Francisco Arias und der Hahn

Francisco Javier Arias Cárdenas
heißt der einzige Mann, der die Wiederwahl des amtierenden venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez auf demokratischem Wege verhindern kann. Seit dem 10. März hastet der Gouverneur des Bundesstaates Zulia durch Land und Medien, immer ernst, immer um rationale Argumente bemüht. Selbst Auslandsreisen hat Arias unternommen, warb in den USA und Kolumbien für seine Vorstellungen einer „wahren demokratischen Revolution“ und schürte Misstrauen gegen seinen Kontrahenten Chávez, den er als despotisch kritisiert: „Die Situation hier ist schlimmer als in Peru“, sagte der 49-jährige Ex-Militär Arias mit Blick auf die Machtakkumulation bei Präsident Chávez und die verschobenen Wahlen. Der Präsidentschaftskandidat glaubt, dass es ein ähnliches Fiasko wie in Peru gegeben hätte, wären die für 28. Mai vorgesehenen „Megawahlen“ nicht verlegt worden. Nach der offiziellen Darstellung waren fehlerhafte Computerprogramme ausschlaggebend, die zur Stimmauszählung dienen. Einer der mit der Wartung beauftragten Firmen wurde gekündigt. Wie jedoch die Wochenzeitung El Razón berichtete, ließen wenige Tage nach der Aussetzung des Wahltermins Mitarbeiter des Wahlrates (CNE) Dokumente verschwinden. Die Zeitung vermutet, dass Spuren einer beabsichtigten Wahlfälschung verwischt werden sollten. Diese Bezichtigung will der moderate Arias nicht teilen, bis Beweise auf dem Tisch liegen. Dazu verlangt er einen Untersuchungsausschuss.
Bis die Gründe für den Stopp der Wahlen bekannt werden, kann Arias sich weiter um die Erringung des angepeilten Sieges über seinen Kontrahenten Chávez bemühen. Nach wochenlangem Tauziehen um den Termin gab die Comisión Legislativa Nacional (CLN) Ende Juni bekannt, dass in zwei Runden abgestimmt werden soll. 36.000 KandidatInnen stellen sich für 6241 Ämter zur Wahl. Am 30. Juli werden Präsident, Nationalversammlung, die regionalen Parlamente, die Stadträte sowie das Parlamento Andino und das Parlamento Latinoamericano gewählt. Am 1. Oktober folgen die Gemeinde- und Kirchenräte.
Nötig sind die Megawahlen, weil die im vergangenen Dezember verabschiedete neue Verfassung Venezuelas die Neuwahl sämtlicher öffentlicher Funktionsträger vorsieht. Trotz der größten Naturkatastrophe der jüngeren Geschichte des Landes, den Überschwemmungen weiter Teile der Küstenregion im vorigen Dezember, hatte Chávez mit Hilfe willfähriger Genossen im Verfassungsrat diesen zweiten Schritt seiner „Revolution“ vollzogen. Um seine Vision von der völligen Umwälzung der politischen Landschaft Venezuelas zu vollenden, fehlt dem Ex-Putschisten, dem seit Monaten schwere Vergehen gegen Pressefreiheit und Rechtstaatlichkeit vorgeworfen werden, nun noch der Gewinn der anstehenden Präsidentschaftswahlen. Für sechs weitere Jahre lägen die Geschicke Venezuelas dann in den Händen des Mannes mit dem roten Barett und der markigen Rhetorik. Mit der neuen Verfassung sind die Rechte des Staats- und Regierungschefs stark erweitert worden.

Arias’ Wahlkampf:
solide langweilig
Nur ein Mann schickt sich ernsthaft an, Chávez einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ausgerechnet einer der drei Mitstreiter beim Putschversuch von 1992 tritt am 30. Juli an, die Demokratie zu retten. Das jedenfalls hat sich Francisco Arias auf die Fahnen geschrieben. Der Vater zweier Kinder und Mann einer Ökonomin setzt auf Besonnenheit und Sicherheit. Dem Image eines Langweilers, der nicht mit dem Herzen bei der Sache sei und seine Kampagne kalt und berechnend durchzieht, will Arias sich scheinbar gar nicht entziehen. „Solide“ soll sein Wahlkampf sein, „kohärent“ das Programm, so Arias im Interview mit El Universal. Bei so viel kühlem Konservativismus ist fraglich, wie die Massen in den Armenvierteln auf Arias aufmerksam werden sollen. Dort regiert nach wie vor die populistische Passion des Hugo Chávez, der seine Unterstützer vom Movimiento V. República (MVR) mit Fresspaketen in die Slums von San Cristóbal – Arias’ Geburtsort – oder Prolamar schickt, Wahlen zu „Schlachten“ umlobt und JournalistInnen mit Blumensträußen versöhnen will, nachdem er die Pressefreiheit mit neuen Telekommunikationsgesetzen gravierend beschnitten hat.
Arias kann zwar mit einem Wahlprogramm aufwarten, das den ausländischen Investoren weit mehr behagen dürfte als die planwirtschaftlichen Maßnahmen Chávez’. Doch die „Schlacht“ wird in der armen Bevölkerung gewonnen, der 80 Prozent der VenezolanerInnen angehören. Und dort sind die Sympathien für einen Klassenkampf, eine von Chávez angekündigte „radikale Umverteilung“ weit größer als für die um Konsens bemühte Politik von Arias.
Deshalb war auch die Aufregung bei Arias groß, als der neue Termin für die Wahlen bekannt wurde. Am 30. Juli sind alle Städter, die es sich irgendwie leisten können, in den Strandreservaten an der Küste und genießen ihre Ferien. Der für Arias so wichtige Mittelstand müsste schon auf zwei Wochen Urlaub verzichten, wollte er die Wahl mit seiner Stimme beeinflussen. Eine „kategorische Aufforderung zur Enthaltung“ nannte der Herausforderer die Entscheidung des Wahlkomitees.
Nur wenn Chávez die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang verfehlt, bleibt Arias eine Chance. Dann könnte er vielleicht die AnhängerInnen der anderen KandidatInnen hinter sich bringen und den amtierenden Präsidenten schlagen. Doch die Chancen stehen schlecht. Mitte Juni führte Chávez, laut einer Umfrage des Forschungsinstituts Opinión Research de Venezuela, mit 56,9 zu 34,6 Prozent. Die erste Notierung, eine Woche nach der Bekanntgabe seiner Kandidatur, sah Arias bei 20 Prozent. Die Tendenz weist also nach oben, aber der Abstand von zwölf Prozent scheint schwer aufholbar. Der sonst so korrekte Wunschkandidat der oberen Schicht behilft sich mit taktischen Tricks, um seine Siegchancen zu mehren: Nach einer „europäischen Quelle“, die der Gouverneur von Zulia nicht näher spezifizierte, habe er einen Vorsprung von vier Prozent, gab Arias vergangenen Monat gegenüber Journalisten an.
Doch den Wahrscheinlichkeitsgrad dieser Prognose hält er wohl selbst für minimal und verweist auf den wichtigsten Grund für seinen Rückstand: die ungleichen Möglichkeiten im Wahlkampf. Seit dem 25. Mai, als die Wahlen verschoben wurden, darf keine offizelle Kampagne mehr stattfinden. Die Regierung nutzt dennoch ihre Informationskanäle und weist mit Spots in den staatlichen Rundfunksendern und Beilagen in Zeitungen auf ihre politischen Errungenschaften hin. Finanziert wird die wenig kaschierte Wahlwerbung aus Steuermitteln. Währenddessen treten die Gegenkandidaten in den Hintergrund, behelfen sich mit Interviews und möglichst medienträchtiger Kritik an der Regierung, um überhaupt wahrgenommen zu werden.

