hundert Jahre Einsamkeit) nicht nur ein neues literarisches Genre begründet, den Magischen Realismus, sondern auch wie kein anderer das Interesse an der Literatur Lateinamerikas geweckt. Sein Werk zeichnet sich vor allem durch Wahrhaftigkeit aus, durch die verschwimmenden Grenzen zwischen Fiktion und nicht-Fiktion und durch die Fähigkeit, den Wunsch verschwinden zu lassen, diese Grenzen abzustecken und zu erkennen.
García Márquez war ein wichtiger Autor für Lateinamerika, sowohl im Sinne der Politisierung und Bewusstseinsbildung der Gesellschaft, als auch im Konservieren von lokaler Tradition und Identität. Wichtig war er auch außerhalb Lateinamerikas. Sein mexikanischer Schriftstellerkollege José Emilio Pacheco beschrieb im Jahr 2007 zum vierzigjährigen Jubiläum von Cien años de soledad die Ausmaße, die der Einfluss jenes Romans im Laufe der Jahrzehnte annahm: So markierte beispielsweise seine Veröffentlichung in Beirut einen nie zuvor erlebten Bruch, bis heute ist der Magische Realismus ein beliebtes Genre in der arabischsprachigen Literatur. In Tibet, so Pacheco, ist Cien años de soledad der am meisten studierte Roman aller Zeiten. Laut einer Einschätzung des García-Márquez-Biographen, dem Engländer Gerald Martin, wurde bereits in den achtziger Jahren, als er seine Recherchen für die ebenfalls 2007 erschienene Biographie begann, etwa alle 15 Minuten ein wissenschaftlicher Beitrag zu Márquez’ Werk veröffentlicht.
Wer allerdings nur sein mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnetes literarisches Werk würdigt, lässt außer Acht, dass García Márquez, wie er selbst oftmals hervorhob, in erster Linie Journalist war, der sich der Sprachrohr-Funktion des Journalismus verpflichtet fühlte: „Meine erste und einzige Berufung ist der Journalismus. Ich wurde weder aus Zufall noch aus Notwendigkeit Journalist, sondern weil ich Journalist sein wollte.“ Er übernahm 1998 gemeinsam mit seiner Frau Mercedes Barcha die Zeitschrift Cambio und war bereits im Jahr 1974 Mitgründer von Alternativa, einer Publikation die von verschiedenen Intellektuellen veröffentlicht wurde. Diese setzten sich für politischen Widerstand und eine kritische Union der zersplitterten kolumbianischen Linken ein.
Für Alternativa schrieb García Márquez aus Chile, Angola, Vietnam und mehreren Ländern der ehemaligen Sowjetunion. 1994 gründete er in Cartagena de Indias, Kolumbien, die Stiftung für einen neuen iberoamerikanischen Journalismus (FNPI). Als Verfechter der Pressefreiheit und des Schutzes von Journalist_innen auf der ganzen Welt, war ihm deren ethische und praktische Ausbildung wichtig und er kämpfte gegen die Ethik-Krise im Journalismus an. Dieser war seiner Meinung nach das „beste Gewerbe der Welt“, habe jedoch durch seine Akademisierung und Modernisierung, die statt Formation nur noch auf Information Wert lege, an Kreativität und Bezug zur Lebenswirklichkeit verloren. Der ethischen Unerschrockenheit vieler Journalist_innen versuchte er in den Workshops der FNPI die Ästhetik innerhalb der Ethik entgegenzubringen. Laut García Márquez sollte jede Form von Journalismus investigativ sein, das war ein Hauptaspekt seiner journalistischen Ethik. Er verteidigte das Notizheft gegenüber dem Diktiergerät, davon überzeugt, dass die Essenz der im Text erzählten Realität nur mit ersterem einzufangen sei und die Leser_innen nur so bewegt würden. Zudem glaubte er an die sich täglich bietende Möglichkeit aller Journalist_innen, gesellschaftliche Zustände nicht nur aufzuzeigen, sondern in deren Entwicklung aktiv einzugreifen. Er war der Überzeugung, dass jede Nachricht das Potenzial habe, das Leben eines oder mehrerer Menschen zu verändern. Journalismus, so García Márquez, habe die Verantwortung das nicht-Erzählbare zu erzählen. Der Verfall genau dieser Ethik ist, was er an der lateinamerikanischen Presse am meisten kritisierte. Für ihn stellte das Fehlen von Engagement und Ernsthaftigkeit im Journalismus eine größere Gefahr für Lateinamerika dar als Imperialismus und Drogenhandel.
