Fernsehen als Mittel der Kritik

Am 6. Juli 1988 gewann in Mexiko angeblich der Kandidat der regierenden PRI, Carlos Salinas de Gortari, die Präsidentschaftswahl. Noch am Wahltag wurden Anschuldigungen der Wahlfälschung laut. Obwohl die mexikanische Öffentlichkeit massiv gegen die Wahl protestierte, wurde Salinas ohne weitere Untersuchungen zum Präsidenten erklärt. Die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, berichteten nur sehr eingeschränkt über die Anschuldigungen der Wahlfälschung und die Protestbewegung. In diesem politischen Klima gründete eine Gruppe von JournalistInnen und FilmemacherInnen den canalseisdejulio als unabhängige Produktionsgesellschaft.
Seitdem hat sich canalseis in etwa 60 Dokumentarfilmen vieler Themen angenommen, die andere Medien links liegen ließen oder erst später in ihrer Relevanz und Problematik erkannten. So produzierte canalseis eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen mit NAFTA, mit La guerra de Chiapas eine erste visuelle Analyse des Zapatisten-Aufstands von 1994 und kurz nach der gewalttätigen Niederschlagung der sozialen Bewegungen in Atenco mit Romper el cerco einen der bekanntesten Dokumentarfilme zu dem Thema.
Neben der schnellen Reaktion auf politische Entwicklungen zeichnet sich die Arbeit des canalseis durch die akribische Recherche von historischen Ereignissen aus, die der Zensur zum Opfer fielen, zum Beispiel in Tlatelolco: Las claves de la masacre und Halcones: Terrorismo del estado. Beide Filme präsentieren Analysen von ZeugInnenaussagen und Bildmaterial über die Massaker, die 1968 und 1971 an der mexikanischen Studierendenbewegung verübt wurden.
Durch den Gebrauch von Satire und Farce werden Themen zur Sprache gebracht, deren Behandlung ohne diese Stilmittel nur mit großer Bitterkeit möglich wäre. Zum Beispiel entblößt Democracia para imbéciles („Demokratie für Dummköpfe”) den diskursiven Gebrauch des Wortes „Demokratie” unter der Fox-Regierung, der keine Verbindung zur politischen Praxis aufweist und so zu einer Entwertung des Demokratiebegriffs führt. Der Gebrauch von Satire in diesem und anderen Filmen von canalseis hat die jeweiligen Regierungen oft verärgert, und canalseis ist immer wieder Angriffen und Zensur ausgesetzt gewesen.
Oft wird die Behauptung erhoben, dass canal-seis der PRD nahe stehe und deshalb im täglichen Machtspiel Mexikos klar einzuordnen sei. Tatsächlich versteht sich canalseis in den Worten von Mario Viveros, einem der Angehörigen des Kollektivs, aber als „Aktivist seiner eigenen Unabhängigkeit”. „Innerhalb seiner sehr bescheidenen Möglichkeiten versucht canalseis zu sagen ‚Schau hin, denk nach, versuche zu verstehen, schau was wirklich passiert‘”, sagt Mitbegünder Carlos Mendoza.
Die Position des canalseis hat sich in den letzten 20 Jahren nicht maßgeblich verändert. 2008 wie schon 1988 bemüht sich das Kollektiv um die Unterstützung und Stärkung der Zivilgesellschaft durch zuverlässige Informationen, die ihr die Entwicklung von eigenen Standpunkten ermöglicht.
Der Vorsitzende der Filmschule der UNAM, Armando Casas, bezeichnete canalseisdejulio kürzlich als „praktisch das einzige vertrauenswürdige visuelle Medium, das ein Verständnis der Realität Mexikos der letzten 20 Jahre erlaubt”. Trotz ständiger Unterfinanzierung überlebt die Produtionsgesellschaft durch das Engagement seiner MitarbeiterInnen und die Unterstützung seines Publikums.

Hauen und Stechen um Paraguay

Kurz vor dem Urnengang in Paraguay ist die Stimmung äußerst gespannt. Täglich erscheinen in der Hauptstadt Asunción neue Plakate an Hauswänden oder Inserate in Tageszeitungen, die den politischen Gegner zu diffamieren suchen. Hauptopfer dieser Attacken ist Fernando Lugo, Befreiungstheologe und vormalig Bischof der Region San Pedro. Er kandidiert für das sehr heterogene oppositionelle Parteienbündnis Concertación. Erstaunen müssen die Attacken nicht auslösen, denn in verschiedenen Umfragen liegt Lugo in Führung. Der Neueinsteiger auf der politi­schen Bühne gefährdet damit nichts weniger als die politische Macht der Colorado-Partei, die seit über sechs Jahrzehnten im Lande herrscht, denn für die Präsidentschaft reicht bereits die einfache Mehrheit im ersten und einzigen Wahlgang.
Lugos HauptkonkurrentInnen um das Amt des Präsidenten sind Blanca Ovelar und Lino Oviedo. Ovelar, ehemalige Bildungsministerin des Landes und Kandidatin der regierenden Colorado-Partei, wird vom aktuellen Präsidenten Nicanor Duarte Frutos unterstützt. Lino Oviedo war bis 2005 Mitglied der Colorados und hoher General unter Diktator Alfredo Stroessner. 1989 beteiligte er sich jedoch an Stroessners Sturz. Bis Ende vergangenen Jahres saß Oviedo wegen der Anstiftung zur Ermordung des Vizepräsidenten und eines Massakers an DemonstrantInnen im Jahr 1999 in Haft. Seine Kandidatur wurde erst möglich, nachdem der Oberste Gerichtshof des Landes seine Verurteilung aufgehoben hatte. Präsident Duarte hatte sich für Oviedos Freilassung eingesetzt. Schließlich schwächte die Rückkehr Oviedos Lugos Parteienbündnis Concertación: Oviedos Partei „Nationale Union ethischer Bürger“ und die neoliberale Rechte der Partei Patria Querida („Geliebtes Vaterland“) verließen die Concertación. So hat Duartes Kandidatin statt einem Gegner zwei.
In den Umfragen in Zeitungen Paraguays erhielt Fernando Lugo bisher mit um die 35 Prozent die höchsten Zustimmungsraten. Damit läge er zwischen fünf und zehn Prozent vor den beiden anderen KandidatInnen. Die jüngste Umfrage des kanadischen Meinungsforschungsinstituts Angus Reid Global Monitor sieht für Lugo jedoch nur noch 31 Prozent und einen schwindenden Vorsprung auf Ovelar. In allen Umfragen liegt der Anteil der Unentschlossenen bei etwa zehn Prozent.
Dennoch: Die Reaktionen des amtierenden Präsidenten Nicanor Duarte Frutos auf die Umfragen sind nur noch als krankhaft zu bezeichnen. Laut dem Präsidenten ist die Presse gekauft und nur dazu da, die Colorado-Partei in den Dreck zu ziehen. Überall wittert er Verschwörung, regt sich fürchterlich auf und verliert die Fassung. Dabei schlägt er vor allem gegen Lugo aus. Wenn er sagt, das Bündnis, das Lugo führt, sei „eine pathetische Allianz zum Plündern des Landes“, dann ist das noch eine der harmloseren Formulierungen.
Ihm gleich tut es Lino Oviedo, der in den 1970er Jahren mit dem Plan Condor und somit der Unterdrückung der Opposition beschäftigt war. Auch heute noch macht er keinen Hehl aus seinem Hass auf alles Linke. Kein Tag vergeht, an dem er oder die Jugendorganisation der Colorado-Partei Fernando Lugo nicht zu diffamieren versuchen. Im Januar kleisterte die Coloradojugend das Zentrum Asuncións mit einem Plakat zu, welches Lugo in Guerilla­uniform im Dschungel zeigt und ihn als FARC-Botschafter in Paraguay bezeichnet. Im März erschien ein Inserat von Oviedos Partei UNACE in allen Tageszeitungen, das Lugo zusammen mit dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und dem bolivianischen Staatsoberhaupt Evo Morales zeigt. Auf der anderen Seite ist Lino Oviedo mit Cristina Kirchner und Luiz Inácio „Lula“ da Silva zu sehen – also den so genannten moderaten Linken unter den Präsidenten Südamerikas. Ein Präsident Lugo, so prophezeit Oviedo in der Wahlwerbung, werde Armut, Kapitalflucht, Zensur, Arbeitslosigkeit und fehlende Rechts­sicher­heit bedeuten. Sich selbst präsentiert er als Garanten für eine unabhängige Presse, freie Meinungsäußerung, Vertrauen und Investitionen sowie den Respekt vor der Verfassung.
Lugo ist aber nicht nur Feindbild, er wird auch instrumentalisiert. Mitte März hatte er seine Wahlkampftour im Departement Canindeyú wegen schlechter Witterung und angeblichen Morddrohungen abgebrochen. Daraufhin war es wiederum Lino Oviedo, der am 28. März in der paraguayisch-amerikanischen Handelskammer vor die Presse trat, um einen angeblichen Attentatsplan der Coloradopartei gegen Lugo aufzudecken. Laut Oviedo wollten die Colorados, verzweifelt wegen der schlechten Umfragewerte, ihren Hauptkonkurrenten Lugo aus dem Weg räumen und dann ihn, Oviedo, dieses Mordes beschuldigen, um ihn aus dem Rennen zu werfen. Somit wäre die Bahn frei für Blanca Ovelar. Die Colorados und auch Fernando Lugo wiesen die Äußerungen des Ex-Generals als Hirngespinste zurück. Im gleichen Atemzug aber ließen sie sich die Gelegenheit nicht entgehen, auf die Verwicklung Oviedos in die Ermordung des paraguayischen Vizepräsidenten Luis María Argaña von 1999 hinzuweisen.
Mindestens ein tödliches Attentat mit politisch-mafiösem Hintergrund ist im Wahlkampf schon geschehen. Ende Februar wurde in der Siedlung San Antonio im südlichen Departement Caazapá der 32-jährige Geraldino Rotela Miranda erschossen und sein Bruder Emanuel schwer verletzt. Sie waren als Basisaktivisten der Bewegung Tekojoja, die Lugo unterstützt, mit einem Motorrad auf Wahlkampftour, als aus dem Hinterhalt auf sie geschossen wurde. Geraldino hatte viele Feinde, denn er zeigte den illegalen Holzhandel und die Korruption in der Region an. Außerdem engagierte sich der Lehrer stark für die sozial Ausgeschlossenen. Vor seinem Tod hatte er sich mehrmals beklagt, dass die mafiösen Strukturen seine Arbeit erschwerten. Wegen des Mordes verhaftet wurde bisher niemand. Die Straflosigkeit ist integraler Bestandteil des Systems.

Der amtierende Präsident Duarte wittert überall Verschwörungen und verliert darüber häufig auch die Fassung.

Die Opposition warnt seit Monaten vor massivem Wahlbetrug auf verschiedenen Ebenen. Zunächst gibt es eine groß angelegte Kampagne unter den Staatsangestellten. Auf zwei SteuerzahlerInnen kommt in Paraguay ein staatlicher Beamter. Der Staat ist Selbstbedienungsladen der Colorado-Partei und deshalb sind seine Bediensteten dazu angehalten, Mitglieder der Partei zu sein, für sie zu werben und zu stimmen. Wer das nicht will, läuft Gefahr, dass er selbst oder seine Familie ihre Arbeit verlieren. Gibt es offizielle Wahlveranstaltungen mit Blanca Ovelar in einer Stadt, werden die dort angestellten LehrerInnen und das Pflegepersonal der Krankenhäuser gezwungen, hinzugehen und zu jubeln. Die Partei führt Anwesenheitslisten. Laut Medienberichten bekommen die Staatsangestellten nur noch einen Teil des ihnen zustehenden Lohnes ausbezahlt, der Rest geht in die Wahlkampfkasse der Colorado-Partei.
Auch das offizielle Wahlregister bevorzugt die Colorados. Das beginnt bei der Einschreibung: Die lokalen Sektionen kennen alle Jugendlichen in jedem Viertel, denn sie verfügen über ein Informationsnetz, das jeden Geheimdienst blass aussehen lässt. Steht ein Jugendlicher kurz vor dem 18. Geburtstag, klopfen auch schon die BeamtInnen vom Wahlregister an seine Tür und bieten ihm an, sich um die Bürokratie zu kümmern. Für viele oppositionelle Jugendliche wird die Einschreibung zum sehr ermüdenden Hindernislauf. Dank der vielen Informationen über die BewohnerInnen der Viertel kennen die Colorados die Bedürfnisse und Notlagen der betreffenden Familien und beginnen Versprechen und Angebote zu machen, wenn sie „richtig“ wählen. Außerdem gibt es im Wahlregister zahlreiche Verstorbene. Von den 400 Toten einer Brandkatastrophe im Supermarkt Ykua Bolaños 2004 dürfen 39 noch immer wählen.
Am Wahltag schließlich stehen die Colorados mit ihren Geldscheinen vor den Wahllokalen und kaufen ganz offen Stimmen. In einem unteren Mittelklasseviertel in Asunción kostet eine Stimme etwa drei Dollar. Darüber ist am Wahltag auch die Präsenz von BeobachterInnen an den Auszählungstischen einschüchternd. Viele oppositionelle Stimmen werden von anwesenden Colorados einfach als ungültig erklärt.
Dank dieser Betrügereien könnte es Blanca Ovelar doch noch schaffen, Fernando Lugo zu überrunden. Angeblich gibt es Pläne, die zeigen, dass Kräfte von Polizei und Militär massiv zusammengezogen werden, um Proteste gegen Wahlfälschungen zu unterdrücken. Einige ParaguayerInnen beginnen schon, vor dem 20. April einen größeren Lebensmittelvorrat anzulegen.

„Die Frage der Revolution, wurde 1968 nicht gestellt!”

n deinem Buch Memoria Roja (Rotes Gedächtnis) schreibst Du an einer Stelle: „Zu 68 zurückkehren. Wie viele Male? Bis wann? Aus welchen neuen Perspektiven?“ Was ist für dich als Historiker und Aktivist die Bedeutung von 68 heute und warum und wie sollte man heute zu 1968 „zurückkehren“?
Ich glaube, dass es immer wichtig ist, zu 68 zurückzukehren. 68 zu denken und ins Gedächtnis zu rufen, sollte eine kritische Losung sein, aber keine mediale und wahltaktische, zu der sie im Wahlkampf 2000 verkommen ist. Es war der Präsidentschaftskandidat der Rechten, Vicente Fox, der damals seine Ansprache in der ersten Fernsehdebatte mit einem Diskurs eröffnete, in dem er die 68er anerkannte, den Kampf von Rosario Ibarra [eine der sichtbarsten AktivistInnen der Angehörigenbewegung der Verhaftet-Verschwundenen in Mexiko, Anm. d. Red.] würdigte, und anfing, von den Verbrechen des so genannten Schmutzigen Krieges zu sprechen. Es war erniedrigend zu beobachten, wie die Rechte die Losungen und Symbole der Linken raubte und die Linke regungslos blieb.

Ist die Studierendenbewegung von 68 Teil des Staatsdiskurses geworden?
40 Jahre nach 1968 laufen wir Gefahr, dass der Staat und seine organischen Pseudointellektuellen sowie die großen Fernsehkanäle wie Televisa einen historischen Markstein in einen billigen Diskurs der mexikanischen Rechten und in ein Fernsehprodukt verwandeln.
Zugleich ist die Zahl der Toten des 2. Oktober 1968 weiterhin unaufgeklärt und der damalige Innenminister Luis Echeverría wurde 2007 von der Verantwortung für das Massaker freigesprochen. Wie wichtig ist das Thema Gerechtigkeit in der Debatte um 68 heute?
Ich bin überzeugt davon, dass die Gesellschaft ihr historisches Urteil über die Mörder und Unterdrücker gefällt hat. Die Menschen haben nicht vergessen. Sehr wenige Personen würden heutzutage das Massaker, die Repression und die Verhaftungen rechtfertigen. Trotzdem glaube ich auch, dass heute eine Haltung der kollektiven Resignation vorherrscht, was das Thema Gerechtigkeit angeht. Als der Oberste Gerichtshof 2007 Luis Echeverría von der Anklage auf Völkermord und von Verantwortung an dem Massaker freisprach, gab es keine Demonstrationen, keinen kollektiven Aufschrei. Auf den Protestveranstaltungen sind wir immer die selben, es sind nichts als isolierte Schreie der Veteranen. Mir kommt es so vor, als bestehe die Jugend heute nicht auf die Forderung nach Gerechtigkeit. Zugleich scheint sie mir aber interessiert daran zu wissen, was passiert ist.

In der Wissenschaft wird die Studierendenbewegung und die blutige Niederschlagung am 2. Oktober 1968 oft als das Megaereignis in der Geschichte des PRI-Staates bezeichnet, das ein vorher und nachher markiert. Was halten Sie von dieser Interpretation?
Ich habe mich immer geweigert, 68 als einen Wendepunkt zu betrachten. Meine 68er Freunde, die sich oft als der Nabel der Geschichte vorkommen, attackieren mich dafür. Ich will 68 nicht klein reden. Doch 68 als den Wendepunkt und die Stunde Null des Aufbegehrens gegen den Autoritarismus des PRI-Regimes zu begreifen, heißt zu vergessen, dass es eine Eisenbahnerbewegung 1958 geben musste, damit ein 68 möglich war. Und um ein 58 zu ermöglichen, musste es 1948 einen Lehrerstreik gegeben haben. 68 ist wichtig, weil es sich sicherlich um eine breit verankerte studentische Bewegung handelte, welche die Strukturen der Macht erschüttert hat. So wie dies die Protestbewegungen 1948 und 1958 zu ihrer Zeit auch taten.

Was ist der Unterschied zwischen den Protestbewegungen vor 68 und der Studierendenbewegung?
Der liegt vor allem darin, dass 68 ein größeres historisches Echo hatte und es deshalb zu dem besagten Wendepunkt hochstilisiert wurde. Diese Interpretation ist Ausdruck einer typischen Fixiertheit auf die Hauptstadt. Wir sind ein verdammt zentralistisches Land. 123 Tage Studierendenprotest 1968 in der Hauptstadt – und die ehemaligen Protagonisten wollen das Subjekt und Motor der mexikanischen Geschichte sein. Nicht zuletzt die Tatsache, dass auch in Universitäten der Provinz gestreikt wurde, fällt so unter den Tisch.