Fresspakete und
Kapitalflucht
Arias schießt sich ein auf die Frage, warum die Megawahlen verschoben werden mussten, rechnet die Kosten für die in zwei Phasen geteilte anstehende Wahl aus und wird nicht müde, den amtierenden Präsidenten als undemokratisch und machtgierig zu bezeichnen. Dabei liegen die wunden Punkte von Chávez auf der Hand. Für den armen Teil der Bevölkerung hat sich in 18 Monaten Chávez-Regierung nichts verbessert. Die paar verteilten Fresspakete können kaum über das Scheitern eines als revolutionär versprochenen Umverteilungsprogramms hinwegtäuschen. Nachdem allein im ersten Trimester dieses Jahres mehr als eine Milliarde US-Dollar außer Landes geschafft wurde und etwa im selben Zeitraum die ausländischen Investitionen um ein Viertel zurückgingen, bleibt für den großen Umverteilungsakt auch immer weniger übrig. Aus dem boomenden Ölsektor müssten Unmengen von US-Dollars in die Staatskasse geflossen sein, nachdem die Privatisierung eines der größten Petroleumkonzerne der Welt, der PdvSA, nicht vollzogen wurde, sondern in alter venezolanischer Manier Gelder aus dem Öl-Geschäft zur Haushaltssanierung verwendet werden. Nicht nur Arias fragt sich, wo das Geld geblieben sein mag.
Doch der zurückhaltende Herausforderer scheut sich noch vor der heftigen Konfrontation mit seinem Ex-Kameraden. Nicht einmal anti-chavistisch will er sich nennen, obwohl ihn fünf Splittergruppen des ehemals cháveztreuen Blocks unterstützen. Wie die beiden anderen Militärs, die außer Arias und Chávez am Putschversuch von 1992 beteiligt waren, haben sich auch große Teile derjenigen Bewegung von ihrem Führer losgesagt, die Chávez noch 1998 zur Macht verholfen hatten. Selbst der Polo Patriótico, noch vor einem Jahr stärkster politischer Rückhalt des Comandante, distanzierte sich und opponiert gegen die Machtkonzentration im Präsidentenpalast. Als parteiartige Gruppierung bleibt nur die MVR.
Ganz einsam ist es um den Präsidenten dennoch nicht geworden. Er hat innerhalb kürzester Zeit ein Netz aus Abhängigkeiten gesponnen, das ihm Macht über die wichtigsten Medien und Militärsektoren gewährt. Ob das Netz den gewichtigen Mann aus der Armenschicht noch lange aushält, ist allerdings ungewiss. Gerüchte um einen möglichen Putschversuch mehrten sich Ende Juni, als Chávez mit der Frente Institucional Militar (FMI) zusammenstieß. Die FMI wies empört einen Bericht des Staatssenders Globovisión zurück, wonach ein hoher Militär in einem Gespräch mit Chávez die Bildung einer Junta Patriótica Venezolana verlautbart haben soll. Die Junta soll seit sechs Monaten einen Putsch planen.
Francisco Arias will das Militär völlig aus der Politik heraus halten. „Das zivile Leben müssen wir Zivilisten regeln“, sagt der Mann mit 26 Jahren militärischer Vergangenheit. Die Frage, ob ihm der Spagat zwischen wirtschaftlicher Konsolidierung, Wohlfahrtssteigerung bei den Armen und In- Schach-Halten des Militärs gelingt, wird sich dem farblosen Arias wohl gar nicht stellen. Denn zuerst müsste er die WählerInnen überzeugen. Mit Wahlkampf-Ideen wie dem berühmten „Hahn“ wird er das Rennen kaum machen. In dem Werbespot repräsentiert das Tier auf einer Hühnerleiter Chávez. Arias steht daneben und kristisierte die Weigerung seines Gegenkandidaten, sich im Fernsehen mit ihm zu messen. Eine Familie aus den Slums von Caracas würde wohl einen Hahn dem ätherischen Anzugträger Arias vorziehen. Den kann man wenigstens essen.
Sebastian Sedlmayr

„Die Regierung ist unfähig den Landkonflikt zu lösen“

Die Regierung Cardoso hat mit großem Aufwand versucht, die 500-Jahr-Feiern als brasilianische Erfolgsgeschichte zu verkaufen. Doch die Medien berichteten vor allem über die Proteste der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (MST). Steht nun eine weitere Eskalation der Landkonflikte bevor?

Das Verhalten der brasilianischen Regierung lässt dies zumindest befürchten. Seit Anfang Mai hat es bereits zwei Fälle gegeben, in denen das Gesetz über die „Nationale Sicherheit“ wieder zur Geltung kam. In beiden Fällen handelt es sich um Verfahren gegen die Landlosenbewegung in Paraná. Das Gesetz ist ein Relikt aus den Zeiten der Militärdiktatur, es wurde jedoch in den vergangenen Jahren nicht mehr angewendet.
Ein anderes Beispiel: Die Bundespolizei hat kürzlich eine Sondereinheit speziell für Landkonflikte eingerichtet. Der Name ist ein Euphemismus, denn jeder weiß, dass es sich dabei um eine Einheit gegen den MST handelt. Die Bundespolizei erhält in diesem Zusammenhang das Recht, in jedes öffentliche Gebäude einzudringen, um Besetzungen oder Demonstrationen des MST beenden zu können.

Wieso wird dieses schon fast vergessene Gesetz plötzlich wieder aktiviert?

Diese Maßnahmen sind eine Reaktion der Regierung auf landesweite Proteste, die das MST während der 500-Jahr-Feiern organisiert hat. Eine absurde Reaktion. Denn beim MST handelt es sich schließlich nicht um eine Gruppe von Terroristen, sondern um eine soziale Bewegung, die demokratische Rechte in Anspruch nimmt, die durch die brasilianische Verfassung garantiert sind. Hier wird ein soziales Problem als eine polizeiliche Aufgabe betrachtet.

Wieso reagiert der Staat ausgerechnet auf die Landlosenbewegung, die im Gegensatz etwa zu den Gewerkschaften nur über spärliche Machtmittel verfügt, jetzt so aggressiv?

Die Regierung hat in den vergangenen Jahren immer wieder kleinere Zugeständnisse gemacht, die nichts Wesentliches änderten, aber die Landlosen ruhig halten sollten. Die Proteste gegen die 500-Jahr-Feiern haben nun zu einer Polarisierung geführt. Die Regierung musste einsehen, dass sie mit ihrer Taktik die Landlosenbewegung nicht befrieden kann. Nun versucht sie es mit einer verstärkten Repression.
Hinzu kommt, dass die regierungsnahen Medien, wie der Fernsehsender TV Globo, derzeit eine Schmutzkampagne gegen den MST betreiben: Die Bewegungen unterschlage Gelder und sei gewaltätig. Es gibt zwar keine Beweise, dass die Regierung bei dieser Kampagne ihre Hände mit im Spiel hat, aber sie kommt ihren Interessen doch in einer sehr auffälligen Weise entgegen.
Die Landlosenbewegung stellt für die Regierung – mehr noch als die Gewerkschaften – eine ernsthafte Bedrohung dar. Der MST thematisiert einen Konflikt, den die Regierung nicht lösen kann. Nirgendwo auf der Welt ist der Landbesitz derart konzentriert wie in Brasilien. Ein Prozent der Bevölkerung kontrolliert ungefähr die Hälfte der nutzbaren Fläche. Es wäre einfach, dieses Problem durch eine Agrarreform zu lösen. Doch in der Mitte-Rechts-Koalition von Präsident Fernando Henrique Cardoso sitzen die Großgrundbesitzer und die Anteilseigner der großen Latifundien. Die Regierung braucht die Unterstützung dieser mächtigen Lobby, um ihre Projekte durchzusetzen. Sie kann daher keine strukturellen Änderungen an den Eigentumsverhältnissen auf dem Land vornehmen und ist damit unfähig, dieses Problem zu lösen.

Welche Rolle spielen dabei die Bundesstaaten und die jeweiligen lokalen Autoritäten?

Nach dem Ende der Militärdiktatur zog sich der Staat zunächst zurück. Die Landkonflikte wurden sozusagen privatisiert und spielten sich vornehmlich zwischen Großgrundbesitzern und Landlosenbewegung ab. Die Polizei griff meistens nur ein, wenn die Auseinandersetzungen eskalierten. Doch mittlerweile tritt der Staat wieder verstärkt als Akteur in Erscheinung – und meistens gegen die Landlosenbewegung. Man muss dabei aber unterscheiden zwischen den Reaktionen der Bundesbehörden und den einzelnen Bundesstaaten. Rio Grande do Sul hat beispielsweise eine progressive Regierung, die mit den Agrarkonflikten verhältnismäßig vernünftig umgeht. In Paraná hingegen ist die Landesregierung reaktionär und eng mit den Großgrundbesitzern verbunden. Gleichzeitig gibt es dort eine ausgeprägte nicht-staatliche Repression durch die Milizen und privaten Sicherheitskräfte der Großgrundbesitzer.
Die Regierung Cardoso zeigt sich auf internationaler Ebene sehr bemüht, wenn es um die Durchsetzung zivilgesellschaftlicher Standards geht. Vergangenes Jahr hat sie beispielsweise einen offiziellen Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Brasilien vorgelegt, der viel Beachtung fand.
Bei dem Thema Menschenrechte lässt sich die Politik der Regierung Cardoso in zwei Bereiche unterteilen: Die zivilen und politischen Rechte haben erste Priorität, während die sozialen und ökonomischen Rechte als untergeordnete Kategorien angesehen werden. In der ersten Kategorie gibt es sicherlich einige Fortschritte. Wie beispielsweise der bereits erwähnte Bericht: Die Regierung hat damit die Existenz von systematischer Folter durch die Polizei in Brasilien anerkannt. Nur, sie muss auch die Konsequenzen aus diesem Bericht ziehen. Bisher ist es Aufgabe der Polizei, gegen Beamte zu ermitteln, die der Folter verdächtigt werden. Jeder weiß, dass dabei nichts herauskommt.
Bisher haben die offiziellen Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Brasilien vor allem einen diplomatischen Effekt. Die Berichte finden im Ausland und vor der UNO großen Beifall. Anerkennend wird bemerkt, dass sich die Verantwortlichen in Brasilia mit diesem Problem auseinandersetzen. Währenddessen werden in Brasilien weiterhin Menschen mit Elektroschocks oder der Papageienschaukel gefoltert.
Alle namhaften Menschenrechtsgruppen in Brasilien wie im Ausland fordern seit langem, dass die Zuständigkeit für Verbrechen gegen die Menschenrechte auf die Bundesbehörde übertragen wird. Seit 1991 liegt ein entsprechender Gesetzesentwurf vor. Aber nichts ist bisher geschehen. Im Gegensatz dazu ist die Regierung in der Lage, innerhalb von wenigen Wochen ein ganzes Gesetzespaket durchzusetzen, dass sich gegen die Landlosenbewegung richtet.

Welche Rolle spielen die sozialen Grundrechte in diesen Berichten?

Im Nationalen Programm für die Menschenrechte, einem wichtigen Dokument, kommen die sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte so gut wie gar nicht vor. Diese Rechte werden von der Regierung erst gar nicht anerkannt. Der einfachste Beweis besteht darin, dass der Mindestlohn bei ungefähr 100 Dollar liegt. Niemand kann mit diesem Lohn ein menschenwürdiges Leben führen. Für die Regierung liegt dieses Problem außerhalb ihrer Zuständigkeit.

Hat sich die Situation der Menschenrechte seit dem Ende der Militärdiktatur verbessert?

