Zweifel schlagen Beweise

Noch vor Mitternacht des 5. Juni trat Ollanta Humala von der Wahlallianz Gana Perú auf dem Platz des 2. Mai in Lima vor seine AnhängerInnen und erklärte sich zum Sieger der Stichwahl um die Präsidentschaft: „Ihr habt mich gewählt und nur vor Euch werde ich Rechenschaft ablegen.“ rief er aus. Die Stimmen waren am Wahlabend und dem Folgetag rasch ausgezählt, die Tendenzen zugunsten Humalas schnell eindeutig. Anders als bei den Wahlen in Lima im vergangenen Oktober gab es zwischen den Parteien keine quälenden Scharmützel über große Mengen angefochtener Stimmzettel. Die WahlbeobachterInnen der EU-Delegation beschrieben den Prozess in der Mehrheit der von ihnen beobachteten Wahllokale mit ‚gut‘ und ‚befriedigend‘.
Am Ende waren es rund 450.000 Stimmen, die Humala vor der unterlegenen Keiko Fujimori (Fuerza 2011) lag. Diese schien ihren Rückstand aus der ersten Wahlrunde vom 10. April nach zahlreichen Wahlumfragen verschiedener – mehr oder weniger seriöser – Meinungsforschungsinstitute bereits in einen nicht mehr einholbaren Vorsprung umgewandelt zu haben. Letztlich gewann Fujimori zwar deutlich in Lima, bei den AuslandsperuanerInnen und in den Regionen der nördlichen Küstenzone. Die restlichen Regionen jedoch votierten mehrheitlich für Humala. Dessen Hochburgen liegen im Süden des Landes. In Cuzco und Puno entfielen nahezu 80 Prozent der Stimmen auf ihn. Die Wahlbeteiligung der rund 20 Millionen Stimmberechtigten lag bei rund 82 Prozent.
„Über Humala können wir Zeifel haben, über Keiko haben wir Beweise“. Dieser Satz wurde zum Leitspruch im Kampf um Stimmen für die Stichwahl als Ausdruck der Tatsache, man suche in Peru mal wieder das kleinere Übel. Auf der einen Seite Humala: ehemaliger Militär, dem Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden (die peruanische Justiz schloß das Verfahren im Dezember 2009, da sie für die Vorwürfe keine Beweise fand), gescheiterter Putschist gegen Alberto Fujimori im Oktober 2000, Militärattaché während der Präsidentschaft von Alejandro Toledo in Seoul. 2006 dann unterlag er in der Stichwahl gegen Alan García: Sein Diskurs galt als zu radikal und die Nähe zum venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez als zu groß. Jetzt trat er mit einem gemäßigten Diskurs auf, gab als Orientierung die Politik an Brasiliens Ex-Präsident Lula vor. Viele aber fragten sich: Was bleibt davon übrig, wenn er erst einmal im Amt ist? Auf der anderen Seite die Kandidatin Keiko Fujimori. Die noch recht luxoriöse Gefängniszelle ihres Vaters, Ex-Präsident Alberto Fujimori, mutierte zum Wahlkampfbüro. Vor allem in – medial abgelegenen – ländlichen Regionen warb sie auf Plakaten mit dessen Konterfei, umgeben ist sie von Leuten, die schon für ihren Vater während dessen Präsidentschaft arbeiteten und die den Unterschied zu Humala in den Worten fassten: „Wir haben weniger Menschen umgebracht.“ Keiko Fujimori stand für die Kontinuität des bestehenden Wirtschaftsmodells, Humala bietet zumindest die Aussicht auf Wandel.
Ein wichtiger Faktor: Humalas öffentlich vorgetragenes Versprechen für die Verteidigung der Demokratie und gegen die Diktatur. Diesen Schwur, die rechte Hand auf der Bibel, gab Ollanta Humala Mitte Mai in Lima in Anwesenheit zahlreicher peruanischer KünstlerInnen und Persönlichkeiten ab. Keine Minute länger im Präsidentenamt als die von der Verfassung vorgesehenen fünf Jahre. Keine direkte Wiederwahl als Präsident. Respekt, Schutz und Förderung für die Pressefreiheit. Dies sind wesentliche Punkte des Versprechens, das Humala Wahlstimmen der politischen Mitte sichern sollte, die als mitentscheidend für einen Wahlsieg galten. Es war ein Schritt, der von vielen bekannten und meinungsbestimmenden Leuten des öffentlichen Lebens wie dem Journalisten Gustavo Gorriti – und nicht zuletzt von Mario Vargas Llosa gefordert wurde. Llosa, der Literaturnobelpreisträger von 2010, hatte die Entscheidung zwischen Keiko Fujimori und Ollanta Humala im April noch als Wahl zwischen „Aids im Endstadium und Krebs“ beschrieben. Er und sein Sohn Álvaro, letzterer ein in den USA lebender medial gewandter liberaler Publizist, wurden zu wichtigen öffentlichen Fürsprechern von Ollanta Humala.
Klar muss jedoch bleiben: Hätte es anstelle von Keiko Fujimori einer der drei Kandidaten aus dem bürgerlichen Mitte-Rechts Spektrum in die zweite Wahlrunde geschafft – Pedro Pablo Kuczynski, Alejandro Toledo oder Luis Castañeda – Vargas Llosa und viele andere hätten mit Sicherheit nicht für Humala votiert. Es war primär die Abneigung gegen den fujimorismo, die Angst vor dessen Wiederkehr mitsamt seinen Begleiterscheinungen wie massiver Korruption und Unterwanderung der vorhandenen demokratischen Institutionen, die viele für Humala stimmen ließ. Die Wahl Humalas zum Präsidenten ist auch ein Sieg über den noch amtierenden Präsidenten Alan García, der sich im Wahlkampf klar zugunsten Keiko Fujimoris positionierte und noch vor einem Jahr wörtlich sagte, „dass er als Präsident zwar keinen Präsidenten nach seinem Wollen machen kann, jedoch sehr wohl einen Präsidenten verhindern kann, den er nicht möchte.“
Der Wahlsieg von Ollanta Humala könnte das harte neoliberal-investitionsfreundliche Weiter-so der vergangenen Jahre brechen. Dieses sorgte zwar für makroökonomisch gute Zahlen und hohe Wachstumsraten, doch das vielbeschworene Durchsickern der Gewinne nach unten setzte kaum ein. Im ländlichen Raum erreicht die Armutsrate teils Werte über 60 Prozent, im landesweiten Durchschnitt sind es weiterhin rund 34 Prozent. Keine wesentlichen Veränderungen in der produktiven Wirtschaftsstruktur sind zu verzeichnen, auch die Exportgüter sind noch klassisch strukturiert: Der größte Teil der Deviseneinnahmen kommt aus unverarbeiteten Rohstoffexporten. Humala will die Wirtschaft Perus stabilisieren, die bisher Ausgegrenzten und in Armut Lebenden jedoch integrieren und in höherem Maße davon profitieren lassen, unter anderem durch die Erhöhung des Mindestlohnes.
Nicht nur García hätte lieber Keiko Fujimori als Präsidentin gesehen, sondern auch die Wirtschaftselite des Landes, nachdem die drei bürgerlichen Kandidaten bereits in der ersten Wahlrunde ausgeschieden waren. Auf das Wahlergebnis reagierte Perus mächtiger Unternehmerverband CONFIEP jedoch pragmatisch und klang nach Humalas Wahlsieg überraschenderweise eher wie der Wahlgewinner. „Er ist schon unser Präsident. Es ist eine pragmatische Frage, wir müssen ihn unterstützen, die Wahlkampagne ist nun vorbei.“ so Humberto Speziani, Präsident des CONFIEP in den peruanischen Medien. Vielleicht ist die Reaktion gar nicht so verwunderlich: Bereits vor den Wahlen gab es Sondierungsgespräche mit Humala – auch wenn für den CONFIEP weiterhin Zweifel blieben – und möglicherweise wird Humalas Wirtschaftskurs ein sehr pragmatischer sein, der sich an Brasilien orientiert. Dies hieße für Peru: Weitestgehend freie Fahrt für die Wirtschaft, die Investoren nicht verschrecken, mit etwas mehr staatlicher Regulierung und vor allem umverteilenden Maßnahmen.
Fordernder trat die Nationale Gesellschaft für Bergbau, Erdöl und Energie (SNMEP) auf. In einer Pressemitteilung vom 7. Juni wies sie vorsorglich auf die für den Zeitraum 2011 bis 2020 zurzeit geplanten 55 Milliarden US-Dollar an Investitionen im Energie- und Bergbausektor hin. Verbunden wurde dies mit der Forderung nach „stabilen juristischen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen im Land für die Unternehmen“. Pedro Martínez, Präsident der SNMPE merkte an: „Die privaten Investitionen sind unverzichtbare Alliierte, um weiterhin Arbeitsplätze zu schaffen, welche die einzige nachhaltige Möglichkeit bieten der Armut beizukommen.“
Angesichts der jüngsten Konflikte wie in der an Bolivien grenzenden Region Puno wird sich zeigen, wie weit der von Wirtschaftsseite geäußerte Pragmatismus trägt. Dort hatten protestierende Aymara mit Straßenblockaden in einem rund 45 Tage dauernden Streik gefordert, bereits ausgestellte Bergbaukonzessionen zurückzunehmen und keine weiteren zu vergeben. Immer wieder entzünden sich eskalierende Konflikte an den negativen Auswirkungen von Projekten des formalen Großbergbaus und des informellen Kleinbergbaus. Der letzte Bericht der nationalen Ombudsstelle für Menschenrechte listete insgesamt 227 soziale Konflikte im Land auf, von denen 51 Prozent Umweltkonflikte und dem Bergbausektor zuzuordnen sind.
Humalas Position zur Rohstoffförderung ist recht klar: Sie soll weiter vorangetrieben werden. Im Februar dieses Jahres äußerte er sich in peruanischen Medien mit den Worten, dass Peru „nur rund 14 Prozent seines bergbaulichen Potenzials ausbeute und daher für die verbleibenden 86 Prozent noch neue Verträge mit Unternehmen geschlossen werden können“. Angesichts der Konflikte droht ein ziemlicher Spagat. Eine Steuer auf erhöhte Rohstoffgewinne der Bergbauunternehmen soll auf jeden Fall kommen. Damit und mit weiteren Steuerreformen sollen soziale Programme und die geplante Pension ab 65 Jahren bezahlt werden.
Seit dem Tag nach dem Wahlsieg sind Humala und sein Team unter Druck rasche personelle Entscheidungen zu treffen. Dieser Druck beschleunige jedoch nicht seine Entscheidungen, so Humala in seinen Interviews. Bisher ist offiziell kein Ministerposten vergeben. Gegenüber Perú Posible, der Partei von Alejandro Toledo, die Humala im Wahlkampf schließlich unterstützte, hat Gana Perú mehrere Ministerposten angeboten. Von den Medien und aus der Wirtschaft geforderte Entscheidungen über die Besetzung von Wirtschaftsministerium, Präsident der Zentralbank oder Ministerpräsident sind noch nicht gefallen.
Dennoch laufen die Aktivitäten zur Regierungsvorbereitung auf Hochtouren. Bereits am Tag nach dem Wahlsieg wurde zu diesem Zweck ein 19köpfiges Team aufgestellt. Unter der Führung der gewählten esten Vize-Präsidentin Marizol Espinoza – der einzigen Frau in der Runde – wird alles daran gesetzt, ein Programm für die ersten 100 Tage Regierungszeit zu erarbeiten, um zeitnah Fakten zu gemachten Wahlversprechen im sozialen Bereich schaffen zu können.
Für Fernando Tuesta, Direktor des Meinungsforschungsinstitutes der PUCP, ist der Wahlerfolg von Gana Perú trotz der Vorschläge für eine neue Sozialpolitik nicht der einer gefestigten organisierten Linken in einer Partei, sondern eher ein persönlicher Triumph Humalas. „Mit dem Erfolg von Humala hat sich Peru nach links bewegt, […] aber dieses links ist weit davon entfernt den anderen linken Regierungen in Lateinamerika ähnlich zu sein“, so Tuesta in seinem Blog. Hinzu kommt: Ollanta Humala ist ein Präsident mit einer Minderheit im peruanischen Kongress. Zwar sind die Devisenkassen gut genug gefüllt, um eine neue Verteilungspolitik zu entwickeln. Um politisch erfolgreich zu sein und Wahlversprechen umzusetzen, wird Gana Perú jedoch das schwierige Spiel der politischen Koalitionen suchen müssen. Die zweitstärkste Kraft im Kongress sind im übrigen die Fujimoristas von Fuerza2011.

Pyrrhussieg für den Präsidenten

Der Eindruck trog. Wenige Tage vor dem Referendum am siebten Mai schienen die UnterstützerInnen des Präsidenten in der Defensive. In der öffentlichen Debatte, die zunehmend Züge einer Schlammschlacht angenommen hatte, war etwa in der Hauptstadt Quito, eigentlich eine Hochburg der Regierungspartei „Alianza País“, kaum ein „Sí“ zu vernehmen. Dafür überwog in der Bevölkerung ein „Esta vez no“ (diesmal nein) – sowohl kategorisch als auch einschränkend gemeint.
Kategorisch war die Ankündigung, alle zehn Vorschläge des Präsidenten Rafael Correas im Paket abzulehnen, obwohl es sich dabei um völlig verschiedene Themen handelte. Diese reichten von einer Justizreform, einem härteren gesetzlichen Vorgehen gegen Straflosigkeit und Gewalt, medialen Regulierungsmaßnahmen bis hin zum Verbot von Glücksspielen sowie Hahnen- und Stierkämpfen (siehe Info-Kasten).
Einschränkend gemeint war das Nein im Hinblick auf die Position des Staatsoberhaupts selbst. Mit Correas Politik ist die Mehrheit immer noch weitgehend zufrieden: Wenn auch nicht gestärkt wollten viele WählerInnen ihn aber auch keineswegs in Frage gestellt sehen. Vielmehr wollten sie ihm im sechsten Urnen-Gang seit 2007 einen Denkzettel verpassen, aus dem schließlich ein Pyrrhussieg für den Präsidenten wurde.
Einerseits konnte er sich trotz einer breiten und ungewöhnlichen Ablehnungsfront auf eine passive Mehrheit verlassen. Dies entsprach bei diesem Sympathietest zur Restaurierung und Stärkung der präsidialen Macht nach dem vorangegangen Putschversuch am 30. September durchaus seinem Kalkül.
Zum anderen fiel der Erfolg gerade bei den besonders umkämpften Punkten sehr knapp aus. „Bei Berücksichtigung der Enthaltungen und ungültigen Stimmen hat die Hälfte der Bevölkerung mit Nein gestimmt“, rechnet Albert Acosta, Ex-Energieminister und heutiger Kritiker des Präsidenten vor. Hinzu kommt, dass dem Präsidenten auf dem Weg zur Volksbefragung sogar die Mehrheit im Kongress abhanden gekommen war, nachdem einige Abgeordnete der Regierungspartei Alianza País diese aus Protest gegen das umstrittene Verfahren verlassen hatten.
Damit scheinen zumindest die schlimmsten Befürchtungen der Linken – ein Rechtsruck des Präsidenten, die Etablierung eines klassischen Populismus und eine zunehmende Kriminalisierung der außerparlamentarischen Bewegung – vom Tisch zu sein. Correa ist trotz des engen Ergebnisses aber eben auch nicht gezwungen – wie noch im Anschluss an den Putschversuch gemutmaßt – wieder das Gespräch mit den entzweiten Massenorganisationen und sozialen Bewegungen des Landes zu suchen. Dafür präsentierten sich diese politisch einfach zu schwach.
Sie wurden wohl auch dafür bestraft, dass sie sich bis auf wenige Ausnahmen undifferenziert gegenüber dem umstrittenen Referendum positioniert hatten. Aus Sicht der Linken ist eine Verschärfung der Gesetze zur Eindämmung der Gewalt ohne Erforschung und Berücksichtigung ihrer Ursachen wie auch der von Correa angestrebte dreiköpfige „Rat der Gerichtsbarkeit“ abzulehnen. Letzterer wird dem Präsidenten nun eine laut ihrer Meinung unzulässige Kontrolle über die Justiz ermöglichen.
Die Kritik an einer staatlichen Medienkommission ist hingegen weniger nachvollziehbar. Denn was ist schlecht an dem Versuch, gewalttätige, jugendgefährdende, sexistische und rassistische Inhalte in der Presse zu unterbinden oder Medienunternehmen ökonomisch von Privatkonzernen oder Banken zu trennen? Das teilweise religiös anmutende Hohelied auf die ach so gefährdete Pressefreiheit im Vorfeld des Plebiszits war verlogen und peinlich, wozu die oppositionelle Linke weitgehend schwieg und sich damit zum Verbündeten einer völlig inhaltsleeren Rechten machte.
Die fehlende Abgrenzung führte zu ungewöhnlichen Allianzen. Und lenkte von den wahren politischen Gräben ab. Während dem neoliberalen Flügel des Landes selbst die kapitalistische Modernisierung Correas zu weit geht, sind MitgestalterInnen der Verfassung von 2008 enttäuscht über die sozialdemokratische und staatsfixierte Linie des Präsidenten.
Dieser hat insbesondere in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit mit seiner Sozial- und Bildungspolitik, einer Steuerreform, einer weitgehenden Wiederaneignung der Erdöleinnahmen sowie der Förderung der lateinamerikanischen Integration durch die Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) Pluspunkte in der Bevölkerung gesammelt. Correa versäumte es indes, dem partizipativen Geist von Montecristi, wo die neue Magna Charta von einer zuvor gewählten Verfassunggebenden Versammlung ausgearbeitet wurde, aus der Flasche zu lassen.
Ökonomisch hält die Regierung am extraktivistischen Entwicklungsmodell und so auch der staatlichen Entscheidungsmacht über die Ausbeutung unterirdischer Naturressourcen fest, anstatt ein Vetorecht für die von der Ressourcengewinnung betroffenen Menschen zu etablieren. Dies ist nur einer von vielen Streitpunkten mit Umweltgruppen und insbesondere der CONAIE, dem einflussreichsten Dachverband der Indigenen.
Die Folge ist eine Spaltung der progressiven Kräfte, die sich durch die Volksbefragung und deren Ausgang noch verschärft hat. Als strahlender Sieger ging daraus keiner hervor, als Verlierer die Bürgerrevolution von 2006. Statt Aufbruch dominiert derzeit Streit, was allenfalls einen Aufschub verheißt, bis sich die arg geschwächte Rechte wieder formiert hat. Damit ist ein Projekt gefährdet, das verheißungsvoll begann, nun aber ins Stocken geraten ist. Leisten kann sich das die Bürgerrevolution eigentlich nicht.