Du schreibst, dass diese ewige Rückkehr zu 1968 auch dazu beigetragen hat, dass andere Geschichten des Widerstands im Dunkeln bleiben. An welche denkst du da?
Außer an die Lehrer- und Eisenbahnerbewegungen, denke ich dabei auch an die bewaffnete Agrarbewegung von Rúben Jaramillo, die 1943 im Bundesstaat Morelos entstand. Ich denke hier auch an die verschiedenen anderen bewaffneten Gruppen, die sich Ende der 50er und vor allem in den 60er Jahren gründeten, wie etwa die Populare Guerillagruppe GPG in Chihuahua, die 1965 die Militärkaserne in Ciudad Madera überfiel, aber auch an bestimmte studentische Gruppen, die anfingen über einen bewaffneten Kampf nachzudenken, sowie an die Guerilla von Genaro Vázquez und Lucio Cabañas im Bundesstaat Guerrero. Das sind nicht nur verschüttete Geschichten, sondern zum Teil auch parallele Geschichten zu der 68er-Bewegung.

Warum parallel?
Wir sind nicht ein Mexiko, wir sind viele Mexikos. Der Stadtbewohner interessiert sich nur selten dafür, was auf dem Land passiert. Ende der 50er Jahre und in den 60er Jahren interessierte es die Studierenden nicht, ob die Eisenbahner streikten oder nicht, genauso wie es auch die Eisenbahner nicht interessierte, ob die Studierenden streikten oder nicht. Die mexikanische Gesellschaft ist sehr segmentiert entlang sozialer Klassen und „Kasten“. Wenn es darum geht, Gerechtigkeit oder Gesetzesherrschaft einzufordern, dann machen die Leute nur mit, wenn es sich um ihre eigene Berufsgruppe, um ihre Clique oder Familie handelt. Aufgrund dieser Logik blieb die Eisenbahnerbewegung isoliert, genauso wie die der Lehrer. Die Studierendenbewegung hatte ein bisschen breiteren Charakter, weil die Eltern schließlich in Unterstützung der Jugendlichen handelten. Aber es gab keine realen Verbindungen zur Gewerkschaftsbewegung, die allerdings auch über die CTM [mexikanischer Gewerkschaftsverband, Anm. d.R.] und verschiedene Organismen der sozialen Kontrolle in die korporativen Strukturen des Staates eingebunden war. Auf diese Weise konnte der Staat am 2.Oktober 1968 die Studierenden niederknüppeln, ohne dass die Arbeiter auf die Straße gingen, um die Studierenden zu verteidigen. Auf diese Weise konnte die Regierung 30.000 Soldaten nach Guerrero schicken, um eine kleine Gruppe von bewaffneten Bauern unter der Führung von Lucio Cabañas zu jagen, ohne dass Studierenden oder Arbeiter protestierten.

Aber Guerilla und Studierendenbewegung haben sich doch gegenseitig wahrgenommen….
Ja, das stimmt. Sicherlich haben Lucio Cabañas und Genaro Vázquez und die radikale Jugend von damals sehr aufmerksam die Studierendenproteste in der Hauptstadt verfolgt. Aber sie kritisierten die „kleinbürgerliche“ und „chaotische“ Haltung der Studierenden, denn sie waren sehr radikal und zielten auf den Sturz der Regierung. Und die Studierenden sahen in ihnen verrückte Bauern, die nicht ganz dicht waren, zu den Waffen zu greifen. Alle jene 68er, die später begannen, unabhängige Gewerkschaften zu organisieren, standen der Guerilla enorm kritisch und ablehnend gegenüber. Die Stadtguerilleros waren in den Augen der 68er kranke, verrückte Leute. Die 68er waren auch zu Recht kritisch. Denn wenn die Studierenden in Fabriken versuchten, die Bildung unabhängiger Gewerkschaften zu organisieren und dann die Guerillagruppen kamen, um ihre Zeitung Madera zu verteilen, war das der perfekte Anlass für die Polizei, in die Fabriken anzurücken und die Studierenden zu vermöbeln – die Guerilleros hatten sich längst wieder aus dem Staub gemacht.

Welche Rolle spielte die brutale Repression der Studierendenbewegung für die Entstehung der urbanen Guerillas Anfang der 1970er?
Nur minimal. Es gab Jugendliche, die sich nach dem Massaker von Tlatelolco radikalisierten, aber das waren wenige. Die radikalen Jugendlichen waren schon vor 68 radikalisiert. Die Anführer der urbanen Guerillas sind in der großen Überzahl weder ehemalige Führungsfiguren noch Aktivisten der 68er Bewegung. Im Gegenteil, die Repression der Studierendenbewegung hat nicht zu einer breiten Radikalisierung geführt, sondern als eine Art Impfstoff gegen die Radikalisierung und gegen die Entstehung von Guerillas gewirkt. Stattdessen gab es in den 70ern einen Boom der unabhängigen Gewerkschaften. Viele Ex-68er sind auch in die Wissenschaft gegangen oder haben woanders Zuschlupf gefunden, aber nicht bei den Waffen.

Die Meinungen bezüglich des politischen und ideologischen Charakters der Studierendenbewegung gehen auseinander. Carlos Monsiváis hat sie die erste Massenbewegung mit demokratischer Orientierung genannt, andere Veteranen sprechen ihr libertär-revolutionären Charakter zu…
Die 68er Studierendenbewegung hat die Frage der Revolution nicht gestellt, genauso wenig wie die des Sozialismus oder des Sturzes der Regierung von Díaz Ordaz. Der Forderungskatalog der Studierenden bestand aus Minimalforderungen. Die weit gehendste Forderung war die Abschaffung des Straftatbestandes der berühmten „kriminellen Vereinigung“. Ansonsten lauteten die Forderungen, dass lediglich ein beschissener Polizeichef zurücktreten und die Verletzten eine Wiedergutmachung erhalten sollten. Historisch am bedeutsamsten war vielleicht die Schaffung eines Bewusstseins darüber, dass es in Mexiko politische Gefangenen gibt – denn die Regierung stritt dies ab. Das Konzept des politischen Gefangenen und die Forderung nach seiner Freilassung ist 68 maßgeblich geprägt worden.

Wie kann man die Bewegung dann begreifen?
Es handelte sich um studentische Solidarität angesichts eines Aktes der Ungerechtigkeit, um das chaotische Aufbegehren der 60er Jahre-Jugend aufgrund einer repressiven Tradition, die bis in die Familien reichte. Es ging um eine Hippie-Haltung, um bunte Kleidung, lange Haare, Gras rauchen, um Rockmusik hören, weil das zu Hause verboten war. Die 68er-Bewegung kann man nicht auf ihre sozialen und politischen Forderungen reduzieren, weil diese dazu noch dümmlich und minimalistisch waren. Es war eher eine große bunte fiesta, ein Protest gegen den Konservatismus der mexikanischen Gesellschaft. Deswegen sage ich auch, dass es nur wenige 68er waren, die aus der Repression der Studierendenbewegung den Schluss zogen, dass der einzige Weg die Strukturen des politischen Systems zur transformieren, der bewaffnete Kampf war, weil die 68er nie vorhatten, diese Strukturen radikal zu transformieren.
Im 2007 eingeweihten 68er-Museum der UNAM in Tlatelolco gibt es ein Eingangsstatement, in dem die Studierendenbewegung in einem Kampf für Demokratie und Menschenrechte verortet wird…
Das ist der letzte Blödsinn. Heute wird der 68er Bewegung zugeschrieben der Motor der Demokratisierung dieses Landes gewesen zu sein. Daraus wird wiederum geschlossen, sie hätte damals schon für die Sache der Demokratie gekämpft. Die Ex-68er sehen sich heute als die Erfinder der Demokratisierung, die Urheber der politischen Reform von 1978 [die Reform beinhaltete die Zulassung der linken Opposition zu den Wahlen und eine Amnestie für politische Gefangene; Anm. d. Red.]. Auf welchen Oppositionskandidaten hätten sie 1968 für die Wahlen 1970 setzten können? Die 68er forderten nicht Demokratie. Das ist eine Überdimensionierung der Bewegung. Im Mexiko von 68 existierte noch nicht die Euphorie über die Möglichkeit einer starken Opposition.

Aber Demokratie meint ja auch nicht nur freie Wahlen…
Aber sie forderten auch keine demokratischen Wahlen in den Gewerkschaften. Sie forderten noch nicht einmal eine Universitätsreform, die es erlaubt hätte, dass die Studierenden ihren Rektor wählen, so wie das die Studierenden 1961 in Puebla erfolgreich durchsetzen konnten. 1968 existierte in Mexiko nicht einmal der Begriff „Menschenrechte“. 68 ist nicht der Wunderbrunnen, aus dem alles entspringt: die Menschenrechte, die Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die Pressefreiheit…

Wie würdest du dann die historische Bedeutung der Studierendenbewegung beschreiben, wenn das alles nicht ihr Beitrag war?
Die Sache ist, dass es nicht ihr Beweggrund war. Aber sicherlich hat die Studierendenbewegung auch einen Teil zur Demokratisierung und zur politischen Öffnung beigetragen, so wie das auch die Guerilla, die unabhängige Gewerkschaftsbewegung und die Bewusstseinsbildung vieler gesellschaftlicher Sektoren getan hat. Die Geschichte ist kein linearer Strohhalm, sie ist ein Kreislaufsystem mit vielen Venen und Arterien. Und 68 ist darin auch nicht das Herz dieses Systems.

Kasten
Fritz Glockner
Fritz Glockner Corte, geboren 1962 in Puebla, ist schon seines Alters wegen kein Alt-68er. Sein Vater schloss sich der Guerilla Nationale Befreiungsfront (FLN) an und kam bei einer bewaffneten Auseinandersetzung in den 1970ern ums Leben. Seit zwei Jahrzehnten forscht der Historiker und Schriftsteller Fritz Glockner zur Geschichte der bewaffneten Bewegung in Mexiko. Er hat mehrere Romane und historische Studien veröffentlicht. 2007 erschien Memoria Roja. Historia de la guerilla en México (1943-1968). Derzeit schreibt er an einem Fortsetzungsband.

Kritik? Nein Danke!

Mexiko ist ein gefährliches Land für JournalistInnen. Viele von ihnen wurden in den letzten Jahren verfolgt und ermordet (siehe LN 403). Vor allem Mitarbeiter lokaler oder kleinerer Medien verloren ihr Leben, weil sie unabhängig berichteten. In diesem Klima der Angst sind Zensur und Selbstzensur an der Tagesordnung.
Mit der Entlassung der bekannten Journalistin Carmen Aristegu hat die Repression gegen Medienmacher eine neue Dimension erreicht. Aristegui ist eine der renommiertesten Medienvertreterinnen des Landes. Für ihre Arbeit hat sie zahlreiche mexikanische und internationale Auszeichnungen erhalten, zuletzt 2006 den Onda-Preis von Radio Barcelona in der Sparte lateinamerikanische Nachrichtensendung.

Aristeguis journalistisches Schaffen ist von Seriosität, Regelmäßigkeit und Engagement geprägt, was ihr auch über ideologische Grenzen hinweg Anerkennung eingebracht hat. Auch wenn sie nicht für Medien arbeitet, die traditionell als links gelten, stellt sie als eine der wenigen kritischen Journalistinnen den politischen Machthabern unangenehme Fragen und deckt Zusammenhänge auf.
Sie schreibt für die großen Tageszeitungen El Universal und Reforma und moderiert das kritische Interviewmagazin Aristegui für die spanische Ausgabe von CNN. Zudem war sie in verschiedenen großen Radiostationen tätig. Zuletzt und bis vor kurzem moderierte sie die Nachrichtensendung „Hoy por hoy“ auf W Radio, für das sie auch den Onda-Preis bekam. Am 4. Januar dieses Jahres verabschiedete Aristegui sich nach fünf Jahren plötzlich von dem Morgenprogramm. Offizieller Grund für ihren Abgang war laut W Radio eine „redaktionelle Unvereinbarkeit“ zwischen der Journalistin und dem Sender. Doch die wahren Gründe haben damit zu tun, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten Mexikos versuchen, Kontrolle über die Medien auszuüben.

Gerade als Aristeguis Sendung mehr HörerInnen hatte als je zuvor, entschied W Radio, ihren Arbeitsvertrag nicht automatisch zu erneuern, wie es der Sender bislang stets getan hatte. In ihrer letzten Sendung erklärte die Journalistin, W Radio habe einige Klauseln ändern wollen, um künftig inhaltliches Mitspracherecht bei ihren Sendungen zu haben. Sie habe dies aus berufsethischen Gründen abgelehnt.
In den letzten Jahren hatte Aristegui mit ihrer vierstündigen Morgensendung nicht nur Erfolg gehabt, sondern auch zur Aufklärung einiger dramatischer Fälle von Machtmissbrauch beigetragen. Obwohl es den Interessen ihres Unternehmens zuwiderlief, kritisierte Aristegui die inzwischen teilweise als verfassungswidrig erklärten Gesetzesreformen, die als „Ley Televisa“ bekannt sind. Die 2006 verabschiedeten Veränderungen konsolidieren das Monopol von Televisa und TV Azteca, die den Fernseh und Radiomarkt in Mexiko fast vollständig unter sich aufteilen. Aristegui deckte weiterhin den Fall Zongolica auf: Eine Indigena aus Veracruz war von Angehörigen der mexikanischen Armee vergewaltigt und ermordet worden worden. Mit dem selben Engagement verfolgte die Journalistin den Fall ihrer Kollegin Lydia Cacho, die nach Aufdeckung eines Kinderpornorings, in den hohe Politiker verstrickt waren, vorübergehend festgenommen worden war (Vgl. LN 380 u. 403). Nicht zuletzt hatte sie in ihren Sendungen mehrmals dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel Lopez Obrador ein Forum geboten, der ansonsten von den großen Medien weitgehend boykottiert wurde und wird.

Aristegui deckte einige dramatische Fälle von Machtmissbrauch in Mexiko auf.

Aristeguis ehemaliger Arbeitgeber W Radio ist Teil der Radiokette Radiopolis, das zu 51 Prozent dem mexikanischen Medienkonzern Televisa und zu 49 dem spanischen Unternehmen Grupo Prisa gehört. Radiopolis wiederum besitzt über 90 Prozent der Radiosender, die landesweit zu empfangen sind. Andere vergleichbare Informationsquellen gibt es also kaum.
Daniel Moreno, Direktor von W Radio, nannte „redaktionelle Differenzen“ als Grund für Aristeguis Entlassung. Worauf diese beruhen, ist nachzuvollziehen, wenn man sich die Interessen der großen Medienunternehmen vor Augen führt. Natürlich will Televisa keine kritische Berichterstattung über Gesetze, die seiner Vormachtstellung in der mexikanischen Medienlandschaft zu Gute kommen. Zweiter entscheidender Akteur ist Grupo Prisa, eines der wichtigsten spanischen Medienunternehmen. Es besitzt unter anderen die spanische Tageszeitung El País und ist Miteigentümer der französischen Le Monde, beides Medien, die eigentlich eher der Linken zugerechnet werden. Die Redaktionsrichtlinien von El País geben vor, sich jeglichem Druck von Interessensgruppen zu widersetzen: „Die Unabhängigkeit und Freiheit von Manipulation der Nachrichten sind eine Garantie für die Rechte der Leser, deren Schutz das höchste Gut der redaktionellen Arbeit darstellt.“
Der Politologe Jorge Zepeda beschreibt in der mexikanischen Tageszeitung El Universal, wie Prisa bis 2006 dafür gesorgt hatte, dass auch gegen Widerstände von Televisa gute, kritische Berichterstattung über die Sender ging. Mit dem Amtsantritt Felipe Calderons habe sich das geändert, so Zepeda.

In einem Interview in der mexikanischen Zeitschrift Proceso erklärte Aristegui ihre Entlassung damit, dass Grupo Prisa aus Gründen, die noch aufgeklärt werden müssen, dem Druck von Televisa nachgegeben habe. Prisa verteilt in Mexiko Posten, wahrscheinlich, um sich wirtschaftliche Vorteile zu sichern – das Unternehmen ist inzwischen zum größten Herausgeber staatlicher Schulbücher geworden, ein Millionengeschäft. So wurde der Schwager von Präsident Felipe Calderón, Juan Ignacio Zavala, Vizedirektor des mexikanischen Prisa-Tochterunternehmens und Geschäftsführer der internationalen Ausgabe von El País. Er bestreitet, irgendetwas mit der Personalpolitik des Radiosenders zu tun zu haben. Doch laut Zepeda war er verantwortlich dafür, dass Daniel Moreno seinen Job bekam. Und Moreno gehe seither systematisch gegen kritisches Denken bei W Radio vor.
Nach ihrer Entlassung stellten sich Teile der Zivilgesellschaft, JournalistInnen und Intellektuelle sofort hinter Aristegui. Jorge Zepeda betonte Aristeguis Rolle als Vertrauensperson für die MexikanerInnen: „In einer Gesellschaft, der jegliche Glaubwürdigkeit fehlt und deren Institutionen (…) sich in einer chronischen Krise befinden, ist Carmen Aristeguis untadeliger Ruf ein soziales Kapital.“
Dank dieses Medienechos bietet Aristeguis Entlassung auch Chancen. Sie hat in Mexiko eine überfällige Debatte entfacht: über die mangelhafte Demokratie und die einseitige ideologische Ausrichtung der großen mexikanischen Medienunternehmen, die die Meinungsfreiheit zutiefst verletzen.