Ich sehe einen deutlichen Fortschritt bei der Durchsetzung der Menschenrechte seit dem Ende der Militärdiktatur. Es gibt keine Todeslisten mehr, die Pressefreiheit ist einigermaßen gewährleistet. Es gibt freie Wahlen, auch wenn sie oft durch die Korruption beeinträchtigt werden. Doch eines unserer großen Probleme besteht darin, dass sich die Opfer geändert haben. Vor zwanzig, dreißig Jahren waren es vor allem die Kinder aus der Mittel- und Oberschicht, die zu den Opfern der Militärdiktatur gehörten. Doch die Mitglieder der Studentenbewegung und der politischen Organisationen hatten immerhin die Fähigkeit und die Mittel, mit der Elite zu kommunizieren und die Sympathien eines großen Teils der Bevölkerung zu erzielen.
Heute sind die Opfer vor allem die Kriminellen, Favela-Bewohner, die Ausgeschlossenen aus der Gesellschaft. Wer sich für diese Marginalisierten einsetzt, wird schnell als Verteidiger und Komplize von Banditen denunziert. Das ist ein großer Unterschied zu früher. Während der Militärdiktatur wurden etwa 500 Personen ermordert. Allein im Jahr 1998 wurden von der Polizei des Bundesstaates Rio de Janeiro über 7oo Personen getötet. Und oft handelt es sich bei den so genannten Schusswechseln um schlichte Hinrichtungen. Damit will ich nicht sagen, dass es um die Menschenrechte heute schlechter bestellt ist als vor dreißig Jahren. Aber diese Zahlen sollten zumindest zu denken geben.

Die Menschenrechtsgruppen haben bisher ebenfalls auf die Trennung zwischen den so genannten zivilen und den sozialen Rechten geachtet.

In der Öffentlichkeit ist es einfach, für zivile und politische Rechte einzutreten und sich gegen Folter und Polizeiübergriffe auszusprechen. Diese Fälle sind auch verhältnismäßig einfach zu dokumentieren. Im Gegensatz dazu fällt es natürlich schwer, gegen so allgemeine Probleme wie die Globalisierung oder die Verelendung zu kämpfen. Damit macht man sich auch leichter angreifbar. Doch die Unterteilung in Menschenrechte erster und zweiter Kategorie lässt sich auf Dauer nicht aufrechterhalten. In Brasilien existiert eine klare Beziehung zwischen der ungleichen Verteilung des Reichtums und der zunehmenden Gewalt. Die Ursache dafür ist nicht so sehr die absolute Armut, sondern die relative Ungleichheit. Länder wie Bolivien oder Ecuador, die ebenfalls ein sehr niedriges Pro-Kopf-Einkommen haben, weisen eine wesentlich niedrigere Gewaltquote auf als Brasilien. Die brasilianischen Menschenrechtsgruppen erkennen daher zunehmend die Bedeutung der sozialen und ökonomischen Rechte an. Die nationale Menschenrechts-Konferenz vom vergangenen Jahr hat zum ersten Mal auch einen Bericht über diese Rechte in Auftrag gegeben, der anschließend der UNO übergeben werden soll. Diese Annäherung zwischen den Menschenrechtsgruppen und den Bewegungen, die sich für soziale und ökonomische Rechte einsetzen, ist eine sehr wichtige Entwicklung in Brasilien.

Die Zeitung O Globo berichtete kürzlich über eine Art Neuauflage der „Operation Condor“. Demzufolge sollen die Geheimdienste von Argentinien, Brasilien, Chile und Paraguay Absprachen treffen, um gemeinsam auf die vermeintliche Bedrohung durch die sozialen Bewegungen zu reagieren.

Es ist natürlich schwierig, solche Informationen mit Sicherheit zu bestätigen. Aber eine große Überraschung stellen sie nicht dar. In Lateinamerika hat nie eine kritische Aufarbeitung der Geheimdienst-Aktivitäten während der Zeit der Militärdiktaturen stattgefunden – vergleichbar etwa mit der Auseinandersetzung in Deutschland mit der Stasi-Vergangenheit. In Lateinamerika herrscht Kontinuität: Das Personal wurde nicht ausgetauscht, die Dienste konnten einfach weiter machen.

Interview: Anton Landgraf

Die Tage bis zur Befreiung

Ein Werbeslogan für Damenbinden brachte in Lima Frauen und Männer zum Lachen. Unbekannte Texter hatten auf eine Hauswand gesprüht: „Fujimosa – die einzigen Monatsbinden, die drei Perioden halten“ – eine Anspielung auf den peruanischen Präsidenten Fujimori, dessen illegale Kandidatur für eine dritte Amtsperiode die Gemüter erregt. Zwar hatte niemand in Peru erwartet, der machtbesessene Präsident würde die Verfassung respektieren und freiwillig auf eine Kandidatur zu den anstehenden Wahlen verzichten, doch machten in den letzten Monaten Spekulationen über eine Krebserkrankung Fujimoris die Runde. Erst zum Jahreswechsel erklärte der Präsident definitiv, er werde sich den Wahlen stellen.
Alle Einwände gegen die Kandidatur Fujimoris fegte die oberste peruanische Wahlbehörde JNE (Jurado Nacional de Elecciones) erwartungsgemäß vom Tisch. Schließlich hatte der Präsident dieses Gremium rechtzeitig mit seinen Gefolgsleuten besetzt. Das oberste Verfassungsgericht fällt als Beschwerdeinstanz aus. Drei der fünf Verfassungsrichter waren bereits vor zwei Jahren vom Dienst suspendiert worden, weil sie eine potentielle Kandidatur Fujimoris als illegal bezeichnet hatten. Die aussichtsreichsten Gegenkandidaten Fujimoris bei den Wahlen, Limas Bürgermeister Alberto Andrade und der ehemalige Präsident der staatlichen Sozialversicherung IPSS Luis Castañeda, sind gewarnt. Ein Präsident, der die Verfassung mit Füßen tritt, wird alle Mittel bis zum Wahlbetrug einsetzen, um die Macht zu erhalten. Darauf deuten nicht nur die Namen von 345.000 Toten hin, die in den Wahllisten aufgetaucht sind. Zusammen mit seiner rechten Hand, dem Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos, hat Fujimori die anstehende Wahlschlacht seit langem detailliert vorbereitet.

Gleichschaltung von Justiz und Medien

Wichtige Meilensteine auf dem Weg zur geplanten langfristigen Machtsicherung waren die Gleichschaltung von Justiz und Medien. 70 Prozent der Richter im Land verdanken ihre Ernennung einer Regierungskommission. Sie können jederzeit abgesetzt und daher von der Regierung unter Druck gesetzt werden. Die Regierung mißbraucht die Justiz, um Oppositionelle unter beliebigen, manchmal absurden Vorwänden anzuklagen und zu verurteilen. Auch eine radikale Veränderung der Besitzverhältnisse im Mediengeschäft wurde mit Hilfe der Justiz eingeleitet.
Der Fall des ehemaligen Besitzers des Fernsehkanals 2, Baruch Ivcher, sorgte international für Schlagzeilen. Ivcher wurde nach Reportagen über die Machenschaften des Geheimdienstes SIN die peruanische Staatsangehörigkeit entzogen, die laut Gesetz Voraussetzung für den Betrieb einer Fernsehstation ist. Nach seiner Flucht in die USA verurteilte ihn ein Gericht zu zwölf Jahren Zuchthaus wegen Zollvergehen. Auch der einst mächtigste Mann im peruanischen Fernsehgeschäft, Genaro Delgado Parker, bekam es mit der Justiz zu tun. Er verlor die Mehrheiten an seinen Sendern nach einer Serie von Prozessen um Aktienvorkaufsrechte. Aus dem sicheren Miami beteuert er, die Regierung hätte Richter und Staatsanwälte in seinem Verfahren gekauft. Seit dem Ausscheiden Ivchers und Delgados sind ihre Kanäle stramm auf Regierungslinie.
Zum Repertoire des Fujimori-Regimes gehören aber auch elegantere Methoden. So sind allein im ersten Halbjahr 1999 über 30 Mio. US-Dollar aus dem knappen Staatshaushalt in die Kassen der Fernsehsender geflossen. Damit werden Werbespots finanziert, die unter anderem Fujimoris Leistungen im Straßenbau oder bei der Terroristenbekämpfung herausstellen. Ohne den staatlichen Geldregen könnten viele Sender nicht überleben, denn ihre Werbeeinnahmen sind im letzten Jahr aufgrund der Rezession um 50 Prozent zurückgegangen. Nach welchen Kriterien die Vergabe der staatlichen Mittel erfolgt, zeigt das Beispiel der Journalistin Cecilia Valenzuela. Der Moderatorin einer politischen Magazinsendung wurde fristlos gekündigt, nachdem ein Regierungsgesandter Zuwendungen für den Sender von ihrem Ausscheiden abhängig gemacht hatte.
Die Sendungen im inzwischen gleichgeschalteten Fernsehen sind durch derlei Eingriffe auf ein Niveau gesunken, das gebildeten Peruanern regelrecht peinlich ist. Die Kandidaten Andrade und Castañeda kommen nur selten zu Wort. In stumpfsinnigen Talkshows werden sie attackiert, aber nicht eingeladen. Kürzlich weigerten sich die fünf größten privaten Sender sogar, Wahlspots Andrades auszustrahlen. Der Präsident ist derweil allgegenwärtig. Ausführlich dürfen die Zuschauer seine folkloristischen Tanzeinlagen in Poncho und bunter Mütze beim Besuch einer Hochlandgemeinde verfolgen. Oder eine seiner langweiligen Reden zur Einweihung einer neuen Schule. Unerwähnt bleibt, daß jene begeisterten Landsleute, die ihrem Präsidenten bei solchen Anlässen vor der Kamera applaudieren, häufig mit Lebensmittelzuteilungen gekauft werden.