Das Referendum
Insgesamt 24 Seiten inklusive Erläuterungen, Gesetzesanhängen und abschließenden Vorschlägen der Regierung, zu denen mit Ja oder Nein zu antworten war, umfasste die bisher umfangreichste und inhaltlich komplizierteste Volksbefragung in Ecuador. 11,2 Millionen BürgerInnen waren aufgerufen, über insgesamt zehn Fragen abzustimmen, die wiederum in zwei Bereiche aufgeteilt waren: Erstens ein Verfassungsreferendum über konkrete Änderungen an der Verfassung von 2008, zweitens ein Volksentscheid über verschiedene Politikvorschläge der Regierung.
Im ersten Komplex wurde über Verschärfungen im Strafrecht wie die Verlängerung der Untersuchungshaft abgestimmt, aber auch über die ökonomische Trennung von Banken und Massenmedien sowie eine Beschleunigung der Justizreform. Letzteres soll durch das Ersetzen eines bisher neunköpfigen Justizrates durch einen „Rat der Gerichtsbarkeit“ von nur noch drei Mitgliedern, ernannt durch die Regierung, das Parlament und den Bürgerrat, erreicht werden.
Zum zweiten Bereich gehörten die Abstimmung über die Etablierung der illegalen Bereicherung als Straftatbestand, die Einführung eines Medienrates zur Überwachung der Inhalte von Presse, Funk und Fernsehen im Hinblick auf bestimmte Inhalte, über das Verbot von Glücksspielen sowie Hahnen- und Stierkämpfen.
Die Regierung erreichte bei ihren Vorschlägen eine durchschnittliche Mehrheit von 6,8 Prozentpunkten, wobei der Vorsprung in den besonders umstrittenen Fragen deutlich kleiner war.

Neue politische Kraft

Soziale Bewegungen hatte es in Honduras selbstverständlich auch vor dem Putsch gegeben, wenn auch weniger stark ausgeprägt als in den umliegenden zentralamerikanischen Ländern. Dort wehrten sich seit den 1970er Jahren organisierte Guerilla-Bewegungen gegen die US-gestützten Militärregimes. In Honduras wurden währenddessen die Land- und Gewerkschaftsbewegungen meist mit Kompromissen oder direkter Gewalt kleingehalten. Ab Anfang der 1990er Jahre begann sich aber auch dort verstärkter Widerstand gegen die einsetzenden neoliberalen Strukturanpassungsprogramme zu regen. Aufgrund des tiefgreifenden Wandels im Wirtschaftsmodell und der daraus resultierenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse wurde – und blieb – jedoch vor allem die Gewerkschaftsbewegung sehr geschwächt. Ab der Jahrtausendwende kam neuer Schwung in die sozialen Proteste und es entstanden vermehrt Frauen- oder Umweltbewegungen sowie Widerstand gegen neue Freihandelsabkommen. Diese Gruppen agierten jedoch hauptsächlich getrennt voneinander, wenn auch mit der Gründung des Bloque Popular (Volksblock) der Coordinadora Nacional (Nationale Koordination) in den Jahren 2000 und 2003 Fundamente für eine Vernetzung gelegt wurden.
Parlamentarisch weitgehend isoliert, suchte Manuel Zelaya ab seiner Amtszeit 2006 Rückhalt in der Zivilbevölkerung. Die Annäherung wurde aufgrund seiner progressiven Reformen, dem Beitritt zum linken lateinamerikanischen Staatenbündnis ALBA und dem gemeinsamen Einsatz für die, von ihm vorgeschlagene Umfrage über eine partizipative Verfassunggebende Versammlung (VV) auch erwidert. Die herrschende Elite im Land sah somit die recht stabilen Kräfteverhältnisse in Gefahr. Der Staatsstreich sollte eigentlich die Stabilität wiederherstellen und den wachsenden Einfluss der Zivilgesellschaft verhindern. Tatsächlich konnte die nationale Elite ihr Fortbestehen durch ihr aggressives Eingreifen auch erst einmal sichern. Dies jedoch auf einem fragileren Fundament als zuvor, da die sozialen Bewegungen durch ihre gemeinsame Kraft in der Widerstandsbewegung Frente Nacional de Resistencia Popular (FNRP) erst an Schwung gewannen. Dass nach dem Putsch also eine so massive Bewegung entstand, lag einerseits an der Allianz mit Zelaya, der Zunahme der sozialen Proteste im letzten Jahrzehnt, der Existenz von schon bestehenden Organisationsstrukturen und dem gemeinsamen Feindbild: den „Putschisten“, beziehungsweise dem gemeinsamen Ziel: der Verteidigung der Demokratie, der Rückkehr Zelayas und der Einberufung einer VV.
„Der Putsch war wie ein Aufwachen für die Zivilbevölkerung und der Protest wie eine Schule auf den Straßen“, beschreibt Edgar Soriano, Historiker und Delegierter der FNRP. Die wenigen alternativen Medien klärten auf über die „zehn Familien“, die das Land besitzen. Treue KirchgängerInnen waren geschockt von der Komplizenschaft des katholischen Kardinals. Die großen Zeitungen entpuppten sich als Putsch-Medien und wurden links – oder eher rechts – liegen gelassen. Antreibende Kraft war somit vor allem die aufkommende Erkenntnis darüber, dass der formaldemokratische Staat vielmehr Projekt einer abgehobenen Elite ist und weite Bevölkerungsteile ausschließt.
Auf den Putsch folgten mehrere Monate mit täglichen friedlichen Massenmobilisierungen, Straßenblockaden, Boykotts und Streiks in den Städten und auf dem Land. Ausgangssperren, gewaltsame Auflösung der Demonstrationen, willkürliche Festnahmen, Militarisierung und Vergewaltigungen von Frauen durch Polizisten waren die Antwort des Putschregimes unter Roberto Micheletti. Auch die Zensur der wenigen kritischen Medien, Bedrohung von MenschenrechtsaktivistInnen und eine steigende Anzahl politischer Morde standen auf der Tagesordnung.
Nach der Wahlfarce im November 2009 und dem sinkenden internationalen Interesse schwand auch die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr zur demokratischen Ordnung mit Zelaya im Lande. Die Repression, finanzielle Schwierigkeiten und die Notwendigkeit der Rückkehr zum Arbeits- und Schulalltag ließen die FNRP ihre Strategie ändern. Zum Widerstand gegen den Putsch kamen langfristigere Forderungen hinzu und es wurde vermehrt auf die Stärkung der internen Strukturen und Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung durch den Aufbau alternativer Medien und politische emanzipative Bildung gesetzt.
Nach dem Amtsantritt Lobos Anfang 2010 hat sich die Situation für den Widerstand keineswegs verbessert. Vielmehr stellt die internationale Anerkennung des Regimes und das Ignorieren sämtlicher Menschenrechtsverletzungen ein Hindernis für die FNRP dar. Trotz allem ist sie im Land weiterhin eine sehr wichtige soziale und politische Kraft und wird laut Statistiken von über 30 Prozent der Bevölkerung als solche anerkannt. Die FNRP selbst beschreibt sich als eine offene, demokratische, anti-kapitalistische, anti-hierarchische, anti-imperialistische, anti-patriarchale und anti-rassistische Bewegung. Studierende, indigene und bäuerliche Gemeinschaften, Umweltgruppen, Gewerkschaften, feministische, lesbische und homosexuelle Bewegungen, KünstlerInnen und MusikerInnen, Teile von Parteien, Hausfrauen, Maquila-ArbeiterInnen, AnwältInnen, Lehrende, Menschenrechtsorganisationen und vor allem auch viele zuvor nicht organisierte Einzelpersonen sind darin repräsentiert – im Ganzen über 60 Organisationen.
Durch die Pluralität an AkteurInnen nahm die FNRP viele neue Konzepte auf, die selbst in den linken Kreisen noch ignoriert worden waren. So wurde klar, dass ausschließende Praktiken nicht nur auf die Beziehung Kapital-Arbeit zutreffen, sondern auch auf ethnische Herkunft, Gender und sexuelle Orientierung. Die Beschränkung auf die „Arbeiterklasse als einzigen sozialen Akteur“ wurde damit erweitert auf einen heterogenen sozialen Block. Vor allem Frauen, Feministinnen, Homo- und Transsexuelle konnten sich innerhalb der FNRP neue Freiräume eröffnen. „Dass heute bei Versammlungen gendergerechte Sprachweise verwendet wird, war vorher in unserer „Macho-Gesellschaft“ unmöglich“, begeistert sich Sara Eliza Rosales, Delegierte der FNRP, Schriftstellerin und Feministin.
Ziel der Basisorganisation ist ein grundlegender Wandel der Gesellschaftsform, des politischen Systems und des Wirtschaftsmodells. Ähnlich wie andere Transformationsprozesse der „Neuen Linken“ in Lateinamerika stellen sie eine VV ins Zentrum ihres Kampfes. Dabei geht es keinesfalls nur um eine rein formale Gesetzesänderung. Vielmehr soll es sich um einen emanzipatorischen Diskussionsprozess in allen Sektoren der Bevölkerung handeln, in dem sich Basisgruppen gemeinsam überlegen, mit welchen Problemen sie konfrontiert sind und welche Forderungen sie stellen. „Eine neue Verfassung in Honduras muss zum Ziel haben, ein neues und alternatives Lebensmodell zu entwerfen“, betont Jesus Antonio Chavez, Aktivist der FNRP. Und Berta Cáceres von COPINH erklärt: „Wir wären erstmals in der Lage, einen Präzedenzfall für die Emanzipation der Frauen zu schaffen. Die aktuelle Verfassung erwähnt Frauen an keiner einzigen Stelle.“ Außerdem würde die erhoffte Magna Charta eine Grundlage für den endgültigen Bruch mit dem neoliberalen System, ein Verbot von Privatisierungen, den Austritt aus Freihandelsabkommen und die Förderung regionaler Integration darstellen. Auch eine neue Agrarreform stünde auf dem Plan. Für die Einberufung sammelte die FNRP im Jahr 2010 über 1,4 Millionen „Souveräne Erklärungen für eine VV“, was über 55 Prozent der WählerInnenschaft entspricht. Diese haben zwar keinen bindenden Charakter, dennoch zeigen sie, wie sehr der Wunsch nach grundlegenden Veränderungen in der Bevölkerung verankert ist.
Von 26. bis 27. Februar 2011 fand in Tegucigalpa die bisher größte Generalversammlung mit über 1.500 VertreterInnen aus allen Departamentos und sozialen Sektoren statt. Lange hatten alle darauf hingefiebert, sollten in ihr doch die zukünftigen Strategien zur Erreichung einer VV beschlossen werden.
Die Monate davor hatten viele interne Diskussionen darüber stattgefunden. Erkennbar waren hauptsächlich zwei Fraktionen: Die eine Seite plädierte für die Teilnahme an den nächsten Wahlen 2013, um schließlich mit einer Mehrheit im Parlament eine partizipative VV einberufen zu können. Andere Gruppen setzten sich für den weiteren Boykott der illegitimen Regierung Lobo und eine eigenständige Einberufung einer VV ein, die einen stärkeren Bewusstseinsbildungsprozess und eine Basisorganisierung in der Bevölkerung erreichen könnte.
In der Versammlung wurde entschieden, dass eine Wahlbeteiligung erst geplant werden kann, wenn die „Voraussetzungen dafür stimmen“. Dazu gehören die bedingungslose Rückkehr von Zelaya und anderen politisch Exilierten sowie das Durchführen einer selbst einberufenen VV. Erst danach und mit einem geänderten Wahlgesetz könnte die FNRP als soziale und politische Kraft direkt an Wahlen teilnehmen.
Bis jetzt erlaubt das Gesetz nur Parteien oder unabhängige Kandidaturen. Somit konnten eine Trennung in eine politische Partei und eine soziale Bewegung, sowie die immer größer werdende Dominanz der liberalen Partei innerhalb der FNRP verhindert werden. Die VV soll am zweiten Jahrestag des Putsches, am 28. Juni 2011, einberufen werden. Auch wird weiterhin auf die Destabilisierung des Regimes gesetzt, unter anderem durch einen nationalen Generalstreik.

Mehr als ein Stimmungstest

Es geht wieder einmal um alles in Venezuela. Zwar wird bei der bevorstehenden Parlamentswahl nicht über Präsident Hugo Chávez abgestimmt, dennoch steht der omnipräsente Staatschef auch am 26. September im Mittelpunkt. Die Wahl habe den „Rang einer Präsidentschaftswahl“, betont Aristóbulo Istúriz, der für die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) in Caracas antritt und den Wahlkampf der Partei koordiniert. Es gehe nicht darum, „einen Abgeordneten mehr oder einen weniger zu haben“, auf dem Spiel stehe „das Schicksal des revolutionären Prozesses“, versucht Istúriz die WählerInnen zu mobilisieren. Das Ziel des Regierungslagers, das neben der PSUV die kleinen Bündnispartner Kommunistische Partei (PCV) und Venezolanische Volkseinheit (UPV) umfasst, ist klar formuliert. Es geht um die Zweidrittelmehrheit, um bei Entscheidungen in keinster Weise von der Opposition abhängig zu sein.
Deren Hauptziel besteht in der Rückeroberung der öffentlichen Institutionen und der Einleitung eines politischen Wandels. Verbindendes Merkmal der mehr als 20 Parteien bleibt nach wie vor die Ablehnung von Chávez und seines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Die Opposition kann es als Erfolg verbuchen, sich nach Jahren des internen Streits als „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) für die Parlamentswahl zusammengeschlossen zu haben. Im Gegensatz zur PSUV, die einen Großteil der Kandidaturen in internen Vorwalen ermitteln ließ, handelten die jeweiligen Parteiführungen des Oppositionsbündnisses die meisten ihrer gemeinsamen KandidatInnen untereinander aus (siehe LN 432).
Als dritte Option will die PPT (Heimatland für Alle) die Polarisierung aufbrechen. Erst vor wenigen Monaten hatte sich die linksgewerkschaftliche Partei vom Regierungslager losgesagt und tritt nun mit zahlreichen als unabhängig geltenden KandidatInnen an, darunter die bekannte Historikerin Margarita López Maya. Große Chancen werden der Partei nicht zugerechnet, auch weil die bestehende Nationalversammlung im vergangenen Jahr das Wahlgesetz modifiziert hat. Elemente des Mehrheitswahlrecht wurden gegenüber dem Verhältniswahlrecht ausgebaut, wodurch das Wahlsystem größere politische Blöcke gegenüber kleineren Parteien bevorzugt. KritikerInnen bemängeln, dass zudem die Neuaufteilung einiger Wahlkreise die PSUV bevorzuge. Nach der Wahl wird es nicht lange dauern, bis Rechnungen präsentiert werden, wie das Ergebnis ohne die Wahlrechtsreform ausgesehen hätte.
Neben 110 DirektkandidatInnen werden 52 Abgeordnete über ein Listensystem gewählt, weitere drei von der indigenen Bevölkerung. Sicher ist, dass die neue Nationalversammlung wesentlich pluralistischer ausfallen wird als die jetzige. Bei der letzten Wahl 2005 gingen aufgrund des Boykotts der Opposition alle 165 Parlamentssitze an Chávez-freundliche Abgeordnete. Durch Abspaltungen von Teilen des Chávez-Lagers verfügt die Opposition zum Ende der Legislaturperiode über elf Mandate.
Die meisten Umfragen gehen von einem knappen Sieg der Regierungskoalition aus. Mehr noch als in anderen Ländern sind Umfragen im polarisierten Venezuela allerdings mit Vorsicht zu genießen. Zudem ist der Anteil der unentschlossenen WählerInnen, der so genannten Ni-Ni, in den Umfragen mit bis zu 40 Prozent relativ hoch. Die größte Gefahr für die PSUV wird erneut die mögliche Wahlenthaltung des eigenen Lagers sein. Enttäuschte Chávez-AnhängerInnen werden wie beim Verfassungsreferendum 2007 eher zu Hause bleiben als zur Opposition überzulaufen.
Für diese wird es allemal einen Erfolg darstellen, wenn sie eine Zweidrittel- beziehungsweise Dreifünftelmehrheit der Regierungskoalition verhindert. Damit könnte sie bei Verfassungsänderungen und der Besetzung wichtiger Positionen der unterschiedlichen Gewalten mitreden beziehungsweise Bevollmächtigungsgesetze verhindern.
Entgegen den Verlautbarungen über die richtungsweisende Wahl, kreist der Wahlkampf vorwiegend um das Thema Sicherheit. Julio Borges, der im oppositionell regierten Bundesstaat Miranda für die rechtsliberale Partei Primero Justicia (Zuerst Gerechtigkeit) antritt, sprach sich gar dafür aus, die Parlamentswahl als Referendum darüber anzusehen, „wie die Regierung das Thema der Unsicherheit im Land angeht“. Angeheizt wurde das Thema von US-Medien wie CNN und der New York Times, die venezolanischen Oppositionsmedien und -politikerInnen griffen es bereitwillig auf.
Für einen Eklat sorgte die Tageszeitung El Nacional mit ihrem Titelbild vom 13. August. Zu sehen war ein Foto aus dem letzten Jahr, aufgenommen in einem Leichenschauhaus, auf dem sich nackte, tote Körper stapeln. Nachdem ein Gericht den Abdruck aus Gründen des Kinder- und Jugendschutzes untersagte, protestierten Medien und OppositionspolitikerInnen sogleich gegen die „neuerliche Zensur der Regierung“. Davon ist indes nichts zu merken, die Zeitungen schreiben angriffslustig wie eh und je. Auch über zu wenig Medienpräsenz kann sich die Opposition nicht beklagen. Der Nationale Wahlrat ermittelte Ende August, dass über 60 Prozent der Wahlwerbespots im Fernsehen dem MUD zu Gute kämen. In den Printmedien dürfte das Verhältnis aufgrund einer stärkeren oppositionellen Ausrichtung noch ungünstiger für die Regierung ausfallen.
Wenngleich kaum verlässliche Zahlen über die Kriminalität existieren und je nach politischer Meinung unterschiedliches Material zitiert wird, bestreitet niemand, dass Kriminalität und die Mordrate während der Regierungszeit von Chávez weiter zugenommen haben und ein bedeutendes Problem für die Bevölkerung darstellen.
Die Regierung hat in jüngster Zeit einige Maßnahmen eingeleitet, die mittelfristig Erfolg haben könnten. Ende letzten Jahres hat die neue Bolivarianische Nationalpolizei zunächst in Catia, einem Stadtviertel der Hauptstadt Caracas, die Arbeit aufgenommen. Sie soll ihren Dienst Stück für Stück auf die ganze Stadt und das Land ausweiten. Bisher gibt es in ganz Venezuela etwa 140 unterschiedliche Polizeieinheiten, die nicht selten selbst tief in das Verbrechen verstrickt sind. Mit der neuen Nationalpolizei verspricht die Regierung hingegen einen „bevölkerungsnahen“ Ansatz. Die Hürden für AspirantInnen sind hoch und das Ausbildungsprogramm enthält ausführliche Menschenrechtsschulungen. Noch vor der Wahl will das Parlament zudem ein Gesetz zur Entwaffnung verabschieden. Der Entwurf sieht unter anderem vor, die Strafen für unerlaubten Waffenbesitz und Waffenhandel drastisch zu verschärfen. Der private Waffenverkauf soll sogar gänzlich verboten werden. Gleichzeitig sollen illegale Waffen während einer Frist freiwillig und straffrei abgegeben werden können.
Die Opposition kritisiert das Gesetz als Wahlkampfshow, fordert inhaltlich jedoch das Gleiche. Ihre Strategie bestand in den letzten Monaten meist darin, bestimmte Themen zu instrumentalisieren, ohne sich an konkreten Lösungsvorschlägen zu beteiligen. Sei es die mittlerweile nicht mehr akute Energiekrise, der Skandal um tonnenweise verrottete Lebensmittel im staatlichen Importsystem oder aktuell die Sicherheitsdebatte. Für einen Wahlsieg dürfte das zu wenig sein.