Mexikanische Medien im Krieg

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit erklärte die Organisation Reporter ohne Grenzen im Jahr 2006 Mexiko zum zweitgefährlichsten Land für MedienarbeiterInnen. Übertroffen wurde es darin nur vom Irak, in dem offener Krieg herrscht. Von 2000 bis 2006 wurden in Mexiko 31 MedienarbeiterInnen ermordet. Allein in diesem Jahr gab es bereits 15 Todesopfer, fünf weitere Personen wurden entführt und sind bis heute spurlos verschwunden. Mehr als hundert Übergriffe auf Presse-, Rundfunk- und FernsehreporterInnen hat die mexikanische Menschenrechtskommission seit Januar dokumentiert: Morddrohungen, Einbrüche, Entführungen, tätliche Angriffe. Doch die Behörden klären nur weniger als ein Prozent der angezeigten Fälle auf.
Die jüngsten Angriffe und Todesfälle ereigneten sich am 8. Oktober im Bundesstaat Oaxaca. Dort erschossen schwerbewaffnete Unbekannte am helllichten Tag drei Mitarbeiter der Zeitung Imparcial del Istmo. Kurz darauf erhielten die Journalisten Felipe Ramos Cruz und Carlos Domínguez Monroy einen Anruf: „Ihr seid die Nächsten“, drohten ihnen Unbekannte. Seit der Imparcial vor einigen Monaten begonnen hatte, über organisiertes Verbrechen, Drogenhandel und Korruption in Oaxaca zu berichten, war die Redaktion zum Ziel regelmäßiger Drohanrufe geworden.
So etwas kennt man sonst vor allem aus dem Norden des Landes, den traditionellen Machtzentren der mexikanischen Drogenkartelle. Über den aktuellen Verteilungskrieg der Drogenhändler und deren polizeiliche und politische Komplizen zu berichten, ist eine heikle Angelegenheit. „In 60 Prozent der Fälle haben die Verbrecher Kontakte zur Polizei, sie ist unterwandert vom Drogenhandel“, berichtet Alfredo Méndez Ortiz, Redakteur der linken Tageszeitung La Jornada. So kann man schnell auch zur Zielscheibe von korrupten Beamten werden. Diese greifen MedienarbeiterInnen noch häufiger an, seit Mexikos Präsident Felipe Calderón Polizei und Militär in einen aussichtslosen Kampf gegen die bestens ausgerüsteten Narco-Kartelle geschickt hat. So ist in vielen Regionen ein normales journalistisches Arbeiten nicht mehr möglich, Selbstzensur greift um sich. Manche Redaktionen müssen zeitweilig auch schließen, wie die der Lokalzeitung Cambio Sonora aus Hermosillo, nachdem zwei Bombenanschläge auf sie verübt worden waren.
Die Gouverneure der einzelnen Bundesstaaten scheinen nicht nur unfähig und nicht willig, für Schutz zu sorgen, sie greifen auch gerne selbst zu rabiaten Mitteln. Das musste die Journalistin und Buchautorin Lydia Cacho am eigenen Leib erfahren, nachdem sie 2004 ein Buch über die Verstrickungen hoher politischer und wirtschaftlicher Persönlichkeiten in einen internationalen Kinderpornoring veröffentlicht hatte. Kurz darauf ließ sie der Gouverneur von Puebla, Mario Marín, unter fadenscheinigen Gründen ins Gefängnis werfen. Letzte Woche entschied der Oberste Gerichtshof, hinter der Festnahme stecke keine direkte Verantwortung des Gouverneurs, obwohl eindeutige Mitschnitte eines Telefonats das Gegenteil beweisen.
Auf der Ebene der Bundesregierung läuft es nicht besser. So hält die Generalstaatsanwaltschaft im Fall Brad Will bis heute an der Version der Ermittlungsbehörden unter Oaxacas autoritärem Gouverneur Ulises Ruiz fest. Diese machen Mitglieder der Volksversammlung von Oaxaca, APPO, für den gewaltsamen Tod des Indymedia-Kameramanns im Oktober 2006 verantwortlich. Dabei zeigen Foto- und Filmaufnahmen eindeutig, dass Brad Will von einer Gruppe klar identifizierter lokaler Polizei- und Stadtverwaltungskräfte gezielt erschossen wurde.
Auch die 2006 geschaffene Sonderkommission zur Bearbeitung von Verbrechen gegen JournalistInnen, brachte bisher keine Wende. Wie auch, fragt sich nicht nur Dario Ramírez von der NGO Article 19, die sich international für Pressefreiheit einsetzt. „Die Sonderkommission … ist ein Feigenblatt. Selbst mein kleines Büro hier in Mexiko-Stadt hat ein größeres Jahresbudget als die gesamte Behörde. Und wir reden von nicht mal 200.000 US-Dollar.“
Bei der Sonderkommission scheint man Fälle zu lösen, indem man sich schlicht für „nicht zuständig“ erklärt und die Akten an andere Instanzen weitergibt. Nicht eine einzige Anzeige wurde bisher aufgeklärt. Und als im Juli 2007 verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen, unter anderem Article 19 und das Centro Nacional de Comunicación Social, CENCOS, vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in Washington vorsprachen, glänzte die Sonderkommission durch Abwesenheit. Am Ende versprach die Regierung dennoch, mehr für die Pressefreiheit tun zu wollen. Doch darauf, so die einhellige Meinung vieler, wird man lange warten müssen, vielmehr werde sich die Lage noch verschlechtern. „Zu Zeiten der PRI-Diktatur hat es in Mexiko zwar auch Angriffe und Zensurmaßnahmen gegeben, dennoch übte der Staat eine gewisse Kontrolle über die zum Teil auch in seinem Namen begangenen Verbrechen aus“, so Ricardo Ravelos von der Wochenzeitschrift Proceso. Seit diese weggefallen und Mexiko offiziell eine Demokratie sei, gebe es viel mehr Drohungen und unkontrollierte, offene Gewalt.
„Die Repression wird härter werden, das ist ein globales Phänomen“, glaubt auch Aletia vom alternativen Centro de Medios Libres in Mexiko-Stadt. Überhaupt seien die freien und alternativen Medien Mexikos noch verletzbarer, gerade auf dem Land. Immer wieder schließen die Behörden dort freie Radiosender, konfiszieren Ausrüstung oder es kommt zu Überfällen auf die Sender. „Die Radios sind wichtig für die Entwicklung der Gemeinden“, so Aletia, „zum Beispiel, um für lokale Produkte zu werben. Die Stärke der Radios ist es, Verbindungen auf lokaler Ebene zu schaffen. Aber weil die keine Lizenz haben und deswegen illegal sind, kann man sie in drei Minuten platt machen.“
Sollte das umstrittene Ley Televisa, das derzeit überarbeitet wird, in Kraft treten, müssen freie Radios wohl mit noch mehr Repression rechnen. Im Gesetz ist für sie kein Sendebetrieb vorgesehen, sie werden nicht einmal erwähnt. Stattdessen sollen die beiden größten Medienunternehmen, Televisa und TV Azteca, die ohnehin schon 80 Prozent des Medienmarktes kontrollieren, das Geschenk erhalten, ihre Lizenzen kostenlos auch für die digitale Übertragung nutzen können.

Dem Gelächter eine Gasse

Farben und Musik fliegen durch die Altstadt Havannas. Junge SchauspielerInnen laufen auf Stelzen hin und her und jonglieren nicht nur mit Feuer, Bällen und Keulen, sondern auch mit Worten. Sie sprechen die PassantInnen an und erzählen Geschichten. Ihr Lachen ist die Brücke, über die eine Kommunikation zwischen FußgängerInnen und Schauspielenden zustande kommt. Die Tropazancos, “Stelzentruppe” ist eine Gruppe von StraßenschauspielerInnen, die Fröhlichkeit und Stoff zum Nachdenken in die Straßen der Altstadt von Havanna bringt. Marionetten und Musik begleiten ihr traumähnliches Spektakel.
Seit April 2000 gibt es die „Stelzentruppe“, die zu Beginn nur aus drei SchauspielerInnen bestand. Mittlerweile gehören der Gruppe sechszehn Frauen und Männer an. Bevor sie zusammen kamen, waren sie in unterschiedlichen Bereichen tätig: Einige hatten vorher bereits als Schauspieler gearbeitet, andere musizierten oder studierten Literatur an der Universität von Havanna. Allen gemeinsam war der Wunsch, ihre Mitmenschen zum Nachdenken über sich selbst und ihre Umwelt zu bringen. Und allen schien die Kunst der beste Weg dafür zu sein. Sie wählten die Form des Straßentheaters, da Performances im öffentlichen Raum ermöglichen, mit den PassantInnen ins Gespräch über ihre Lebensbedingungen zu kommen. Das Theater der Tropazancos engagiert sich: die SchauspielerInnen wollen die Leute anregen, umweltbewusst zu leben, und ihnen gleichzeitig zeigen, wie sie das, mit dem Wenigen, das sie haben, erreichen können. Umweltbewusst – damit meinen Tropazancos nicht nur ökologische Nachhaltigkeit, sondern immer auch den Umgang mit anderen und sich selbst. Solidarität ist zentrales Thema ihrer Aufführungen.
Die Tropazancos treten inzwischen fast überall in Havanna auf: in Krankenhäusern, auf Plätzen, auf den Straßen und in Parks. Die auf Stelzen laufende Gruppe kooperiert dabei auch mit anderen sozialen Organisationen und leitet selbst weitere Projekte. So ist eine der Gründerinnen von Tropazancos auch Sängerin des Hip-Hop Duos Las Krudas. Das Duo unterstützt die feministische Szene von Havanna und setzt sich gleichzeitig mit Rassismus und anderen Alltagsproblemen auseinander. Mit dem Geld, das Tropazancos auf der Straße einnehmen, unterstützen sie neben Las Krudas auch Krebskranke und Kinderprojekte.
Straßentheater ist auf Kuba eine Herausforderung. Seit 1965 gab es auf der Insel keine Theatergruppe mehr, die unabhängig vom Staat arbeitete. Alle Ensembles sind staatlich finanziert. Zudem bedarf es einer Genehmigung des Kultusministeriums, um überhaupt spielen zu dürfen. Die fehlende Spiellizenz war für Tropazancos zu Beginn ein großes Problem. “Todo principio es dificil” – aller Anfang ist schwer, sagten sie sich und beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Die Gruppe begann ohne Genehmigung aufzutreten. Ganz problemlos verliefen die Aufführungen nicht: Zwar wurden sie von der Polizei nicht unterbrochen, diese beschlagnahmte aber am Ende der jeweiligen Aufführungen die Spenden, die die Gruppe von den ZuschauerInnen erhalten hatte. Da die ersten Auftritte in der Altstadt Havannas stattfanden, wo viele UrlauberInnen unterwegs sind, argumentierte die Polizei, dass die TouristInnen belästigt worden seien. Ungehindert auftreten kann die Stelzentruppe erst, seit Eusebio Leal, der offizielle Stadthistoriker Havannas, ihr erlaubte, auf den Straßen der Altstadt Havannas zu spielen. Leal ist eine politisch gewichtige Person in Kuba: Er leitet das private Großprojekt der Restaurierung von Havannas Altstadt, das vor allem von der Aktiengesellschaft Habaguanex S.A. finanziert wird. Die Finanzmittel stammen vor allem von den zahlreichen Hotels und Geschäften in der Altstadt Havannas, die heute fast alle Habaguanex gehören. Mit der Fürsprache von Leal war der Weg frei für die StraßenkünstlerInnen, und er sollte von Erfolg gekrönt werden.
Das Repertoire der Zanqueros, wie die Gruppe Tropazancos von vielen genannt wird, ist heute umfangreich. Es reicht von Live-Musik (Salsa, Mambo, Reggeton, Rumba), über Jonglieren bis zum Marionettenspiel. Ihre Stoffe schreiben sie selbst oder kooperieren mit AutorInnen. In jedem Stück gibt es eine ErzählerIn. Er lenkt zum großen Teil die Handlungen der SchauspielerInnen und das Geschehen, lässt aber auch zu, dass wesentliche Bestandteile der Aufführungen unter Einbeziehung der Eigenheiten des jeweiligen Publikums und Schauplatzes improvisiert werden. Zum Publikumsliebling entwickelte sich das Stück Sir William y su kimbado escudero contra el furioso dragon Tribilin (Sir William und sein Knappe gegen den wütenden Drachen Tribilin), in dem es um Straßenfeger geht, die ihre eigene Welt erfinden. Die Gruppe nimmt auch Rückgriffe auf die mündliche kubanische Erzähltradition vor. So zum Beispiel in ihrem Klassiker „La Ceiba y la Tiñosa“ (Der Wollbaum und der Geier). Wie der Titel des Stücks andeutet, handelt es sich um eine Fabel, die mit Elementen der kubanischen Folklore und Mythologie arbeitet. Der Geier kann in diesem Zusammenhang sowohl Glück, als auch Pech bedeuten. Die „Ceiba”, die auch Nationalbaum Kubas ist, repräsentiert Weisheit und ist zentral für die „Santería“ – die wichtigste der in Kuba verbreiteten Religionen, die aus der Mischung verschiedener afrikanischer Religionen und des Christentums hervor gegangen sind.
Der Ansatz von der Tropazancos ist nicht nur erfrischend für die kubanische Gesellschaft, sondern auch dringend notwendig in einem Land, wo seit langem ein öffentlicher Dialog gebraucht wird. Es wird den KubanerInnen nicht leicht gemacht, die sozialistische Regierung zu kritisieren. Mit der Begründung, die Kritik des politischen Systems spiele nur den Feinden des Regimes in die Hände, stempelt die Regierung sämtliche Kritik als konterrevolutionär ab.
Die von vielen KubanerInnen empfundene Ohnmacht kommt auch in anderen kubanischen Stücken zum Ausdruck: So singt eine Figur in der von Victor Varela geschriebenen „Blinden Oper“, der Opera Ciega: „Los sueños han caído en una trampa” – „die Träume sind in eine Falle getappt“: Solange Kritik am System in Kuba nicht offen geäußert werden kann, bleiben Träume von einer besseren Gesellschaft, die weiterhin ein viel diskutiertes Thema auf der Insel ist, unrealisierbar. Die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen können die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit nicht entschuldigen. Obwohl ihre Stücke Kritik äußern, sind Tropazancos offiziell keine Gegner der Regierung: Sie bewegen sich in den ungewissen Gewässern der Duldung. Ihre Arbeit ist eine Herausforderung für das stehengebliebene Denken vieler FunktionärInnen. Im Gegensatz dazu begrüßen viele Leute auf der Straße die Aufführungen.
Die SchauspielerInnen der Gruppe antworten auf die Frage, ob sie glücklich mit ihrer Arbeit sind, wie aus einem Munde mit einem lauten: „Ja“. Auch die Frage, ob sich ihre Erwartungen erfüllt haben, bejahen sie. Aber es ist ein zweischneidiges Ja: „Ja, aber trotzdem haben wir immer noch viel zu tun“, antwortet Roberto Salas, der Regisseur, mit einem wunderschönen Lächeln im Gesicht. Und er fügt hinzu: „Tropazancos ist für mich ein Versuch von KubanerInnen, trotz allem Freude am Leben zu haben und den Glauben an eine bessere Zukunft nicht aufzugeben.“

Zeichnend kämpfen

Rafael, woher kriegst du die Ideen für deine Karikaturen?

Die Musen der Griechen waren ja schöne Frauen. Unsere Musen hingegen sind fürchterliche Persönlichkeiten, Monster. Die politische Szene des Landes sind Leute wie Felipe Calderón, Carlos Salinas de Gortari und Carlos Slim. Meine Arbeit speist sich aus der Verärgerung, der Empörung und der Absurdität der nationalen Politik. Das Paradox in einem politischen Ereignis ist die Grundlage für einen Witz. Die politische Klasse Mexikos ist brilliant in dieser Hinsicht, quasi vorkarikiert für uns. Man schaue sich Calderón an: Ein beinahe kahlköpfiger Zwerg mit einem absurden Haartöllchen, pausbäckig und mit einer Brille auf der kugeligen Nase. Jedes Kind könnte ihn zeichnen.

Euer Beitrag ist doch die Transformation dieser vorkarikierten politischen Realität in ein Bild. Wie siehst du die Rolle der Karikatur in einem Land wie Mexiko, in dem wenig gelesen wird?

Die Karikatur ist ein sehr effizientes Genre in Mexiko: Zum einen ist ihre Verbreitung äußerst leicht. In der U-Bahn werden die Fotokopien unserer Karikaturen für ein paar Centavos verkauft, Ladenbesitzer kleben sie in ihre Fenster, sie dienen als Plakate. Zum anderen erlaubt die Karikatur die Verbreitung politischer Botschaften in Teile der Gesellschaft, in denen das Lesen von Zeitungen entweder nicht üblich oder unmöglich ist. Die Karikatur erreicht so auch die Analphabeten und Semi-Analphabeten.

Du hast dich uns als „kämpferischer Karikaturist“ vorgestellt. Was impliziert dies für dich?

Meine Karikaturen sind bestimmten gesellschaftlichen Sektoren und bestimmten Dingen verpflichtet. Bereits seit den Sechzigern wurde darüber debattiert, ob die Karikatur einer politischen Sache verpflichtet oder lediglich ästhetisch wertvoll sein soll. Das Politische in der Kunst ist ebenso gültig wie jedes andere Thema. Im Grunde haben alle großen Künstler auch politische Werke geschaffen – und insofern ist es unmöglich, die Politik von der Kunst zu trennen.
Heute befinden wir uns meiner Meinung nach in einer sehr wichtigen Phase der Geschichte. Der Aufstieg der Rechten in der gesamten Welt ist ein äußerst unheilvolles Zeichen, es ähnelt zu sehr den Anfängen des Faschismus in den Dreißiger Jahren. Die neoliberale Politik produziert einen Genozid. Man schaue sich nur die Lage im Irak an. Wir können nicht einfach stillschweigend zuschauen. Es geht heute darum, eine breite antifaschistische Front zu bilden, wir müssen dem Neoliberalismus Einhalt gebieten. Diese Front wird wachsen, denn der Horror wird nicht einfach aufhören.

In Mexiko äußerte sich dieser Horror unter anderem in den Geschehnissen in Atenco und Oaxaca. Verlierst du angesichts dieser staatlichen Brutalität nicht den Humor?