“Korrupte Schweine“

Die Sensationspresse, an Tausenden von Kiosken mit halbnackten Fotomodellen auf den Titelseiten Magnet für neugierige Leser, übertrifft das Fernsehen noch. Sie diffamiert und beleidigt die Kandidaten fast täglich. Der korpulente Bürgermeister Limas wird ohne Angaben von Gründen als korruptes Schwein oder Lügner bezeichnet. Im Vergleich dazu wirkt sogar ein Organ wie die Bildzeitung seriös, die nicht einmal einen noch korpulenteren Politiker als Andrade so nennen würde, der nachweislich Millionenbeträge auf schwarzen Konten versteckt hat. Castañeda wird den Lesern als Terroristenfreund, Betrüger oder Drogenhändler vorgestellt. Redakteure eines der Schmierblätter gaben zu: die Schlagzeilen werden täglich frisch vom Geheimdienst SIN geliefert. Für deren Übernahme und das Erfinden einer dazu passenden Lügengeschichte sollen pro Ausgabe 6.000 US-Dollar in die Taschen der Verleger fließen. Die geständigen Redakteure mußten sich nach anonymen Morddrohungen an einen unbekannten Ort absetzen.
Mit den öffentlich zugänglichen Fernsehkanälen und der Regenbogenpresse kontrolliert die Regierung die mit Abstand einflußreichsten Medien. Aber das Duo Fujimori und Montesinos hat sich sogar beim Traditionsblatt Expreso eingekauft. Die einst geachtete Zeitung wäre ohne staatliche Subventionen längst bankrott. Nun hetzt sie gegen die beiden Tageszeitungen, die der Opposition als Sprachrohr und der Regierung als Feigenblatt für die Pressefreiheit verblieben sind: die linksliberale República und die neu erschienene Liberación, „Befreiung“. Herausgeber der Liberación ist Cesar Hildebrandt, der durch seine politischen Programme im Fernsehen landesweit bekannt wurde. Gleich neben dem Datum gibt Hildebrandt in jeder Ausgabe seiner Zeitung die Anzahl der verbleibenden Tage bis zur „Befreiung“, dem Wahltermin, bekannt. Werbung suchen Leser in der Liberación vergeblich. Jedes Unternehmen im Lande weiß: Ein Anzeige in Hildebrandts Blatt hätte staatliche Repressionen oder einen Besuch der berüchtigten Steuerbehörde SUNAT zur Folge. Ob die Liberación die Tage bis zum Wahltermin noch zu Ende zählen darf, bleibt indes ungewiß. Vorerst beließen es Montesinos Schergen bei einer Warnung, einem Einbruch in Hildebrandts Druckerei.

Tomaten gegen die Kandidaten

Natürlich sind weder Andrade und Castañeda selbst noch ihre Mitstreiter und Wahlhelfer gegen Übergriffe gefeit. Als Bürgermeister kann Andrade keine Glanzpunkte mehr setzen, denn sein Etat für die Stadt Lima wurde auf Anweisung von oben dramatisch gekürzt. Auf ihren Wahlveranstaltungen werden die Kandidaten regelmäßig mit faulen Eiern, Tomaten oder Steinen beworfen. Beatriz Merino, Andrades zweite Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, wird wegen Steuervergehen und Korruption der Prozess gemacht. Die Rechnung Fujimoris und Montesinos scheint aufzugehen. Der Präsident liegt in Meinungsumfragen deutlich vorn. Nur wenn sich in einem möglichen zweiten Wahlgang die Opposition gegen ihn vereint, könnte es eng werden. Auf eine Einheitskandidatur der Opposition schon im ersten Wahlgang konnten sich Andrade und Castañeda indes nicht einigen. Damit haben sie ihre erste Trumpfkarte verspielt, denn ein breites Bündnis gegen die Diktatur hätte auch den sich gerade zaghaft formierenden Protestaktionen auf der Straße Auftrieb verliehen.
Derweil kleckert Fujimori auch bei seiner Wahlkampagne nicht. 10 Millionen US-Dollar gab er aus, um allein in Lima 40.000 Quadratmeter Mauern, Wände oder Hügel mit einer besonders wegweisenden Parole bemalen zu lassen: „Perú – país con futuro“, „Peru – Land mit Zukunft“. Nicht einmal die kahlen Hügel der Hauptstadt blieben verschont. Anschliessend hob der Präsident für die gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen eine neue Partei mit dem gleichen Namen aus der Taufe. Diese Dreistigkeit mochte nicht einmal die Wahlbehörde JNE dulden. Die Partei wurde umbenannt in „Perú 2000“ und die Parolen im ganzen Land prompt übermalt. Aber das Peru im Jahre 2000 wird von einer Diktatur im demokratischen Gewand regiert. Das Land wird erst dann eine Zukunft haben, wenn die Tage bis zur Befreiung von dieser Regierung wirklich gezählt sind.

Das „Gesetz des Herodes“

Das „Gesetz des Herodes“ nannte der mexikanische Regisseur Luis Estrada („Bandidos“, „Ambar“) seinen neuesten Film. Er ahnte dabei wohl nicht, daß er bald selbst mit diesem ungeschriebenen Gesetz Bekanntschaft schließen würde, das da besagt „o te chingas o te jodes“ (entweder wirst du erledigt oder zur Sau gemacht). Estradas umstrittene Politsatire spielt in den 40er Jahren und schildert die Karriere von Juan Vargas, einem harmlosen, etwas dämlichen Anhänger der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die seit 1929 Mexiko regiert. Vargas wird vom Gouverneur seiner Provinz zum Bürgermeister von San Pedro de los Saguaros ernannt, mit dem Auftrag, Fortschritt und Modernität in das von Indígenas bewohnte Wüstenkaff zu bringen. Angesichts der Ebbe in der Gemeindekasse holt Vargas sich bei seinem Gouverneur Rat und wird mit einer Pistole und einem dicken Gesetzbuch entlassen. „Wenn du das richtig einsetzt, wirst du eine Menge Geld einnehmen“, gibt ihm der Gouverneur mit auf den Weg. Und Vargas beherzigt diesen Rat, wobei er von einem fetten, raffgierigen Priester und einer rabiaten Bordellbesitzerin, die den frischgebackenen Bürgermeister schmiert, unterstützt wird.
Es folgen Szenen voller Machismo, Mord, Größenwahn und Einschüchterungen der Opposition. Letztere wird durch den Dorfarzt, einen Anhänger der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN), der zwar in der Öffentlichkeit die Fahne der guten Sitten hochhält, zu Hause aber seine Dienstmagd vergewaltigt, verkörpert.
Das Thema der Korruption und Doppelmoral in der Politik ist nicht neu im mexikanischen Film, wohl aber, daß Estrada die Regierungspartei PRI beim Namen nennt und deren Slogan von „Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit” bloßstellt. Das stieß natürlich dort auf Mißfallen. Die PRI hat ironischerweise über das staatliche Filminstitut (Imcine) den Streifen zu 60 Prozent mitfinanziert, dessen Aufführung sie nun verhindern will. „Wahrscheinlich haben sie bei Imcine geschlafen und nicht richtig gemerkt, worum es in dem Film eigentlich ging“, versucht eine Mitarbeiterin der mexikanischen Kulturbehörde diesen Widerspruch zu erklären.

Zensurversuche

Als der Direktor von Imcine, Amarena, „aufwachte“, versuchte er mit allen Mitteln, die Premiere beim Filmfestival von Acapulco im November zu torpedieren. Amarena habe ihm vorgeworfen, ohne Rücksprache das Ende des Films verändert zu haben, sagte Regisseur Estrada. Nach der Intervention des Regisseurs und der Schauspieler in den Medien, sowie des französischen Botschafters Delaye als Schirmherr der Veranstaltung, mußte Amarena einen Rückzieher machen. Der Film wurde gezeigt. Den Vorwurf der Manipulation des Schlusses habe er widerlegt, sagte Estrada. Amarena habe aber argumentiert, es sei außerdem zu „gefährlich“ den Film vor den Präsidentschaftswahlen zu zeigen und schlug vor, die Vermarktung auf später zu verlegen. Estrada lehnte ab. Daraufhin zeigte Imcine ohne dessen Einwilligung, ohne Vorankündigung und ohne Werbung drei Tage lang das „Gesetz des Herodes“ in zwei Programmkinos von Mexiko-Stadt. Offenbar mit der Absicht, Estrada in einen langwierigen Rechtsstreit zu verwickeln und so weitere Aufführungen vorerst zu verhindern.
Der Protest von Filmschaffenden aus Europa und den USA und die Presseberichterstattung, die der PRI Zensur vorwarf, brachte Verhandlungen zwischen beiden Seiten in Gang. Schließlich kaufte Estrada Imcine die Rechte an seinem Film ab und verpflichtete sich, ihr den Anteil an den Produktionskosten zurückzuerstatten. Nach der Einigung und drei Tagen Aufführung wurde die nicht-autorisierte Kopie des „Gesetz des Herodes“ vom Spielplan der Programmkinos genommen. Amarena wurde gefeuert; Estrada errang einen Etappensieg. Nun bleibt abzuwarten, ob die privaten Verleiher nach diesem Skandal weiterhin Interesse am „Gesetz des Herodes“ haben und den Film erwerben.