Menschenrechte vielleicht später

Schon lange war sich die brasilianische Rechte nicht mehr so einig. Allen voran die Militärs, dann Teile der katholischen Kirche, die Lobby der GroßgrundbesitzerInnen, konservative Parteien und schließlich die großen Medienkonzerne bliesen zum Sturm gegen das Dekret 7037, das Präsident Luiz Inácio Lula da Silva am 21. Dezember unterzeichnet hatte. Dieses Dekret, das ebenfalls von allen 37 Ministerien unterzeichnet ist, setzt den dritten Nationalen Menschenrechtsplan (PNDH-3) in Kraft – kein Gesetzespaket, sondern lediglich ein Fahrplan, an dem sich die Politik Brasiliens in den kommenden sechs Jahren orientieren soll. Der darin enthaltene Vorschlag, eine Wahrheitskommission zur Aufklärung der Verbrechen während der Militärdiktatur (1964-1985) einzurichten, reichte aus, dass die obersten Generäle samt Verteidigungsminister Nelson Jobim ihren Rücktritt androhten. Katholische Würdenträger verteufelten Überlegungen zur Entkriminalisierung von Abtreibungen und Anerkennung gleichgeschlechtlicher Eheschließungen.
Einhellig verurteilten die linken Kräfte der brasilianischen Gesellschaft die Reaktion der politischen Rechten auf den Plan. Ihnen zufolge stellen die Rechten damit den Grundkonsens der brasilianischen Gesellschaft in Frage. Der frühere Oberste Bundesrichter Sepúlveda Pertence stellte in einem Interview mit dem regierungseigenen Internetmagazin Cartamaior fest, dass der Plan rundum verfassungskonform sei. „Nicht nur bezüglich dessen, was bereits umgesetzt wurde, sondern auch bezüglich der Vision eines zukünftigen Brasiliens, die in ihm entworfen wird und bislang unzureichend umgesetzt wurde“, meint Pertence.
Zudem führen linke Gruppen ins Feld, dass viele der kritisierten Aspekte des dritten PNDH bereits in den beiden vorhergehenden Plänen auftauchten, die unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso 2002 beziehungsweise 1996 ins Leben gerufen wurden. Sie waren lediglich weniger konkret formuliert. Beide Pläne hatten keineswegs einen vergleichbaren Proteststurm zur Folge, wahrscheinlich weil abzusehen war, dass sie Mangels politischem Willen und fehlender juristischer Instrumente kaum praxisrelevant werden würden. Eine Entwicklung, die die UnterstützerInnen des PNDH-3 allerdings auch dieses Mal befürchten.
Der Wirtschaftswissenschaftler und Menschenrechtsaktivist Marcos Arruda erklärte im Gespräch mit den Lateinamerika Nachrichten den PNDH-3 als Fortschritt in der brasilianischen Gesetzgebung. „Der Plan geht das Thema der Menschenrechte erstmals systematisch an.“ Es sei schwerwiegend, dass die Menschenrechte als solche bis heute nicht Teil der Rechtssprechung sind. „Eigentlich müssten sie ein Parameter sein, an dem sich die Gesetzgebung orientiert,“ so Arruda. Er ist der Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation Alternative Politiken für den Conosur PACS in Rio de Janeiro.
Arruda definiert Menschenrechte als Grundlage eines jeden zivilisierten Staates. Deshalb sei der vorgelegte Plan die juristisch notwendige Voraussetzung einer Demokratie: „Die Menschenrechte dienen als Gradmesser, um die soziale und ökologische Verantwortung eines Landes zu messen. Sofern anerkannt wird, dass bestimmte Rechtsnormen, die in der Verfassung, der Menschenrechtscharta der UNO und anderen Verträgen, die Brasilien in der Vergangenheit unterschrieben hat, nicht oder nur teilweise erfüllt werden, ist es folgerichtig, dass ein Aktionsplan formuliert wird, um diesen Missstand zu beheben. Das Fehlen solcher Rechte nenne ich soziale Schuld. Wenn es also für die 200 Millionen Brasilianer nicht genügend Wohnraum gibt, handelt es sich um eine soziale Schuld im Wohnungsbereich. Genauso verhält es sich in allen anderen Bereichen.“
Doch die Rechte war sich in ihrem Urteil einig: Für Landwirtschaftsminister Reinhold Stephanis und die Senatorin Kátia Abreu, Wortführerin der einflussreichen Agrarierfraktion im Kongress, bedeutet der neue Menschenrechtsplan gar eine Kriminalisierung des Agrobusiness. Sie stießen sich am Vorschlag, dass künftig eine öffentliche Anhörung organisiert werden soll, bevor von Landlosen besetzte Ländereien gewaltsamen geräumt werden dürften. Vehement war auch die Reaktionen der Medien, die dem Proteststurm der Rechten die entsprechende Öffentlichkeit verschafften. Nachdem sie den PNDH-3, der bereits seit Wochen im Internet zu lesen war, zuerst schlichtweg verschwiegen hatten, warnen sie plötzlich vor einem Ende der Pressefreiheit. Die UnternehmerInnenverbände der Bereiche Fernsehen, Radio und Printmedien veröffentlichten eine Erklärung, die vor einer Einflussnahme des Staates auf die Medienlandschaft warnt.
Die kritischen MedienwissenschaftlerInnen der Gruppe Intervozes argumentierten dagegen in einem Manifest, dass der Menschenrechtsplan keinesfalls einen Angriff auf die Pressefreiheit darstelle. Im Gegenteil, stünden die vorgesehenen Maßnahmen, wie etwa Hürden gegen die Schaffung von Medienmonopole, Garantie des Rechts auf Kommunikation und Information sowie Verbot von rassistischen Inhalten in Medienbeiträgen, im Einklang mit der Verfassung und mehreren von Brasilien unterzeichneten internationalen Abkommen, wie zum Beispiel der amerikanischen Menschenrechtskonvention von San José aus dem Jahr 1969.
So einhellig wie die Rechte den Menschenrechtsplan ablehnte, begrüßten ihn linke Parteien, soziale Bewegungen und die organisierte Zivilgesellschaft. Sie stellten sich gemeinsam hinter den streitbaren Staatssekretär für Menschenrechte, Paulo Vannuchi. Dessen Menschenrechtssekretariat, das unmittelbar der brasilianischen Bundesregierung untersteht, war federführend an der Formulierung des Dokuments beteiligt. Vorausgegangen waren monatelange Konsultationen und Beratungen mit allen relevanten Sektoren der brasilianischen Gesellschaft, um neben den Ergebnissen der Nationalen Menschenrechtskonferenz vom Dezember 2008 alle Positionen und Anregungen in den PNDH-3 aufzunehmen.
25 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur lässt der Streit um den PNDH-3 alte Wunden aufreißen – und ruft bekannte Reflexe wieder hervor. Das Militär reagierte empört auf den Vorschlag, die Verbrechen der Militärdiktatur in einer Wahrheitskommission zu untersuchen. Es ist dieser Aspekt, der nach der Verabschiedung des Menschenrechtsplans die meiste Polemik verursacht hat. Allein der Gedanke, eine Wahrheitskommission über die Geschehnisse zwischen 1964 und 1985 einzurichten, ist den Uniformierten ein Graus. Inakzeptabel war aber vor allem der Begriff „politische Repression“, da er die Möglichkeit nahe legt, die Repressionsorgane einer juristischen Untersuchung zu unterziehen. Die Militärs plädierten statt dessen für den Begriff „politischer Konflikt“, der auch die Verantwortung der militanten Diktaturgegner einbezieht. Menschenrechtssekretär Vannuchi reagierte mit der Äußerung, dass eine Gleichsetzung von Folterern und Gefolterten nicht verhandelbar sei.
Insgesamt elf Jahre musste Marcos Arruda während der Militärdiktatur im Exil verbringen. Die Erfahrungen mit dem autoritären Regime prägten seine Sichtweise von Demokratie und Menschenrechten, für die er bis heute eintritt. „Es existiert eine soziale Schuld, die ich die Historische nenne. Darunter fällt die Schuld bezüglich der Diktatur. Im PNDH-3 wird festgestellt, dass diese Militärdiktatur Menschenrechte 21 Jahre lang verletzt hat. Es ist notwendig, dass dieser Teil der brasilianischen Geschichte aufgearbeitet und die Erinnerung daran wieder erlangt wird, dass die Orte der Verbrechen identifiziert und die Opfer benannt werden, damit sie ihre Würde wieder erlangen.“
Doch Präsident Lula war nicht gewillt, den Streit eskalieren zu lassen. Es gab Treffen auf höchster Ebene und bereits am 13. Januar unterzeichnete er ein neues Dekret, in dem die Textpassage, der zufolge die Wahrheitskommission die Aufklärung von „im Kontext der politischen Repression begangenen Menschenrechtsverbrechen“ verfolgen solle, nicht mehr vorkam. Damit ist nicht mehr definiert, wessen Taten genau untersucht werden sollen. Auch wird nicht mehr die Diktaturzeit als Untersuchungszeitraum genannt, sondern ein wesentlich längerer Abschnitt zugrunde gelegt.
Erneut ist es den Militärs gelungen, einen Versuch zur effektiven Aufarbeitung der Diktaturzeit zu torpedieren (siehe LN 405). Dabei war der eigentliche Skandal, nämlich das allgemeine Amnestieesetz, das unter anderem allen uniformierten Tätern generelle Straffreiheit zusichert, nicht einmal im Dokument erwähnt. Die Vizepräsidentin der Gruppe Tortura Nunca Mais (Nie Wieder Folter), Cecília Coimbra, kommentierte: „Die Regierung knickt im Namen eine Pseudo-Regierbarkeit ein und verzichtet auf eine Klärung dessen, was während der Diktatur passiert ist.“
Der Aktivist Marcos Arruda ergänzt, dass sich die Militärs zugleich in der Defensive befinden: „Das Interessante ist, dass die Versuche der Opposition, die Umsetzung des Plans und einer entsprechenden Rechtssprechung zu verhindern, einem öffentlichen Eingeständnis der Verbrechen gleichkommt. Die Militärs haben Angst, dass Tatbestände ans Tageslicht kommen, die auf internationaler Ebene nicht tolerierbar sind. Sie haben viel Einfluss, drohen und schüchtern ein, und die Regierungen lassen sich im Rahmen des politischen Spiels auf Kompromisse zulasten der Menschenrechte ein. Eine Umsetzung des Plans hängt also vom Druck der organisierten Zivilgesellschaft ab.“
Keiner bezweifelt, dass viele der im PNDH-3 formulierten Richtlinien nur teilweise oder erst in ferner Zukunft in die Praxis umgesetzt werden. Aber schon jetzt hat er viele Diskussionen in Gang gesetzt und wird vielen Gruppen als politisches oder gar juristisches Druckmittel im Kampf um ihre Rechte dienen. Der universelle Ansatz des vorgelegten Plans überwindet zudem die noch weit verbreitete Vorstellung, dass sich Menschenrechte in erster Linie auf die körperliche Unversehrtheit beziehen. Mangelnde soziale Gerechtigkeit bedeutet demnach ebenso eine Rechtsverletzung wie gesellschaftliche Stigmatisierung. Deswegen stellt der PNDH-3 beispielsweise die Räumung von LandbesetzerInnen ebenso in Frage wie die Tatsache, dass es Prostituierten verwehrt wird, ihren Beruf arbeitsrechtlich anerkennen zu lassen. Marcos Arruda ist jedoch skeptisch, was die konkrete Umsetzung betrifft. Zu oft hat die Lula-Regierung ihn in den vergangenen Jahren enttäuscht.
Lulas Regierungsperiode endet dieses Jahr und er darf laut Verfassung nicht mehr zur Wahl antreten. Als Nachfolgekandidatin hat die regierenden Arbeiterpartei PT vorläufig Dilma Roussef bestimmt. Auf dem Nationalen Kongress der PT am 19. Februar wurde beschlossen, die Umsetzung des PNDH-3 explizit in das Wahlprogramm von Rousseff aufzunehmen. Dennoch geht Arruda davon aus, dass die Politik nach ihren eigenen Regeln funktioniert: „Ich bin leider überzeugt, dass es sich um eine politische Taktik handelt: Es wird ein Plan erstellt und veröffentlicht, um danach auf kleiner Flamme zu köcheln, damit nicht wirklich etwas passiert. Die Intention des Plans ist gut, aber die Umsetzung ist die eigentliche Herausforderung. Lulas Vorgänger Fernando Henrique Cardoso hatte nicht das geringste Interesse gezeigt, einen Nationalen Menschenrechtsplan umzusetzen. Lula wiederum hat sieben Jahre gewartet, was einmal mehr die Natur seiner Regierung zeigt: Es geht ihm um Versöhnung und Ausgleich, aber er ist nicht wirklich der ausgebeuteten und rechtlosen Zivilgesellschaft verbunden.“

Ein nie gehörtes Radio ist möglich

18. März 2009. Das Teatro Argentina de La Plata ist von Ü-Wagen und Kabelträgern umstellt. Premiere hat hier heute eine Aufführung der besonderen Art, das Ley de Medios K. In der Hauptrolle: Cristina Fernández de Kirchner, ihres Zeichens Präsidentin Argentiniens und seit Monaten auf der Suche nach ein bisschen öffentlichem Beifall. Hier, wo sie im Jahr 2005 ihre Kandidatur für das höchste Amt des Landes bekannt gab, verkündet sie nun den Vorentwurf für ein neues Mediengesetz. Und was für eins. Kaum einem der versammelten MinisterInnen, AkademikerInnen und MedienvertreterInnen dürften an diesem Nachmittag die drei wichtigsten verbalen Paukenschläge von Fernández de Kirchner entgangen sein. Die Zahl der Sendelizenzen pro Mediengruppe sollten künftig von 24 auf zehn bis zwölf reduziert werden. Die Gesamtheit aller Radio- und Fernsehfrequenzen würde zu gleichen Anteilen zwischen staatlichen, privaten und Nichtregierungsorganisationen aufgeteilt werden. Und die Einführung neuer technischer Standards müsse stets dem obersten Gebot der Pluralität folgen.
Dieser für viele überraschende und doch sorgsam inszenierte Monolog gegen die argentinischen Medienoligopole – allen voran die Gruppe Clarín – habe eine kaum beachtete Vorgeschichte, analysiert Inés Farina, Moderatorin des argentinischen Community Radios Radio Sur. „Die Abschaffung von Mediengesetzgebungen, die noch aus der Zeit der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) stammten, erlaubte es der Präsidentin sowie ihrem Mann und Amtsvorgänger Néstor Kirchner ein demokratisches Vorzeigeprojekt anzuschieben. Doch dieses blendete konsequent alle früheren Forderungen und Initiativen aus, die seit Jahrzehnten für eine wirkliche Demokratisierung der Medien kämpfen.“
Im Grunde genommen ist das im Herbst letzten Jahres beschlossene und am 10. Dezember in Kraft getretene neue Mediengesetz Argentiniens nur die abgespeckte Version eines 21 Punkte umfassenden Programms, das bereits 2004 von über 300 zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgearbeitet wurde. Doch die Arbeit der beteiligten Menschenrechtsorganisationen, freien JournalistInnen, unabhängigen Radios, Gewerkschaften, Universitäten und sozialen Bewegungen wird von den meisten etablierten Medien Argentiniens konsequent ausgeblendet. Das Thema wird auf eine billige Kabale zwischen einem „Staat der Beliebigkeit“ (O-Ton El Clarín) und den „erpresserischen Pseudo-Intellektuellen eines Medienmonopols“ (O-Ton Néstor Kirchner) reduziert.
Dieser pathetische Schlagabtausch hat seinen blinden Fleck genau dort, wo es spannend wird, nämlich der konsequenten Infragestellung der bisherigen Frequenzennutzung von „unten“. Befreit man sich ein wenig von den nationalen Scheuklappen wird deutlich, dass in Lateinamerika vielerorts elektronische Basismedien existieren, die unter oft schwierigen Bedingungen recherchieren, senden – und sich vervielfältigen. Unabhängige Radios sind dabei die sichtbarsten Akteure. Denn so unterschiedlich sich ihr Entstehungskontext in den einzelnen Ländern auch darstellt – ob als öffentliches Sprachrohr befreiungstheologischer Projekte oder sozialistischer Parteien, anspruchsvolle Bastelvorlage begeisterter FunkamateurInnen oder geheimer Kommunikationskanal irgendeiner Guerilla– in einem bestimmten Moment gerieten all diese Vorhaben stets in Konflikt mit dem exklusiven staatlichem Anspruch den Äther zu verwalten, zu verteilen, zu verpachten.

Mexiko: Von der Armada zum Ley Televisa
In Mexiko begann die staatliche Vereinnahmung des elektromagnetischen Spektrums besonders plakativ. Die Armada beschlagnahmte 1923 im Namen der nationalen Sicherheit die Sendetechnik des Funkamateurs José de la Herrán und begann dann mit diesem „erbeuteten“ Sender noch vor dem offiziell ersten Radiopionier und Unternehmer Raúl Azcárraga Vidaurreta ein tägliches Programm zu organisieren. Mit immer weiteren Einschränkungen der Radiotechnik für den allgemeinen Gebrauch und dem Verkauf von Konzessionen wurden nicht-staatliche und nicht-kommerzielle AkteurInnen zur Funkstille verurteilt.
“Das hat dazu geführt, dass die Vorstellung der Mediennutzung sich bis heute auf werbefinanzierte Unterhaltung, patriarchalischen Bildungsfunk und parteipolitischen Bekehrungseifer beschränkt”, meint Laura Reyes vom freien Medienkollektiv Radio Zapote. Sie kritisiert außerdem, dass immer noch gültige “Radio- und Fernsehgesetz” aus den 1960er Jahren, das „weder mit der mexikanischen Verfassung, den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) oder dem Menschenrecht auf „Freie Meinungsäußerung“ vereinbar ist.“
Mit dieser Meinung ist Laura nicht allein. Sowohl die privatrechtliche Lobby der Cámara Nacional de la Industria de la Radio y la Televisión (CIRT) als auch die mexikanische Sektion des Weltverbands der Community Radios (AMARC) streben seit längerem eine Gesetzesänderung an, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Während CIRT nicht-kommerzielle Akteure im Äther verhindern will, drängt AMARC darauf Community Radios als Rechtsform anzuerkennen und ihnen – wie in Argentinien geschehen – dauerhaft einen bestimmten Anteil der Radiofrequenzen zuzusprechen.
Lediglich für ein gutes Dutzend Community Radios hat AMARC in Mexiko bisher eine Sendegenehmigung erwirken können. Der Widerstand der etablierten Medien und mit ihnen als shareholder verbandelter PolitikerInnen ist groß. Damit die „Radio-Sonderreglungen“ bloß nicht mit einem allgemeinen Anspruch verwechselt werden, kämpft die CIRT – und allen voran das 95% der terrestrischen Frequenzen kontrollierende Medienduopol TV Azteca und Televisa – darum, ein neues Mediengesetz durchzusetzen, das alle nichtkonzessionierten Radiotätigkeiten explizit verbietet. Dieses sogenannte „Ley Televisa“ wäre eigentlich schon seit 2006 in Kraft, hätte es der Oberste Gerichtshof nicht nachträglich für verfassungswidrig erklärt.
Während RichterInnen, LobbyistInnen und ParlamentarierInnen weiterhin über das Kleingedruckte streiten, sendet Radio Zapote wie schon in den vergangenen neun Jahren ohne Konzession in einer rechtlichen Grauzone des Äthers – oder eben im Internet. Die Legalisierungskampagne von AMARC wurde von dem freien Radioprojekt nicht mitgetragen, denn man versteht sich hier als radikal-praktisches Korrektiv des staatlichen Frequenzmonopols. Wie viele in der freien Radioszene ist auch Laura skeptisch, inwiefern eine positive Diskriminierung unabhängiger Radios vor dem Gesetz wirklich zu einem breiten, partizipativen Medienmachen beiträgt. „Die Community Radios die in Mexiko eine Sendeerlaubnis haben, berichten immer wieder von großen Schwierigkeiten überhaupt fortbestehen zu können. Denn sie dürfen weder Werbung senden, noch direkte finanzielle Unterstützung erhalten“, erzählt Laura. „AMARC verfügt sicherlich über die nötige Infrastruktur, ihre Medienarbeit sicht- und hörbar zu machen, aber darüber hinaus scheint es ihnen bisher nicht gelungen zu sein, die ihnen angehörigen Community Radios zu stärken.“