Nein, der Humor bleibt aus einem einfachen Grund nicht auf der Strecke: Sein Ursprung sind immer die menschlichen Dramen. Es gibt keinen Witz, der nicht mit der Verzweiflung, der Verrückheit, dem Schmerz oder der Frustration zu tun hat. Dies ist die Quelle des Witzes, und auch deswegen funktioniert die Karikatur so gut als Genre der Anklage und als didaktisches Instrument.

Aber lauert da nicht die Gefahr der Banalisierung?

In Mexiko wurde viel darüber diskutiert, ob die Karikatur nicht auf Dauer das Böse banalisiert, ob sie die Politiker, die Monster sind, nicht ungewollt vermenschlicht. Ich denke nicht. Es ist die alte Idee der Karikatur, dass die Angst vor der Lächerlichkeit das Verhalten der PolitikerInnen ändert. Zudem sind die Politiker für gewöhnlich Zyniker, aber gleichzeitig stets sehr besorgt um ihr Image. Und wenn sie auf das Auslachen zynisch reagieren – und genau dies geschieht in Mexiko – dann wird in der öffentlichen Wahrnehmung ihr beabsichtigtes Image durch das der Karikatur ersetzt. Die Karikatur dient insofern dazu, das Bild, das die Politiker von sich selbst zeichnen möchten, zu untergraben.

Wie reagiert der Politapparat heutzutage auf eure Anstrengungen, ihn zu untergraben?

Zum Glück sehen wir uns nicht mehr wie früher einer totalitären Zensur ausgesetzt, vor allem wegen des Internets. All jene Karikaturen, die in Zeitungen verboten werden, werden umso häufiger im Internet nachgeschlagen. Ich kenne das aus eigener Erfahrung – wenn meine Karikaturen zensiert werden, stelle ich sie ins Internet und sie werden von wirklich vielen Leuten angeschaut – sie gewinnen an Wert, wenn ich drunter schreibe: „Diese hier hat man mir verboten”.

Welche Mechanismen werden denn heute eingesetzt, um bestimmte Meinungen zu unterbinden?

Die Zensur wird heute von den Chefs der Zeitungen und Fernsehanstalten ausgeübt sowie von den großen Anzeigenkunden. Carlos Slim schaltet heute die meisten Anzeigen in den mexikanischen Medien – weit mehr als die Regierung. Unter anderem deswegen wird eher eine Karikatur von Slim zensiert als eine von Calderón.
Beispielsweise gab es kaum Berichterstattung über den Wahlbetrug 2006. Nachdem die Wahlkampagne detailliert dokumentiert worden war, schwieg sich das Fernsehen nach den Wahlen einfach aus. Die Probleme nach den Wahlen wurden nicht erwähnt. Das bedeutet, dass sie für einen großen Teil der Bevölkerung einfach nicht existierten. Und wer übt die Zensur aus? In den Zeiten der PRI (Institutionelle Revolutionäre Partei) konntest du die Armee nicht antasten, weil sie gefährlich war. Und du konntest die Virgen de Guadalupe nicht antasten, weil sie heilig war. Und natürlich konnte man den Präsidenten nicht antasten, denn der war gefährlich und heilig zugleich. Das hat sich geändert – heutzutage sind Unternehmern tabu und immer stärker die Kirche. Und im Norden des Landes der Drogenhandel. Die Narcos üben eine sehr reelle und effektive Zensur aus.

Du engagierst dich verschiedentlich für López Obrador, wir trinken gerade Tee aus Tassen, auf denen ¡AMLO presidente! geschrieben steht – du hingegen trinkst aus einem Marcos-Becher. Wie verortest du dich denn nun im politischen Spektrum Mexikos?

Marcos hat sich bezüglich López Obrador in verschiedenen Punkten geirrt. Er sieht in ihm den Verbündeten des Großkapitals, während die Repräsentanten eben dieses Kapitals in López Obrador die größte Gefahr sehen und eine brutale Kampagne gegen ihn in Bewegung setzen. Ich kann kaum glauben, dass Marcos das nicht sieht. Viele Menschen in Mexiko haben Marcos den Rücken gekehrt, aus eben diesen und anderen Gründen. Wir unterstützen den Zapatismus natürlich weiterhin. Jedoch so, wie wir Marcos unterstützt haben, als wir meinten, er habe Recht – so kritisieren wir ihn nun, da wir denken, dass er sich irrt. Zudem sind wir Anhänger von López Obrador, nicht der PRD. López Obrador verkörperte in diesen Wahlen etwas sehr Wichtiges. Im Kern ging es in der öffentlichen Debatte darum, ob wir weiterhin der liberalen Orthodoxie folgen oder etwas anderes beginnen wollen. AMLO strebt bestimmt nicht den Sozialismus an. Er ist moderat, sehr viel moderater, als ich es mir wünschen würde. Und trotzdem: Meiner Meinung nach befindet Mexiko sich derzeit auf dem Weg Richtung Faschismus. Und dieser Entwicklung kann ohne die Vermittlung und Arbeit López Obradors nicht begegnet werden. Die Bewegung um ihn ist, denke ich, eine sehr neue soziale Bewegung – demokratisch, breit, pazifistisch und anti-neoliberal.

Aber musst du nicht als kritischer Karikaturist eine Distanz zur Macht zu halten?

Natürlich, und ich habe eine Distanz zu allen Gruppen. Doch López Obrador hat ja de facto keine Macht. In der Chamuco kritisieren wir die Linke und ganz speziell López Obrador. Meine Pflicht als Karikaturist sehe ich aber eher darin zu sagen, was ich denke. Eine Objektivität gibt es ohnehin nicht. Der Unterschied zwischen uns Karikaturisten und anderen Journalisten ist nicht die vermeintliche Objektivität, sondern dass sie Interessen vertreten und wir Prinzipien.

Keine Einigung in Sicht

Stichtag war der 21. Juni. Bis dahin sollten die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung Boliviens ihre Abschlussberichte über die neuen Artikel vorlegen. Die VertreterInnen unterschiedlicher politischer Parteien, BürgerInnenvereinigungen und indigener Gruppen waren in den letzten Wochen durch alle Regionen des Landes gereist, um die Bevölkerung nach ihren Erwartungen zu befragen. Vergangene Woche hatten sich außerdem verschiedene soziale Gruppen in der Hauptstadt Sucre getroffen, um an den Kommissionssitzungen teilzunehmen und den Entscheidungsprozess noch kurz vor Abgabe der Berichte zu beeinflussen.
Bis auf eine einzige konnte am Stichtag jedoch keine der 21 Komissionen ein abstimmungsfähiges Ergebnis präsentieren. Zu groß sind die Unstimmigkeiten zwischen den 255 Mitgliedern der Verfassunggebenden Versammlung. Ein zentraler Streitpunkt ist die von Präsident Morales geplante territoriale Neuordnung Boliviens als „plurinationaler Staat“. Die Einteilung in Departamente, Provinzen und Gemeinden soll um indigene Regionen und Territorien erweitert werden. Innerhalb des Staates sollen nicht nur verschiedene Kulturen, sondern auch eigene Nationen miteinander leben, welche dann innerhalb dieser Gebiete sogar ihre traditionellen Justizsysteme ausüben dürften.
Ein weiteres Vorhaben besteht darin, Ungleichheiten in der Verteilung von Grundbesitz zu beseitigen, indem brachliegende, nur zu Spekulationszwecken erworbene
Flächen enteignet und unwirtschaftliche Miniparzellen durch gemeinschaftlich bewirtschaftetes kommunitäres Eigentum ersetzt werden. Dies entspräche dem traditionellen Bewirtschaftungssystem, welches in Bolivien vor der Ankunft der Spanier praktiziert wurde.

Der „Halbmond“ weiter mit Widerstand

Widerstand kommt vom Interessenverband „Halbmond“, der vor allem die Interessen der GroßgrundbesitzerInnen in den rohstoffreichen Departamenten Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando im Osten und Süden Boliviens vertritt. Die VertreterInnen der Regionalinteressen von Santa Cruz berufen sich auf einen Volksentscheid vom Juli letzten Jahres, bei dem die Cruceños für eine Autonomie der Departamente gestimmt hatten. Die Regierung spricht sich hingegen für die Beibehaltung der nationalen Einheit und der bisherigen administrativen Ordnung aus. Sie will das Land
zusätzlich in 42 Regionen und 36
autonome indigene Territorien einteilen, welche die gleichen Kompetenzen wie die Departamente hätten.
Die Demokratische Versammlung für Autonomie von Santa Cruz kündigte daraufhin an, dem „zivilen Widerstand“ mit Demonstrationen Ausdruck zu verleihen. Der Präsident des Komitees Pro Santa Cruz, Branko Marinkovic, kritisierte das Konzept des „plurinationalen Staates“, weil es den
indigenen Völkern Sonderrechte einräume. Der Chef der rechtskonservativen PODEMOS-Fraktion in der Verfassunggebenden Versammlung und Befürworter der Unabhängigkeit der vier Departamente, Carlos Dabdub, sprach von einer „Aymara-Kolonialisierung des nationalen Territoriums“. Er warf der Regierung vor, das Thema Landverteilung als Rechtfertigung für die Beschneidung von Privateigentum zu benutzen. Marinkovic kündigte an, dass es „Zeit sei, vom Ausnahmezustand zur Mobilisierung überzugehen, damit man nicht denkt, dass wir passiv auf die Ergebnisse warten“ und rief die Zivilkomitees im ganzen Land dazu auf, ihren Forderungen nach Autonomie Ausdruck zu verleihen. Auch das Militär solle, so die Forderung des „Halbmond“, seine „verfassungsgemäße Aufgabe erfüllen“ und die nationale Integrität verteidigen. Die Regierung bezeichnete dies wiederum als „Aufruf zum Staatsstreich“.
Der Präsident des Zivilkomitees von Tarija, Reinaldo Bayard, kündigte zudem einen Streik im Gemeinderat an. Die Regierung nannte die Erklärung eine „Provokation“ und warf den Autonomisten vor, das Versagen des Verfassungsprojektes herbeiführen zu wollen. Nachdem die Interessen der indigenen Völker in den letzten 500 Jahren missachtet worden seien, sei es nun an der Zeit, sie in den bolivianischen Staat einzubeziehen.
Angesichts der anhaltenden Uneinigkeit ufert das Verfassungsprojekt bereits über den ursprünglich vorgegebenen Zeitrahmen aus. Am 6. August soll der Entwurf der neuen Staatsordnung von der Verfassunggebenden Versammlung an die Exekutive weitergegeben werden. Ob dieser Stichtag eingehalten werden kann, ist unklar. Der Opposition, die seit Beginn der Regierungszeit von Präsident Morales und seiner Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) ihr Gewicht dazu nutzt, Entscheidungen zu blockieren, käme eine Verzögerung entgegen.
Ein weiterer Streitpunkt ist der Plan der Regierung, in der neuen Verfassung eine Wiederwahl des Präsidenten zu ermöglichen. Boliviens Opposition interpretiert diese Initiative als ein legales Instrument zur Machtverlängerung und spricht von einer Untermauerung der autoritären Führungsansprüche des Präsidenten. Oppositionelle Zeitungen beklagen außerdem eine Einschränkung der Pressefreiheit. Morales hatte – angeblich im Scherz – damit gedroht, die einem spanischen Verlag gehörende Zeitung “La Razón“ zu „nationalisieren“, weil sie Falschinformationen über ihn verbreitet habe.
In das Bild eines nach totaler Macht strebenden Präsidenten passt auch der Vorwurf, die Freiheit der Justiz einschränken zu wollen. Morales hatte den Justizapparat wegen stark verbreiteter Korruption kritisiert. Die Justizangestellten antworteten Anfang Juni mit einem 24-stündigen Streik. Sie warfen dem Präsidenten vor, das bolivianische Justizsystem zu schwächen und ein totalitäres Regime etablieren zu wollen.

Gegenwind von der Straße

Tatsächlich hat der Justizapparat in Bolivien bislang vor allem der Verteidigung oligarchischer Interessen gedient. So zieht sich beispielsweise der Prozess gegen Gonzalo Snchez de Lozada („Goni“) seit Monaten nur schleppend dahin. Der Ex-Präsident soll wegen des Todes von 63 Menschen während des „Gas-Krieges“ im Dezember 2003 zur Verantwortung gezogen werden. Die vier Richter, die Morales eingesetzt hatte, um das Verfahren zu beschleunigen, wurden vom Verfassungsgericht wieder ihres Amtes enthoben.
Gegenwind bekommt Evo Morales Regierung auch aus einer anderen Richtung: Fast kein Tag vergeht, ohne dass auf dem „Prado“, der belebtesten Straße im Zentrum von La Paz, Demonstranten entlangziehen, lautstark begleitet von kleinen Dynamitexplosionen. Es versammeln sich Behinderte und SchülerInnen, die Essensgutscheine fordern, StudentInnen, die gegen soziale Kontrolle und für die Autonomie der Universitäten protestieren, AltkleiderhändlerInnen, die sich dagegen wehren, dass der Verkauf gebrauchter Kleidung aus den westlichen Ländern bis 2008 zu Gunsten der heimischen Industrie auslaufen soll. LehrerInnen, FahrerInnen, BäuerInnen, ArbeiterInnen – mittlerweile protestieren sogar die KokabäuerInnen, die soziale Bewegung, aus deren Mitte Evo Morales einst an die Macht gelangte.
Angesichts der regionalen Uneinigkeiten wird sich in den nächsten Wochen zeigen, ob der Präsident und seine Regierungspartei MAS die bestehenden Herausforderungen meistern und mit Diplomatie eine Einigung herbeiführen können. Nur so könnten das Verfassungsprojekt fertig gestellt und die sozialen Reformen fortgesetzt werden. Spätestens für Juli sind die letzten Schliffe an der neuen Staatsordnung geplant – die Mobilisierungen dazu im Osten und Süden werden nicht fehlen.

Vom Bock zum Gärtner

Die venezolanische Nationalversammlung macht derzeit nicht gerade Schlagzeilen als Austragungsort hitziger Debatten. Die rechte Opposition verfügt aufgrund ihres Boykotts der letzten Parlamentswahlen Ende 2005 über keinen einzigen Sitz mehr und Präsident Hugo Chávez regiert seit Januar dieses Jahres in elf Politikfeldern per Dekret. Doch am 7. Juni schien es zunächst, als kehre der verbale Schlagabtausch über die grundlegende Ausrichtung Venezuelas zumindest für einen Tag ins Parlament zurück. Die Abgeordneten hatten zehn oppositionelle und ebenso viele regierungsfreundliche Studierende eingeladen, um über die Medienpolitik der Regierung zu debattieren.
Vorangegangen waren acht Tage überwiegend friedlicher Studierendenproteste, bei denen es jedoch auch zu Ausschreitungen und fast 200 Verhaftungen gekommen war. Die noch immer andauernden Proteste richten sich gegen den Verlust der öffentlichen Sendefrequenz für den oppositionellen Privatfernsehsender RCTV (Radio Caracas de Televisión) und werden hauptsächlich von Studierenden der elitären Zentraluniversität Venezuelas (UCV) und der Katholischen Universität Andrés Bello (UCAB) getragen. Die Studierenden sehen die Presse- und Meinungsfreiheit und somit die Freiheit an sich in Venezuela gefährdet. Da sie das Bild des Protests gegen die Regierung in den Medien dominieren, sehen sie sich Anschuldigungen ausgesetzt, von der politischen Opposition im Land gesteuert zu sein. Im Gegenzug mobilisieren vor allem Studierende der erst unter Chávez gegründeten Bolivarianischen Universität Venezuelas für Demonstrationen zur Unterstützung der Regierung.

Geplanter Rückzug

Das direkte Aufeinandertreffen der beiden Studierendengruppen im Parlament wurde live auf allen Fernsehkanälen übertragen. Zu einer Debatte kam es jedoch nicht, denn die oppositionellen Studierenden lieferten vor allem eines ab: eine gut durchdachte Medienshow. Sie betraten das Parlament in roten T-Shirts, wie sie für gewöhnlich die UnterstützerInnen des bolivarianischen Prozesses tragen. Dann gab Douglas Barrios, Student an der privaten Metropolitanischen Universität (UNIMET), ein gut elfminütiges Eingangsstatement ab. Darin sprach er sich unter anderem für die Rückkehr von RCTV aus und beklagte die verbalen Angriffe auf die Studierenden. Gegen Ende seiner Rede streiften er und seine neun KommilitonInnen sich ihre roten T-Shirts ab, unter denen sie ihre gewöhnliche Kleidung trugen. „Wir träumen von einem Land, in dem wir wahrgenommen werden, ohne uniformiert sein zu müssen“, sagte Barrios, bevor er das Rednerpult verließ. Nachdem Jon Goicochea von der UCAB später in einem kurzen Redebeitrag betont hatte, dass sie nicht gekommen seien, „um Politik zu machen“ und der Ort der Debatte die Universität sei, verließen die oppositionellen Studierenden gemeinsam das Parlamentsgebäude. Der Clou folgte, als Héctor Rodríguez, ein an der UCV studierender Vertreter der chavistischen Studierenden zur allgemeinen Verwunderung die letzte Seite des Redemanuskripts von Douglas Barrios präsentierte. Darin fand sich ein Hinweis darauf, das rote T-Shirt an der richtigen Stelle der Rede auszuziehen. Unterschrieben war das Skript von einer Firma namens ARS Publicity, die zu dem Medienimperium des oppositionellen Fernsehkanals Globovisión gehört. Neben diesem Nachrichtensender könnendie oppositionellen Studierenden auch noch mit anderen Verbündeten in aller Welt aufwarten.