Seinen politischen Überzeugungen verlieh er vor allem durch den Journalismus Ausdruck, weniger durch seine Literatur. Beide dienten ihm jedoch als Ausdrucksformen eines Ringens mit der Realität, die einen komplementären Widerspruch darstellten: In seinen Romanen ließ er die Figuren stets scheitern, während sein journalistischer Nachlass ein hoffnungsvoller Aufruf zu sozialem Widerstand ist. Als linker Intellektueller war er der Realität Lateinamerikas verpflichtet. Er war Mitgründer des ersten kolumbianischen Solidaritätskomitees mit politischen Gefangenen und führte ab 1973, nach dem Militärputsch in Chile, einen „literarischen Streik“ gegen den Faschismus, der mehrere Monate anhalten sollte. In Lateinamerika müsse jeder einzelne Mensch politisch sein, sonst würde sich nie etwas verändern. „Gabo“ war ein treuer Freund Fidel Castros, und das, obwohl sich viele Intellektuelle von Castro abwandten, nachdem dieser den kubanischen Dichter Heberto Padilla für seine Regimekritik inhaftiert hatte. García Márquez selbst kritisierte sehr wohl die autoritäre Richtung, welche die Kubanische Revolution eingeschlagen hatte, wandte sich jedoch als Freund nie von Castro ab. In Mexiko, seiner zweiten Heimat, in der er mehr als vierzig Jahre lebte, wurde er häufig dafür kritisiert, dass er, entgegen seiner eigentlichen politischen Haltung, nie Kritik an der Regierungspartei PRI ausübte. Er bewunderte die Organisation Mexikos, die „Funktionstüchtigkeit“ des Landes im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern, trotz Korruption und Gewalt. Mit dem kolumbianischen System war er hingegen nie einverstanden und hat aus diesem Grund nie einen öffentlichen Posten akzeptiert.
In den letzten Jahren seines Lebens erlitt er dasselbe Schicksal wie seine Romanfiguren aus Cien años de soledad: den schleichenden Verlust des Gedächtnisses. Für einen Schriftsteller, der vor allem von der Erinnerung lebte – seiner eigenen, der seiner Großeltern, der Lateinamerikas – und der es sich zu einer Lebensaufgabe gemacht hatte, die mündlichen Überlieferungen Kolumbiens in Schrift zu verewigen, war dies der Anfang vom Ende. Im Jahr 2007 entschloss er sich dazu, nicht mehr zu schreiben. Leben sei nicht das, was man gelebt hat, sondern woran man sich erinnere. Ohne Erinnerung gebe es kein Leben mehr. Ebenso war er jedoch davon überzeugt, dass das Interessante an literarischen Figuren nicht ihr Leben, sondern ihr Tod ist. So beginnen viele Werke mit dem (sich ankündigenden) Tod einer Person. Während der Journalismus für García Márquez Auseinandersetzung mit den Lebenden war, galt ihm die Literatur als Erholung von diesen Auseinandersetzungen. Sein Tod hat ihn selbst zu einer dieser literarischen Figuren erhoben, die im Gedächtnis von Menschen aus aller Welt noch lange Zeit nachwirken wird.
// Elena von Ohlen

Lieber Brot als Spiele

Geplant war das alles anders. Ganz anders. Als Brasilien am 30. Oktober 2007 dazu auserkoren wurde, nach der gefühlten Ewigkeit von 64 Jahren wieder eine Fußball-Weltmeisterschaft auszurichten, erwartete die Welt einen kollektiven Freudentaumel. Äußerungen wie die des früheren Schalke-Profis Marcelo Bordon, das Land sei „rettungslos fußballverrückt“ und man werde „einen Monat lang ein Riesenfest durchfeiern“ nährten die Hoffnungen der Funktionäre der FIFA, dem Weltfußballverband. Eines der ältesten Versprechen des Fußballs sollte erneut für ihre alle vier Jahre perfekt inszenierte Illusionskunst instrumentalisiert werden: Die Alltagssorgen eines ganzen Landes – und auch die durchaus vorhandenen organisatorischen Bedenken bei der Vergabe – in einem Rausch aus Emotion und Weltvergessenheit zumindest für eine kurze Zeit ins Abseits zu stellen. Brasilien schien die perfekte Wahl dafür. Was beim Karneval alljährlich klappt, müsste doch auch auf ein Sportturnier übertragbar sein – um diese Gedankengänge des FIFA-Exekutivkomitees nachvollziehen zu können, bedurfte es keiner Wikileaks-Enthüllungen. FIFA-Präsident und Chefmissionar Joseph Blatter ließ es sich dann wie schon zuvor in Südafrika 2010 auch nicht nehmen, den Beitrag des Fußballs zur Entwicklung eines Landes in bunten Farben auszumalen. Die WM werde „einen riesigen sozialen und gesellschaftlichen Einfluss“ auf Brasilien haben, verkündete er auf der Homepage der FIFA. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er vermutlich nicht im Entferntesten, wie recht er damit behalten sollte.