Brennpunkt Medien

Wenn es das größte Verlangen einer Gesellschaft – wie der kolumbianischen – ist, mit der langen und nutzlosen Gewalt, in der wir seit vielen Jahren leben, Schluß zu machen, dann haben JournalistInnen die Aufgabe, dieses gesellschaftliche Begehren zu unterstützen. Dennoch ist dies nicht immer der Fall – aus Angst vor Kompromissen, aus Skepsis oder schließlich auch, so traurig dies ist, weil einige JournalistInnen zu simplen Kriegstreibern geworden sind.
Die wiedergekäute These vom objektiven Journalismus ist für viele Professionelle der Medienlandschaft zum Vorwand geworden, ihre Rolle als Anwälte der Gesellschaft und Wortführer der großen Mehrheiten zu vernachlässigen – jener, die in unserem Land nicht gehört werden und dabei im Kreuzfeuer zwischen Militär, Guerilla und Paramilitärs die tagtäglichen Opfer der Gewalt sind.
Ich halte diese Einleitung für notwendig, damit verständlich wird, warum ich das Land verlassen mußte. Seit vielen Jahren habe ich unterschiedlichen Friedenskomitees angehört, die sich dafür eingesetzt haben, daß sich sowohl die Regierung wie auch die Guerilla an den Verhandlungstisch setzen und zu einer endgültigen Einigung gelangen. In letzter Zeit haben wir uns dafür, zusammen mit Persönlichkeiten der unterschiedlichsten politischen Überzeugungen, eingesetzt, daß die Guerilla-Gruppe Ejército de Liberación Nacional (ELN) in Kontakt mit einem Delegierten des Präsidenten tritt und über die Freilassung von mehr als hundert Entführten verhandelt wird. In einigen Fällen wurde die Freilassung auch tatsächlich erreicht. Dann wurde einer unserer Mitstreiter, der Fernseh- und Radiojournalist und Komiker Jaime Garzón, ermordet (vgl. LN 303/304). Wenige Tage zuvor war in der Nachrichtenredaktion des Senders, bei dem wir beide arbeiteten, per Telefon eine an uns beide gerichtete Drohung eingegangen. Dank der Solidarität der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte konnte ich Kolumbien verlassen, um mich für ein Jahr in Hamburg niederzulassen.

Journalismus unter Zensur

Der kolumbianische Journalismus ist in den verschiedenen Etappen der diversen Gewaltwellen, die das Land im ausgehenden Jahrhundert durchlebt hat, immer wieder das Ziel von Attacken gewesen: Während der langen bewaffneten Konfrontation zwischen den beiden traditionellen Parteien, Konservativen und Liberalen, die das Land schon immer regiert haben, wurden zuerst die Tageszeitungen angezündet, geschlossen oder zensiert. Danach gab es eine Zensur gegen die Presse der Opposition, Bombenattentate oder Sabotage, damit kritische Zeitschriften nicht in Umlauf kommen konnten, so wie im Fall der Wochenzeitschrift Alternativa, die der Schriftsteller Gabriel García Márquez herausgegeben hat und bei der ich das Glück hatte, Reporter sein zu dürfen. Anschließend folgte die Verfolgung durch die Drogenhändler, die Journalisten wie Guillermo Cano, Direktor der Tageszeitung El Espectador und ein Beispiel von einem Pressemenschen, einfach umbringen. Rund hundert KollegInnen verschiedener Medien des Landes, unter ihnen Journalisten, Kameraleute und Fotografen, wurden in letzter Zeit ermordet.
Unglücklicherweise sieht es nicht so aus, als ob sich diese Situation in nächster Zeit ändern würde, und zwar aus den folgenden Gründen:
1) Der Friedensprozeß, der mit der Guerilla-Gruppe Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) begonnen wurde, kann viele Jahre dauern – wenn er nicht sogar bald scheitert, so wie es einige scharfsinnige Analytiker voraussagen. Sollte dies tatsächlich eintreten, dann erwartet Kolumbien unweigerlich eine noch blutigere Polarisierung des Konfliktes.
2) Die Vereinigten Staaten haben entschieden, eine aktivere Rolle in dem Konflikt einzunehmen, mit dem Argument, daß die Guerilla-Gruppen auf die eine oder andere Weise mit dem Kokain- und Heroinhandel in Verbindung stehen. Ihre Beteiligung bedeutet mehr Mittel für militärische Zwecke und eine Intensivierung der bewaffneten Konfrontation.
3) Die paramilitärischen Gruppen wie auch die FARC-Guerilla scheinen eher daran interessiert zu sein, das Niveau der bewaffneten Auseinandersetzung zu erhöhen: Sie erwerben nicht nur immer modernere Waffen im Ausland, sonderen bauen auch ihre Stützpunkte aus und dringen in neue Gebiete vor, um neue Kriegsfronten zu eröffnen.
4) Die einflußreichsten Unternehmer haben sich auf egoistische Weise gegen einen Friedensprozeß ausgesprochen, indem sie die umstrittene These vertreten, sie bräuchten keine ökonomischen Opfer zu bringen, da sie ihr Geld ja ehrlich verdient hätten. Und das in einem Land, in dem die sozialen Ungleichheiten jeden Tag zunehmen und Unternehmer und Bänker im Vergleich zu den bescheidenen Einkünften der Bevölkerungsmehrheit über skandalös hohe Gewinnspannen verfügen.

Politische Gewaltkultur

In- und ausländische Experten sind sich einig, daß Kolumbien eine demokratische Revolution seiner Institutionen benötigt, eine bürgerliche und modernisierende Revolution, die die rückständigen Strukturen in den ländlichen Gegenden durchbricht und die freie Partizipation neuer politischer Kräfte erlaubt. Eine Revolution, die mit der alten herrschenden Klasse – korrumpiert durch das Geld der Drogenhändler und zu weiten Teilen morsch und verdorben – aufräumt.
Kolumbien muß weiterhin eine ebenso alte und traditionsreiche politische Kultur der Gewalt überwinden, ein Erbe der bewaffneten Konfrontation zwischen Liberalen und Konservativen. Die diversen Guerilla-Gruppen übernahmen diese Parteien-Tradition und verstärkten sie noch mit der marxistischen These, daß Gewalt die Geburtshelferin der Geschichte sei. Nicht umsonst nimmt auch García Márquez in “Hundert Jahre Einsamkeit” Bezug auf diese gewalttätige Tradition: ein Arzt aus Macondo, Alirio Noguera, überzeugt viele der jungen Leute im Dorf, liberal zu wählen, um ihnen klarzumachen, daß Wahlen ein Farce sind und das einzig Effiziente die Gewalt sei.
Um diese neuen Bedingungen zu schaffen, die es Kolumbien erlauben, zu einem modernen Land ohne Gewalt zu werden, ist es notwendig, einen weiteren Brennpunkt der Gewalt zu eliminieren: den Drogenhandel. Zu Recht meinen einige Analytiker, die Drogenhändler hätten am wenigsten ein Interesse daran, daß die Guerilla den bewaffneten Kampf aufgibt, da sie von der Präsenz der FARC als der wichtigsten Guerilla-Gruppe in den Anbau- und Verarbeitungszonen von Kokain und Heroin profitieren. Insofern hat das Friedensabkommen mit den bewaffneten Aufständischen doppelte Wichtigkeit: es geht nicht nur darum, einen Gewaltfaktor zu beseitigen, sondern auch darum, einen Weg im Kampf gegen die Drogen-Kartelle freizumachen.

Internationale Aktivität ist nötig

Für einen dauerhaften Frieden muß Kolumbien die soziale Ungerechtigkeit beenden: der Mindestlohn liegt in unserem Land bei umgerechnet 230 DM im Monat, die Arbeitslosigkeit erreichte im ersten Halbjahr 1999 20 Prozent, während weitere ArbeiterInnen aufgrund der Schließung von Unternehmen entlassen wurden. Von sechs Millionen KolumbianerInnen mit Arbeit bekommen 25 Prozent den Mindestlohn, und nur sechs Prozent erhalten mehr als sechs Mindestlöhne pro Jahr. Öffentliche Krankenhäuser werden wegen Geldmangel geschlossen, und die Bildung – sei es an den Grundschulen, weiterführenden Schulen oder Universitäten – befindet sich in einer tiefen Krise. Die schwierige Lage in Kolumbien erfordert den Beistand der internationalen Gemeinschaft, nicht nur als Beobachterin des Konfliktes, sondern auch als Vermittlerin.
Europa, und vor allem die Europäische Union, sollte sich mit unserer schrecklichen Realität intensiver beschäftigen und ihre Erfahrungen und Weisheiten aus eigenen befriedigend gelösten Konflikten einbringen. Anders als viele andere bin ich der Meinung, daß wir KolumbianerInnen mit unseren Problemen nicht mehr alleine fertig werden und deshalb internationale Aktivität brauchen. Keine militärische, sondern Beratung und internationalen Druck, damit die, die nicht an einer friedlichen Lösung des Konfliktes interessiert sind, dazu gebracht werden, ihre radikale Position aufzugeben. Das Schlimmste, was uns passieren könnte, ist, daß Europa und die Welt uns aufgeben.