Weltweite Empörung

In den Wochen vor dem 28. Mai hatte Marcel Granier, Präsident von RCTV, zahlreichen Medien in Venezuela, Lateinamerika, Europa und den USA Interviews gegeben. Dort präsentierte er sich immer wieder als Kämpfer für Meinungs- und Pressefreiheit und gegen den aus seiner Sicht nun definitiv etablierten „Totalitarismus“ in Venezuela. Offenbar mit Erfolg: Die
führenden Medien weltweit berichteten ausführlich über die „Einschränkung“ oder zumindest „Bedrohung“ der Pressefreiheit in dem südamerikanischen Land. Zahlreiche namhafte Organisationen wie Reporter ohne Grenzen, amnesty international und Human Rights Watch schlossen sich der scharfen Kritik an und verurteilten die „Schließung“ von RCTV. Ebenso der US-Senat, der brasilianische Senat und das EU-Parlament, wenn auch bei der Abstimmung nur 65 von 784 Europa-Abgeordneten anwesend waren. US-Außenministerin Condoleeza Rice erkannte „einen Konflikt zwischen Venezuela und den demokratischen Prinzipien“, während EU-Kommisionspräsident Manuel Barroso die Entscheidung der
venezolanischen Regierung als „Rückschritt“ bezeichnete. In Venezuela selbst übten neben den Studierenden vor allem die politische Opposition und die katholische Kirche lautstarke Kritik. Der Vizepräsident der venezolanischen Bischofskonferenz Roberto Lückert sprach im Hinblick auf RCTV sogar vom bisher „größten politischen Fehler Chávez’ “. Laut Umfragen steht darüber hinaus auch die Mehrheit der Bevölkerung auf Graniers Seite, selbst wenn die meisten ihre Unterstützung explizit nur mit dem Wegfall der überaus beliebten Telenovelas und nicht mit der politischen Berichterstattung begründen. Lediglich die lateinamerikanischen Staatschefs hielten sich mit Kritik zurück. Während der Generalversammlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wurde das Thema zwar diskutiert, man verabschiedete jedoch lediglich eine allgemeine Deklaration über Pressefreiheit, in der Venezuela nicht erwähnt wurde. Gegenüber der argentinischen Tageszeitung La Nación erklärte Granier, der internationale Druck sei wichtig, „damit in Venezuela nicht das passiert, was in Nazi-Deutschland passiert ist“.
Trotz der massiven Kritik musste der älteste venezolanische Fernsehsender, der bereits seit 1953 auf Sendung war, seine ausgelaufende Sendelizenz pünktlich um Mitternacht zugunsten des neu gegründeten öffentlichen Senders TVES (Soziales Venezolanisches Fernsehen) räumen. RCTV kann zwar über Kabel, Satellit und Internet weitersenden, wird dadurch aber Schätzungen zufolge nur noch etwa 20 Prozent der bisherigen ZuschauerInnen erreichen können. Begründet wurde der Schritt, den Chávez bereits Ende letzten Jahres angekündigt hatte, auf zweierlei Weise. Erstens sei der venezolanische Staat laut Verfassung dazu verpflichtet, einen öffentlichen Fernsehsender wie TVES zu schaffen, um auf eine „Demokratisierung der Medien“ hinzuwirken. Da die Lizenzen begrenzt sind, müsse ein anderer Sender dafür weichen. Zweitens sei RCTV massiv in den Putsch gegen Chávez im April 2002 verwickelt gewesen und habe darüber hinaus hunderte Gesetzesverstöße begangen. Tatsächlich offenbart ein kurzer Blick in die Vergangenheit, dass Marcel Granier und sein Sender nie besonderen Wert auf die Einhaltung bestehender Gesetze gelegt haben. Bereits in der viel zitierten „Musterdemokratie“ vor Chávez wurde RCTV mehrfach sanktioniert. Im April 2002 unterstützte der Sender dann gemeinsam mit den anderen großen Privatkanälen Televen, Venevisión und Globovisión sowie den wichtigsten Printmedien massiv den Putsch gegen den gewählten Präsidenten (siehe Kasten).
Derartige Handlungen der Medien sind in keinem Land der Welt von der Pressefreiheit gedeckt. So stellten zahlreiche britische Intellektuelle, darunter der Autor Tariq Ali und der Literaturnobelpreisträger Harold Pinter, in einem offenem Brief stellvertretend für viele UnterstützerInnen der Regierungsentscheidung die Frage, was wohl passiert wäre, wenn die BBC in Großbritannien einen Putsch unterstützt hätte. Die Antwort ließ in Venezuela lange Zeit auf sich warten. Chávez rief nach dem gescheiterten Putsch zunächst zur Versöhnung auf und wartete geduldig bis zum Auslaufen der Sendelizenz, um gegen RCTV vorzugehen. Nach dieser Logik dürften die Lizenzen der anderen drei großen Privatkanäle ebenfalls nicht verlängert werden. Globovisión, dessen Lizenz erst in einigen Jahren ausläuft, könnte in der Tat das gleiche Schicksal ereilen wie RCTV. Erst kürzlich attackierte Chávez den Nachrichtensender erneut scharf, da dieser ohne erkennbaren inhaltlichen Zusammenhang mit der laufenden Sendung zum Thema RCTV Bildausschnitte vom Attentat auf den damaligen Papst Johannes Paul II. mit dem Salsa-Klassiker „Esto no termina aquí“ („Das ist hier noch nicht vorbei“) unterlegt hatte. Chávez sah darin einen Mordaufruf gegen seine Person und legte dem Sender nahe, „sich genau zu überlegen wie weit sie gehen wollen.“ Venevisión hingegen erhielt kürzlich eine neue fünfjährige Lizenz, obwohl der Sender ebenso stark in den Putsch verwickelt war wie RCTV und Globovisión. Im Vorfeld des Amtsenthebungsreferendums gegen Chávez 2004 änderten Venevisión und Televen jedoch ihre politische Richtung und berichteten fortan weitestgehend neutral über die Politik in Venezuela. Granier sieht darin eine politische Diskriminierung von RCTV und betont, sein Sender sei niemals für einen vermeintlichen Gesetzesverstoß verurteilt worden. Die venezolanische Regierung als Inhaberin der offenen Sendelizenzen bekräftigt hingegen, bei der Nicht-Verlängerung handele es sich um einen gewöhnlichen „Verwaltungsakt“. Zudem würden 95 Prozent der Medien des Landes privat betrieben. Die KritikerInnen der Regierungsentscheidung behaupten das Gegenteil. Ihnen zufolge kontrolliere die Regierung bereits den Großteil der Medien, wodurch ein Meinungspluralismus nicht mehr gegeben sei.

Wer hat Recht?

Das Thema ist allerdings komplexer als von BefürworterInnen und KritikerInnen dargestellt. Tatsächlich befinden sich etwa 95 Prozent aller Fernsehsender, Radiostationen und Printmedien in privaten Händen und stehen mehrheitlich der Opposition nahe. Die räumliche Reichweite der jeweiligen Medien variiert jedoch beträchtlich. Von den TV-Stationen waren vor dem 28. Mai praktisch nur RCTV und der ebenso einseitig berichtende Regierungssender VTV landesweit zu empfangen. Venevisión, Televen und Globovisión sind hauptsächlich in größeren Städten zu empfangen, während die zahlreichen weiteren Privat- und Communitysender jeweils lediglich regionale Reichweite haben. Zudem war RCTV der mit Abstand meist gesehene Sender des Landes. Durch die Nicht-Verlängerung der Sendelizenz verliert die Opposition somit in der Tat enorm an medialem Einfluss. Ob dies tatsächlich die Pluralität in Venezuela einschränken wird, hängt allerdings von mehreren Faktoren ab. Das Nutzungsverhalten der ZuschauerInnen könnte sich beispielsweise ändern, mehr Leute auf Kabel umsteigen oder Sender wie Venevisión oder Televen sich wieder der Opposition annähern. Zudem herrscht auf dem Zeitungs- und Radiomarkt ein klarer Überhang an oppositionellen Medien. Auch die Behauptungen der Opposition, JournalistInnen würden sich aus Angst vor Repressalien in Selbstzensur üben, sind mehr als fraglich. In allen Mediensparten werden die Regierungspolitik und nicht zuletzt Chávez selbst teilweise radikal angegriffen.
Das Grundproblem der Medienlandschaft in Venezuela ist ein anderes: Es gibt schlicht kaum journalistische Qualität. Sowohl Regierung als auch Opposition nutzen „ihre“ jeweiligen Medien als reine politische Kampfinstrumente. Den hunderten, unter Chávez legalisierten und neu entstandenen, Communitysendern in Radio und TV fehlt bisher ein Massenpublikum, vor allem auch aufgrund der begrenzten Reichweite. Letztlich aber versteht die Regierung unter „Demokratisierung der Medien“ genau das, was diese kleinen Sender repräsentieren: Medien, die der Bevölkerung zugänglich sind. Für die breite Mehrheit bestanden vor 1999 keine Sender, in denen ihre Probleme thematisiert wurden.
Ob das neu gegründete TVES, das als erstes Großprojekt die ab Ende Juni in Venezuela stattfindene Fußballmeisterschaft „Copa América“ übertragen wird, zu einer Demokratisierung der Medien beitragen kann, hängt davon ab, welche politische Linie der Sender verfolgen wird. Offiziell soll er regierungsunabhängig sein und hauptsächlich von unabhängigen venezolanischen ProduzentInnen beliefert werden. Zumindest die Gründung des neuen Kanals führte jedoch die Regierung selbst durch. Sie stellte das Startkapital bereit und Chávez persönlich ernannte das Direktorium. Darüber hinaus will sie sich in Zukunft jedoch nicht in die Angelegenheiten des Senders einmischen.
Wie ein demokratieförderliches Programm aussehen kann, machte indes ausgerechnet der viel gescholtene Nachrichtensender Globovisión vor. In der Livesendung „Entre Noticias“ („Zwischen den Nachrichten“) brachte dieser kurz nach dem Rückzug der oppositionellen Studierenden aus der Parlamentssitzung doch noch eine Debatte zwischen den beiden rivalisierenden Studierendenlagern auf den Bildschirm. Héctor Rodríguez und Jon Goicochea, die beide schon an der Parlamentssitzung teilgenommen hatten, diskutierten dort respektvoll miteinander über diverse politische Themen – im derzeitigen Venezuela eine Seltenheit. Die Studierenden kündigten derweil an, ihre Proteste auch während der am 26. Juni beginnenden „Copa América“ weiterzuführen.

Kasten:

Die Medien und der Putsch

Nach der erstmaligen Wahl Hugo Chávez’ im Jahre 1998 begann RCTV gemeinsam mit den anderen großen Privatkanälen Televen, Venevisión und Globovisión sowie den wichtigsten Printmedien des Landes damit, auf aggresssive Art und Weise die Rolle der politischen Opposition in Venezuela zu übernehmen. Diese präsentierte sich politisch zersplittert und verfügte übAer keinerlei programmatischen Ansatz, um der Chávez-Regierung etwas entgegenzusetzen. Statt mit verfassungsmäßigen Mitteln Einfluss auf die Politik zu nehmen, sahen die schwächelnde Opposition und die Medien ihre Rolle bald nur noch darin, Chávez aus dem Amt des Staatspräsidenten zu entfernen.
Der erste tiefgreifende Konflikt bahnte sich im Jahre 2001 an. Nachdem der venezolanische Präsident insgesamt 49 Gesetze dekretiert hatte, die wie das Land-, das Erdöl- und das Fischereigesetz den Einfluss der traditionellen Eliten beschnitten, liefen die privaten Medien Sturm.
Laut Verfassung hätte der Opposition der Weg freigestanden, ein landesweites Referendum über alle oder einzelne Gesetze in die Wege zu leiten. Da es sich um Präsidialdekrete handelte, hätten lediglich fünf Prozent der im Wahlregister eingetragenen WählerInnen unterschreiben müssen, damit die Bevölkerung für oder gegen die Aufhebung der Gesetze hätte abstimmen können. Es wurde jedoch das erste Mal ersichtlich, dass es der Opposition gar nicht um einzelne Gesetze, sondern die Absetzung des Präsidenten ging. Statt Unterschriften zu sammeln, organisierten der oppositionell kontrollierte Gewerkschaftsverband CTV und der Unternehmerverband FEDECAMARAS einen Generalstreik, der von den Medien offensiv propagiert wurde. Wenige Monate später unternahm die Opposition – wieder mit tatkräftiger Unterstützung der privaten Medien – den Versuch, Chávez aus dem Amt zu putschen. Dieser hatte am 7. April 2002 in seiner wöchentlichen TV-Show „Aló Presidente“ die Absetzung führender Manager des staatlichen Erdölunternehmnes PDVSA verkündet. Durch gezielte Falschinformationen und geschickt zusammengeschnittene Bilder verbreiteten die privaten Fernsehkanäle am 11. April die Lüge, Chávez-AnhängerInnen hätten auf einen Demonstrationszug der Opposition geschossen. Daraufhin stellten sich Teile des Militärs gegen Chávez und erwirkten seine Verhaftung. Als Übergangspräsident wurde der Präsident von FEDECAMARAS, Pedro Carmona, eingesetzt. Offiziell wurde behauptet, Chávez sei zurückgetreten. Carmonas erste, als Carmona-Dekret bekannt gewordene, Handlung bestand darin, die Verfassung außer Kraft zu setzen, das Parlament aufzulösen und zahlreiche AnhängerInnen des Präsidenten verfolgen zu lassen. 48 Stunden später kehrte Chávez schließlich an die Macht zurück, nachdem seine AnhängerInnen in Massen auf die Straße gegangen waren. RCTV und die übrigen Medien berichteten nicht darüber, sondern sendeten Zeichentrickfilme. Der Staatssender VTV sowie zahlreiche Communitysender waren zu diesem Zeitpunkt längst geschlossen, während auf RCTV und den anderen Privatsendern keine RegierungsanhängerInnen interviewt werden durften. Dass es sich dabei um eine Einschränkung der Meinungsfreiheit gehandelt haben könnte, kam Marcel Granier, dem Präsidenten von RCTV, nicht in den Sinn. Er weilte während der kurzen Amtszeit Carmonas höchstpersönlich im Präsidentenpalast Miraflores.

Chávez schwört auf Sozialismus

Der Schwur war unüblich. Nach seiner Wiederwahl im vergangenen Dezember, mit einem robusteren Mandat als jemals zuvor, machte Hugo Chávez bei seiner Amtseinführung am 11. Januar einmal mehr klar, wohin sich Venezuela seiner Meinung nach entwickeln soll. Er schwor bei „Jesus Christus, dem größten Sozialisten der Geschichte“, sein Leben dem Aufbau des Sozialismus in Venezuela widmen zu wollen. „Es ist die Zeit gekommen, die Privilegien und die Ungleichheit zu beenden und nichts und niemand kann den Wagen der Revolution aufhalten“.
Schon bei der Vereidigung der 15 neuen und 12 alten MinisterInnen zwei Tage zuvor hatte Chávez keinen Zweifel daran gelassen, den „sozialistischen Wagen“ nun drastisch beschleunigen zu wollen. Bis 2021 – dem 200-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit Venezuelas – solle das Land in den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ geführt werden. Als Antrieb nannte Chávez „fünf Motoren“: die Gewährung einer zeitlich befristeten „revolutionären Vollmacht“, eine „sozialistische Verfassungsreform“, den massiven Ausbau der „Volksbildung“, eine neue „Geometrie der staatlichen Machtverteilung“ sowie eine „Explosion kommunaler Macht“.
Die Gewährung von auf 18 Monate befristeten „revolutionären Vollmachten“ durch das Parlament bezeichnete Chávez als ersten „Motor“. Mit Hilfe von Präsidialdekreten soll vor allem die Transformation der Wirtschaftsstrukturen beschleunigt werden. Unter anderem zählt dazu die Nationalisierung strategischer Sektoren wie Energie und Telekommunikation.
Der zweite „Motor“ ist die bereits zuvor angekündigte Verfassungsreform. Chávez beauftragte Parlamentspräsidentin Cilia Flores mit der Bildung einer Kommission, die Vorschläge erarbeiten soll, welche dann laut Verfassung sowohl vom Parlament (Zweidrittelmehrheit), als auch in einem landesweiten Referendum (einfache Mehrheit) ratifiziert werden müssen. Bereits bekannt ist das Vorhaben, die uneingeschränkte Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten einzuführen. Als neuen Plan nannte Chávez die Abschaffung der von ihm als „neoliberale Idee“ bezeichneten Unab­hängig­keit der Zentralbank.
Durch den Ausbau einer „bolivarianischen Volkserziehung“ als dem dritten Antriebsmodul, will Chávez die „alten Werte“ des „Individualismus, Kapitalismus und Egoismus“ zugunsten einer sozialistischen Ethik“ überwinden.
Weiter nannte der venezolanische Präsident eine „neue Geometrie der Macht“ als vierten „Motor“ seines Regierungsvorhabens. Hugo Chávez will hier die administrativen Strukturen der Gemeinden in Venezuela neu organisieren, um marginalisierte, ärmere Gebiete besser einzubinden und bürokratischen Aufwand zu minimieren.
Den fünften Antrieb, eine „Explosion kommunaler Macht“, bezeichnete Chávez als den „stärksten Motor der neuen Phase“. So möchte er den seit April letzten Jahren entstehenden Kommunalen Räten, die je nach Region von bis zu 400 Familien gebildet werden, mehr Entscheidungsmacht über kommunale Belange geben. Standen 2006 etwa 1,5 Milliarden US-Dollar für die Räte bereit, sollen es dieses Jahr fünf Milliarden sein. Bisher bestehen um die 13.000 Kommunale Räte im ganzen Land. Weitere Tausende sollen im Laufe dieses Jahres hinzukommen.