Blatters in zwei Richtungen interpretierbares Statement ist mittlerweile zu einer Wahrheit geworden, die niemand in der FIFA in dieser Form für möglich gehalten hätte. Sicher, schon am Tag der WM-Vergabe mischten sich erste kritische Stimmen in den Jubelsturm der offiziellen Feiern. Altstar Sócrates, schon zu Zeiten der Militärdiktatur für seine kritischen politischen Ansichten bekannt und geschätzt, prognostizierte polternd, das werde wohl wieder „eine große Klauerei. Steuergelder werden verschwinden und ein Großteil der geplanten Kosten wird aus der Tasche des Volkes fließen“. Auch die MTV-Moderatorin und Abgeordnete des Stadtparlamentes von São Paulo, Soninha Francine, kritisierte sehr zum Ärger Blatters die Entscheidung für ihr Land als „verwegen. Unsere Korruption ist ja bekannt.“ Der FIFA-Boss, von solcherlei Vorwürfen ebenfalls nicht gänzlich unberührt, blaffte den Kritiker_innen zu diesem Zeitpunkt noch entgegen, er verlange „mehr Respekt gegenüber der FIFA und ihren Mitgliedern“. Sechs Jahre später, als der WM-Testlauf Confederations Cup in Brasilien Station machte, hatten sich sowohl die Lage als auch sein Tonfall dramatisch verändert. Der Turnier-Gigantismus des Weltverbands und der eigenen Regierung rief angesichts drängender sozialer Probleme im Land massive Proteste der brasilianischen Bevölkerung hervor. Blatter selbst wurde bei der gemeinsamen Turniereröffnung mit Staatspräsidentin Dilma Rousseff in Brasilia von einem ganzen Stadion gnadenlos ausgepfiffen und äußerte daraufhin im Juli 2013 gegenüber der Presse spürbar nervös, man müsse „überlegen, ob man bei der WM-Vergabe falsch gewählt habe“. Dass es gar nichts zu wählen gegeben hatte – Brasilien war der einzige Bewerber für die Ausrichtung – durfte da gerne unter den Tisch fallen. Vor allem angesichts des mit „dubios“ noch freundlich umschriebenen Demokratieverständnisses, das die Kür der WM-Gastgeberländer seit geraumer Zeit umweht. Zu Tage trat allerdings das, was aufmerksame Beobachter seit Jahrzehnten bei WM-Turnieren verfolgen können: Die so gerne zur Schau getragene politische Neutralität der FIFA gilt nur, solange die Investitionssicherheit nicht in Frage gestellt wird. Blatters für seine Verhältnisse extrem undiplomatisches Statement gegenüber einem Ausrichter belegt diese These nur zu deutlich. Ebenso wie den Eindruck, dass die Mächtigen des Weltverbands die Mobilisierungskräfte von Brasiliens sozialen Bewegungen mindestens so sehr unterschätzt hatten, wie Brasilien das Team Uruguays vor der Niederlage im entscheidenden Spiel der letzten Heim-Weltmeisterschaft 1950.
Sport und Sportturniere werden seit der Antike als völkerverbindender, friedlicher Wettstreit proklamiert. Von seinen Funktionär_innen wird die Notwendigkeit der politischen Neutralität des Sports gerühmt, durch die er erst seine „positive Wirkung entfalten“ könne, wie der frisch gewählte Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), der Deutsche Thomas Bach, erst kürzlich wieder kundtat. Bewerbungen für große Sportevents sind jedoch nicht selten für sich schon ein Politikum, wie sich besonders bei den Fällen beobachten lässt, bei denen die Bevölkerung darüber abstimmen darf (so verhinderten Volksentscheide eine Kandidatur Münchens für die Winterspiele 2022). Zudem war die häufige Unterstützung der Sportverbände für den politischen Status Quo in autoritär geführten oder diktatorischen Ausrichterstaaten von Olympischen Spielen oder Fußball-Weltmeisterschaften durch die Bereitstellung der größten Bühne der Welt für Selbstdarstellung und Propaganda schon immer das Gegenteil von unpolitisch. Gemeinsam mit ihrer Missachtung der dortigen oppositionellen Bewegungen entlarvt sie die These von der Neutralität des Sports als bloße Rhetorik.