Übersetzung: Elisabeth Schumann-Braune

KASTEN

Die Biographie eines bedrohten Friedensstifters

Der 57jährige Hernando Corral ist seit dem 13. Oktober Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. In Kolumbien steht der Journalist auf der Todesliste paramilitärischer Gruppen. Mehrfach wurde er bereits mit dem Tode bedroht. Der Grund: Seit Jahren vermittelt Corral im Friedensprozeß zwischen Regierung und den Guerillaorganisationen. Er ist einer der wenigen kolumbianischen JournalistInnen, die sich noch kritisch mit den Zuständen in Kolumbien auseinandersetzen.
Bereits 1978 gab es den ersten Bombenanschlag auf sein Büro. Bis 1989 arbeitete er als Redakteur der linken Zeitschrift Alternativa und als Reporter und Nachrichtensprecher für den kolumbianischen Fernsehsender TV-Mundo. Zwischen 1989 und 1990 ging er das erste Mal ins Exil nach Spanien, nachdem er ständigen Todesdrohungen ausgesetzt war.
Von 1992 bis 1999 war er stellvertretender Direktor und Chefredakteur des kolumbianischen Fernsehkanals Tele 7, sowie Koordinator zweier Gruppen, deren Aufgabe es war, den Friedensprozeß zu analysieren. Im September 1999 erhielt er mit dem Simon Bolívar-Nationalpreis den höchsten zu vergebenden Journalistenpreis in Kolumbien. Kurz danach mußte er wiederum ins Exil gehen.
Die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte vergibt jährlich fünf bis acht Stipendien an Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen und deswegen verfolgt werden. Sie sollen hier – frei von Bedrohung – politisch arbeiten können. Die Stiftung übernimmt die gesamten Kosten für den Aufenthalt und bittet Personen, die ähnliche Fälle kennen, sich mit der Stiftung in Verbindung zu setzen.
Kontaktadresse: Martina Bäuerle, Osterbekstraße 96, 22083 Hamburg, Tel: 040-42863-5757, Hamburger-Stiftung@t-online.de

Tödlicher Ernst

Der Lebenslauf des bekannten kolumbianischen Satirikers Jaime Garzón spiegelt bis hin zu seinem gewaltsamen Tod am 13. August in Bogotá geradezu exemplarisch die Komplexität des kolumbianischen Bürgerkriegs. Als Student schloß Garzón sich für wenige Monate der Guerilla-Gruppe ELN (Ejército de Liberación Nacional) an, vertrat dann jedoch die Auffassung, daß der bewaffnete Kampf Kolumbien dem Frieden nicht näher bringen würde.
Jahre später ernannte ihn der damalige konservative Bürgermeister von Bogotá (und heutige Präsident) Andrés Pastrana zum Bezirksvorsteher in Sumapaz, einem ländlichen Vorort der Hauptstadt, in der die Guerilla traditionell stark präsent ist. Mit den Satiresendungen „Zoociedad” und „Quac“ wurde Garzón im ganzen Land bekannt als politischer Humorist, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Zuletzt interviewte er als Schuhputzer „Heriberto de la Calle“ Politiker und Prominente und brachte manchen mit seinen frechen Fragen dabei gehörig ins Schwitzen.
Durch seine Art, schonungslos nach rechts und links auszuteilen, geriet er wiederholt in Schwierigkeiten. Nach einem Radiointerview mit dem FARC-Sprecher Marcos Calarcá erklärte ihn eben diese Guerilla-Gruppe zum „militärischen Ziel“. Garzón sprach daraufhin in Sumapaz mit Farc-Kommandanten, um die Drohung aus der Welt zu schaffen.
Auf solchen direkten Kontakten fußte auch sein in der Öffentlichkeit nur wenig bekanntes Engagement als Vermittler bei Entführungen durch die Guerilla. Diskret, aber mit großem persönlichen Einsatz sponn er Gesprächsfäden, die in vielen Dutzend Fällen zur Freilassung der Geiseln führten. Auch der Friedensprozeß war ihm ein Anliegen: Zuletzt bemühte er sich, zwischen ELN und kolumbianischer Regierung einen direkten Kontakt aufzubauen, um die blockierte Friedensinitiative wieder in Gang zu bringen.
Vieles deutet darauf hin, daß der Mord nicht dem Humoristen Jaime Garzón galt, sondern dem Friedensvermittler. Garzón erhielt wiederholt Todesdrohungen von rechtsgerichteten Paramilitärs, zuletzt von den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC). Wieder suchte der Satiriker das direkte Gespräch und vereinbarte mit AUC-Chef Carlos Castaño ein Treffen. Einen Tag vor dem anvisierten Termin trafen ihn die tödlichen Kugeln. Castaño beeilte sich zu erklären, daß seine Organisation nichts mit dem Mord zu tun habe. Auch über eine Beteiligung ultrarechter Militärs wird spekuliert: Im vergangenen Jahr hatte Armee-General Jorge Enrique Mora, der heutige Chef der Streitkräfte, gegen den Satiriker ein Ermittlungsverfahren wegen seiner Vermittlungstätigkeit gefordert und ihn als „Freund der Guerilla“ bezeichnet. Eine Aussage, die in Kolumbien einem Mordauftrag gleichkommen kann.
Vermutlich aber werden auch in diesem Fall die Hintermänner nie ernsthaft verfolgt und vor Gericht gestellt – so wie in den meisten Fällen von Morden an JournalistInnen die Ermittlungen im Nichts verlaufen. Nicht zuletzt diese Straflosigkeit ist es, die Kolumbien in Statistiken über Morde an Presseleuten ganz oben stehen läßt. Aber Garzón war nicht nur Journalist, und der Mord nicht nur ein Anschlag auf die Pressefreiheit. Sein bissiger Humor machte ihn zum vielbeachteten Kritiker, der sich traute, auch unbequeme Wahrheiten über die in Kolumbien herrschenden Verhältnisse auszusprechen. Und durch seinen Einsatz für den Dialog zwischen den Kriegsparteien war er eine Schlüsselfigur im Friedensprozeß. Mit Garzón ist wieder einmal ein Hoffnungsträger ermordet worden. Tausende KolumbianerInnen versammelten sich am Tag des Mordes zu spontanen Demonstrationen.

Der Wu-Tang-Clan lernt Spanisch

Medellín: Eine idyllisch gelegene, modern und geordnet anmutende Großstadt im Nordwesten Kolumbiens, umgeben von einer grünen Berglandschaft, die Stadt der Blumen und des ewigen Frühlings.
Medellín: Stadt der Drogenkartelle, der Bandenkriminalität und der sicarios, der inzwischen in ganz Kolumbien berühmt-berüchtigten Auftragsmörder aus den armen barrios der nördlichen Gemeinden der Metropole Antioquias.
Medellín: Stadt der Musik und neben Cali das Salsa-Zentrum des Landes, bemerkbar an den vielen salsatecas, aber auch an der starken Präsenz dieser Musik bei fast allen Radiosendern, wo höchstens noch Vallenatos, eine eher ländlich-populäre Musik, und Mainstream-Pop und Rock, vor allem aus den USA, eine ähnliche Bedeutung besitzen. Aber auch Tango ist hier und da zu hören, schließlich starb die argentinische Tangolegende Carlos Gardel 1935 unter mysteriösen Umständen hier auf dem Flughafen.
Eine ganz andere Musikgattung dagegen ist nicht ganz so leicht aufzuspüren, eine Musik, die aber dennoch seit etwa 10 Jahren die Hörgewohnheiten, die Mode und manchmal auch die Weltsicht vieler Jugendlicher in Medellín und anderen kolumbianischen Städten verändert hat: der HipHop. Über Filme, mitgebrachte Kassetten und später das Fernsehen verbreitete sich diese kulturelle Ausdrucks- und Widerstandsform schwarzer marginalisierter Jugendlicher der US-amerikanischen Städte langsam aber beständig auch in Kolumbien. Vor allem bei den Jugendlichen der unteren Schichten – nicht aber bei den ganz armen, die weiterhin vorzugsweise Salsa hören – stieß der HipHop auf große Resonanz. In der HipHop-Kultur, bestehend aus der Musik (dem Rap), der Tanzform (dem Breakdance) und ihrer graphischen Expression (dem Graffiti), fanden sie eine für sie verständliche, leicht adaptierbare Möglichkeit der künstlerischen, sozialen und politischen Selbstdarstellung. Doch während der Mainstream-HipHop in den Vereinigten Staaten und Europa aus den Medien längst nicht mehr wegzudenken ist und zu einem Vehikel von riesigen Umsätzen in der Kommunikations- und Freizeitindustrie geworden ist, geschah dies in Kolumbien bisher nicht.

Mehr Publikum bedeutet auch Zensur

„Das Image von HipHop ist hier nach wie vor verrufen, und den Anhängern der HipHop-Kultur, seien sie nun Rapper, Tänzer, Sprayer oder bloß Fans, haftet noch immer der Ruf von kriminellen, drogennehmenden Bandenmitgliedern an, auch wenn dies die absolute Ausnahme ist“, sagt David Medina, der junge Rapper und Mitorganisator der einzigen HipHop-Sendung in der medelliner Radiolandschaft. Sie senden wöchentlich zwei Stunden Musik und Gespräche, eine Möglichkeit, die ihnen der lokale Sender „Ciudad en estereo“ in Kennedy, einem armen und verrufenen Stadtteil im Nordwesten Medellíns, geboten hat.
Sie und die meisten Rapper der Stadt sehen sich vornehmlich als Künstler, die mit friedlichen Mitteln auf soziale und politische Mißstände, die ihr Leben betreffen, aufmerksam machen wollen, ohne sich von irgendeiner Seite politisch vereinnahmen zu lassen. Genau das geschieht aber seit einigen Jahren in Kolumbien. Verschiedene NGOs versuchen zusammen mit staatlichen oder kommunalen Kultureinrichtungen die Jugendlichen von der Straße zu holen und ihnen im Rahmen von Festivals Auftrittsmöglichkeiten zu geben. Da dies in der Regel mit einer gewissen Zensur verbunden ist (nicht alles Inhaltliche darf gesagt/gerappt werden, anstößige Formulierungen müssen draußen bleiben), und viele Rapper sehr wohl erkennen, daß sie in geordnete und kontrollierbare Bahnen gelenkt und vor den Karren eines illusorischen Friedens, der auch nicht der ihre wäre, gespannt werden sollen, stößt diese wohlmeinende Vereinnahmung nicht nur auf Zustimmung. „Dort nehmen nur die weichen, korrupten und falschen Rapper – caspas (Schuppen) werden sie genannt – teil, meinen Anderson und Yasmin von Alianza Hip-Hop, der wahrscheinlich ältesten und wohl auch politischsten Gruppe Medellíns. Andere beharren nicht ganz so ideologisch auf einem „wahren“ Rap und sehen in den Festivals, die immer nachmittags und unter erheblichen Sicherheitskontrollen stattfinden, eine der seltenen Möglichkeiten, zumindest hin und wieder vor größerem Publikum auftreten zu können – schließlich wollen sie ja auch gehört werden. Auch wenn neben den ohnehin schon sehr jungen HipHop-Fans noch Kinder aus der Nachbarschaft zu den Veranstaltungen kommen und den Mythos von den harten, coolen Rappern aus dem Underground, mit dem sie selbst ganz gerne kokettieren, doch empfindlich stören…