Auf Nationalisierungskurs

Im eigenen Land wie auch international hatten diese Bekanntmachungen heftige Reaktionen hervorgerufen. Insbesondere Chávez‘ Plan, den Umbau der wirtschaftlichen Strukturen Venezuelas mittels Dekreten voranzutreiben, hatte viel Aufruhr verursacht. Er kündigte zunächst an, „strategische Industrien“ wie den Energiesektor sowie den erst 1991 privatisierten Telekommunikationsmonopolisten CANTV verstaatlichen zu wollen. Zudem solle der venezolanische Staat, wie beim Großteil der Ölförderung bereits üblich, auch eine Mehrheitsbeteiligung an den Ölförderprojekten im Orinokodelta erreichen, wo unter anderem Unternehmen wie Chevron, BP und ExxonMobil beteiligt sind.
Von den Verstaatlichungen wird, neben tausenden KleinanlegerInnen, auch ausländisches Großkapital betroffen sein. CANTV etwa gehört zu 28 Prozent dem US-amerikanischen Unternehmen Verizon, zu sechs Prozent der spanischen Telefónica und zu vier Prozent dem mexikanischen Medienmogul und reichsten Lateinamerikaner, Carlos Slim. Das Elektrizitätsunternehmen Elecar (Electricidad de Caracas), das den Großraum Caracas mit Strom versorgt und sich seit seiner Gründung 1895 in privater Hand befindet, gehört zurzeit mehrheitlich der US-amerikanischen AES. Die Regierung kündigte jedoch an, die AnlegerInnen „gerecht“ entschädigen zu wollen.
Scharfe Kritik an diesen Plänen kam von der Opposition. Der Gouverneur von Zulia und Ex-Präsidentschaftskandidat Manuel Rosales sagte, Chávez habe „seine Botschaft der Liebe, die er im Wahlkampf angeboten hat, gegen die Botschaft der Gewalt und Aggression getauscht“.
Da die Opposition die letzten Parlamentswahlen Ende 2005 boykottiert hatte und somit nicht in der Nationalversammlung vertreten ist, gilt die Zustimmung zum „Bevollmächtigungsgesetz“ als reine Formsache. Es wäre bereits das dritte Mal, dass Chávez Sondervollmachten vom Parlament erhält. Nach seiner erstmaligen Wahl 1999 wurde Chavez eine Vollmacht zur Sanierung des Haushaltes bewilligt. Auf Grundlage der neuen Verfassung erhielt er zudem 2001 eine einjährige Ermächtigung, die er dazu nutzte, 49 Gesetze zu dekretieren. Präsidiale Sonder­vollmachten per „Bevollmächtigungsgesetz“ sind nun keine Erfindung von Chávez. Für Venezuela ist es seit 1961 bereits das insgesamt neunte „Ley Habilitante“ – die vor Chávez‘ Amtszeit verabschiedeten ernteten allerdings weit weniger öffentliche Entrüstung.

Keine Lizenz für „Putschistensender“

Zuvor hatte bereits die Ankündigung Chávez‘, die am 28. Mai dieses Jahres auslaufende Sendelizenz der Fernsehstation RCTV nicht zu erneuern, in Venezuela und international eine Welle der Empörung ausgelöst. Laut geltendem Gesetz obliegt es dem Staat, die Konzessionen zu erteilen. Schon Ende des Jahres 2006 warf Chávez dem Sender in einer Ansprache vor Militärs „putschistische“ Berichterstattung und permanente Gesetzesverstöße vor. RCTV, das vor allem für die Übertragung von Telenovelas bekannt ist, war während des Putsches gegen Chávez im April 2002 neben Globovisión, Venevisión und Televen einer der Sender, welche die Ereignisse durch gezielte Falschinformation mit herbeigeführt hatten. Während Venevisión und Televen mittlerweile gemäßigter berichten, befinden sich RCTV und Globovisión noch immer in radikaler Opposition zu Chávez und schrecken nicht einmal vor Gewaltaufrufen zurück. Auch Globovisión könnte daher das gleiche Schicksal ereilen wie nun RCTV. Der Sender wird jedoch nicht geschlossen, wie weitläufig interpretiert und einfach gern behauptet wurde, sondern lediglich nicht mehr die öffentliche Sendefrequenz nutzen dürfen. Per Kabel oder Satellit wird man ihn weiterhin empfangen können.
Dennoch bezeichneten die Opposition, die katholische Kirche Venezuelas, die Organisationen Reporter ohne Grenzen und die Interamerikanische Pressegesellschaft (SIP) sowie der Generalsekretär der Organisation amerikanischer Staaten (OAS), José Miguel Insulza, die Maßnahme als Zensur und Einschränkung der Pressefreiheit. Insbesondere die Äußerungen Insulzas deutete Chávez als nicht hinnehmbare Einmischung in innere Angelegenheiten. Er nannte Insulza – den Venezuela ironischerweise bei seiner Wahl 2005 gegen den von den USA favoriserten mexikanischen Kandidaten Luis Ernesto Derbez tatkräftig unterstützt hatte – einen „wahrhaftigen Idioten“ und forderte ihn zum Rücktritt auf.

Vereinigt für die Revolution

Schon Ende letzten Jahres hatte Chávez das Projekt einer Vereinigten Sozialistischen Partei (PUSC) auf den Weg gebracht, um die 23 Chávez unterstützenden Parteien zu vereinen. Ziel der neuen Partei sei der Aufbau des Sozialismus “von unten“, wie Chávez beteuerte. Wer sich allerdings als Partei erhalten wolle „wird die Regierung verlassen“, so der venezolanische Präsident. Noch ist nicht klar, wer sich dem Projekt anschließen wird. Chávez‘ eigene Partei MVR (Bewegung Fünfte Republik), die mit Abstand stärkste Kraft innerhalb des Bündnisses, wird ohne Zweifel den Kern der neuen Partei bilden. PPT (Vaterland für Alle) und Podemos (Wir können), die bedeutendsten der kleineren Parteien fordern jedoch eine tiefer gehende Diskussion über das Thema.
In seine zweite reguläre Amtszeit startet Chávez mit einem etwa zur Hälfte erneuerten Kabinett. Der wohl prominenteste Wechsel betrifft die Vizepräsidentschaft. Der langjährige Chávez-Vertraute José Vicente Rangel, der schon seit 1999 unterschiedliche Ministerposten innehatte, wird von Jorge Rodriguez abgelöst, dem Ex-Präsidenten des Nationalen Wahlrates CNE. Jesse Chacón nimmt als Innen- und Justizminister seinen Hut und übernimmt das neu geschaffene Telekommunikationsministerium. Chávez begründete die Wechsel mit der Notwendigkeit „Bürokratie, Korruption und Ineffizienz“ zu bekämpfen. Persönliche oder politische Gründe lägen nicht vor. Der scheidende Vizepräsident Rangel betonte, dass er und die anderen Minister zwar die Regierung, aber „nicht die Revolution verlassen“.

Demokratie oder Autoritarismus?

Eines sollte klar sein: Die starke Polarisierung sowohl innerhalb der venezolanischen Gesellschaft als auch in der Debatte über die
Beurteilung Venezuelas wird in nächster Zeit wohl kaum abnehmen. Gerade erst sind zwei für gewöhnlich viel beachtete Studien mit völlig gegensätzlichen Ergebnissen erschienen. Während die US-amerikanische Organisation Freedom House in ihrem am 17. Januar veröffentlichten Jahresbericht „Freedom in the World“, Venezuela mit Russland auf eine Stufe stellt und beide Länder als “eindeutig Richtung Autoritarismus fortschreitend“ ansieht, scheint die venezolanische Bevölkerung selbst dies völlig anders zu sehen. Bei der Ende letzten Jahres erschienenen repräsentativen Erhebung des chilenischen Umfrageinstitutes Latinobarómetro, welches jährlich den Zustand der lateinamerikanischen Demokratien zu messen versucht, erzielte Venezuela – wie bereits im Vorjahr – äußerst gute Ergebnisse. So erhielt das Land sowohl bei der Frage ob Demokratie jeglicher anderen Regierungsform vorzuziehen sei als auch bei der Bewertung der real existierenden Demokratie im eigenen Land jeweils den höchsten Wert nach Uruguay. Laut der Studie ist der Prozentsatz der BürgerInnen, die mit der Demokratie in ihrem Land zufrieden sind, seit 1998 – der erstmaligen Wahl Hugo Chávez‘ – in keinem anderen lateinamerikanischen Land stärker gestiegen als in Venezuela (von 32 auf 57 Prozent). Auch das zeitlich befristete Regieren per Dekret wird wohl nichts an diesen Werten ändern. Chávez wird voraussichtlich nichts beschließen, was nicht sowieso eine Mehrheit hätte. Vor knapp zwei Monaten wurde er zudem ausdrücklich dafür gewählt, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts voranzutreiben. Aber selbst wenn er im Sinne der Bevölkerungsmehrheit handelt, ist es bedenklich, deren Willen durch ein Bevollmächtigungsgesetz in reale Politik umzusetzen. Zumal das zu 100 Prozent von chavistas gebildete Parlament die geplanten Reformen ohnehin abnicken würde. Durch die Gewährung der Vollmachten wird darüber dort im Einzelnen allerdings nicht einmal mehr diskutiert werden.
Auch wenn Venezuela weit davon entfernt ist, eine Diktatur zu sein: Dass derzeit kaum Mechanismen zur Begrenzung der Macht des Präsidenten bestehen, sollte die Bevölkerungsmehrheit auch dann nicht hinnehmen, wenn dieser in ihrem Sinne entscheidet. Denn darauf, dass er dies auch 2021 noch tun wird, kann schlicht kein Verlass sein.

Aus dem Schrank kommen

Salir del closet“, „sair do armário“ (Aus dem Schrank kommen), so heißt es in Lateinamerika, wenn sich jemand als schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell outet. In dieser Schwerpunktausgabe wollen wir einen Blick in diesen Schrank werfen, genauer gesagt, vor den Schrank. Auf jene, die irgendwann in ihrem Leben „herausgekommen“ sind. Auf Frauen die Frauen begehren, auf Männer die Männer begehren, auf Menschen, die Frauen und Männer begehren oder sich selbst nicht eindeutig als Frau oder Mann fühlen.Dieses „Herauskommen“ ist immer auch eine politische Entscheidung. Und in den folgenden Texten spielen immer auch diejenigen eine Rolle, die ihre sexuelle Identität nicht öffentlich machen wollen und die weiterhin „im Schrank“ leben.
Unter dem Begriff Queer (von englisch: unterlaufen) sammelt sich eine Vielfalt an Lebensweisen, an politischen Projekten und Strategien. In Lateinamerika wird dafür oft die etwas sperrige Buchstabenkombination LGBT genutzt: Lesbianas, Gays, Bisexuales, Transgeneros. Öffentlich homo-, bi- oder transsexuell zu leben und zu lieben, das bedeutet in Lateinamerika – und nicht nur dort – als „anders“ wahrgenommen zu werden. Heterosexualität ist die hegemoniale Norm, und wer dieser nicht entspricht, hat mit Vorurteilen und Diskriminierung zu rechnen. Das gilt, wie die folgenden Beiträge zeigen, für die sehr katholisch-konservativen Gesellschaften Zentralamerikas ebenso wie für das oft als „bunt“ gerühmte Brasilien oder die europäisch geprägten Gesellschaften Argentiniens und Chiles.
Bilder von rauschenden Gay-Paraden beim Christopher Street Day in Mexiko-Stadt und Bogotá, von plateaubeschuhten Transvestiten in Glitzerkleidern beim Karneval in Rio oder von sich küssenden Männern im argentinischen Kino sind inzwischen nichts Außergewöhnliches mehr. Doch wie verläuft das Leben von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen in Lateinamerika abseits von Show und Leinwand? Wie sieht der Alltag aus? Wie der oft jahrelange Kampf um Rechte? Welche Ideen, Projekte und Strategien entwerfen Menschen, um so leben und lieben zu können, wie sie möchten?
Mit unserer Artikelserie haben wir versucht, verschiedene Aspekte queeren Alltagslebens einzufangen. In den Beiträgen geht es um Leben und Überleben in einer Umwelt, die geprägt ist von Unverständnis, Diskriminierung und Gewalt. Gleichzeitig werden kreative Wege und Strategien offen gelegt, die die AkteurInnen einschlagen, um in der Gesellschaft sichtbarer zu werden und das Recht auf eine freie sexuelle Identität als Menschenrecht zu etablieren. Nicht zuletzt wird auch die Schwerfälligkeit deutlich, mit der sich sowohl konservative als auch progessive Regierungen gegenüber alternativen Formen von Partnerschaft und Familie öffnen.
Es werden aber auch anpassende und ausschließende Verhaltensweisen innerhalb der Queer-Szene, seien dies rassistische Vorurteile weißer Homosexueller gegenüber indigenen Schwulen oder die Tatsache, dass Transvestiten mitunter auch von homosexuellen Teilen der Gesellschaft Ablehnung erfahren. Zu beobachten ist außerdem, dass Schwule immer mehr als Konsumenten entdeckt werden und schwuler Lifestyle teilweise im Mainstream angekommen ist – Lesbischsein jedoch nicht.
Die Beiträge zeigen, dass politischer Aktivismus aus der lateinamerikanischen LGBT-Szene keineswegs auf sexuelle Rechte und Identitätspolitik beschränkt ist, sondern weit darüber hinaus geht. Nicht zuletzt bieten sie einen spannenden Einblick in kreative Protestaktionen und Ausdrucksformen queerer Identität. Da wird im Kampf um ein Gesetz für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in Mexiko Stadt eine lesbische Hochzeit ausgerichtet – in Brautkleidern aus Papier. Ein „beijo gay“, ein schwul-lesbischer Massenkuss, bringt vor dem Regierungspalast in Brasilia die Empörung über die Zensur eines schwulen Fernsehkusses zum Ausdruck. Und in einer bolivianischen Fußgängerzone wird ein Bett aufgestellt – mit zwei Frauen drin.
Markus Plate gibt einen Überblick über politische Entwicklungen in den Queer-Szenen Lateinamerikas. Er lotet auch die Überschneidungen und Widersprüche zwischen linken Zusammenhängen und queeren Projekten aus.
Lohana Berkins schildert Lebenssituation und Selbstverständnis von Transvestiten in Argentinien. Sie erzählt von Gewalt und Kriminalisierung, aber auch von den Strategien der AktivistInnen, den Begriff Travesti politisch neu zu definieren und die herrschende Logik der zwei Geschlechter zu durchbrechen.
Louise Thiel hat schwule Gewerkschaftsaktivisten begleitet, die in Weltmarktfabriken an der m+exikanischen Nordgrenze arbeiten. In ihrer Reportage wird deutlich, wie in den Maquilas in Ciudad Juárez die Grenzen zwischen Heterosexualität, Homosexualität und Machismo verschwimmen.
Dass es auch lebensbedrohlich sein kann, eine „andere“ Sexualität zu leben, erfuhr Annette Nana Heidhues im Interview mit dem kolumbianischen Psychologen Pedro Patiño. Er erzählt von Ablehnung und Gewalt gegen Homo- und Transsexuelle und von der Arbeit des landesweit ersten Beratungszentrums für die LGBT Gemeinde, das derzeit in Bogotá aufgebaut wird.
In Nicaragua ist Homosexualität strafbar. Silke Heumanns Beitrag zur Geschichte der Homosexuellen-Bewegung in Nicaragua zeigt, dass diskriminierende Politik von linken wie von rechten Regierungen ausgeht. Wurden die Rechte von Lesben und Schwulen unter der sandinistischen Regierung größtenteils als Nebenwiderspruch ausgeblendet, so öffneten sich nach dem politischen Umbruch neue Räume. Der Strafrechtsparagraph ist jedoch bis heute nicht abgeschafft worden. Der AIDS- Aktivist Guillermo Murillo erzählt im Interview mit Markus Plate, wie sich die anfangs schwul dominierte AIDS-Bewegung Costa Ricas in der Zusammenarbeit mit heterosexuellen Frauen verändert hat.
Inwiefern Homosexualität inzwischen im kulturellen Mainstream angekommen ist, untersucht Gundo Rial y Costas in seinem Beitrag über die Darstellung von Schwulen und Lesben in brasilianischen, argentinischen und chilenischen Telenovelas.
Barbara Kastner sprach mit dem Schauspieler und Regisseur Flavio Sanctum, der in Rio de Janeiro mit homosexuellen Jugendlichen arbeitet, über die Angst vor dem „ganz normalen Schwulen“ in der brasilianischen Gesellschaft.
Die letzten drei Artikel widmen sich politischen und künstlerischen Gegen-Strategien zur heterosexuellen Norm. Ina Riaskov streift durch die lesbische Szene von Mexiko-Stadt und stößt auf eine Vielzahl von Aktivistinnen und Künstlerinnen, die ihrem politischen Standpunkt auf ebenso humorvolle wie kreative Weise Ausdruck verleihen. Katharina Severin traf sich mit dem chilenischen Künstler und Anna-Seghers-Literaturpreisträger Pedro Lemebel, der mit exzentrischen Performances und bissigem Humor die chilenische Gesellschaft bereits zu Zeiten der Diktatur provozierte.
Den Abschluss bildet Jens Kastners Portrait des bolivianischen Frauen-Kollektivs Mujeres Creando, in dem indigene und weiße, lesbische und heterosexuelle Feministinnen gleichermaßen aktiv sind. Bei ihren Aktionen im öffentlichen Raum greifen sie zwar oft lesbische Themen auf, betonen jedoch, dass es ihnen nicht um Homosexualität als Identität stiftendes Merkmal gehe, sondern um eine weiter gefasste „Strategie des Ungehorsam“ gegen rassistische und sexistische Herrschaftsverhältnisse.
Wir danken Rotmi Enciso, die uns die Fotostrecke für diesen Schwerpunkt zur Verfügung gestellt hat. Sie lebt und arbeitet als lesbische Künstlerin, Schauspielerin, Filmemacherin und Fotografin in Mexiko-Stadt. Ihre Arbeiten, die sie als politische Interventionen versteht, kreisen um Themen wie lesbische Identität, Frauenrechte und widerständische Strategien. Hinter der Kamera lässt sie sich „vom Blick des Gegenübers inspirieren, in dem sich die Vielzahl anderer Blicke und ein Stück geformte Geschichte widerspiegeln.“

Der verbotene Zungenkuss

Zeca (Erom Cordeiro) schaut Júnior (Bruno Gagliasso) tief in die Augen. Und auch Júnior schaut Zeca ganz tief in die Augen. Die beiden gutaussehenden jungen Männer stehen hinter einem Vorhang und sind wie hypnotisiert voneinander, die Stimmung ist romantisch knisternd, das Einzige was fehlt ist der Kuss. Doch bevor geküsst wird, erfolgt ein scharfer Schnitt, die Kamera schwenkt und zeigt in einer neuen Einstellung Júniors Mutter mit ihrem neuen, mehrere Jahre jüngeren Freund. Die beiden geben sich intensiv dem ersten Kuss hin, im Hintergrund der Abendhimmel und ein riesiges Feuerwerk. Boiaderos, das Caipira-Dorf im Hinterland von São Paulo, in dem die Telenovela spielt, feiert ein berauschendes Fest und beendet damit América, nach acht Monaten und mehr als 200 Folgen. Auf den Kuss von Zeca und Júnior wartet man vergeblich.
Die beschriebene Szene ist nicht etwa einer Telenovela aus der Zeit der Militärdiktatur entnommen, nein, sie ist im November 2005 im brasilianischen Fernsehen von dem Sender Globo zur Hauptsendezeit ausgestrahlt worden. Ist es also heutzutage im 21. Jahrhundert, wo in ganz Lateinamerika Gay Parades mit Millionen von Zuschauern gefeiert werden, möglich, dass ein harmloser Zungenkuss von zwei Schwulen zensiert wird? Und inwieweit entspricht dieser „verbotene Kuss“ der allgemeinen medialen Repräsentation von Homosexualität in lateinamerikanischen Telenovelas?
Telenovelas, welche sich von Soap Operas darin unterscheiden, dass sie eine klare narrative Struktur und ein absehbares Ende nach fünf bis acht Monaten besitzen, haben einen besonderen Stellenwert in Lateinamerika. Entstanden aus kubanischen und argentinischen Radionovelas Anfang der 1940er Jahre und zurückgehend auf den französischen Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts, stellen sie die massenmediale Neuaufbereitung der oralen populären Kultur in Lateinamerika dar. Zurückgehend auf eine in den meisten Ländern hohe Zahl von Analphabeten und eine sehr ausgeprägte Fernsehkultur nehmen die Telenovelas oder Teleseries einen zentralen Platz im täglichen Leben vieler LateinamerikanerInnen ein. So übertreffen die Einschaltquoten der letzten Folge mancher Serie die Einschaltquoten eines Endspiels der Fußballweltmeisterschaft.