Die FIFA hat in dieser Beziehung eine besonders unrühmliche Geschichte. Markantestes Beispiel ist die skandalöse Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien. Drei Jahre vor dem Turnier war die Sorge vor unruhigen sozialen Verhältnissen unter der Regierung Isabel Peróns in den Gängen der Zentrale des Weltverbandes greifbar. Nach dem rechten Militärputsch 1976 jedoch bekannte ein erleichterter FIFA-Präsident João Havelange: „Jetzt ist das Land in der Lage, die Weltmeisterschaft auszurichten!“ Die Welt könne nun „das wahre Argentinien kennenlernen“. Damit gemeint war eine Militärdiktatur, die in den folgenden Jahren mehr als 30 000 Oppositionelle verhaften, foltern und ermorden ließ. Eine Entschuldigung für Havelanges Aussagen gab es nie. Auch nicht von Joseph Blatter, der damals seine Premiere als FIFA-Generalsekretär feierte. Im Gegenteil, der heutige FIFA-Boss war und ist mit seinem früheren Chef politisch voll auf einer Linie, wie er erst kürzlich wieder bekannte: „Ich bin glücklich gewesen, dass Argentinien gewann. Zwischen der Bevölkerung und dem politischen System hat es eine Art Aussöhnung gegeben.“
Weltfremder Zynismus à la FIFA, den auch Blatters heutiger Nachfolger als Generalsekretär pflegt. Der heißt Jerôme Valcke und arbeitet fleißig daran, blattersche Werte in der nach unten offenen Unbeliebtheitsskala zu erreichen. Unter anderem wegen eines Statements, das eine erschreckende Kontinuität mit Havelanges Aussagen zu Argentinien ´78 erkennen lässt. Auf einer öffentlichen Pressekonferenz im März 2013 äußerte er unverblümt: „Ich werde Ihnen etwas sagen, das verrückt klingen mag. Aber weniger Demokratie ist manchmal besser für die Organisation des World Cup. Wenn ein starkes Staatsoberhaupt da ist, das Entscheidungen treffen kann, wie etwa Putin 2018 (Russland ist WM-Ausrichter 2018, Anm. d. Red.), das ist einfacher für uns Organisatoren als in einem Land wie Deutschland, wo man auf verschiedenen Ebenen verhandeln muss.“ Danach kritisierte er in noch deutlicheren Worten die föderalen Strukturen Brasiliens.
Weniger politische Neutralität ist kaum möglich. Aus der Sicht eines Weltverbandes, der das Profitstreben längst weit über das – sowohl sportliche als auch soziale – Fair Play gestellt hat, ist das allerdings ebenso logisch wie nachvollziehbar. Stabilität, eine öffentliche Darstellung ohne zu laute Störgeräusche und ein sicheres Investitionsklima für die milliardenschweren FIFA-Sponsoren sind die Rahmenbedingungen, die für einen reibungslosen Ablauf der größten Show der Welt mehr als alles andere nötig sind. Allerdings spricht einiges dafür, dass die FIFA ihren Willen diesmal nicht so leicht bekommen wird, obwohl ihre Auflagen wie üblich so exakt vom Ausrichterland erfüllt werden mussten, als sei der Fußballweltverband ein „Internationaler Währungsfonds des Sports“. Denn der Katalog der Unzufriedenheit in der Bevölkerung näherte sich dadurch der Länge der brasilianischen Küstenlinie an: Sparmaßnahmen, die das öffentliche Gesundheitswesen amputierten, während das separate Budget für wenig nachhaltige Luxusprojekte wie Hotels und Stadien unangetastet blieb. Ein versprochener Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, vor allem des Verkehrsnetzes, der im Korruptionssumpf verschwand. Eine Sicherheitslage, die durch Einsatz öffentlicher Sicherheitskräfte in Favelas eher verschärft als verbessert wird – zumindest für diejenigen, die ohnehin schon unter prekären Verhältnissen zu leiden haben. Die Verzögerungen von Bauarbeiten in den Stadien, die zu Terminnot und in der Folge zu unwürdigen Bedingungen für die Arbeiter_innen führten, die mehrere Todesopfer forderten. Und schließlich das, was viele am Härtesten trifft: Die massenweisen Zwangsumsiedlungen, teils von einem Tag auf den anderen, oft ohne stabile rechtliche Grundlage, meist einhergehend mit Erhöhungen der Mietpreise auch für die, die in ihren Wohnungen bleiben konnten. Die FIFA hingegen hat sich völlige Steuerfreiheit auf ihre Gewinne zusichern lassen. Die Konsequenz: Brot und Obdach, Bildung und Gesundheit sind für die meisten Brasilianer_innen aktuell deutlich wichtiger als eine Sportveranstaltung, für deren explodierende Kosten sie aufkommen müssen.