Brasilien: Nach der Zensur die Schrottpresse
Dem Papier nach befinden sich brasilianische Community Radios ihren mexikanischen KollegInnen gegenüber in einer äußerst privilegierten Position. Bereits seit 1998 regelt dort das Gesetz 9.612 zum „Community Radioservice“ den Betrieb von Sendeanlagen in Händen von kommunalen gemeinnützigen Stiftungen. Wer die gesetzlichen Auflagen erfüllt, sich auf dem FM-Band an eine niedrige Sendeleistung von 25 Watt hält und alle sprechwilligen BewohnerInnen im Sendegebiet ans Mikro lässt, der darf in Brasilien Radio machen. „Doch ich hatte schon damals meine Zweifel an der Umsetzung,“ erinnerte sich Tião Santos vom Community Radionetzwerk Viva Rio zum 10-jährigen Jubiläum des Gesetzestextes. „Wir hatten gerade eine Untersuchung abgeschlossen und festgestellt, dass 70 Prozent der ParlamentarierInnen direkte EigentümerInnen oder AktionärInnen kommerzieller Radio- oder Fernsehsender sind. Deshalb ahnten wir, dass sie uns ein Gesetz beschert hatten, dass den Bedürfnissen eines Community Radios nicht gerecht werden würde.“
Tiãos Befürchtungen erfüllten sich, denn die formalrechtlichen Hürden für den Erhalt einer Sendegenehmigung sind extrem hoch. „Das aktuelle Gesetz erschwert es Tausenden Community Radios in Brasilien sich wirklich zu legalisieren,“ bestätigt Luiza Cilente von der unabhängigen Nachrichtenagentur Pulsar. „Die Mehrheit der Antragsteller muss zehn Jahre warten bis ihre Gesuche bearbeitet werden. Deshalb senden viele Stationen eben einfach ohne Konzession und müssen ständig mit Repressionen von der Nationalen Telekommunikationsbehörde (ANATEL) rechnen.“
Unter der Regierung Ignacio Lula da Silvas wurden inzwischen weitaus mehr Freie und Community Radios geschlossen als unter seinem sozialdemokratischen Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso. Ähnlich wie gegenüber der brasilianischen Landlosenbewegung MST, wird praktische Aneignung zunehmend als krimineller Akt diffamiert. „Es gibt eine intensive Propaganda der großen Medienunternehmen, die Freie und Community Radios als gefährliche Piratensender darstellt, weil sie mit ihren nicht-genehmigten Sendungen sogar Flugzeugabstürze verursachen würden“, sagt Luiza und fügt hinzu: „Und dabei reden wir hier von gerade mal 25 Watt Leistung.“
„Die Vorschläge der Radiobewegung selbst“, fasst Luiza von Pulsar zusammen“ „reichen von der Gründung eines Unterstaatssekretariats für Community Radios, über eine Generalamnestie für alle Häftlinge, die wegen nicht-genehmigten Radiomachens im Gefängnis sitzen, bis hin zu einer rechtlichen Ausweitung der Sendeleistung und einer Rückgabe der von ANATEL beschlagnahmten Sendetechnik.“ Letztere Forderung wird in vielen Fällen leider nicht mehr zu erfüllen sein: Vor dem Rathaus in Sao Paulo wurden Ende letzten Jahres öffentlichkeitswirksam acht Tonnen Sendetechnik illegalisierter Radios zerstört.

Chile: Werbung statt minimaler Reichweite
„Ein Radio aufmachen kann in Chile jeder“, lacht Leonel Yañez, freier Journalist und ehemaliger Leiter von AMARC Chile. „In der Übergangsphase von der Militärdiktatur zur Demokratie Anfang der 90er schafften wir es damals ein sogenanntes „Gesetz der minimalen Reichweite“ durchzusetzen. Dieses Gesetz regelt den Betrieb nicht-kommerzieler Radiostationen die mit weniger als einem Watt senden. Kaum weiter als 200 Meter hörbar also, aber mit über 300 registrierten Stationen durchaus präsent. Weniger als die Hälfte der Sender die von dem Gesetz gebrauch machen seien jedoch Community Radios, sagt Sebastián Feliú vom Radioprojekt Encuentro in Santiago de Chile. „Wir haben mal nachgezählt und festgestellt, dass 40% dieser Radios von Freikirchen organisiert werden. Sonderlich pluralistisch geht es bei der Programmplanung da oft nicht zu, “ berichtet Sebastián weiter, der stolz darauf ist, dass in Radio Encuentro „so ziemlich jede gesellschaftliche Gruppe aus dem Viertel“ vertreten ist.
Doch so leicht es ist, in Chile ein gemeinnütziges Radio zu gründen, so schwierig war es bisher, auf Sendung zu bleiben. Neben Miet- und Betriebskosten, ist die bürokratische Hürde, alle drei Jahre die Konzession zu verlängern, hoch. Selbst etablierte Community Radios wie Radio Tierra und Radio Placeres senden mitunter ohne aktuelle Genehmigung. Doch die Arbeitsbedingungen in der unabhängigen chilenischen Radioszene könnten sich schon in den nächsten Wochen entscheidend verbessern, denn ein neues „Gesetz für Community Radios“ hat bereits im Abgeordnetenhaus sowie im Senat eine Mehrheit gefunden und wird demnächst noch einmal abschließend im Abgeordnetenhaus diskutiert. Vorgesehen ist in der Novelle unter anderem die Erhöhung der Sendeleistung auf immerhin 25 Watt, eine Verlängerung der Konzessionen von drei auf 15 Jahre und die Möglichkeit, Einkünfte durch Werbung zu erwirtschaften. Vor allem der letztere Punkt hat bereits die privaten Rundfunksender auf den Plan gerufen, „die mit allen Mitteln verhindern wollen, dass ihnen Marktanteile verloren gehen“, meint der freie Journalist Leonel, der selbst lange Zeit eine Sendung bei Radio Tierra moderiert hat. „Werbung ist eine legitime Praxis und wir sollten alle das Recht haben, sie als Finanzierungsmöglichkeit auszuprobieren. Denn klar unterscheiden wir uns inhaltlich vom Kommerzfunk, aber vor dem Gesetz sollten wir alle gleich behandelt werden.“
Sollte das Gesetz wirklich in seiner jetzigen Form beschlossen werden, dann wäre das eine kleine Sensation, ein Präzedenzfall im Kampf um den Äther. Auch AMARC Chile ist sich dessen bewusst, versucht dem massiven Lobbying der privaten Medienunternehmen im Senat entgegenzuwirken und fordert keine Zeile an der jetzigen Fassung zu ändern. „Das ist eine maximalistische Forderung und wir sollten vielleicht eher vom machbaren ausgehen“, findet Leonel, „Wenn das Gesetz irgendwie durchkommt, dann wäre zumindest ein erster Schritt getan, die Community Radios zu sichtbaren gesellschaftlichen Akteuren zu machen. Und wer ein großes Publikum und viele aktive Mitarbeiter hat, der kann in Zukunft ganz andere kommunikationspolitische Forderungen stellen.“
Argentinien: Neue Gesetze, neue Ausschlüsse
Der erste Jubel über das neue Mediengesetz ist inzwischen verflogen. Am 21. Dezember erklärten die Gerichte das Gesetz zum dritten Mal für verfassungswidrig. Auch wenn es bisher nur um Formfehler geht, deuten sich bereits weitere Probleme bei der Umsetzung des neuen Mediengesetzes an. Größtes Hindernis ist dabei das 2005 vom damaligen Präsident Nestor Kirchner vorgeschlagene Dekret 527, welches pauschal die Konzessionen privater Medienunterunternehmen um zehn Jahre verlängert. Das in direktem Widerspruch zum neuen Mediengesetz stehende Dekret wurde nur zwei Wochen nach dessen Bestätigung im Senat verabschiedet. „Ich denke die Weigerungen der Regierung, das Dekret 527 vor der Abstimmung zurückzuziehen zeigt sehr klar, dass ihr Vorhaben, sich den Medienmultis entgegenzustellen relativ und ungenügend ist“, kommentiert Inés von Radio Sur.
Dass eine Regierung versuche, innerhalb nationaler Rundfunkgremien großen Einfluss zu wahren oder zu erlangen sei nichts außergewöhnliches, sagt Sebastián von Radio Encuentro. Neue Gesetze oder Verfassungen wie in Venezuela oder Ecuador bergen deshalb immer auch das Risiko, dass Regierungen die mediale Meinungsbildung stärker kontrollieren wollen. „Diese Gefahr müssen Community Radios berücksichtigen, wenn sie sich von staatlichen Mitteln abhängig machen.“ Neue Abhängigkeiten oder Ausschlüsse könnten ebenfalls bei der eignentlichen Vergabe digitaler FM-Frequenzen entstehen, berichten die unabhängigen RadiomacherInnen. „Die neuen technischen Standards würden Investitionen in Technik und Know-how nötig machen, über die die meisten Community Radios schlicht weg nicht verfügen“, sagt Sebastián. Laura von Radio Zapote sieht dagegen mit Bestürzung die geplante Übertragung bestehender Konzessionen des Medienduopols Televisa/TV Azteca in das digitale FM-Band, ohne eine mögliche Neuverteilung und Öffnung des Spektrums auch nur erwähnt zu haben. Solchen Plänen müsse man deshalb umso deutlicher durch zivilen Ungehorsam, sprich einem „Radiomachen ohne um Erlaubnis zu fragen“, unterlaufen. „Es gibt in Mexiko Stadt Freie Radios wie Ke-Huelga oder Regeneración Radio (vormals Radio Pacheco) die seit mehr als zehn Jahren auf Sendung sind, sich horizontal organisieren und es somit geschafft haben, die Machtbeziehungen gegenüber dem Staat umzukehren“, berichtet Laura. „Auch Radio Ñomdaa im Bundesstaat Guerrero hat immer wieder verhindern können, dass die Polizeikräfte ihre Sendetechnik beschlagnahmen konnten.“
Eine „Community“ die ihr eigenes Radio verteidigt und sich auf horizontalen Schleichwegen dem staatlichen Zugriff entzieht. Leonel gefällt diese Geschichte. Er fragt sich jedoch auch, wie öffentlich und offen eine solche Praxis wirklich sein kann. „Im ständigen Widerstand zu kommunizieren ist schwer. Die Heimlichkeit gerät schnell in Widerspruch mit der eigentlichen Praxis, nämlich dem Senden,“ meint Leonel auch in Hinblick auf das kurze Aufleben einer freien Radioszene in Chile Ende der 90er Jahre. „Aber in Zeiten der Hyperkommunikation müssen auch unabhängige Radios glaubwürdig und präsent sein.“ Dass sagt der Mitbegründer der chilenischen Community Radioszene nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern im Interesse, die Radikalität und technische Experimentierfreude Freier Radios mit dem pluralistischen Charakter der Community Radios praktisch zu versöhnen. „Denn eines ist klar. Ein nie gehörtes Radio ist möglich.“

Rückkehr zur Scheindemokratie

Eine Lösung der politischen Krise in Honduras ist noch lange nicht in Sicht. Am 2. Dezember lehnte das honduranische Parlament eine vorübergehende Wiedereinsetzung Zelayas mit klarer Mehrheit ab. 111 der Abgeordneten stimmten gegen Zelaya, 14 sprachen sich für seine Wiedereinsetzung aus und drei Abgeordnete enthielten sich. Zuvor hatte Zelaya kategorisch ausgeschlossen, wieder in sein Amt zurückzukehren, sollte dies nicht bis vor den Wahlen geschehen. Damit wollte er vermeiden, persönlich den Putsch im Nachhinein zu legitimieren. Das ist bisher aber auch alles was Zelaya in dieser komplizierten Situation erreicht hat. Er sitzt nach wie vor isoliert in der brasilianischen Botschaft.
Vorerst wurde damit die Chance vertan, einen Wandel in Honduras einzuleiten. Die Widerstandsbewegung hält jedoch an einer Verfassunggebenden Versammlung fest und gibt sich weiterhin kämpferisch. Die Wahlfarce vom 29. November lehnt die Widerstandsbewegung als illegitim ab, da Zelaya zuvor nicht ins Präsidentenamt zurückgekehrt war. Juan Barahona, Sprecher der Bewegung, sagte, die honduranische Bevölkerung sei motiviert weiterzukämpfen. Sie werde nun aber nicht mehr für die Wiedereinsetzung Zelayas, sondern in erster Linie für die Verfassunggebende Versammlung mobilisieren. Die Wahlen, an denen die Putschregierung gegen alle Widerstände krampfhaft festgehalten hatte und die sie als einen ihnen genehmen Ausweg aus der Krise betrachtet, endeten wie erwartet: Porfirio Lobo, Kandidat der konservativen Nationalen Partei, setzte sich mit 56 Prozent der Stimmen gegen Elvin Santos durch. Der Kandidat der Liberalen Partei, welcher sowohl Zelaya als auch Putschpräident Roberto Micheletti angehören, kam laut offiziellen Angaben auf 38 Prozent. Der unabhängige linke Kandidat Carlos Reyes hatte zuvor seine Kandidatur zurückgezogen. Die kleine linke Partei Unificación Democrática (UD), die prinzipiell die Widerstandsbewegung unterstützt und sich für die Rückkehr Zelayas einsetzte, nahm hingegen an der Wahl teil, blieb aber völlig chancenlos. Im Falle einer Nichtteilnahme, hätte sich die Partei nach honduranischem Recht auflösen müssen.
Wie viele HonduranerInnen an den Wahlen teilgenommen haben, ist schwer zu sagen. Das Oberste Wahlgericht sprach zunächst von über 60 Prozent Wahlbeteiligung, was für Honduras ein ungewöhnlich hoher Wert wäre. Später korrigierte es den Wert auf nur noch 49 Prozent. Die Widerstandsbewegung kommt nach ihren Beobachtungen und Berechnungen auf ganz andere Werte. Der Jesuitenpriester und Direktor von Radio Progreso, Ismael Moreno, Bertha Oliva von der Menschenrechtsorganisation COFADEH (Komitee der Familien von Verhafteten und Verschwundenen in Honduras) sowie Berichte von unabhängigen Medien schätzen die Wahlbeteiligung auf 25 bis 35 Prozent. Da keine vertrauenswürdigen WahlbeobachterInnen vor Ort waren, sondern fast ausschließlich VertreterInnen rechtsgerichteter Parteien und Organisationen, die zuvor meist explizit den Putsch gutgeheißen hatten, besitzen zumindest die offiziellen Zahlen keinerlei Glaubwürdigkeit.
Es bleibt abzuwarten, ob und wie Porfirio Lobo mit seinem Legitimationsdefizit umgehen wird. Er selbst will eine große nationale Übereinkunft erreichen. Wie dies im Hinblick auf die, nicht nur politisch sondern seit langem auch ökonomisch und sozial entzweite honduranische Gesellschaft funktionieren soll, bleibt unklar. Ebenso fraglich ist, ob Lobo der richtige Kandidat dafür sein kann.
Porfirio Lobo ist einer der größten Agrarproduzenten Mittelamerikas und besitzt im Departsment o Olancho im Osten des Landes große Ländereien. Er studierte Betriebswirtschaft in Tegucigalpa sowie Miami und wurde 1990 Abgeordneter im Parlament. Die Mitglieder seiner Partei nennt Lobo „christliche Humanisten“. Weder human noch christlich setzte er sich bei den Wahlen 2005 hingegen für die Wiedereinführung der Todesstrafe zur Verbrechensbekämpfung ein. Vielleicht auch deshalb verlor er damals knapp gegen Manuel Zelaya.
Zu seinem Sieg haben Lobo bisher nur rechtsgerichtete Regierungen Lateinamerikas wie Panama, Kolumbien und Peru gratuliert und damit die Wahlen anerkannt. Aber auch Costa Rica und die USA sehen die Wahlen als legitimen und wichtigen Schritt in Richtung verfassungsmäßige Demokratie. Obwohl Präsident Obama anfangs den Putsch verurteilte, Diplomatenvisa einziehen ließ und partiell Finanzhilfen einfror, ruderte die US-Regierung im November wieder zurück. Die Druckmittel wurden nach dem nur halbherzig ausgeführten Vereinbarungen des Tegucigalpa – San José Abkommens, welches unter anderem die Wiedereinsetzung Zelayas vorsah, von Seiten der US Regierung wieder aufgehoben (siehe LN 426). Der Putsch wird somit seitens der USA legitimiert, ohne dass die Verfassungsmäßigkeit wiederhergestellt ist. Zelaya und seine UnterhändlerInnen wurden an der Nase herumgeführt und diplomatisch ausgebremst.
Hier zeigt sich die Spaltung, die nicht nur durch die honduranische Gesellschaft, sondern den gesamten amerikanischen Kontinent geht. Doch auch internationale Akteure wie die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind weiterhin geteilter Meinung. Der spanische Außenminister Miguel Ángel Moratinos erwähnte als bisher klarer Unterstützer Zelayas eine Strategie, die Wahlen weder anzuerkennen noch zu ignorieren. Sollte dies ein Schritt in Richtung, wenn auch nur partieller, Anerkennung der illegitimen Regierung sein? Die lateinamerikanische konservative Rechte scheint mit der Legitimierung des Putsches durch die USA und Teile der EU wieder an Stärke zu gewinnen. Zumindest aus ihrer Sicht war der Putsch ein Erfolg.
Vorerst bleibt offen, wie die EU mit der neuen Regierung umgehen wird und ob lateinamerikanische Staatenbündnisse wie der von Brasilien und Argentinien dominierte Markt des Südens (Mercosur) oder die von Venezuela und Kuba initiierte Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA) bei ihren Standpunkt bleiben, die neue Regierung unter keinen Umständen anzuerkennen. Porfirio Lobo selbst sagt, er werde hart daran arbeiten, um die internationale Anerkennung Honduras wiederherzustellen, die nach dem Putsch stark gelitten hat.
Aber vor allem innenpolitisch wird er viel zu tun haben. Die Widerstandsbewegung ist dabei, sich neu zu organisieren, um in allen Teilen des Landes Stärke zeigen und Druck ausüben zu können. Dies wird auch außerhalb des Landes wahrgenommen. „Der neue Präsident muss sich der großen Herausforderung stellen, die Forderungen der Bevölkerung nach einem neuen System zu erfüllen, das alle Teile der Gesellschaft an politischen Prozessen teilhaben lässt“, sagt selbst Jennifer McCoy. Die Direktorin des Americas Program des Carter Centers in Atlanta fügt hinzu: „Die Forderung eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, ist stärker als die der Wiedereinsetzung Zelayas in das Präsidentenamt.“
Der Wahltag selber verlief relativ ruhig. Trotzdem wurde eine Protestaktion von etwa 500 Mitgliedern der Widerstandsbewegung in der Stadt San Pedro Sula von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Dabei gab es laut Zentrum für Gerechtigkeit und Internationales Recht (CEJIL), 48 Festnahmen von Personen aus dem Kreise der Widerstandsbewegung. Etwa 30.000 Soldaten, Polizisten und Reservisten waren für die Sicherheit während der Wahlen zuständig, bei denen der Präsident, drei Vizepräsidenten 128 Abgeordnete und 298 LokalpolitikerInnen gewählt wurden.
Die Widerstandsbewegung war in den letzten Monaten und speziell vor den Wahlen verstärkt Ziel von Menschenrechtsverletzungen. Vor allem auf dem Lande wurden Menschen schikaniert, verhaftet und durch Polizeigewalt physisch verletzt. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurden durch das De-facto-Regime auch Menschen gezielt umgebracht und massiv die Pressefreiheit eingeschränkt. Letzteres bezieht sich hauptsächlich auf die Schließung und/oder der Störung von putschkritischen Radiostationen, TV Sendern und Zeitungen. Laut Amnesty International stellt die Straflosigkeit ein entscheidendes Merkmal des De-facto-Regimes dar. Die Wahlen als fair und sauber zu bezeichnen, wie es weiterhin von der Friedrich-Naumann-Stiftung und einigen FDP-PolitikerInnen getan wird, ist schlichtweg falsch. In der honduranischen Mittel- und Oberschicht hält sich nach wie vor die Meinung, Zelaya sei es bei der am 28. Juni geplanten Meinungsumfrage hauptsächlich um seine Wiederwahl gegangen. Doch auch mit einer Verfassunggebenden Versammlung wäre seine direkte Wiederwahl ausgeschlossen gewesen. Die Befragung hatte das Ziel, die Bevölkerung in den Prozess einer Verfassunggebenden Versammlung zu integrieren. Dieser progressive Akt Zelayas hatte aber das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Oligarchie, die alteingesessene herrschende Klasse, UnternehmerInnen und GroßgrundbesitzerInnen waren schon im Januar 2009 gegen die Erhöhung des Mindestlohns um 40 Prozent Sturm gelaufen und sich dabei der Unterstützung der von ihnen selbst dominierten Medien sicher gewesen. Der Kampf der rechten Oligarchie hat mit dem Putsch in Honduras eine neue Qualität angenommen.
Die Etablierung einer dritten politischen Kraft scheint notwendig, um das faktische Zweiparteiensystem in Honduras und die damit einhergehenden verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Der Putsch hat in dieser Hinsicht einiges bewirkt. Die HonduranerInnen fordern ihre Rechte ein und organisieren sich dafür. Die Widerstandsbewegung ist indes noch uneinig darüber, ob eine eigene Partei gegründet werden sollte, die Bewegung am besten weiter als starke Opposition der Straße fungieren sollte oder eine breite Front aus beidem die wirkungsvollste politische Strategie für eine Änderung der Verhältnisse darstellen würde.