Kaum gesellschaftskritisches Potenzial

Brasilien und Mexiko sind führend in der Produktion lateinamerikanischer Telenovelas und expor­tieren in mehr als 100 ver­­schiedene Länder, darunter Russland, Rumänien, der Jemen und China. In China wurde in den 1990er Jahren sogar eine brasilianische Telenovela-Schauspielerin zur Schauspielerin des Jahres gewählt.
Das Format greift hochaktuelle Themen auf, welche die jeweilige Gesellschaft gerade in Atem hält. Aber auch anders herum funktioniert der Einfluss: „Die Telenovela besitzt die Macht, ein bestimmtes Thema aufzugreifen, so dass es in ganz Brasilien diskutiert wird,“ meint Brasiliens Telenovela-Autorin Nummer 1 Gloria Pérez. Telenovelas verfügen durch die starke mediale Präsenz über eine unglaubliche Reichweite. Drogenmissbrauch, Frauenrechte, Migration und eben Homosexualität sind einige der am häufigsten verarbeiteten Themen.
Anders als im Kino oder im Theater verfügen Telenovelas aber über kaum gesellschaftskritisches Potenzial. Es wird vielmehr das gezeigt, was innerhalb eines Produkts der Kulturindustrie möglich ist, eingebettet in eine melodramatische Erzählstruktur. Nur, dass darüber sowohl auf dem Schulhof, dem Arbeitsplatz als auch in der Disco diskutiert wird.
Für die Darstellung von Schwulen bedeutete dies über viele Jahrzehnte hinweg eine sehr stereotypisierte Art der Beschreibung, die ihren Anfang in den ersten zaghaften Versuchen in den 1970er Jahren nahm. Der in ganz Lateinamerika dominante Machismo und die offene Homophobie insbesondere der Militärdiktaturen in Südamerika trugen damals dazu bei, dass Homosexuelle vor allem übertrieben gestikulierend und in unsäglich bunten Glitzerkleidern gezeigt wurden – hauptsächlich als Friseure oder Modedesigner. Schwule wurden als „feminisiert“ dargestellt, häufig im Gegensatz zum starken Macho.
Erst in den 1980er Jahren, und parallel zu den ersten aufkommenden Gay Pride Bewegungen, wur­den zum ersten Mal nicht über­zogen stereotypisch dargestellte Schwule in Telenovela-Haupt­rollen gezeigt (Omar Omana 1984 in La Dueña, Venezuela; im konservativen Mexiko erst 1997 mit Desencuentros). Und es sollte bis in die 1990er Jahre dauern, bis sich in einer argentinischen Telenovela (Zona de Riesgo, 1992) zwei Schwule, Rodolfo Ranni und Gerardo Romano, einen Zungenkuss geben durften.
Argentinien ist auch das einzige lateinamerikanische Land, in dem vermehrt explizit homosexuelle Sze­nen in Telenovelas gezeigt wur­den und werden. Dies geht wohl darauf zurück, dass das Land stärker als die meisten anderen Länder auf dem Kontinent europäisch geprägt ist. Mittlerweile scheint in Argentinien eine Zensur wie von Júnior und Zecas beijo undenkbar. Stereotypische und karikie­rende Darstellungen von Schwulen bestanden und bestehen in Argentinien jedoch weiterhin fort.
In Chile wurde ähnlich wie in Brasilien unlängst eine homosexuelle Szene einer Telenovela vom Sender zensiert. Es sollte jedoch nicht zwangsläufig von der Freizügigkeit oder Zensur in der Darstellung auf die (Un-)Beliebtheit von Schwulen beim Hetero-Publikum geschlossen werden. So hat zum Beispiel in Brasilien 2005 ein offen über sein Sexualleben redender Homosexueller die brasilianische Ausgabe von Big Brother (BBB) für sich entscheiden können – und dies auf Kanal Globo, der den „ver­botenen Kuss“ zensiert hatte.

Lesben als „Störenfriede“

Die Geschichte der medialen Darstellung von Lesben in lateinamerikanischen Telenovelas unterscheidet sich von der von Schwulen. Argentinien hat hier keine innovative Vorreiterrolle inne. Ganz im Gegenteil, in diesem Land gab es bereits in den 1960ern eine eigene Richtung der Telenovelas mit dem Titel Mujeres en la cárcel, die auf einer machohaften Sichtweise gründete, welche lesbische Frauen als hetzerisch darstellte.
In anderen Ländern in Lateinamerika wurden Lesben in den
Telenovelas häufig als „Störenfriede“, und „Unruhestifterinnen“ charakterisiert. Die kolumbianische Telenovela Los Pecados de Inés de Hinojosa, in der lesbische Frauen dar­­­­gestellt wurden, wurde aufgrund von Zuschauerprotesten 1986 eingestellt. Zu einem Wan­del kam es erst in den 1990er Jahren.
Die realistischsten Darstellungen von Lesben entstammen heute dem Land, in dem Júniors und Zecas Kuss zensiert wurde. Meist sind es elegante Frauen aus der brasi­lianischen Mittelklasse, welche ein unabhängiges Leben führen. Dabei ist eine interessante Veränderung festzustellen: Wurde 1998 in A Torre de Babel ein lesbisches Pärchen noch aufgrund von Zuschauerprotesten in der Telenovela in die Luft gesprengt, so fanden 2003 Clara (Aline de Moraaes) und Rafaela (Paula Picarelli) in Mulheres Apaixonadas glücklich zueinander und wurden im gleichen Bett schlafend gezeigt. Schließ­lich adoptierten die beiden Frauen ein Baby, was sowohl innerhalb der Telenovela als auch in der Öffentlichkeit von allen Seiten positiv aufgenommen wurde.

Protestküsse gegen Zensur

Zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit geben Anlass zur Hoffnung auf realistischere und differenzierte Darstellungen von Schwulen und Lesben. Zum einen ist das Machos (2003) aus dem konservativen Chile, wo zum ersten Mal eine homosexuelle Konstellation gezeigt wurde, die fernab von Klischees angesiedelt war: Felipe Braun stellt als Dr. Ariel Mercader einen brillanten Kardiologen dar, weit ab von dem karikierenden Bild des tuntigen Friseurs. Schließlich war dies 2006 auch in Kuba (El lado oscuro de la luna) der Fall, wo Homosexualität bis dahin nicht im Fernsehen thematisiert wurde – beispielsweise wurde der vielfach ausgezeichnete kubanische Gay-Film Erdbeer und Schokolade (1993) noch nie im kubanischen Fernsehen ausgestrahlt.
Ein letzter Rückblick auf Júnior und Zeca: Der in den brasilianischen Medien bereits Wochen zuvor angekündigte Kuss der beiden männlichen Schauspieler hatte heftige Diskussionen ausgelöst. Globo ließ daraufhin Meinungsumfragen durchführen. Eine hauchdünne Mehr­heit sprach sich gegen den Kuss aus.
Dies genügte der konservativen Chefabteilung des Senders, sich gegen die Ausstrahlung der Szene auszusprechen und sie zu zensieren, ohne die Autorin Gloria Pérez darüber zu informieren. Es kam zu heftigen Proteststürmen sowohl von der Gay Community als auch von sich solidarisierenden Heteros in ganz Brasilien. In Brasilia versammelten sich mehrere hunderte Schwule und Lesben vor dem Palast der Republik, um dort als Antwort auf die Zensur einen Massen beijo gay (schwulen Kuss) zu zelebrieren.

Hip-Hop mit Hindernissen

Musik erschallt auf dem Malecon, der Strandpromenade in Havanna: Stimmen, ein Beat, eine eingängige Melodie. TouristInnen bleiben neugierig stehen und betrachten die drei jungen Männer, die ein paar hundert Meter der berühmten kubanischen Strandpromenade mit ihren Tönen füllen: Doanto und Toño rappen mit kräftigen, vollen Stimmen, und Alberto, zurückhaltend im Hintergrund, ist das lebende Schlagzeug. Mit Lippen und Zwerchfell formt er immer neue Rhythmen. Reggae-Singsang wechselt sich mit aggressivem Rap und kunstvollem Zungenbrecher-Sprechgesang ab. Mit großer Leichtigkeit spult Donato blitzschnell ein paar Sätze ab, jedes Wort ist zu verstehen.
Ist die Vorstellung zu Ende, preisen die drei ihre CD an. Auf dem Cover: Donato und Toño mit Sonnenbrillen, weiten Shirts und Tüchern um den Kopf, die Arme verschränkt und die Köpfe gelangweilt schief gelegt, als ginge sie das alles nichts an. Die TouristInnen sind beeindruckt und machen Fotos. Da kommt ein Polizist herbeigeschlendert und fordert die beiden jungen Musiker auf, sich zu identifizieren. Sofort haben sie ihre Ausweise einer staatlichen Künstlervereinigung bereit. Nach einem kurzen, misstrauischen Gespräch ist der Beamte zufrieden und zieht ab. Doch auch die TouristInnen sind inzwischen weitergeschlendert. „Ist nicht leicht“, meint Toño lakonisch. Ein typischer Ausspruch, der zugleich Resignation und Trotz ausdrückt.

Der Staat rappt mit

Donato und Toño sind zwei von vielen: Um die 500 Rappergruppen soll es in Kuba geben. Die wenigsten schaffen es, von der Insel wegzukommen und sich international einen Namen zu machen. Der kubanische Staat reglementiert die Musikproduktion, und ohne Unterstützung einer staatlichen Behörde geht gar nichts. Zudem müssen die SprechkünstlerInnen immer aufpassen, was sie sagen: Nur „gesunde Inhalte“ sind erlaubt.
Auch um aufzutreten brauchen die RapperInnen die staatliche Einwilligung. Donato und Toño sind Mitglieder der staatlichen Künstlervereinigung UNEAC. Ohne ihre Ausweise dürfen sie offiziell nicht auftreten.
„Wir müssen raus aus Kuba“, seufzt Toño. Wie die Orishas, die sich 1998 in Paris neu gründeten und es weltweit zu Ruhm gebracht haben. Um Kuba verlassen zu können, hätten sie sich angepasst, meint der Malecon-Rapper. Die Band hieß ursprünglich La Amenaza (Die Drohung). Damals seien ihre Texte noch kritischer gewesen, so Toño. Um berühmt zu werden, hätten sie ihre Worte und ihren Namen geglättet: Orishas sind die Heiligen der Santeria, der afro-kubanischen Religion. Traditionsbewusst, aber nicht kritisch. Das hatte Erfolg.

Hoffen auf Unterstützung

Auch die drei Jungs von Habana 100%, Yassel, Juliet und Cesar, sollen ihren Namen ändern. Sie kommen aus Santiago de Cuba im Osten der Insel und wollen Mitglied der Asociacion Hermanos Saiz (AHS) in Habana werden. Die Nichtregierungsorganisation, die vom kubanischen Kulturministerium unterstützt wird, hilft kubanischen KünstlerInnen, die jünger als 35 sind mit Studios, Kontakten und Auftritten. In allen 14 Provinzen Kubas hat die AHS Büros; etwa 3500 KünstlerInnen – MusikerInnen ebenso wie SchriftstellerInnen und MalerInnen – sind Mitglieder. Yassel und seine Kollegen hoffen, mit ihrem Stilmix gut anzukommen: Sie mischen in ihren Songs Hip Hop, tanzbaren Merengue und kräftigen Reggaeton. Das erste Vorstellungsgespräch der drei bei der AHS verlief vielversprechend: Supermusik, hieß es. Nur der Name solle bitte geändert werden, er sei nicht kubanisch genug. Die drei grübeln. Lange. Etwas noch kubanischeres als Habana 100% will ihnen nicht recht einfallen. Sie verwerfen die Namensdiskussion zunächst, Wichtigeres steht an: Der Termin in einem unabhängigen Studio, um ein paar Songs aufzunehmen.
Seit etwa sechs Jahren stehen den RapperInnen in Kuba viel bessere technische Möglichkeiten zur Verfügung: Das Internet hat neue Spielräume eröffnet. Ist es auch teuer und daher für Kubaner schwer zugänglich, bietet es doch Möglichkeiten zum Austausch. Zum Schneiden ist nur noch ein Computer notwendig, auch die Beats kommen aus dem Rechner. Vorher griffen viele der Rapper auf Karaoke zurück um nicht ganz a capella singen zu müssen. Und die Stücke mussten sie mühsam mit der Schere zusammenschnippeln.
Yassel und Julie haben ihre Musik schon in Santiago auf eine CD gebrannt, nur ihre Stimmen fehlen noch. Die beiden sind aufgeregt, als sie sich früh am Morgen an der Eisdiele treffen. Sie waren noch nie in dem Studio, und es liegt etwas außerhalb der Stadt. Tatsächlich ist es eine Odyssee, bis sie gegen Mittag ankommen: Zwei Busse und ein Sammeltaxi bringen sie an den Stadtrand Havannas. Unterwegs an der Bushaltestelle denkt sich Juliet ein neues Lied aus: „Wenn Du wüsstest, was ich gerade durchmache, verstündest Du vielleicht, wovon ich singe.“ „Ist nicht leicht“, sagt auch Yassel.

Das erste Studio

Im Vorort sind die Straßen nicht mehr geteert, kleine Häuser reihen sich aneinander, Palmen wachsen am Straßenrand. Nach vielen Nachfragen ist schließlich das Studio gefunden: Zuerst in einen Hof, an einem Haus vorbei, vor dem die Wäsche trocknet. Dann um den Stall herum, durch einen weiteren kleinen Hof, in dem Windeln in einem Pott weichen, über eine wackelige Eisenstiege aufs Dach. Ein kleiner Betonraum mit Wellblechdach, nicht größer als acht Quadratmeter, das ist das Studio. Die Einrichtung: Zwei Stühle hinter einem Computer und einer Anlage, davor ein Mikro und eine Bank.
Hinter dem Computer sitzt Yoeslan Pérez und mixt blitzschnell zusammen, was vor ihm ins Mikro gerappt wird. Er spielt überall mit, wo Kuba Musik macht: Als Sprecher beim staatlichen Radiosender Cadena Habana, ebenso wie bei einer spanischen Produktionsfirma und als DJ. Nebenbei produziert er auf seinem Hausdach Musik. Ob das legal ist, weiß er nicht, aber: „Ich kenne viele Leute, die das machen, und bis jetzt hat noch keiner Probleme gehabt.“ Eine Grauzone also. Aber nicht billig: Eine Stunde Produktion kostet 10 Dollar. Das ist für viele KubanerInnen, die etwa soviel im Monat verdienen, unerschwinglich. Auch Yassel und Julie tut die große Ausgabe weh, aber es ist eine Investition in ihre Zukunft.

„Gesunde Inhalte“

Zappelig positioniert Yassel sich vor dem Mikrofon. Der Traum, berühmt zu werden, blitzt aus seinen Augen und macht ihn nervös. Der Refrain wird zuerst aufgenommen: „Sie will mehr Sex, Yassel!“ Obwohl das kein politischer Text ist, bewegt er sich an der Grenze des in Kuba Erlaubten. Produzent Pérez erzählt, dass er Reggaeton mit seinen häufig doppeldeutigen Texten im Radio nicht mehr spielen dürfe. „Haben sie mir einfach verboten“, sagt er spöttisch grinsend. Damit ist für viele MusikerInnen in Kuba der Traum vom Erfolg vorbei. Ist ein Lied weder im Radio noch im Fernsehen zu hören, ist es schwer, es bekannt zu machen. Manche suchen daher ihr Glück via Internet in Übersee: Die Reggaetonband Los tres gatos (Die drei Katzen) hören vor allem US-AmerikanerInnen in Miami über Internetradio. Für Kuba sind die Texte der drei zu deftig.