Zwischen Stigma und Idealisierung

Doch die Frage um Teilnahme und Nichtteilnahme an diesen nicht selbstorganisierten Events – eigene Konzerte zu veranstalten ist schwierig und teuer, und von der Polizei nicht gerade erwünscht – ist nur eine der herrschenden Spannungen innerhalb der HipHop-Szene Medellíns. Längst hat sich der kolumbianische Rap, hierin der US-amerikanischen Entwicklung folgend, in verschiedene Stile geteilt, und die „Anhänger“ der verschiedenen Richtungen halten natürlich die ihre für die „wahrere“ und bessere. Und neben der vor allem nach Außen geäußerten Beteuerung einer solidarischen Einheit der HipHop-Gemeinschaft hört man doch immer häufiger und deutlicher Stimmen des Neides und berechtigter oder unberechtigter Kritik.

Politischer Rap und ‘Lado oscuro’

Aber alle, egal ob sie wie Alianza Hip-Hop einem „politischen“ Rap angehören, sich eher dem „Underground“ des Rap zurechnen, wie beispielsweise FB-7, Caos, Cerebros und Holocausto oder dem „Lado Oscuro“, der „dunklen Seite“, wie die Gruppen Monk Darkness und Sexta Inkamista, oder ob sie einen eher „kommerziellen“ und mit anderen musikalischen Einflüssen vermischten Stil wie etwa Cool Young vertreten, sie alle befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen Stigmatisierung und Idealisierung. Stigmatisierung wegen ihrer angeblichen Nähe zu kriminellen Banden und ihres Rufes als drogennehmende „Vagabundos“; Idealisierung aufgrund ihres Status als modebewußte, junge Konsumenten. Aber vielleicht ist dies ja ein vielen marginalisierten Jugendlichen in aller Welt gemeinsames Problem.
In den cultural studies spricht man schon seit längerer Zeit von sogenannten urbanen Stämmen und transnationalen, klassenübergreifenden Gemeinschaften, die bei den globalen Jugendkulturen häufig als gemeinsamer Nenner nicht mehr vereint als eine Vorliebe für die selbe Musik, die gleiche Mode und das Aufsuchen ähnlicher urbaner Orte, seien es nun Jugendliche in New York, Mexico-Stadt, London, Johannisburg, Berlin oder Medellín. Bei der HipHop-Gemeinschaft Medellíns scheint es sich um einen solchen urbanen Stamm zu handeln, aber welches ist sein eigentliches Territorium? Etwa das lokale barrio, in dem sie leben und Musik machen? Die Stadt als Ganzes, mit der sie sich identifizieren, und in der sie Verbindungen zu den anderen Rappern haben? Ist es Kolumbien – sie nennen ihre Musik „kolumbianischen Rap“ – oder ist ihr Territorium nicht vielmehr ein globales, in dem sie mit anderen Rappern in der ganzen Welt über einen globalisierten Markt der Freizeitindustrie mit seiner internationalen Musikindustrie, seiner Mode und seinen Bildern und über die globalen Massenmedien wie die Musik-Kanäle und die internationalen TV- und Kinofilme vernetzt sind? Schließlich erfahren die Rapper Medellíns schneller von der Veröffentlichung des neuesten Wu-Tang Clan Albums in den USA als von einem großen Rap-Konzert in Bogotá.

Anderer Kontext, Anderer HipHop

Das soll aber nicht heißen, daß der kolumbianische Rap nur eine Nachahmung des US-amerikanischen ist, oder mit diesem abgesehen von der Sprache identisch sei. Die Globalisierung des Kulturkonsums führt eher zu wichtigen Bedeutungswechseln im Laufe des Prozesses des kulturellen Übersetzens von einem speziellen Kontext in einen neuen. Der „ursprüngliche“ Kontext wird zuerst dekontextualisiert und deterritorialisiert. Von dem Ausgangskontext, dem US-amerikanischen Rap mit seiner ethnisch-sozialen Komponente, verwenden und transformieren die kolumbianischen Rapper nur die Elemente, die in ihren eigenen Kontext passen. Neben dieser Transformation kommen aber auch ganz neue Elemente – sowohl musikalischer wie inhaltlicher Art – hinzu, denn die Formen von Marginalisierung und Gewalt, denen die Jugendlichen in Medellín ausgesetzt sind, sind nicht mit denen in Brooklyn identisch, und die Armut in Kolumbien beruht zum Teil auf anderen Strukturen und Ursachen als in den USA.
So berufen sich beispielsweise Sexta Inkamista auf die präkolumbinischen Kulturen und indianischen Traditionen Lateinamerikas und bringen dies auch symbolisch durch den Einsatz von gesampelten indianischen Flöten zum Ausdruck. Hier wird aus einer schwarzen Musik-Geschichte eine indianische, aus dem Bemühen nordamerikanischer Marginalisierter um ein Gehört- und Beachtetwerden wird das der lateinamerikanischen. Die neuen Elemente vermischen sich mit den „übernommenen“ und in diesem Prozeß entsteht eine hybride Kultur, die niemals frei von produktiven Mißverständnissen und Fehlinterpretationen bleibt.
Die HipHop-Gemeinschaft Medellíns ist also genauso Teil einer globalen HipHop-Kultur wie sie Teil des nationalen und lokalen HipHop ist. Je nach Anlaß und Kontext, in dem sie gerade agieren, betonen die Rapper mal diese, mal jenes mehr und besitzen folglich, bewußt oder unbewußt, eine multiple, bewegliche und hybride Identität. Doch daran denken die Teilnehmer der HipHop-Party in Aranjuez, einer Gemeinde im nordöstlichen Medellín, derzeit nicht. In dem kleinen Raum, der zu verschiedenen kommunalen Veranstaltungen genutzt wird – wovon Kinderzeichnungen an den Wänden künden – stehen für einige Stunden Spaß und gute Musik im Mittelpunkt. Schon früh ist die Party überfüllt, die Luft stickig und klebrig, und auch ohne zu tanzen schwitzen die sehr jungen Besucher. Dennoch drängen immer mehr Rapper Richtung Tanzfläche. Der DJ und Rapper El Gringo ist hochzufrieden. Er spielt hauptsächlich US-amerikanischen Rap, die Leute kennen die Lieder und rappen vereinzelt mit. Später, draußen in der etwas kühlenden Nachtluft, erzählen einige Rapper, daß sie sogar aus Envigado bis hierher gekommen sind und zeigen in die Richtung, wo sie wohnen, irgendwo in einem Meer von funkelnden Lichtern.

KASTEN:
Generaciones Perdidas
(von Alianza HipHop)

En las ciudades milliones de entes / buscando soluciones
encadenados a un sistema / que tiene sus propias razones
tienen ojos pero no ven / tienen oídos pero no escuchan
tienen mucho que decir / tienen su guerra pero no luchan
aprovechando su posición / como el sistema los educó
no entienden argumentos ni razón / sus principios, su moral
son una tradición / sus pensamientos, sus palabras
son imposición / no enseñan proncipios
educan a gritos / nuevas generaciones
creciendo en conflicto / sólo señalan critican
a los jóvenes complican / mediocridad justifican
no son lo que predican.

Generaciones perdidas / que pasa con sus vidas
urgente A encontrar una salida.
Cuando era pelao / aprendió el respeto su primera regla
guerdar silencio / nunca opinar en conversaciones
siempre acatar / órdenes de mayores
la escuela lo sigue / la historia se repite
empiezan a dirigirte / comportamiento exigirte
con la idea de instruirte / para adulto convertirte
tercer paso ingreso al bachillerato / allí te preparan como soldado razo
imposición es el método / para enseñar el respeto
no exijas tus derechos / sé soldado correcto
jóvenes pensando en progresar / adultos obligándolos a matar
en Colombia es obligación / vivir bajo presión.

Generaciónes perdidas / que pasa con sus vidas
urgente A encontrar una salida.

El matrimonio es el último paso / para llegar directo al fracaso
ya en este punto / eres adulto
formarás parte / del falso mundo
no recuerdas / el punto de partida
los jóvenes ahora / significan rebeldía.

Generaciones perdidas / que pasa con sus vidas
urgente a encontrar una salida.

Parcero del barrio / no arriesgues la vida
siguiendo los pasos / de generación perdida.