// Die Freiheit, die sie meinen

Es war ein wahrer „Sieg der Demokratie“. Begeisterte Menschenmassen haben durch ihre massive Teilnahme an den „freien und fairen“ Wahlen die honduranische Volksherrschaft gerettet. So sieht es jedenfalls die Friedrich Naumann Stiftung (FNS) in Tegucigalpa, ihres Zeichens tapfere Kämpferin „für die Freiheit“. Der von ihr unterstützte Kandidat Elvin Santos verlor die Wahl zwar haushoch, aber das tut der Freude keinen Abbruch. Der konservative Wahlsieger Pepe Lobo ist schließlich auch akzeptabel, weil er für die Kontinuität des honduranischen Eliteklüngels steht, den die FNS entgegen ihrer angeblich liberalen Grundsätze verteidigt.

In der Scheinwelt der FNS wurden Putschopfer Manuel Zelaya und die Widerstandsbewegung für ihren Boykott-Aufruf durch eine außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung gnadenlos abgestraft. „Seit den frühen Morgenstunden konnte man lange Schlangen von Wählern beobachten, die sich aus den Wahllokalen bis hinaus auf die Straßen erstreckten“, heißt es auf der Internetseite der Stiftung. Sie muss es wissen. Schließlich hatte sie – im Gegensatz zur EU oder der Organisation Amerikanischer Staaten – eine eigene Delegation absolut unabhängiger WahlbeobachterInnen vor Ort. Wolfgang Gerhard, Präsident der FNS, rief die EU mit Hinweis auf die „hohe Wahlbeteiligung von über sechzig Prozent“ denn auch folgerichtig dazu auf, die Wahlfarce anzuerkennen. Dabei ist es mehr als wahrscheinlich, dass diese Zahl völlig frei erfunden ist. Der honduranische Widerstand beziffert die Beteiligung auf lediglich 25 bis 30 Prozent. Selbst das Oberste Wahlgericht ließ später verlauten, die Beteiligung habe wohl doch nur bei unter 50 Prozent gelegen.

Zurecht kann mensch sich nun darüber wundern, warum der reaktionären Außenseiter-Position der FNS schon wieder wertvolle publizistische Aufmerksamkeit zuteil wird. Der Grund ist simpel: Die liberalen Oli‑
garchie-SatirikerInnen von gestern, die zusammen mit einer Reihe radikal-konservativer Organisationen den Putsch als „Rettung des Rechtsstaates“ verkaufen wollten, haben in der Zwischenzeit gehörigen Einfluss auf die Regierung eines westlichen Industrielandes gewonnen. Denn ihr parlamentarischer Arm namens FDP führt neuerdings das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland. Wenngleich die Regierung sich mit den anderen Mitgliedsstaaten der EU auf eine einheitliche Linie einigen muss, drängt die FDP allem Anschein nach auf die Anerkennung der Wahlen. Mit ernsthaften Argumenten kann die ehemalige Spaßpartei dabei nicht auftrumpfen.

Die Vorkommnisse des 28. Juni könne man zwar „selbstverständlich auch als Putsch bezeichnen“, wie Rainer Stinner, außenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, während einer Bundestagsdebatte am 25. November auf Nachfrage erstmals zugab. Doch man dürfe nicht vergessen, dass Zelaya zuvor gegen die Verfassung verstoßen habe, indem er seine Wiederwahl durchsetzen wollte, zitierte Stinner kenntnisreich aus den Papieren der Naumann-Stiftung. Auf dieser kleinen, aber entscheidenden Lüge fußt letztlich fast die gesamte Argumentation der FNS. Denn eine mögliche Abstimmung über die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung hätte zeitgleich zum jetzigen Wahltermin stattfinden sollen. Und bei diesem hätte Zelaya ohnehin nicht nochmal antreten dürfen.

Am 2. Dezember dann gab Werner Hoyer, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, auf eine dringliche Anfrage der Linken-Abgeordneten Heike Hänsel, ein wahrlich überzeugendes Statement ab. Wenn bei allen Wahlen weltweit die Kriterien „die wir in Deutschland im Hinblick auf Fairness und Korrektheit anwenden“ der Maßstab seien, „dann würden wir ziemlich wenige Staatspräsidenten auf dieser Welt anerkennen können“, gab der patriotische FDP-Politiker zu bedenken. Zensur, offene Repression gegen Andersdenkende, die Militarisierung der Straßen oder die offensichtliche Schönung der Wahlbeteiligung verletzen die Kriterien der FDP anscheinend nicht. Mit der Freiheit, die sie meinen, ist das allemal vereinbar.

Eine Gefahr für die Gesellschaft

Juan Pablo Cárdenas erlebte den Putsch in Chile als Publizistik-Student an der Katholischen Universität. Auch wenn seine Schilderungen die Ereignisse nur bruchstückhaft wiedergeben, die Erinnerung an jene finsteren Tage scheint so frisch zu sein, als wäre es gerade erst passiert. An die Besetzung seiner Universität durch die uniformierten Machthaber, die Absetzung und Vertreibung demokratisch gesonnener ZeitgenossInnen und vor allem die brutale Verfolgung aller Linken, seien es AnhängerInnen des Unidad-Popular-Regierungsbündisses oder auch deren radikalere KritikerInnen. Er konnte das Verschwinden von KommilitonInnen und KollegInnen beobachten, denn als Christdemokrat stand er zunächst nicht im Mittelpunkt der militärischen Säuberungswut. Und dank seines Presseausweises erhielt er – zumindest in der Anfangsphase der Diktatur – Zugang zu Leichenschauhäusern. Er sah vor allem armselig gekleidete, einfache Leute, die sich den Kugeln der Soldateska entgegen gestellt hatten.
Juan Pablo Cárdenas verbindet den 11. September 1973 mit einem ganz eigenen, eindrücklichen Ergebnis. Just am Abend des Putschtages bekam seine erst wenige Monate alte Tochter hohes Fieber. Während seine Frau und er den diensthabenden Uniformierten an der nächsten Ecke von der Notwendigkeit eines Arztbesuchs überzeugen konnten, wurde der Rückweg von der Praxis zu einem höchstriskanten Abenteuer in einer besetzten Stadt. Vorbei an zig Straßensperren mit bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, ständig unter Verdacht, auf der Flucht zu sein, half ihnen das Lösungswort des Abends durch die Unbill der militärischen Machtergreifung: Es lautete ganz unspektakulär congrio – ein beliebter Speisefisch aus dem Pazifik.
Nicht mehr ganz jungen Solidaritätsbewegten in Deutschland dürfte die Zeitschrift Análisis noch in Erinnerung sein. Jahrelang lieferte sie Stoff für die Soli-Bewegung und für etliche Artikel der Lateinamerika Nachrichten. Als Chefredakteur der chilenischen Oppositionszeitschrift hatte Juan Pablo Cárdenas kein ruhiges Leben. In seinem Buch schildert er nun, wie die Pinochet-kritische Zeitung entstehen konnte, wie er die wiederholten Verhaftungen und Gefängnisaufenthalte er- und überlebte, und wie er in der Haft in den abendlichen Genuss eines Gläschens Whisky kam: kein Geringerer als Kardinal Silva Henríquez hatte ihn für einen ebenfalls einsitzenden Anwalt des Solidaritätsvikariats unter seiner Soutane eingeschmuggelt. Aber auch eine anderthalbjährige nächtliche Haftstrafe, als er Nacht für Nacht ins Gefängnis einrücken musste, und zwei Brandanschläge auf sein Haus südlich von Santiago konnten Cárdenas nie davon abbringen zu schreiben, was er dachte. Er erzählt, wie sie die Zensur lächerlich machen konnten, unerwartete Hilfestellung durch die Baden-Württembergische IG Druck und Papier und sogar durch Lufthansa-Piloten bekamen, und viele andere Geschichten mehr, die in dem einen und der anderen LN-LeserIn Erinnerungen wachrufen dürften. Doch jede Tyrannei geht einmal zu Ende, und so war auch die Pinochet-Diktatur nach sechzehn Jahren vorüber.
Ende gut, alles gut, dachte wohl Juan Pablo Cárdenas, der wie kaum einer der anderen opferbereiten JournalistenkollegInnen den Untergang des Militärregimes herbei geschrieben hatte. Doch erstens kam es anders, und zweitens als er dachte. Die neuen, nach demokratischen Spielregeln gewählten VerwalterInnen der „geschützten Demokratie“ legten wenig Wert auf kritische Berichterstattung, sondern hielten Cárdenas offenbar weiterhin vor allem für eine Gefahr für die Gesellschaft, oder zumindest für ihre eigenen politischen Ziele. In der Anfangsphase brachte Cárdenas Verständnis dafür auf, dass man die soeben von der Macht verdrängten Militärs nicht verärgern dürfe, da sie sonst erneut putschen würden. Entsprechende Drohgebärden blieben nicht aus, aber die historische und soziale Lage in Chile wie den USA sahen eigentlich nicht mehr nach einem Umsturz aus. Dazu gab es auch deswegen kaum Veranlassung, weil die scheidenden Militärs wesentliche Pflöcke für den Übergang zu einer „geschützten Demokratie“ eingeschlagen hatten. Bis heute gelten mit geringen Änderungen die vom Militärregime durchgesetzte Verfassung, das die politische Rechte bevorzugende Wahlrecht und natürlich die Zementierung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die vorauseilende Überanpassung der ersten demokratisch gewählten Regierung von Patricio Aylwin (1990 – 1994) scheint also eher von eigenen politischen Überzeugungen als von realen Gefahren bestimmt gewesen zu sein.
Denn Aylwin war 1973 als christdemokratischer Parlamentspräsident einer der aktivsten Befürworter eines gewaltsamen Sturzes der Unidad Popular von Salvador Allende. Sechzehn Jahre später konnte er sich nur durch parteiinterne Intrigen innerhalb der Christdemokratie und damit später im Parteienbündnis Concertación por la Democracia als Kandidat für die ersten Präsidentschaftswahlen nach der Diktatur durchsetzen. An solche Machenschaften erinnert zu werden, gefällt keinem Machthaber. In den Zentren der Macht baut man lieber auf die Kurzlebigkeit des politischen Gedächtnisses und mag es gar nicht, wenn kritische Geister unangenehme Erinnerungen auffrischen.
Wer sich nicht daran hält, macht sich nicht nur in Militärdiktaturen Feinde – davon legt die Biografie von Juan Pablo Cárdenas beredtes Zeugnis ab. Der erste Hieb ereilte die von ihm sechzehn Jahre durch dick und dünn geführte Zeitschrift Análisis gemeinsam mit den anderen diktaturkritischen Zeitschriften Apsi, Mensaje und Hoy. Sehr gut erinnert er sich an ein Gespräch mit der niederländischen Delegation, die zu Aylwins Amtsantritt nach Santiago gereist war. Zum Abschluss jahrelanger finanzieller Unterstützung der Oppositionspresse boten die Niederländer eine großzügige Unterstützung, um ihnen eine solide Ausgangsbasis zu verschaffen. Análisis sollte eine halbe Million US-Dollar erhalten – doch das Geld kam nie an. Der niederländische Botschafter versicherte Cárdenas, von Seiten seines Landes wäre alles geklärt und der Scheck läge unterschriftsreif vor ihm. Allerdings hätte die chilenische Regierung interveniert und den Niederlanden klar gemacht, dass sie jegliche Unterstützung der chilenischen Presse als Einmischung in innere Angelegenheiten auffassen würde.
Dass diese Anweisung nur von ganz oben kommen konnte, zeigte eine weitere Episode: Der Finanzminister der Aylwin-Regierung, Alejandro Foxley, zeigte sich überrascht über die Vorfälle und sagte spontan finanzielle Hilfe im Umfang des holländischen Angebots zu. Schließlich hatte er als christdemokratischer Wirtschaftsexperte selber jahrelang vor allem in Mensaje, aber auch in anderen Oppositionsmedien, die neoliberale Wirtschaftspolitik der Diktatur kritisiert. Doch es kam, wie es kommen musste: Foxley ließ wenig später mitteilen, ihm seien die Hände gebunden und er könne keine Mittel zur Verfügung stellen. Auch andere Persönlichkeiten der chilenischen Politik äußerten spontan ihre Bereitschaft, Análisis und andere Medien zu unterstützen, zogen aber immer wenig später auf wundersame Weise ihre Angebote wieder zurück. Gleichzeitig belegten die Regierung und sämtliche öffentliche Einrichtungen die vier kritischen Medien mit einem vollkommenen Werbeembargo und inserierten ausschließlich in den großen Zeitungen und Zeitschriften, die schon die Diktatur unterstützt hatten. Der kritischen Presse grub der unausgesprochene Boykott endgültig das Wasser ab, ohne Werbeeinnahmen konnten sie nicht überleben. Unglaublich – wie es Juan Pablo Cárdenas benennt – aber wahr: „Die Übergangsregierung hat sich ganz elegant ohne Zensur oder Verbot unliebsamer Kritiker entledigt.“
Es sollte keineswegs das letzte Mal sein, dass die demokratisierte Zensur der chilenischen Gesellschaft Juan Pablo Cárdenas traf. So intervenierte Ricardo Lagos, der dritte Präsident nach dem Ende der Diktatur, offenbar erfolgreich beim International Press Service, der einen Bericht von Cárdenas über die Verstrickungen des Ex-Präsidenten und seiner Familie in diverse illegale oder halblegale Geschäfte veröffentlicht hatte. Das aber hängt mit einer anderen Episode zusammen – seiner fünfjährigen Tätigkeit als Presseattaché der chilenischen Botschaft in Mexiko.
Dort bekam er Einblick in eine regelrechte Räuberpistole, die von Drogenhandel, Bestechung und Vorteilsnahme handelt und in deren Mittelpunkt niemand Geringeres als Ricardo Lagos zu stehen scheint. Hier machen Cardenas’ episodiale Erfahrungsberichte jedem Politthriller ernsthafte Konkurrenz. Obwohl sein Mexiko-Aufenthalt in die Regierungszeit des christdemokratischen Präsidenten Edurardo Frei (1994 – 2000) fiel, den die regierende Koalition der Concertación für die Wahlen im Dezember dieses Jahres erneut aufgestellt hat, betreffen die Erfahrungsberichte aus dieser Zeit viel eher dessen Amtsnachfolger Ricardo Lagos (2000 – 2006). Dieser hatte sich Ende der 1980er Jahre, also kurz vor dem Ende der Diktatur, mit seinem mutigen Eintreten für das NEIN zu Pinochet einen Namen gemacht. Die chilenische Öffentlichkeit beeindruckte er aber vermutlich viel nachhaltiger als Minister für Öffentliche Aufgaben, als er in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre – also in der Regierungszeit von Eduardo Frei – landauf, landab neu gebaute oder asphaltierte Straßen einweihte und fast im Wochenrhythmus den Weg auf beste Sendeplätze in die Abendnachrichten fand. Gebaut hat die allermeisten dieser Straßen die mexikanische Firma Tribasa. Das fand Juan Pablo Cárdenas ziemlich erstaunlich, hatte er doch zusammen mit dem Handelsattaché der Botschaft in Mexiko der chilenischen Regierung detaillierte Hinweise auf die prekäre finanzielle Lage und drohende Insolvenz der Straßenbaufirma aus dem Reich der Azteken geliefert. Seine Verwunderung ließ allerdings nach, als er hörte, wie sich David Peñaloza, der Chef des suspekten Unternehmens, auf einem Empfang offen damit brüstete, den Präsidentschaftswahlkampf von Ricardo Lagos großzügig unterstützt zu haben.
Doch das war nicht alles. Etwa zur gleichen Zeit vollzog der mexikanische Drogenboss Amado Carrillo seine Übersiedlung nach Chile. Dieses Unterfangen konnte Carrillo allerdings nicht bis zum Ende führen, da er bei der Umoperation seines Gesichts unerwartet starb. Kurz darauf erhielten die MitarbeiterInnen der chilenischen Botschaft in Mexiko einen Anruf aus dem Gefängnis von Puebla. Ein kubanisch-stämmiger Arzt aus dem engeren Umfeld von Carrillo versprach für 20.000 US-Dollar aufschlussreiche Hintergrundinformationen über dessen Umsiedlungsaktion nach Chile. Diese brauchte er zu seiner eigenen Sicherheit im Gefängnis, nachdem sein Schutzpatron das Zeitliche gesegnet hatte. Die zum Beweis seiner Andeutungen geforderten Belege ließen sich bestätigen, der Zeuge schien glaubwürdig und die Botschaftsmitarbeiter meldeten das Angebot unverzüglich an ihre Regierung in Santiago.
Doch dann geschah etwas Merkwürdiges: Anstatt grünes Licht für weitere Recherchen erhielten Juan Pablo Cárdenas und Konsul Sergio Verdugo von der eigenen Regierung die Anweisung, sich auf keinen Fall in dieser Sache zu engagieren. Für Cárdenas lässt das nur einen Schluss zu: Die Regierung wollte auf keinen Fall Licht in die Umstände dringen lassen, unter denen Drogenboss Carrillo seine Übersiedlung in ein vermeintlich sicheres Land geplant hatte und wo er möglicherweise in den wachsenden Markt einsteigen wollte. Eine solche Aktion ist nur mit Duldung oder gar Unterstützung wichtiger Entscheidungsträger denkbar. Bemerkenswert ist denn auch – und hier passen die losen Enden überraschend gut zusammen – dass die Leibgarde und Angestellten von Amado Carrillo als Mitarbeiter jener mexikanischen Straßenbaufirma auftraten, die über so exzellente Beziehungen zu höchsten chilenischen Regierungskreisen verfügte und jahrelang das lang gestreckte südamerikanische Land asphaltierte. Diesen Teil des Korruptionssumpfes hat eine eifrige Untersuchungsrichterin in Santiago, Gloria Ana Chevesich, bisher noch nicht trocken gelegt, aber einige Günstlinge von Tribasa und anderen Firmen einschließlich des Ministers für Öffentliche Aufgaben unter Ricardo Lagos, Antonio Cruz, wegen Vorteilsnahme im Amt verurteilt. Aber die Untersuchungen gehen weiter und Cárdenas hat mehrfach als Zeuge ausgesagt.
Mit seiner biografischen Abrechnung kratzt der streitbare Journalist gehörig am Bild des gelungenen Übergangs von der Diktatur und vor allem am Saubermann-Image des südamerikanischen Landes, das regelmäßig weit oben auf den Ranglisten von Transparency International und anderen Institutionen landet, die Korruption und fehlender Transparenz auf den Grund gehen wollen. Nach jahrelanger Verfolgung und Gefängnis in den bitteren Jahren der Diktatur musste er in der noch bittereren Zeit danach erleben, wie die Pseudodemokratie das Werk der Diktatur fortsetzte und dafür zunächst straflos die unabhängigen Medien zum Schweigen brachte. Mit „Ernüchterung“ ist seine Wahrnehmung der chilenischen Gesellschaft und ihrer herrschenden Kräfte eher wohlwollend beschrieben.