Harmlos genug

Yassell und Juliet denken, dass ihr „Sie will mehr Sex“ harmlos genug ist. Yoeslan Pérez mischt den Refrain ab und der nächste Teil des Liedes kommt: Jetzt rappt Juliet. Seine Stimme ist viel tiefer als Yassels und wie Samt, nachdrücklich artikuliert er die Worte ins Mikrofon. Am Schluss müssen alle noch ihre Namen rappen, das ist sehr wichtig beim Reggaeton, erklärt Pérez. Die Sänger identifizieren sich in jedem Lied.
So erkennen die ZuhörerInnen die Gruppen wieder. „Wir wollen Musik machen, die sich gut verkaufen lässt“, sagt Yassel. Er ist noch nicht zufrieden mit der Aufnahme, würde sie am Liebsten gleich noch mal machen. Aber das muss bis zum nächsten Tag warten, denn jetzt ist eine weitere Gruppe dran. Bis zu fünf Gruppen produzieren an manchen Tagen in dem Dachstudio, die meisten machen Reggaeton und Hip Hop.
Wenn sie erstmal Mitglieder der AHS sind, werden Yassel und Julie diese Organisationsprobleme nicht mehr haben: Die Vereinigung stellt ein Studio zur Verfügung und dreht Videoclips mit den Bands. Aber das Wichtigste ist: Sie schickt sie ins Ausland. Wegzukommen aus Kuba, möglichst, wie die Orishas, eine ausländische Produktionsfirma zu finden, das ist der Traum aller jungen RapperInnen in Habana. Produziert eine ausländische Firma eine kubanische Band, fordert der kubanische Staat Abgaben. Deshalb behaupten böse Zungen, es sei sehr gerne gesehen, wenn die jungen MusikerInnen außerhalb Kubas Alben aufnehmen.
Donato und Toño scheint das Ausland unerreichbar fern. Donato hat die Reise schon einmal angetreten: Auf einem Floß gelangte er in die USA. Ein Freund starb auf dem Weg; er selbst landete in den Vereinigten Staaten schließlich im Knast. So will er es nicht noch einmal versuchen. Lieber arbeitet er auf Kuba weiter an seinem zungenbrecherischen Sprechgesang. Inspiration sei den beiden jede Musik, sind sie sich einig: Von Mariachi-Gesängen, die sie hervorragend nachahmen können, über Popmusik zur klassischen Trova Kubas. Aus dem Stand geben sie ein Ständchen mit zwei Gitarristen, indem sie den berühmten „Chan Chan“ mit Rap vermischen. Und es klingt gut: Die Melodie, die alle Welt aus dem Buena Vista Social Club kennt, harmoniert mit Toños kernigem Rap. Donato hat schon mit der erfolgreichen Reggaeton-Gruppe Kadima zusammen gearbeitet. Und sich mit ihr überworfen. Donato und Toño seien viel zu sehr „underground“, heißt es in der Szene, um von Kuba wegzukommen. Die beiden Rapper bestreiten das. „Wir machen nicht solche Schmuddeltexte wie die US-Rapper“, ereifert sich Toño, „hier auf Kuba sind wir gut erzogen“.

Neue Zeiten – neue Töne

Abgrenzung von den USA war ein wichtiger Schritt in der Geschichte des kubanischen Raps. Erst in den 90er Jahren, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Beginn der entbehrungsreichen „Spezialperiode“ in Kuba, begann sich eine eigene Szene herauszubilden. So weit die Zensur es zuließ, dichteten die WortkünstlerInnen Texte über ihre alltäglichen Probleme. Oder sie reimten leise für sich, im heimischen Wohnzimmer. Zum Beispiel über Erfahrungen mit der Polizei: „Einmal wurden wir festgenommen, einfach so, weil wir uns einen halben Block von unserer Wohnung entfernt nicht ausweisen konnten“, sagt ein Musiker. „Darüber haben wir ein Lied gemacht. Aber nur für uns. Denn wenn du so was laut singst, bleibst du für den Rest deiner Tage im Knast.“
Trotz der Zensur akzeptierte der kubanische Staat die neue Musikform im Laufe der neunziger Jahre immer mehr. 1995 rief die AHS zusammen mit dem Kulturzentrum Osthavannas das Rapfestival Alamar ins Leben. Der eher arme Bezirk Alamar im Osten Havannas gilt als Geburtsstätte des kubanischen Rap. Seither ist das jährlich stattfindende Festival ein Muss für alle RapperInnen: Sie können die Konkurrenz besichtigen und treffen internationale Gäste, in der Hoffnung, gute Kontakte zu schließen.

Erfolgsgeschichte aus Guantánamo

Während Toño und Donato diese Kontakte noch immer fehlen und Yassel und Juliet sie durch die AHS zu finden hoffen, hat Skiudys es geschafft: Er kann im Herbst zum ersten Mal in Mexiko auftreten. Skiudys ist aus Guantánamo und dort seit vier Jahren Mitglied der AHS.
Die Künstlervereinigung unterstützt laut eigener Aussage „Musiker, die gesunde Musik machen und Alternativen bieten“. Skiudys will jedoch an seinem Stil und seiner Musik keine Abstriche machen. „Ich mache keinen Reggaeton, das ist mir zu kommerziell“, betont er. Sein Stil ist unverfälschter Rap, und überraschend ehrlich sind auch seine Texte: „Bildung auf einem hohen Niveau, aber das wirkliche Problem ist das soziale Niveau, Armenviertel, Kinder, die Rotz spucken, aufgeblähte Bäuche, Unterernährung…“ Vielleicht kann Skiudys all das sagen, weil er es innerhalb der Revolution verortet. Denn die will er umgesetzt sehen: „Wenn du meine Lieder hörst, wirst du merken: Hasta la victoria siempre ist nicht mehr nur ein Spruch.“ Mit seinem ehrlichen Stil ist er erfolgreich: Er ist schon oft aufgetreten und wurde dafür gut bezahlt. Über 1000 kubanische Pesos hat er für einen Gig bekommen, das fünffache des durchschnittlichen Monatslohns – und dennoch nur rund 35 Euro wert. Trotz des vergleichbar guten Lohns verortet Skiudys sich auf der Seite der Armen, Ausgeschlossenen: „Die gibt es nämlich auch auf Kuba.“ Das erste Album, das er zusammen mit seinem Kollegen Abel aufgenommen hat, heißt dem entsprechend Los Marginados – die Marginalisierten.
Wollen auch viele Skiudys Songs hören, so ist doch der Erfolg des kommerzielleren Reggaeton größer. Die 2002 auf Initiative der AHS gegründete kubanische Rapagentur unterstützt heute fast nur noch Reggaeton. Der Beat ist in ganz Lateinamerika in und verkauft sich besser als Rap.
Dass er dennoch auf Radio Cadena Habana, wo Yoeslan Pérez die Ansagen macht, nicht gespielt werden darf, ist einer der vielen Widersprüche des kubanischen Systems.

Papa Fidel

Und der steckt auch in den RapperInnen selbst. Denn so eingeschlossen sie sich fühlen in ihrem System, so sehr wissen sie es zu schätzen. „Sozial ist Kuba das beste Land der Welt, aber politisch und ökonomisch nicht“, wiegt Skiudys ab. Und Donato und Toño haben ein Lied über die Revolution gemacht: „Auch wenn viele mich kritisieren oder verfluchen, werde ich kämpfen bis zum Tod, denn (die Revolution) schickte mich in die Schule und gab mir Perspektiven….“
Präsident Castro nennen Donato und Toño „Vater Fidel“. Was wird aus Kuba ohne ihn werden? Donato wird sehr nachdenklich: „Was ist das Besondere hier?“ fragt er und beantwortet gleich seine Frage: „Die Solidarität. Die Sicherheit. Der Zusammenhalt. Das alles wird verschwinden, wenn Fidel nicht mehr da ist.“ Skiudys sagt, er sei „auf alles vorbereitet“. Denn: „Die Kubaner interessieren sich nicht für Politik. Sie sind keine Kommunisten, sondern Fidelisten.“ Und seiner Meinung nach kann es keinen neuen Fidel geben. Mit seinem Kollegen Abel gerät Skiudys in eine Diskussion, denn Abel meint, es gebe sehr wohl einen Nachfolger. Den habe Fidel sich schon herangezüchtet. Er wünscht sich eine „kooperativistischen Staat“ nach Fidel, und für sich selber das, was alle wollen: Ausreisen. Allerdings ohne seine Familie, denn seine Tochter soll in Kuba zur Schule gehen.
„Ist nicht leicht“, sagt Toño abschließend. Er blickt über die Mauer des Malecon in die schwarze Nacht. Am Horizont verschmelzen Meer und Himmel in der Dunkelheit. Toño dreht sich um, trinkt noch einen Schluck Rum und setzt zu einer neuen Strophe an.

Drogenhandel gilt als normale Arbeit

Sind die narcocorridos die Stimme des Volkes, die mit dem offiziellen Diskurs über den Drogenhandel kollidiert?

Ja. Vergleicht man die Version der mexikanischen oder der US-amerikanischen Regierung mit dem Großteil der corridos über den Drogenhandel und die Schmuggler, so haben sie eine radikal entgegengesetzte Botschaft. Die einen erzählen die Ereignisse aus der Sicht der politischen Macht, die andere Seite erzählt eine Version, die sich der Sicht der Drogenhändler annähert. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wurde das Monopol des legitimen Diskurses über den Drogenhandel gebrochen. Und obwohl es auch Musiker gibt, die die Geschichten von Militärs und Polizist erzählen, so nehmen doch die meisten die Perspektive der Drogenhändler ein, denn die sind auch Leute aus dem Volk, genau wie die Komponist dieser corridos. Sie entstammen denselben sozialen Schichten und teilen viele kulturelle Codes. Und dann ist da die physische Nähe zu den Drogenhändler, denn einige stammen aus den Regionen, in denen Drogen angebaut werden. Sie sind sehr viel näher an den Menschen, die sich dem Drogengeschäft in seiner ganzen Breite widmen, als zum Beispiel ein Funktionär im Sekretariat der nationalen Sicherheit oder im Justizapparat der Republik.

Wie unterscheidet sich das Bild des Drogenhändlers in den Liedern vom offiziellen Diskurs?

Es handelt sich ja um etwas Ungesetzliches und es werden allen, die mit dem Anbau, dem Vertrieb oder dem Konsum dieser verbotenen Substanzen im Zusammenhang stehen, eine Reihe negativer Eigenschaften zugeschrieben. In den corridos ist es genau umgekehrt. Die Personen des Drogengeschäfts sowie die Drogen selbst werden häufig mystifiziert. Die corridos enthalten ethische Codes, die denen der Drogenhändler ähnlich sind und die im Widerspruch stehen zu den ethischen Codes, die die Regierung vertritt. Sie sehen die Drogenhändler nicht als Kriminelle und Gesetzesbrecher, sondern als Menschen, die einer würdevollen Arbeit nachgehen wie jede/r andere auch. Zum Beispiel sind sie die „amigos de los amigos“, die Freunde der Freunde, sie sind sehr mutig, sie sind geachtete Persönlichkeiten, und ihre Feinde sind die Repräsentanten des Gesetzes.

Was halten Sie von den Bemühungen um das Sendeverbot von narcocorridos im öffentlichen Radio?

Die Entscheidung zur Zensur ist sehr kompliziert und hat damit zu tun, ob man von Seiten der Staatsmacht an dem Recht auf freie Meinungsäußerung rütteln will. Wenn man beginnt, diese Art Musik zu zensieren, woher wissen wir dann, dass das nicht weitergeht mit Fernsehen, Radio, Filmen, Büchern? Dort ist, was an den corridos kritisiert wird, nämlich die Gewalt, auch präsent und oftmals auf viel drastischere Weise. Und das Argument der Gegner dieser Musik, dass die corridos die Moral der Menschen zerstören, ist auch ein absurdes Argument. Da könnte man ja nur noch gregorianische
Gesänge oder Kinderlieder im Radio senden. Das ist also absurd.

Und warum hat Ihrer Meinung nach diese Musik soviel Erfolg?

Weil die Menschen an das Phänomen des Drogenhandels und die Leute, die damit ihr Geld verdienen, gewöhnt sind. Und sie wissen, dass die Kette der Korruption sehr lang ist. Also, so ist der Gedankengang dieser Menschen, warum sollen wir dem glauben, was die Autoritäten sagen, wenn wir wissen, dass viele dieser Autoritäten die Drogenbosse in Schutz nehmen? Warum sollen wir nicht an andere Versionen glauben, wenn wir aus Erfahrung wissen, dass Politiker sie decken, Militärs, Polizisten und Unternehmer Geld waschen, Architekten ihnen ihre Häuser bauen, Buchhalter ihre Geschäftsbücher führen, Anwälte sie verteidigen? Wenn wir im wirklichen Leben sehen, dass die Repräsentanten des Gesetzes selbst in das Drogengeschäft involviert sind?

Masken und Zyklone – Enttäuschung und Neubeginn auf Kuba

Er lüftet Geheimnisse hinter Masken und lässt Illusionen wie Seifenblasen platzen. Leonardo Padura entführt seine LeserInnen in Havannas Parallelwelten und folgt dem kubanischen Traum. Damit stehen sowohl der dritte als auch der vierte Teil seines Havanna-Quartettes den ersten Bänden in nichts nach. Im ersten Teil hatte er seinen Anti-Helden, den Kommissar Mario Conde mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, indem er ihn gegen einen Mitabiturienten recherchieren ließ. Dabei musste er auf- und entdecken, dass der vermeintlich perfekte Saubermann und zuverlässige Genosse nur Fassade war und sich dahinter ein korrupter Machtmensch verbarg.
Die Ideale, zu denen die Kinder der sozialistischen Revolution erzogen werden sollten, zeigten hier sowie in den weiteren Bänden des Quartetts ihr wahres Gesicht.
Auch im dritten Band, Labyrinth der Masken, werden Saubermänner entlarvt und die kriminalisierten oder diskriminierten Außenseiter entlastet. Kommissar Mario Conde, der keine gute Meinung von sich hat, versinkt in diesem Band zeitweilig in tiefen Depressionen. Das Leiden seines Freundes Carlos, dessen gescheiterten Beziehungen und Einsamkeit, belasten ihn.
In diesem Moment bekommt er einen Fall übertragen, der nach Routine aussieht, sich aber bald als äußerst delikat herausstellt, nicht nur weil das Opfer Sohn eines hochrangigen Diplomaten ist.

Transvestismus, Masken und Vorurteile

Bei den Recherchen gerät Mario Conde immer tiefer in die Transvestitenszene Havannas. Er muss seinen anfänglichen Ekel überwinden, wobei ihm ausgerechnet der schwule Alberto Márquez hilft, ein alternder Theaterregisseur, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere von der Zensur für immer gestoppt wurde.
Er führt Mario Conde ein in die Welt der Schwulen und Transvestiten, eine Welt von Menschen, deren Exaltiertheit Mario im Laufe der Ermittlungen immer verständlicher wird, je mehr er die Diskriminierung und Repression spürt, denen sie ausgesetzt sind. Es öffnet sich ihm eine gesellschaftliche Parallelwelt, die er zuvor nicht wahrgenommen hatte, weil er, wie alle anderen, diese Realität mittels machistisch verbrämter Vorurteile verdrängte.

Dekonstruktion von Vorurteilen und Empathie

Auch wenn die Vorurteile über Homosexualität und gesellschaftliche Randbereiche aufgezeigt und aufgebrochen werden, kippt dies im Roman nicht in eine Romantisierung der marginalisierten und diskriminierten Themen um. Die Realität ist zu hart für die Betroffenen, als dass Romantik aufkommen könnte.
Der Roman bleibt spannend bis zum Schluss – und auch dieses Mal kann man eher von einem Gesellschaftsroman sprechen als von einem Krimi. Dem Krimianteil verdankt der Roman aber seine Spannung, die nicht zuletzt auch durch das geschickte Spiel mit den Masken entsteht. Die Spannung löst sich allerdings nicht einmal am Schluss, als einige Geheimnisse hinter den Masken gelüftet werden. Denn was man dahinter sieht, ist nicht beruhigend. Im Gegenteil – nach der Lösung des Falles, als man tatsächlich hinter einige Masken blicken kann, werden Abgründe sichtbar, die alles in Frage stellen. Die Ermittlungen werfen mehr Fragen auf, als sie überhaupt lösen sollten.

Illusionen gehen über Bord – die Realität beginnt

Im letzten Band des Quartetts, Das Meer der Illusionen, löst Mario Conde seinen letzten Fall. Der Fall spielt im Herbst 1989, „die Illusionen in Kuba waren beendet, und die Realität begann“. (Padura im Interview in LN 370). Mario Conde und seine Freunde sind die versteckte Generation, die immer fremdbestimmt war und jetzt zwischen Nostalgie und Wut hin und her gerissen ist. „Immer bestimmen andere für uns, vom Kindergarten bis zum Grab auf dem Friedhof, auf den man uns einmal bringen wird.“
Daher sehnt Conde den Zyklon herbei, der Kuba bedroht, damit diese reinigende Katastrophe endlich Platz für einen Neuanfang schafft. Er löst seinen letzten Fall und zieht nebenbei Bilanz über sein Leben. Am Ende läuft alles auf einen dramatischen Höhepunkt zu, auf einen Wendepunkt. Manches wird für immer beendet, mancher geht für immer weg und manches fängt ganz neu an.
Mehr noch als in allen anderen Bänden ist der kubanische Traum und sein Ende das Thema, ohne dass der Autor polemisch würde. Die Illusionen sind geplatzt, aber die Erinnerungen und die Hoffnung bleiben: auf einen Neuaufbruch.
Auch wenn der Schluss ein bisschen überladen wirkt, da alles zu einem gewaltigen Höhepunkt auf einmal zusammenläuft, ist dieser Band wahrlich ein würdiger Abschluss für das Roman-Quartett, da er alle Fäden aufgreift und zu einem Ende führt. Man gewinnt einen tiefen und spannenden Einblick in die kubanische Realität, differenziert, düster und doch voller Hoffnung.

Leonardo Padura: Labyrinth der Masken und Das Meer der Illusionen.
Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein, Unionsverlag, Zürich, 2005, je 19,90 Euro

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