Dass man mit diesen Maßnahmen nicht nur Freund_innen gewinnen wird war dem Weltverband und auch der brasilianischen Regierung vermutlich früh klar. Überraschend aber war die Wucht, mit der ein ganzes, zu Recht als fußballbegeistert bekanntes Land begann, sich gegen die Organisation FIFA zu solidarisieren. Die Proteste nahmen Ausmaße an, die Brasilien seit Jahrzehnten nicht erlebt hat, zur WM könnten sie wieder heftig aufflammen. „Não vai ter Copa“ („Es wird keine WM geben“) wurde zu einem der geflügelten Worte einer vielfältigen Bewegung, die auch Zuspruch von aktiven und ehemaligen Fußballern erfährt. Der bekannteste Kritiker unter ihnen ist der frühere Superstar und heutige Abgeordneten des brasilianischen Parlamentes, Romário de Souza Faria, der FIFA-Präsident Blatter im März 2014 als „Dieb und korrupten Hurensohn“ bezeichnete und Generalsekretär Valcke als „größten Erpresser im Weltsport“. Das Vorgehen des Weltverbandes analysierte der frühere Torjäger des FC Barcelona wie folgt: „Die Fifa kommt hierher, baut den Zirkus auf, hat keine Auslagen und nimmt alles mit.“
Mit dieser Meinung steht er nicht alleine da. Selbst die aktuellen Nationalspieler der brasilianischen Seleção zeigen Verständnis für die Demonstrant_innen auf den Straßen, wenn auch mit deutlich gemäßigterer Wortwahl: „Viele glauben, dass Fußballer nur an Fußball denken. Aber wir wissen, was gerade passiert. Wir wissen, dass die Demonstranten Recht haben mit ihren Protesten“, sagt etwa Stürmerstar Hulk von Zenit St. Petersburg. Probleme wird er deswegen keine bekommen, denn eine (Selbst-)Zensur wird nicht stattfinden: „Meine Spieler haben alle Freiheit, sich zu den Protesten zu äußern“, erteilte Nationaltrainer Luis Felipe Scolari bereits politische Meinungsfreiheit. Diese Linie war in vergangenen Jahren für die Spieler der Seleção nicht immer selbstverständlich.
Und so sprechen in Brasilien zwei Monate vor Beginn der WM völlig überraschend weniger Menschen von der Form des Nationalteams als vom Sinn und Zweck eines fußballerischen Heimvorteils, durch den viele ihr eigenes Heim verloren haben, und werden politisch aktiv. Eine soziale Bewegung, wie sie vor einem Jahr fast aus dem Nichts entstand, kann mit Fug und Recht als Alptraum der FIFA-Funktionäre bezeichnet werden. Sie ist nicht greifbar, weil sie keine klaren Führungspersönlichkeiten hat. Sie ist nicht kontrollierbar, weil sie sich spontan und dezentral organisiert. Und sie ist noch nicht einmal käuflich, weil sie von zu vielen verschiedenen und komplexen Aspekten der Benachteiligung gespeist wird, als dass sie einfach zu befrieden wäre. „Não vai ter Copa“ ist die ultimative Horrorshow für Blatter und die Sponsoren des erwünschten „Jogo Bonito“ („Schönen Spiels“). Vielleicht ist es ein Glück, dass sich die FIFA lange vom fröhlich-feiernden Image Brasiliens blenden ließ und die Sprengkraft seiner sozialen Bewegungen übersah. Dieser wird bei der WM nun eine einzigartige Möglichkeit geboten, auf nationale und globale Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen, zu denen der organisierte Fußball seinen Teil beiträgt. Allerdings sollte diese Gelegenheit auch genutzt werden, denn es könnte für längere Zeit die letzte bleiben. Die nächsten Weltmeisterschaften sind in Russland und Katar geplant.

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