Juan Pablo Cárdenas // Un Peligro para la Sociedad // Random House Mondadori // Santiago 2008 // 176 Seiten // www.randomhousemondadori.com

Der Papst in der Chipstüte

Herón Badillo ist erst fünf Jahre alt, als er an Leukämie erkrankt. Er gilt als aussichtsloser Fall und da alle Chemotherapien nichts nutzen, ist der Papst die letzte Hoffnung der Eltern. Denn der kommt 1990 auf seiner ersten Mexikoreise auch in Hérons Heimat Zacatecas vorbei. Auf dem Flughafen verlässt seine Heiligkeit die protokollarische Route, steuert direkt auf den sichtlich kranken Jungen zu und berührt ihn an der Stirn. Es dauerte nur einen kleinen Augenblick, doch der Junge ist kurz darauf geheilt. Ein Wunder – für die Familie und die Kirche gibt es daran keinen Zweifel.
„Vor drei Jahren habe ich in der Zeitung zufällig einen Bericht über diesen Herón Badillo gelesen. Ich fragte mich, was wohl aus dem Kind von damals geworden ist. Und so begann die Suche nach ihm“, erzählt José Luis Valle am Rande des Filmfestivals in Locarno. Schon ein paar Tage später setzte er sich in ein Flugzeug in Richtung des mexikanischen Bundesstaats Zacatecas. In detektivischer Arbeit rekonstruierte der Filmemacher das Leben des „Papstwunders“, befragte Nachbarn, kirchliche Vertreter und die Familie. Langsam nähert er sich seinem Protagonisten und entdeckt ihn schließlich: Herón verdient sich sein Geld als Metzger, trinkt gerne mal einen über den Durst und hat einem Kumpel die Freundin ausgespannt. Ein völliger Durchschnittsmensch, erschreckend normal. Auch er hat sein Glück als mojado in den USA versucht, wie jeder zweite im Bundesstaat Zacatecas. Doch er kehrte zurück, weil ihm der Amerikanische Traum zu stressig gewesen war. „Seine Familie schämt sich beinahe für ihn. Die Eltern wollten, dass er Priester wird. Doch dafür war er nicht gemacht. Ihm ist einfach alles egal“, erzählt Valle im Interview.
Heróns Vater dagegen hat aus dem Wunder Kapital geschlagen. Er schrieb ein Buch über seinen Sohn und ging in die Politik. Herón jedoch hält nichts von dieser falschen Frömmigkeit und hat sich in seiner sarkastischen Art damit abgefunden, dass andere seine Geschichte zu Geld machen. Er ist ein Heiliger wider Willen. Und ist nicht einmal reich damit geworden. Ein „Schicksal“, dem er sich mit Gleichgültigkeit ergibt.
Valle zeichnet in dem 78-minütigen Dokumentarfilm ein oftmals satirisch komisches und kritisches Bild der mexikanischen Gesellschaft zwischen Religion und Korruption, in der es kein Widerspruch ist, wenn der Papst als Sammelfigur in Chipstüten verpackt wird. Hinzudichten musste er nichts – er versuchte einfach, die Realität für sich sprechen zu lassen. „Die Geschichte nimmt so überraschende Wendungen, man hätte sie nicht besser erfinden können“, lacht Valle, der 2005 seinen Abschluss in Film an der UNAM in Mexiko-Stadt gemacht hat. Mit visueller Experimentierfreude (Trickfilm, Zeitlupe, 360-Grad-Schwenks) und einer gehörigen Portion Humor gelingt es dem Regisseur, einen umfassenden Blick auf seinen Protagonisten zu werfen, ohne dass der wortkarge und oftmals tölpelig anmutende Herón sich dabei großartig in Szene setzen muss. Im Gegenteil – das Wunder selbst gerät mitunter völlig zur Nebensache in einem Alltag, in dem ein singender Bürgermeister, schlechte Rodeoreiter und bierdurchzechte Nächte die Hauptrolle spielen. Dabei kommen neben Heróns Familie, Freunden und Bekannten auch hohe Geistliche Mexikos zu Wort, wie etwa Kardinal Norberto Rivera. „Es gab zwar kein Problem mit Zensur, aber es dauerte ewig, bis ich das Okay für ein Interview bekam. Dafür gab es aber mit Heróns Familie Probleme. Die dachte, ich wolle mit dem Film Geld verdienen und ihren Teil vom Kuchen abhaben.“
In entwickelten Ländern sei Heróns Art der Leukämie in 90 Prozent der Fälle heilbar, verrät Valle am Schluss seines Films, ohne dabei die Kraft und die Charme des magischen Denkens zu zerstören. „Ich will kein Wunder entzaubern, ich möchte nur eine Geschichte erzählen“, verrät der Agnostiker. „Ich wollte mich der Person Heróns aus möglichst vielen verschiedenen Perspektiven nähern. Die Entmystifizierung des Wunders, die besorgen die Protagonisten und die Umstände schon selbst!“
Bis in die deutschen Kinos wird es El milagro del Papa wohl nicht schaffen, der Film wird aber nach Locarno sicherlich auch auf einigen deutschen Filmfestivals zu sehen sein.

Befreiungsversuch aus der Enge

Alles, aber auch wirklich alles, wurde in der DDR von der „Dreieinigkeit“ Partei, Staat und gesellschaftlichen Organisationen unter der Führung der „avantgardistischen SED“ bestimmt. Eigenständiges Handeln war nicht vorgesehen. Wollte man sich aus der Klammer dieser lähmenden „Rundumbestimmung“ wenigstens ansatzweise befreien, konnte man dies nur im privaten Bereich der Familie oder zusammen mit FreundInnen tun; wollte man sich nicht nur auf das Private beschränken sondern begriff sich auch als politischer Mensch, arbeitete man in einer der unabhängigen Gerechtigkeits-, Friedens- oder Ökologiegruppen mit.
Sicher ist dies eine (wenn auch nur geringfügig) überspitzte und polemische Beschreibung der Wirklichkeit des DDR-Lebens. Will man aber die Motivation derer verstehen, die in unabhängigen Gruppen arbeiteten, braucht es diese Art der Charakterisierung. Die Motivationslage der Engagierten in den Basisinitiativen fand sich prinzipiell zwischen folgenden zwei Polen wieder: Einerseits ließ das Wissen vom Elend auf der Welt Untätigkeit nicht zu und forderte geradezu persönliches und direktes Handeln heraus und andererseits konnte man nur durch „eigenständiges sinnvolles Tun“ ansatzweise der Apathie und den vorgefertigten Strickmustern der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR entgehen.
Nicaragua war genau in diesem Kontext ein sehr attraktives, ja geradezu schillerndes Land. Dort herrschte nicht nur bittere Armut, die es zu überwinden galt. Nach dem Sturz der Somoza-Diktatur war man dabei, eine gerechte Gesellschaft nach wie auch immer gearteten sozialistischen Vorstellungen aufzubauen, die den Blick auf den real existierenden Sozialismus à la DDR kritisch schärfte. Dichtende Priester, schreibende Regierungsmitglieder und politisch-erotische DichterInnen vom Schlage eines Ernesto Cardenal, Sergio Ramirez oder einer Giaconda Belli, deren Scharfsinnigkeit, Charme und Charisma es von alleine verbieten, sie beispielsweise mit Egon Krenz oder Margot Honecker zu vergleichen. Mit anderen Worten: Nicaragua war etwas Besonderes, mit dem man sich gern beschäftigte und was einen von dem engen, grauen Mief in der DDR befreite. Aber die alltägliche Arbeit dieser Gruppen war nicht annähernd so spektakulär wie ihr „Objekt der Begierde“. Überall stieß man an Grenzen: Projekte mit Geld zu unterstützen, war nicht möglich, da die DDR-Mark nicht konvertierbar war. Wollte man statt dessen Pakete schicken, stieß man beim Kauf auf die Mangelwirtschaft. Schickte man Pakete mit zu viel Mangelware, scheiterte man am Zoll. Und zu all dem kam noch die „freundliche Begleitung“ durch die Staatssicherheit.
Doch es war genau diese Ambivalenz zwischen „unseren täglichen Schlag gib uns heute“ und dem noch so beengten und dennoch erweiternden Blick über den Tellerrand hinaus, der die Gruppen existieren ließ. Sie verstanden sich trotz aller Enge und Begrenzung als entwicklungspolitisch Wirkende. Zugleich waren diese Gruppen im Kleinen Praxis- und Erprobungsfelder für Demokratieverhalten und alternative Ansätze für kommunikative, partizipative und emanzipatorische Strukturen. Sie stellten ganz bewusst auch ein Stück Gegenöffentlichkeit in der DDR dar.
Eine solche Arbeit war ohne Unterstützung der Kirchen nicht möglich. Der Staat überließ sowohl die Legitimation der Gruppen als auch die Reglementierung in den meisten Fällen der Kirche. Die nahm diese Rolle an – in Form einer Gratwanderung zwischen Opposition und Anpassung. Mitunter war dabei die innere Zensur größer als die äußere.
Um Anfeindungen in der täglichen Arbeit widerstehen zu können, brauchte man verlässliche Verbündete und musste sich selbst größere Arbeitsstrukturen und -zusammenhänge schaffen. Einer der wichtigsten war INKOTA (Information, Koordination und Tagungen zu Problemen der Zweidrittelwelt). Der Name war Programm: es wurden in der Regel schwer zu beschaffende Informationen besorgt (meist aus oder über den Westen), koordinierte Aktionen gestartet und Tagungen durchgeführt. INKOTA hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Kluft zwischen Basisinitiativen und Administration zu überbrücken. Nicht zuletzt kamen über diese vernetzenden Strukturen auch eine ESG/INKOTA-Delegation 1986 und meine Reise 1989 nach Nicaragua zustande.
Der Großteil der Solidaritätsbewegten der unabhängigen Gruppen aber hatte erst ab 1990, das heißt nach dem Abgang der DDR und nach der Abwahl der Sandinisten in Nicaragua, die Möglichkeit, in das Land „ihrer Träume“ zu reisen – wenn sie es überhaupt noch wollten.
Der Abgang der DDR fand nahezu zeitgleich mit der Abwahl der sandinistischen Regierung statt. INKOTA arbeitet bis heute mit vielen nicaraguanischen Projektpartnern zusammen, auch wenn sich der Fokus der Arbeit während der Jahre verschoben hat. „Nach der Revolution kamen die Frauen“, habe ich diese Entwicklung zusammengefasst, denn wir wandten uns verstärkt den Frauen zu, also dem Teil der Bevölkerung, der in der Revolution zu kurz gekommen war. Politisch waren wir in dieser Neuorientierung unserer Meinung nach nicht von der sandinistischen Revolution weggerückt, im Gegenteil. Wie die Frauen unserer Partnerorganisationen, die sich zwar zunehmend von den sandinistischen Parteistrukturen distanzierten, nicht aber von ihren eigenen revolutionären sandinistischen Wurzeln, so verstanden auch wir inzwischen die beste Art der „Verteidigung von revolutionären Errungenschaften“ darin, zumindest Teilen der armen Bevölkerung durch unsere bescheidenen Mittel der Projektbegleitung die Chancen auf ein besseres Leben und eine emanzipatorische Entwicklung zu ermöglichen.
Dass wir damit nicht so ganz falsch lagen, machte mir das Miterleben des 10. Jahrestages des Frauenzentrums Xochilt Acalt in Malpaisillo im Jahr 2002 deutlich. Mit Sprüchen wie „Wir sind alphabetisiert und haben nun Worte, um unseren Männern zu antworten“ brachten sie zum Ausdruck, worauf sie zu Recht stolz waren und welche Entwicklung sie genommen haben.
Als gelernter DDR-Bürger, Sympathisant und Unterstützer der sandinistischen Revolution, kamen in mir zwei Gefühle hoch: Das hier war das Gegenteil von offiziellen Demonstrationen à la DDR und im Leben dieser Frauen hat zumindest eine „kleine sandinistische Revolution“ stattgefunden.
Aber es waren nicht Revolutionen, sondern die Mühen der Ebenen, die den Projektalltag von INKOTA in erster Linie prägten. Wir mussten lernen, was es heißt, komplexe Strukturen der Ungerechtigkeit und der Armut auch nur ansatzweise mit zu überwinden. Bei diesem Lernen konnten wir uns auch auf westdeutsche Organisationen stützen. Aber es waren nicht nur die deutschen Organisationen, von denen wir viel lernten, sondern vor allem auch die nicaraguanischen. Natürlich geht es zum Beispiel der Stiftung für die integrale Entwicklung der indigenen Frauen von Subtiava Xochilt Acalt bei ihren Bemühungen um eine ökonomische Besserstellung der Landfrauen. Aber die Frauen wissen, dass Entwicklung ganzheitlich sein muss. Deshalb gehören neben den produktiven Projekten beispielsweise Alphabetisierung und Schulausbildung, vorbeugende Gesundheitsversorgung, Ausbildung von Genderbewusstsein, Kultur- und Sportarbeit mit Jugendlichen, Begleitung von sexuell missbrauchten Frauen und politische Kampagnenarbeit zu ihren Programmen.
Dass ausgerechnet unser einstiger Revolutionsheld Daniel Ortega als wiedergewählter Präsident einer pluralistischen Entwicklung der nicaraguanischen Gesellschaft im Wege steht, erscheint vor dem Hintergrund der gemeinsam gemachten Erfahrungen mit der sandinistischen Revolution als ein echter und schmerzlicher Treppenwitz der Geschichte.

Der Artikel setzt sich aus zwei gekürzten Beiträgen des Autors im kürzlich erschienenen Buch Aufbruch nach Nicaragua – Deutsch-deutsche Solidarität im Systemwettstreit zusammen. Herausgegeben von Erika Harzer und Willi Volks // Christoph Links Verlag // Berlin 2009 // 246 Seiten // 19,90 Euro

Tiefe Gräben

Conatel räumt auf. Die staatliche Telekommunikationsbehörde gab Ende Juli bekannt, dass 32 private Rundfunk- und zwei regionale Fernsehsender ihre Frequenzen abgeben müssen. Anfang September ereilte 29 weitere Radiosender das gleiche Schicksal. Die Ankündigungen erfolgten, nachdem Conatel bei insgesamt 285 Radio- und Fernsehsender eine administrative und steuerliche Überprüfung durchgeführt hatte. Die meisten hätten laut der Behörde auch nach mehrmaliger Aufforderung keine aktuellen Unterlagen eingereicht. Weitere Sender könnten daher demnächst die öffentliche Frequenz verlieren – und müssten somit entweder den Betrieb einstellen oder ins Internet ausweichen. Conatel begründet die Schritte damit, dass die Sendelizenzen der betroffenen Sender entweder bereits schon lange abgelaufen seien oder die Sender Gesetze verletzt haben. So hätten sich zum Beispiel in zahlreichen Fällen die Besitzverhältnisse geändert, ohne dass dies von den jeweiligen Medienunternehmen mitgeteilt worden sei. „Der Staat gewinnt lediglich die Zulassungen zurück, die seit über 30 Jahren illegal benutzt wurden“, sagte Conatel-Chef Diosdado Cabello, der gleichzeitig das Ministerium für Wohnungsbau und Infrastruktur leitet. Durch den teils illegalen Aufbau von Medienoligopolen sei ein medialer „Großgrundbesitz“ entstanden, der nun demokratisiert werden solle.
Die Opposition stellte sich geschlossen gegen die Maßnahmen von Conatel und sieht dahinter den Versuch, Kritik an der Regierung zu unterdrücken. Der Gouverneur des Staates Zulia und Politiker der sozialdemokratischen Partei Eine Neue Zeit (UNT), Pablo Pérez, meinte, die Regierung betreibe eine „Hexenjagd, um die mediale Hegemonie aufrecht zu erhalten.“ Eduardo Fernández von der christdemokratischen Ex-Regierungspartei Copei sagte, alle Manöver gegen die Meinungsfreiheit würden „scheitern, so wie sie bei Pérez Jímenez (1958 gestürzter Diktator, Anm. der Red.) gescheitert seien.“ Zudem wächst in der Opposition die Furcht, dass der Fernsehkanal Globovisión geschlossen werden könnte. Derzeit laufen mehrere Verfahren gegen den offen oppositionell agierenden Sender, unter anderem wegen Aufrufen zum Putsch gegen und Mord an Präsident Hugo Chávez. Zudem muss das Unternehmen Steuern in Höhe von mehreren Millionen US-Dollar nachzahlen. Die Steuerbehörde Seniat hatte von Globovisión während der Umsturzversuche in den Jahren 2002 und 2003 gesendete Anti-Chávez-Propaganda nachträglich als Werbung eingestuft. Und dafür werden laut Gesetz Steuern erhoben. Der Direktor von Globovisión, Alberto Federico Ravell, warf der Regierung vor, gegen Globovisión einen „Justiz- und Steuerterrorismus“ auszuüben. Den Vorwurf der Opposition, dass durch das juristische Vorgehen gegen den Sender unliebsame Meinungen unterdrückt werden sollen, wies die Regierung kategorisch zurück: „Der Fall Globovisión hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, sondern vielmehr mit der Verletzung von Gesetzen“, sagte Conatel-Chef Cabello. „Aufrufe zu Mord und einem Putsch sind etwas völlig anderes, als einfach etwas Krudes im Fernsehen zu sagen.“ Ein von der Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz im Juli vorgeschlagenes Gesetz über „Mediendelikte“ gab den Vorwürfen der Opposition weiteren Aufwind. Der Gesetzesvorschlag sah unter anderem vor, Gefängnisstrafen für die Verbreitung von falschen Informationen zu verhängen. Zwar sprachen sich VertreterInnen aller chavistischen Parteien gegen Ortegas Vorschlag aus, der dann nicht einmal im Parlament debattiert wurde. Die Opposition versucht aber dennoch, mit dem nicht existenten Gesetz Politik und Stimmung zu machen.
Der Konflikt ist nicht neu: In einer derartig polarisierten Situation wie in Venezuela stellt die Pressefreiheit prinzipiell ein heikles Gut dar und läuft permanent Gefahr, von politischen Akteuren vereinnahmt zu werden. Die meisten privaten Medien werden von den alten Eliten kontrolliert und ergreifen offen Partei gegen die Regierung von Hugo Chávez sowie die sozialen Bewegungen. Mit legitimer Kritik hat dies meist wenig zu tun. Medien wie Globovisión attackieren die Regierung fortwährend mit Halbwahrheiten und Lügen. Im April 2002 waren die wichtigsten privaten Medien maßgeblich am – letztlich gescheiterten – Putsch gegen Chávez beteiligt. Was in den meisten Ländern der Welt schwere strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde, führte in Venezuela 2007 lediglich zur Nicht-Verlängerung der öffentlichen Sendefrequenz des oppositionellen Fernsehsenders RCTV, der heute nur noch über Kabel und Satellit empfangen werden kann.
Erklärtes Ziel der Regierung, der kleineren chavistischen Parteien und der vielen sozialen Bewegungen ist eine stärkere Ausweitung des Anteils kommunitärer Radiosender im Rundfunkspektrum. Noch 2002 gab es lediglich 13 derartige Sender. Heute sind es bereits 240. Die Gesamtzahl der vergebenen Radiofrequenzen erhöhte sich unter Chávez‘ bisheriger Regierungszeit von 300 Sendern, die fast alle privat geführt waren, auf jetzt knapp 800. Seit 1999 wurden somit insgesamt rund 500 neue Frequenzen vergeben. Deutlich gewachsen ist auch die Zahl privater Radiosender. Von ihnen gibt es mittlerweile 472. Hinzu kommen 79 staatliche Radiosender. Im Bereich des Fernsehens bestehen zurzeit 65 private, 37 kommunitäre sowie sechs staatliche Sender, die mehrheitlich regionale Sendereichweiten haben. Da im April 2002 die Putschisten zwischenzeitlich die komplette Medienlandschaft kontrollierten, wurde es notwendig, den Zugang zu Medien auszuweiten. Diese durch die Regierung angestrebte Demokratisierung besteht nicht nur darin, den Besitz an Medien breiter zu streuen. Sie zielt auch darauf ab, dass die Menschen von der Basis produktive Akteure der Medienlandschaft werden. So müssen bei den kommunitären Sendern, die alles andere als ein homogener Block sind, laut Gesetz mindestens 70 Prozent des Programms von der eigenen comunidad gestaltet werden. Auch wenn sie in ihrer Mehrheit mit der Regierung sympathisieren, ist in den meisten Sendern keineswegs plumpe Regierungspropaganda zu hören. Dies steht im Gegensatz zu den staatlichen Medien, wo dies trotz vieler interessanter Diskussionsrunden häufig der Fall ist. Hingegen geben die kommunitären Medien den BewohnerInnen der jeweiligen Viertel eine mediale Plattform, um über lokale und regionale Probleme zu diskutieren. Zudem sind die Sender in der Regel finanziell nicht vom Staat abhängig, sondern finanzieren sich zum Beispiel über Werbung kleinerer und mittlerer Betriebe aus dem Sendegebiet.
Das zweite große Thema in Venezuela ist derzeit das Mitte August vom Parlament beschlossene Bildungsgesetz. Bereits lange vor dessen Verabschiedung hatten AnhängerInnen der Opposition über Flugblätter und das Internet Angst geschürt. Unter anderem wurde behauptet, der Staat werde zukünftig die Vormundschaft über sämtliche Kinder zwischen drei und 20 Jahren an sich reißen, um den Eltern keine Möglichkeit zu geben, die Kinder nach ihrem Willen zu erziehen. Das Gesetzestext liest sich indes deutlich weniger spektakulär. Er wird dennoch von der Opposition, der Katholischen Kirche und privaten Schulen scharf abgelehnt, weil er angeblich eine „sozialistische Indokrinierung“ seitens des Staates ermögliche. Unbestritten ist, dass der Staat durch das Gesetz seine Rolle im Erziehungswesen ausbaut und das System teurer privater Bildungseinrichtungen geschwächt wird. Bisher bot das Bildungswesen für finanzstarke Familien wesentlich bessere Chancen, da die Zugangsprüfungen zu den öffentlichen – aber autonomen – Universitäten ohne Besuch einer Privatschule kaum zu bewältigen waren. Diese Tests sollen nun abgeschafft werden. Die katholische Kirche wendet sich vor allem dagegen, dass Religion nicht mehr als Pflichtfach unterrichtet werden soll, sondern nur noch zusätzlich belegt werden kann. Darüber hinaus wird unter anderem das Schuljahr verlängert und werden sowohl öffentliche als auch private Unternehmen dazu verpflichtet, den ArbeiterInnen den Zugang zu Bildung zu erleichtern. Allerdings ist in dem Gesetz auch ein unpräzise formulierter Artikel enthalten, der Medien explizit einen Bildungsauftrag zuschreibt. Demnach könnten Medien in Zukunft zum Beispiel dafür sanktioniert werden, wenn sie für Kinder schädliche Inhalte senden.
Da zwischen Regierung und Opposition keinerlei direkter Kommunikationskanal besteht, finden die politischen Auseinandersetzungen einmal mehr auf der Straße statt. In den letzten Wochen gab es verstärkt Demonstrationen für und gegen das Bildungsgesetz sowie die Neuvergabe von Radiofrequenzen. Einige Demonstrationen der Opposition endeten in gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen einem Teil der Demonstrierenden und der Polizei. Es kam auch zu Verhaftungen. Andererseits fanden vereinzelt gezielte Übergriffe von chavistischen Einzelgruppen statt. Anfang August etwa attackierte die bekannte Aktivistin und selbsternannte „radikale Chavistin“ Lina Ron mit einigen ihrer AnhängerInnen den TV-Kanal Globovisión mit Tränengasgranaten. Ron unterstützt den Präsidenten mit ihrer Splitterpartei UPV, die zumindest im Zentrum von Caracas und dem Barrio 23 de Enero deutlich präsent ist und fordert schon lange die Schließung von Globovisión. Chávez selbst jedoch lag mit Ron bereits mehrfach im Clinch. Er wirft ihr vor, mit unüberlegten Aktionen Chaos zu verursachen. Der Direktor von Globovisión, Ravell, machte jedoch umgehend Chávez für den Vorfall verantwortlich. Die Regierung hingegen verurteilte die Attacke auf den Fernsehsender scharf. Lina Ron meldete sich einen Tag später freiwillig, wurde verhaftet und wartet jetzt auf ihren Strafprozess.
Am 13. August wurden zwölf MitarbeiterInnen des Medienunternehmens Cadena Capriles von einer Gruppe vermeintlicher ChavistInnen mit Schlägen und Tritten attackiert und verletzt, als sie gegen die im Bildungsgesetz enthaltene Klausel protestierten, mit der Medien sanktioniert werden können. Der Vorfall wurde von der Regierung ebenfalls aufs schärfste verurteilt und Ermittlungen in die Wege geleitet. Viele Oppositionelle machen die Regierung jedoch prinzipiell für Einzelaktionen ihrer AnhängerInnen verantwortlich. Die Vorwürfe reichen von „direkt von Chávez angeordnet“ bis hin zu „durch Chávez‘ Diskurs verursacht“.
Ein von Ex-Vizepräsident José Vicente Rangel – zurzeit ist er wieder als Journalist tätig – nach der Aufhebung der Wiederwahlbeschränkung im Februar geforderter Dialog zwischen den politischen Lagern scheint momentan undenkbar zu sein. Zum einen hatte Chávez selbst sich gegen Rangels Vorschlag ausgesprochen, indem er bekräftigte, dass es „keinen Pakt mit der Oligarchie“ geben werde. Zum anderen zeigt sich die Opposition durch ihre frontale Ablehnung sämtlicher Regierungspolitiken noch immer nicht in der Lage, die derzeitigen Kräfteverhältnisse in Venezuela anzuerkennen. Zu einem Dialog oder einer ernsthaften politischen Debatte ist sie somit nach wie vor unfähig.

Liberale Komplizenschaft

So viel Geschlossenheit gab es selten. Der Putsch gegen die Regierung von Manuel Zelaya in Honduras, den die traditionelle Elite am 28. Juni mit Hilfe des Militärs durchführte, wurde weltweit einhellig verurteilt. Währenddessen versuchen wirtschaftsliberale GegnerInnen der fortschrittlicheren Regierungen in Lateinamerika einen Diskurs zu etablieren, der den Putsch nicht beim Namen nennt: Sie stützen die Position der De-Facto-Regierung unter Roberto Micheletti, wonach Zelaya verfassungsgemäß seines Amtes erhoben wurde. Die Fälschung von dessen Rücktrittsschreiben, die Militarisierung von Straßen und ausgewählten Medien oder die Suspendierung von Grundrechten scheinen da nicht zu stören.
Als wichtige Stichwortgeberin fungiert dabei die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung. In neoliberalen Kreisen des Subkontinents spielt sie als Kooperationspartnerin des Liberalen Netzwerkes in Lateinamerika (Relial) eine bedeutende Rolle. Der Mitarbeiter der deutschen Stiftung in Tegucigalpa, Christian Lüth, schrieb in seinem politischen Bericht am 28. Juni, dass Zelaya „mehr Täter als Opfer“ sei: „Seit Monaten provozierte der Präsident die Legislative und die staatlichen Institutionen mit einer nicht verfassungsgemäßen ‚Volksbefragung‘“. Nachdem Zelaya die Meinung der Bevölkerung zu einem Referendum über eine Verfassunggebende Versammlung einholen wollte, blieb „dem Kongress letztendlich keine andere Wahl, sollte eine Rückkehr zu Rechtsstaat und Verfassungsmäßigkeit in Honduras garantiert werden“. In einem späteren Bericht behauptete Lüth, es sei „mehr als fraglich, ob der Machtwechsel in Honduras überhaupt etwas mit einem Militärputsch zu tun hat“. Dieser Eindruck sei im Ausland durch die „ungeschickte“ militärische Aktion gegen Zelaya entstanden. Bestens dokumentierte Informationen über die Einschränkung der Pressefreiheit nach dem Putsch, hatte Lüth in einem Interview mit dem liberalen Blog Antibürokratieteam am 30. Juni als „frei erfunden“ bezeichnet. Gegenüber Springers Welt Online sagte er über die AnhängerInnen Zelayas: „Diese schießen auf die Polizisten, nicht umgekehrt, das hat es so noch nie gegeben; schon längst spekulieren hiesige Medien, dass Agitatoren aus Venezuela und Kuba dahinter stehen“.
Álvaro Vargas Llosa, liberaler Publizist und Sohn des Schriftstellers Mario Vargas Llosa, folgt einer ähnlichen Lesart: „Hinter dem Ganzen steckt offensichtlich Venezuela“, sagte er am 2. Juni dem spanischsprachigen Ableger von CNN. Zelaya habe sich dem „Club des Chavismo“ anschließen wollen und es darauf angelegt „eine militärische Reaktion zu provozieren, die ihn in ein Opfer der Demokratie verwandeln würde“. Der eigentliche Gewinner sei nun Hugo Chávez persönlich, weil er es geschafft habe, international seine Version der Ereignisse durchzusetzen.
Wenngleich derartige Interpretationen momentan Außenseiterpositionen darstellen, ist ihre Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen. Denn mit dieser Argumentation ließe sich aus liberaler Sicht in allen „links-regierten“ Ländern ein Putsch legitimieren, sofern die De-Facto-Kräfteverhältnisse in den politischen Institutionen dafür günstig wären. Schließlich lassen die beteiligten liberalen Akteure seit Jahren keine Möglichkeit aus, um linken Regierungschefs die vermeintliche Missachtung von Gesetzen und Konventionen anzukreiden. Gegenüber dem, was Chávez, Evo Morales oder Rafael Correa an „Autoritarismus und Totalitarismus“ vorgeworfen wird, muten die Beschuldigungen gegen Zelaya geradezu harmlos an. Sie beziehen sich präventiv vor allem auf das, was Zelaya in der Zukunft womöglich vorgehabt haben könnte.
Was die Friedrich-Naumann-Stiftung angeht, so lässt sich dort eine gewisse Enttäuschung über Zelayas Annäherung an linke Regierungen und soziale Bewegungen nicht verbergen. In einem Hintergrundpapier vom April dieses Jahres schrieb Christian Lüth über Zelaya rückblickend: „Sein Wahlprogramm glänzte voller guter Vorsätze und versprach einen genuin liberalen Regierungsstil.“

Signale ohne Wert

Der Argwohn innerhalb der kolumbianischen Regierung sitzt tief. Auch nach der Freilassung von sechs Geiseln – drei Polizisten, zwei Politiker und ein Soldat – in den ersten Februartagen durch die Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) schwor der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe seine Landsleute weiter auf seinen harten Kurs gegen die Rebellen ein. Die Regierung werde trotz der Freilassungen auch weiterhin versuchen, die verbliebenen Entführten durch Armeeoperationen zu befreien und die RebellInnen militärisch in die Enge zu treiben. „Wir sind bereit zum Frieden, aber nicht zur Täuschung. Wir sind bereit für einen Gefangenenaustausch, jedoch nicht zum Erstarken des Terrorismus“, so Uribe.
Die Geschehnisse während des Prozesses der Freilassungen ließen anmerken, dass sich die Regierung als Beobachterin in der zweiten Reihe unsicher fühlte. Die Zivilorganisation Kolumbianer für den Frieden, die sich aus Intellektuellen des Landes zusammensetzt, leitete gemeinsam mit Brasilien als Unterstützerland und dem Internationalen Roten Kreuz IRK die Freilassungsaktion, während die Regierung keine konstruktive Rolle spielte . Schon bei der ersten Freilassung am 1. Februar brachte die kolumbianische Luftwaffe die Übergabe beinahe zum Scheitern. Denn ihre Aufklärungsflüge über dem Gebiet ließen Angst vor der Präsenz regulärer Truppen unter den RebellInnen aufkommen und verzögerten die Übergabe der drei entführten Polizisten und des Soldaten. Verteidigungsminister Santos entschuldigte sich öffentlich für den Zwischenfall, erklärte aber, dass sich die Maschinen oberhalb von rund 3500 Höhenmeter befanden, was als Toleranzbereich ausgemacht worden sei. Dagegen erklärten Vertreter des IRK, dass zuvor absolutes Flugverbot vereinbart worden sei.
Damit wurde deutlich, dass die Regierung den Prozess zu torpedieren versuchte. Denn schon in der gleichen Nacht legte Präsident Uribe nach. Er erkannte der Organisation Kolumbianer für den Frieden ihre Rolle als Vermittlerin ab und erlaubte nur noch Brasilien und dem IRK die Begleitung der noch ausstehenden Freilassungen. Begründung: Allen voran die Gründerin der Organisation, Senatorin Piedad Córdoba, die schon vor eineinhalb Jahren gemeinsam mit dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Freilassungen ermöglichte, sei daran interessiert, den FARC eine „politische Show“ zu gestatten, erklärte Uribe. Ausschlaggebend sei die Präsenz zweier Journalisten gewesen, was die Regierung als „Vertrauensbruch“ seitens der Vermittlungskommission bezeichnete, da sie darüber nicht informiert worden sei. So hatte der Journalist Jorge Botero die Vermittlungskommission im Hubschrauber begleitet und anschließend die Aktionen der Luftwaffe denunziert. Allerdings stellte sich später heraus, dass Botero zuvor um Erlaubnis gefragt hatte und diese auch bekommen hatte.
Außerdem befand sich der Journalist Hollman Morris im Guerillacamp, um RebellInnen und Entführte zu interviewen, was die Regierung als eine von langer Hand geplante Kampagne darstellte, obwohl sie zuvor von der Pressebegleitung informiert worden war.
Zwar erklärte Morris seinerseits, dass er weder von der Ankunft der Vermittlungskommission noch von der unmittelbar bevorstehenden Freilassung seiner Interviewpartner genau an diesem Ort gewusst habe, doch derzeit lässt die Regierung prüfen, ob sie gegen Morris ein Verfahren anstrengt und ihm den staatlichen Begleitschutz aberkennt.
„Hollman Morris verschanzt sich hinter seinem Titel eines Journalisten, um Komplize des Terrorismus zu sein“, erklärte Uribe, der daraufhin prompt von UNO und VertreterInnen der Organisation Amerikanischer Staaten zurechtgewiesen wurde, da seine Äußerungen das Leben des Journalisten in Gefahr brächten. Doch auch die Organisation um Piedad Córdoba ließ Uribe bei seinem Rundumschlag nicht aus: Die FARC hätten eine „intellektuelle Kampffront“ gegründet, die für sie arbeite. Zwar nannte der Präsident die Organisation nicht beim Namen, doch ist klar, dass Uribe auf ebendiese mit seinen verhängnisvollen Anschuldigungen abzielte. Erst auf Druck des IRK und Familienangehöriger von Entführten ließ Uribe von seiner Blockadehaltung ab und gab Córdoba ihr Mandat zur Fortführung der Befreiungen zurück.
Der nächste Eklat folgte am 3. Februar. Der kolumbianische Hochkommissar für Frieden, Luis Carlos Restrepo, wollte verhindern, dass die von Uribe vermutete „politische Show“ innerhalb der Medien eine Fortsetzung findet und verbot der Presse „aus Sicherheitsgründen“ den Zugang zum Flugplatz in der Stadt Villavicencio, wo der entführte Politiker und Ex-Gouverneur Alan Jara erwartet wurde. Selbst die regierungstreuen Kanäle RCN und Caracol nannten das Verbot eine klare Einschränkung der Pressefreiheit, worauf Bogotá seinen Hochkommissar in die Schranken wies. Dieser kündigte seinen umgehenden Rücktritt an und Uribe sollte Tage benötigen, um den gekränkten Restrepo zur Rückkehr in sein Amt zu bewegen.
Unterdessen landete Alan Jara in Villavicencio und sparte nicht mit Kritik an der Regierung. „Die Regierung hat nichts für die Freilassung der Entführten unternommen“, erklärte Jara und versicherte, dass sich die FARC und Uribe gegenseitig nützten. Er rief die Regierung zu einem Gefangenenaustausch auf, der die einzige sichere Möglichkeit sei, die noch verbliebenen Entführten lebend frei zu bekommen.
Am 5. Februar folgte mit Sigifredo López die Befreiung des letzten Politikers in den Händen der FARC. López war der einzige Überlebende aus einer Gruppe von zwölf LokalpolitikerInnen aus Cali, welche die FARC 2001 aus dem Stadtrat im Herzen der Metropole entführt hatten. 2007 erschossen die RebellInnen elf von ihnen, da sie eine Befreiungsaktion der Armee vermuteten, die sich aber schließlich als irrtümliches Gefecht unter zwei FARC-Einheiten herausstellte. Nach der Freilassung von Sigifredo López bleiben neben hunderten „kommerzieller“ Geiseln 22 Militärs und Polizisten in den Händen der FARC, die für einen Gefangenenaustausch gegen inhaftierte RebellInnen in Frage kommen. In einem Kommuniqué erklärte die Guerilla, dass es keine weiteren einseitigen Freilassungen geben wird und ein Austausch an Verhandlungen sowie eine entmilitarisierte Zone geknüpft seien. Piedad Córdoba rief die Rebellen zwar dazu auf, weitere Entführte auf freien Fuß zu setzen, doch damit ist nicht mehr zu rechnen.
Für die Ex-Geisel Luis Eladio Pérez hatte die Freilassung der drei Polizisten, des Soldaten und den letzten zwei Politikern strategische und politische Bedeutung. Der Soldat und die Polizisten seien unter den entführten Sicherheitskräften diejenigen mit dem niedrigsten Rang gewesen, womit nun nur noch Offiziere und Unteroffiziere in Gefangenschaft verbleiben würden, die für einen geforderten Gefangenenaustausch unter Einhaltung internationaler Regeln in Frage kämen. Die einseitige Freilassung lässt sich daher als Versuch der FARC verstehen, ihr international ramponiertes Image aufzupolieren.
Dies wird ihr kaum gelingen: Denn noch während der Freilassungen richteten die RebellInnen vermutlich zwei Massaker unter Indígenas an. Am 4. Februar hatten laut Angaben des linksorientierten Gouverneurs der Provinz Nariño, Antonio Navarro Wolff, RebellInnen der FARC ein Massaker an Indígenas der Awa verübt. „Ich bin absolut sicher, dass es sich bei den Tätern um die FARC gehandelt hat“, erklärte Navarro, der sich auf ZeugInnenberichte bezog. Demnach besetzten RebellInnen eine Siedlung der Indígenas im Bezirk Barbacoas nahe der Pazifikküste und töteten 17 BewohnerInnen, nachdem diese zuvor stundenlang gefoltert worden seien. Die RebellInnen hätten die Indígenas als KollaborateurInnen der Armee bezeichnet und sie wegen fehlender Unterstützung bestraft. Nur drei Tage zuvor soll eine Armeeeinheit durch die Gegend gezogen sein, was als Auslöser der Guerillaaktion vermutet wird.
Kurz nachdem das Massaker bekannt wurde, meldeten die lokalen Behörden und Indígenaverbände ein weiteres: Zehn Awa-Indígenas, die wegen der Morde geflüchtet waren, seien von den Rebellen eingeholt und ebenfalls umgebracht worden. Allerdings konnten bisher keine der Opfer geborgen werden, da die Region mit Landminen kontaminiert ist und seit Jahren sowohl von RebellInnen, neuen Paramilitär-Gruppen und DrogenhändleInnen beherrscht wird. Bereits 2007 sendeten Behörden, welche die Situation der Menschenrechte im Land beobachten, Warnungen vor möglichen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung an die Regierung. Mehr als 60.000 Menschen hätten in der Region inmitten von Gefechten und vermintem Land auszuharren, ohne dass der Staat außer durch mobile Armee-Einheiten Präsenz zeige.
Doch auch nach dem Massaker zeigte die Regierung wenig Verständnis. „Ich glaube, die Awa-Indígenas sind nicht zur Kollaboration bereit, um die Toten zu bergen“, erklärte Verteidigungsminister Juan Manuel Santos, der Armeeeinheiten in die Region sandte. Sollten die Indígenas nicht zu einem Dialog bereit sein, so Santos, könne die Armee nicht deren Rechte schützen. Was die Indígenas strikt ablehnen: Seit Jahren kämpfen sie darum, dass bewaffnete Kräfte nicht ihr Territorium betreten, was auch die Armee einschließt und auf Ablehnung innerhalb der Regierung stößt.
Die Organisation Kolumbianer für den Frieden forderte von den RebellInnen Aufklärung über die „beschämende Tat“: „Das ist weit davon entfernt, Wege hin zum Frieden zu konstruieren“, erklärte Luis Eladio Pérez. „Das Einzige, was es bestätigt, ist der terroristische Geist, der die FARC beherrscht.“ Die Rebellen bekannten sich wenige Tage später zu der Tat, erklärten aber, dass nur acht Indígenas hingerichtet wurden. „Unsere Aktion war nicht gegen Indígenas gerichtet, sondern gegen Personen, die – unabhängig ihrer Rasse, Religion oder sozialen Position etc. – Geld akzeptierten und sich in die Dienste der Armee in einem Gebiet stellten, das Ziel militärischer Operationen ist“, hieß es. Die Beschuldigten hätten zugegeben, die Armee mit Informationen über Rebellenstellungen versorgt zu haben. Eine Indígena-Kommission wollte Ende Februar in das betreffende Gebiet vordringen, um die Leichen zu bergen und um Klarheit über das Ausmaß der Gräueltat zu erhalten. Dagegen nutzte Präsident Uribe die Gunst der Stunde, um seinen Kurs gegen die FARC zu verschärfen. Einen Dialog gäbe es erst dann, wenn die Rebellen alle Geiseln freilassen und von Gewalt und Entführungen Abstand nehmen würden.

//Tommy Ramm

„Es geht nicht mehr darum, die Welt zu verändern“

Leoncia Cartaya wiegt sich in ihrem Schaukelstuhl.Die 69-jährige Lehrerin ist in Matanzas, einer Stadt östlich von Havanna, geboren. Auf die Frage nach ihren Wurzeln antwortet sie mit eine Lächeln: „Meine Familie ist die Quintessenz aus drei Kontinenten: Chinesen, Spanier und Afrikaner. Ich bin einfach Kubanerin.“ Mehr könne sie nicht sagen, in der Familie werde nicht viel darüber gesprochen. In Havanna wohnt sie seit 1961. Der Triumph der Revolution zwei Jahre zuvor hat sie hierher geholt. Leoncia bezeichnet sich als apolitisch: „Die Politik ist sehr kompliziert und ich bin inzwischen zu alt dafür.“
Zwar habe sie 1959 auf die Appelle der neuen Regierung zum Kampf gegen den Analphabetismus reagiert. Aber nicht aus politischer Überzeugung, wie sie betont, sondern weil sie nicht mehr Zuhause wohnen wollte. „Der Kampf gegen den Analphabetismus war aber eine sehr gute Idee“, meint sie, „weil viele Leute damals nicht lesen und schreiben konnten und wir ihnen dies beigebracht haben. Was heute als normal erscheint, war früher nicht so.“ Leoncia hat in Baracoa, im äußersten Südosten der Insel, alphabetisiert. Seitdem ist sie nicht mehr dort gewesen. Eine sehr schöne Erfahrung sei es gewesen, sie war 19 Jahre alt und zum ersten Mal weg von Zuhause. „Die Stimmung in meiner Umgebung war gut. Manche Leute waren nicht mit der neuen Regierung einverstanden, doch die meisten von denen waren Reiche, die Angst vor den Kommunisten hatten, obwohl die Regierung sich erst später als kommunistisch bezeichnet hat“, erinnert sie sich. „Die Armen wie ich haben viel von der Revolution profitiert. Plötzlich hatten wir an anderes Bewusstsein. Man konnte viel mehr machen. Wir hatten den Eindruck, etwas Wertvolles zu machen. Aber seitdem ist viel Wasser den Fluss hinunter geflossen.“ Was dies bedeute, frage ich neugierig. „Na ja, alles ist jetzt anders“, antwortet sie, „einfach anders. Die Zeit verändert alles und Kuba steht nicht außerhalb der Zeit. Oder?“
Sieht man es als Hauptaufgabe für die Jahre unmittelbar nach dem Sieg einer Revolution, eine breite Basis für die anstehenden strukturellen Veränderungen zu schaffen, dann hat die Kubanische Revolution von 1959 diese erste Aufgabe erfüllt. Die politische Führung, die aus dem Guerillakrieg hervorging, erreichte die Mobilisierung der Mehrheit der Gesellschaft, um die politischen, ökonomischen und sozialen Transformationen durchzuführen. Sie zog die öffentliche Meinung auf ihre Seite und erklärte 1961 den sozialistischen Charakter der Revolution. Die Abschaffung des Privateigentums, die Einführung einer neuen Währung und zwei Bodenreformen waren die großen Ergebnisse dieser Epoche. Die Sowjetunion übernahm an Stelle der USA die Rolle als wichtigster ökonomischer Partner Kubas. Die 1960er waren die Jahre von „Patria o Muerte“ (Vaterland oder Tod). Doch die erste, emanzipatorisch geprägte Phase der Revolution lief Ende der 1960er Jahre aus. Es folgte die Institutionalisierung der Revolution.
Die 1970er Jahre waren von neuen sozialen, politischen und ökonomischen Problemen geprägt. Mit Hilfe der Sowjetunion und anderen Mitgliedsstaaten des Ostblocks sollte der Aufbaus des Sozialismus weiter vorangetrieben werden. Doch waren es vor allem Jahre der Machtsicherung und Machtzentrierung. Die Reden an die kubanische Bwvölkerung wenden sich seitdem an das „vereinigte Volk“. In der Rhetorik der Regierung gab es nur Revolutionäre oder Konterrevolutionäre. Diese Dichotomie wurde und wird von großen Teilen der Bevölkerung rezipiert und öffnete der Intoleranz innerhalb der Gesellschaft Tor und Tür. Unter dieser Politik litten besonders Intellektuelle, die als nicht „ausreichend engagiert“ galten. Die Schriftsteller José Lezama Lima und Virgilio Piñera sind zwei sehr wichtige Beispiele dafür. Und obwohl der Diskurs der Revolution sich auf die Maxime der Gleichheit richtete, blieben „Randgruppen“ wie beispielsweise Homosexuelle gesellschaftlich ausgeschlossen. Die Euphorie der ersten Jahre war verflogen und die Luft des Kalten Krieges durchwehte die Straßen Havannas.
Auch aus der Perspektive des 58-jährigen Zimmermanns Francisco Bravo waren die 1970er keine einfachen Jahre. Wie bei vielen Menschen damals machte sich bei ihm eine apathische Haltung breit. Seine Haupterinnerung an diese Zeit bezieht sich auf Arbeit und Privates. Er weiß noch, dass er damals jede Menge Zuckerrohr schnitt und jeden Sonntag Freiwilligenarbeit absolvierte. Seine Frau Manuela arbeitete als Krankenschwester. Sie hatten schon ein Kind und 1978 kam ein weiteres. „Wir hatten Geld, aber es gab nichts zu kaufen. Erst seit dem Eintritt in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe [RGW 1972, Anm. d. Red.] verbesserte sich langsam die Situation“, erinnert Francisco sich.
1980 kam es auf Kuba zur zweiten großen Emigrationswelle seit 1959, die der marielit@s. Die USA öffneten ihre Grenzen für alle KubanerInnen. Vom Hafen El Mariel aus schickte die kubanische Regierung viele ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen GegnerInnen in die USA. Zudem nutzte sie die Gelegenheit, um StraftäterInnen loszuwerden. Cuco ist einer von diesen ehemaligen Gefängnisinsassen. Ich treffe ihn, weil er zu Besuch auf Kuba ist. Er erzählt, wie er eines Morgens in die USA abgeschoben wurde, ohne dass zuvor seine Familie informiert worden sei.
Die Dagebliebenen haben gemischte Gefühle über die 1980er Jahre. Aida Bull beendete 1987 ihr Chemiestudium an der Universität Havanna, inzwischen arbeitet sie in einer Seifenfabrik. „Die 80er Jahre waren toll“, meint sie. Sie habe Arbeit gehabt und sei gut mit ihrem Gehalt ausgekommen. Mit einer Mikrobrigade habe sie sogar ein eigenes Haus gebaut. Ariel Mancebo hingegen, der Wirtschaftswissenschaft studiert hat, ist sich bei der Beurteilung der 1980er Jahre nicht so sicher. Er habe auch eine sichere Arbeitsstelle gehabt, andererseits habe es viel gegeben, das er nicht machen durfte, zum Beispiel reisen oder öffentlich die Regierung kritisieren. Zwar kenne er niemanden, dem wegen Kritik an der Regierung etwas zugestoßen sei, aber es sei ihm wohler, die Gefahr einer solchen Tat gar nicht erst zu provozieren. „Wahrscheinlich sehen wir die 80er so idyllisch, weil die 90er Jahre eine sehr schwierige Zeit waren“, sagt Ariel.
Der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und der Zerfall der UdSSR ab 1989 brachte die kubanische Regierung in der Tat in eine sehr schwierige Lage. Brutal zeigte sich die Abhängigkeit der kubanischen Wirtschaft von der UdSSR und dem RGW. Angesichts der Wirtschaftskrise, von der Regierung als „Sonderperiode in Friedenszeit“ bezeichnet, verliert auch das politische System an Legitimität. Das ganze System scheint zusammenzubrechen. Die Regierung unternahm zahlreiche Maßnahmen, um „den Sozialismus“ zu retten. Mit der Legalisierung des US-Dollars 1993 begann eine neue Epoche der kubanischen Revolution. Seitdem können die KubanerInnen ihre eigenen Geschäfte betreiben, aber nur im Dienstleistungssektor, wie Imbisse, Taxifahren oder die Vermietung ihrer Wohnungen an TouristInnen, was auch vom Staat als neue große Einkommensquelle entdeckt wurde. Die Idee des gestürzten Diktators Batista, Kuba in ein touristisches Paradies zu verwandeln, wurde neu aufgenommen.
In einer Szene des kubanischen Films Madagascar von Fernando Pérez sagt ein Hauptdarsteller, dass die KubanerInnen in den 1990er Jahren zu müde seien, um weiterhin Revolution zu machen und sich stattdessen ausruhen wollten. Viele KubanerInnen tun dies heute in den USA, denn 1994 kam es zu Unruhen und die Regierung genehmigte ein weiteres Mal, dass KubanerInnen auf eigene Gefahr in die USA ausreisen durften. Über die Anzahl der balseros, wie diese Schiffsflüchtlinge genannt werden, gibt es bis heute keine offiziellen Angaben.
Pepe Valdez hat 1996 seine eigene Pizzeria eröffnet. „Dass die Leute inzwischen selbstständig wirtschaften können, ist eine gute Sache. Am Anfang musste ich mich sehr bemühen, es war gar nicht einfach. Meine Frau, mein Sohn und ich haben zusammen ‚La Barriada‘ geschafft“, und er blickt stolz auf seinen Pizzastand. Die Politik interessiere ihn nicht, solange er seine Pizzeria führen könne.
Yusimi Buenavides arbeitet in einem Forschungszentrum, in den 1990er Jahren hat sie an der Universität Havanna Kunstgeschichte studiert. „Meine Eltern hatten damals eine schwere Zeit. Sie mussten jeden Tag aufs Neue etwas zu essen finden. Kleidung wurde immer wieder verwendet“, erinnert sie sich. Ihr Vater habe mit seinem Lada als Taxifahrer gearbeitet und so ein bisschen Geld in den Haushalt gepumpt. Jetzt lacht sie über diese Zeit: „Es war ein bisschen so, als ob die Kubaner ihre selbst verschuldeten Unmündigkeit hinter sich ließen. Wir haben die Welt nicht verändert und sind auch nicht gestorben, sondern wurden in alle Welt zerstreut,“ erzählt sie. „Fast alle Freunde, die ich während des Gymnasiums und der Universitätszeit hatte, halten sich außerhalb Kubas auf. Der Versuch mag schön oder schlecht sein, das hängt immer vom Betrachter ab, aber nun gilt es zu sehen, wohin wir künftig gehen. Ob wir schon was aus den letzten 50 Jahren gelernt haben, müssen wir jetzt beweisen.“
Einen Tag nach dieser Unterhaltung mit Yusimi ist in der offiziellen Parteizeitung Granma zu lesen, dass Fidel Castro schwer krank sei und Raul Castro seine Nachfolge antrete. In den darauf folgenden Tagen gibt es mehr PolizistInnen auf der Straße, aber es kommt nicht zu Unruhen. „Wir sind neugierig, was nun kommt“ sagt Frank, der gerade eine Ausstellung zum Thema „Polizei und Rassismus“ organisiert, die offiziell „¿Colores?“ (Farben?) heißt. Frank ist homosexuell und wohnt mit seinem Freund Jorge zusammen. Sie erzählen, dass es eine Woche zuvor im Kino Astral eine Feier für Toleranz und Zusammenleben gegeben habe. Es sei das erste Mal seit langer Zeit gewesen, dass in der Öffentlichkeit über das Thema Homosexualität gesprochen worden sei. Zwar hätten Filme wie Se Permuta oder Fresa y Chocolate Themen wie Homosexualität und Rassismus behandelt, aber beide seien alt und wären nicht richtig in allen Gruppen der Gesellschaft öffentlich diskutiert worden. Auch die öffentliche Diskussion über Zensur in der Vergangenheit – als Einstieg, um über die aktuelle Situation zu sprechen – , die vor einem Jahr begonnen hat, markiere eine neue Phase. „Das sind Veränderungen“, meint Jorge, „alles andere bleibt gleich. Fidel oder Raúl, sie betreiben die gleiche Politik: an der Macht festhalten. Es geht nicht mehr um das Volk, falls es je darum gegangen ist, sondern um Macht. Ich mache weiter meine Sachen und versuche, mich nicht stören zu lassen.“ Frank ist nicht ganz mit Jorge einverstanden. „Wenn wir alle so denken würden, dann würde nichts passieren“, setzt Frank an, doch Jorge unterbricht ihn: „Aber was soll passieren? Was kann ein unterentwickeltes Land wie das unsere machen?“ Frank umarmt Jorge und antwortet: „Es geht nicht mehr darum, die Welt zu verändern, sondern darum, das Beste für die Kubaner zu schaffen. Und das Beste bezieht sich darauf, die Fehler, die gemacht wurden, zu korrigieren. Dies ist die List der Vernunft.“
Nach einem so intensiven Gespräch habe ich keine Lust mehr, heute noch jemanden zu interviewen. Ich entschließe mich, nach Hause zu fahren. Ich nehme einen Bus, seit einiger Zeit funktionieren sie richtig gut. Die Regierung hat China einige abgekauft. Zum Glück finde ich einen freien Sitzplatz. Jetzt fehlen mir nur noch einige Gespräche mit Fachleuten, denke ich. Dann entsteht vielleicht ein Bild davon, wohin dieses Land steuert. Oder? Nun bin ich mir nicht ganz sicher, dass meine Nachforschungen über die kubanische Situation, nur auf Kuba fixiert, mir Antworten auf die kubanischen Probleme geben können. Vielleicht sind die Probleme Kubas gar keine rein kubanischen? Viele von den Problemen hier findet man auch in anderen Ländern. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Zukunft Kubas und dem internationalen Umfeld? Mein Kopf ist müde. Ich mache morgen weiter. Ich bin eingeschlafen und habe natürlich meine Haltestelle verpasst. Ich wache nur auf, weil eine freundliche Stimme mir sagt:
„Hey! Letzte Haltestelle.“
// P. Alexander

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