Verlorene Generationen
(von Alianza Hip-Hop)

In den Städten suchen Millionen von Leuten nach Lösungen,
an ein System gekettet, das seine eigenen Regeln hat,
sie haben Augen aber sehen nicht, haben Ohren aber hören nicht,
sie haben viel zu sagen, haben ihren Krieg aber kämpfen nicht,
sie verharren in ihrer Position, wie das System es sie gelehrt hat,
sie verstehen keine Argumente, keine Logik; ihre Prinzipien, ihre Moral
sind Tradition; ihre Denkart, ihre Worte
sind Befehl ; sie lehren keine Prinzipien,
erziehen mit Schreien; die neuen Generationen
wachsen im Konflikt auf; sie lehren nur zu schimpfen,
den Jugendlichen machen sie es schwer; sie rechtfertigen Mittelmäßigkeit,
sie sind nicht was sie predigen.

Verlorene Generationen, was passiert mit ihren Leben;
es ist dringend eine Lösung zu finden.
Als er jung war lernte er als erste Regel den Respekt,
zu schweigen, niemals an Gespräche denken,
immer die Befehle der Älteren zu befolgen;
in der Schule, die folgte, wiederholte sich dieselbe Geschichte;
sie beginnen dich zu dirigieren, Verhalten zu fordern
mit der Idee dich zu instruieren, dich in einen Erwachsenen zu verwandeln;
dann der dritte Schritt, das Abitur; dort bereiten sie dich auf das Soldatenleben vor;
Auferlegung ist die Methode um Respekt zu lehren;
fordere nicht deine Rechte, sei ein korrekter Soldat;
Jugendliche, die sich entwickeln wollen; Erwachsene, die ihnen auftragen zu töten;
in Kolumbien ist es Pflicht unter Druck zu leben.

Verlorene Generationen, was passiert mit ihren Leben;
es ist dringend eine Lösung zu finden.

Die Ehe ist der letzte Schritt, um direkt zu verlieren;
jetzt, an diesem Punkt, bist du schon erwachsen.
bildest einen Teil dieser falschen Welt;
du kannst dich nicht mehr an den Ausgangspunkt erinnern:
die Jugendlichen heute bedeuten Rebellion.
Verlorene Generationen, was passiert mit ihren Leben;
es ist dringend eine Lösung zu finden.

Kumpel aus dem barrio, riskier nicht dein Leben
indem du den Spuren der verlorenen Generation folgst.

Gegen die Lust eine Mauer aus Zement

Ein halbes Jahrhundert Jahre nachdem Kolumbus glaubte, ein großer Entdecker zu sein, verfällt auch sein Namensvetter Matteo im italienischen Padua dieser großen Illusion: “Oh mein Amerika!” ruft er aus. Matteo Colombo, seinerzeit ein angesehener Arzt und Anatom, hat sich in Mona Sofia, die schönste und teuerste Hure Venedigs, verliebt. Nun sucht er verzweifelt einen Weg, Macht über sie und ihre Gefühle zu gewinnen, denn er kann zwar ihre Zeit kaufen, nicht aber ihre Liebe. Wie viele andere Ärzte will er einen aphrodisierenden Zaubertrank brauen, doch seine Testpersonen überkommt nur jedesmal das Bedürfnis, sich zu übergeben. Da klopft eines Tages das Schicksal an seine Tür: Er wird nach Florenz gebeten, um die schöne Franziskanerin Inés de Torremolinos von einer mysteriösen Krankheit zu heilen. Als er zwischen ihren Beinen ein “vollkommen erigiertes, winziges Glied” bemerkt, ist er zunächst entsetzt. Hermaphroditismus? Bei einer Mutter von drei Töchtern? Doch dann entdeckt er, daß er durch Reibung dieses Organs den Willen der Frau lenken kann und sie sich prompt in ihn verliebt. Matteo glaubt sich am Ziel seiner Wünsche. Sollte er mit diesem Wissen nicht auch sein “gelobtes Land”, die liebreizende Mona Sofia erobern können?
Am 16. März 1558 veröffentlicht Matteo Colombo daraufhin seine Abhandlung De re anatomica. Damit begibt er sich direkt ins Gefängnis, beschuldigt der Ketzerei und Blasphemie. Er geht nicht über Los und zieht keine 4.000 Lire ein. Denn das Kapitel “O mein Amerika, süßes Land meiner Entdeckung!” enthüllt eine Sensation, die die Vorstellungswelt der Renaissance zu erschüttern droht: Der Anatom rühmt sich, den Amor Veneris, den “Zauberschlüssel, der Frauenherzen öffnet” gefunden zu haben, heute besser bekannt als Klitoris oder Kitzler. Durch ein Wunder kann er dem Scheiterhaufen entkommen, wenn auch nicht der Zensur, die ihn mit einem rigorosen Publikationsverbot belegt. Sein “Amerika” versinkt wieder in einen Dornröschenschlaf.

Zement und Zensur

Fast vierhundert Jahre später fällt in Argentinien ein Roman, der die Geschichte eben jenes Colombos erzählt, einer anderen Form von Zensur anheim: Im Gegensatz zu dem älteren Schriftstück wird dieser dadurch jedoch mit einem Schlag bekannt. 1996 gewinnt der Schriftsteller und Psychoanalytiker Federico Andahazi mit seinem Debütroman El anatomista (Planeta, 1997) den angesehenen argentinischen Literaturpreis “Premio Joven” der Fundación Fortabat. Die Jury, ein ausgewählter kleiner Kreis von Kritikern, deren Durchschnittsalter bei achtzig Jahren liegt, hat sich einstimmig für diesen Roman entschieden. Dem jungen, erfolgversprechenden Autor soll während einer feierlichen Zeremonie eine Urkunde und die Prämie von 15.000 Pesos (rund 25.000 DM) überreicht werden. Doch dann kommt alles ganz anders. Der Stifterin und Zementkönigin Amalia Lacroze de Fortabat mißfällt, was die Jury ihr da zum Lesen und Loben vorgelegt hat,so sehr, daß sie die Party abblasen läßt und den Preis zurücknimmt – nur das liebe Geld muß ausgezahlt werden. Jeder einzelne Gast wird telefonisch ausgeladen. Selbst Andahazi erfährt erst am Tag der Preisverleihung, daß diese nicht stattfinden wird, und erst einen Tag später durch die Zeitungen den Grund dafür. Frau Fortabat geht sogar soweit, daß sie per Zeitungsanzeige vor diesem Roman warnt, der nicht, wie die Stiftung es voraussetze, dazu beitrüge, “die höchsten Werte des Menschengeistes zu preisen”.
Dieses Verhalten des Zementpfeilers der argentinischen Gesellschaft mußte Erinnerungen an die Repressionen während der Militärdiktatur wachrufen. Schriftsteller und Kritiker reagierten empört auf diesen Versuch der Zensur und bekräftigen den literarischen Wert des Romans. Der Schriftsteller Tomás Eloy Martínez (Evita) äußerte gegenüber der New York Times, Fortabats heftige und konservative Reaktion zeige, daß Argentinien noch immer eine intolerante und repressive Gesellschaft sei, insbesondere, wenn es um Themen wie Sexualität ginge. Die Stifterin selbst wollte sich zwar nicht weiter zu ihrer Ablehnung äußern, ihr Nahestehende ließen jedoch verlauten, sie stoße sich an der vulgären Sprache des Romans und fände ihn schlichtweg mittelmäßig und obszön. Der Soziologe Jorge Balán erklärte, die argentinische Oberschicht fühle sich bedroht von einem Roman, der die Kirche und andere Institutionen der Heuchelei beschuldige, da “sie auch auf eine bestimmte Weise handeln, dies aber zu verbergen versuchen – deshalb wollen sie nicht, daß solche Themen in einem Buch angesprochen werden”. Fortabat hatte nun erreicht, was sie nicht wollte: Genau jene Themen waren durch diesen Skandal in aller Munde. Andahazi und sein Buch wurden zum Politikum.

Der Deal mit der Erotik

Und zu einer heißbegehrten Ware auf dem Buchmarkt. Innerhalb von nur einem Monat ging der Roman in die zweite Auflage, der US-amerikanische Verlagsgigant Doubleday kaufte die englischen Übersetzungsrechte für ca. 200.000 US-Dollar ein (die höchste Summe, die je für einen Titel eines jungen argentinischen Autoren bezahlt wurde), und seit diesem Frühjahr würfelt auch der Krüger Verlag in Deutschland mit. Denn El anatomista wurde nicht nur in Argentinien ein Bestseller – Andahazi und Planeta können sich über die 17. Auflage freuen –, mit Übersetzungen in rund 30 Sprachen avanciert der Roman derzeit zum Welterfolg. Daß dabei alle über Los gehen und ihren Anteil abkassieren, versteht sich von selbst.
Außerhalb Argentiniens muß sich der Roman zwar an anderen Maßstäben messen lassen; hierzulande hilft ihm keine pikierte Stifterin zur Schlagzeile. Doch die braucht er gar nicht: Federico Andahazi besitzt die Fähigkeit, ein faszinierendes Thema humorvoll und spannend zu erzählen. Im Land der Venus wird weltweit als erotischer Roman verkauft – und gekauft –, obwohl er eigentlich gar nicht besonders erotisch ist. Ob der Roman wohl auch in den deutschen Betten soviel Wirbel verursachen wird wie in Argentinien? Dort sind es überwiegend Frauen, die ihn kaufen – und dann weiterverschenken. So zitierte die New York Times 1997 eine junge Sekretärin auf der Buchmesse in Buenos Aires: “Ich werde meinem Freund das Buch schenken, weil ich glaube, daß er noch viel über das weibliche Liebesorgan zu lernen hat.”
Aber auch Männer finden sich unter den Käufern, “weil dies genau die Art von Büchern ist, die die Priester meiner katholischen Schule verboten hätten”. Wobei wir bei den zentralen Themen des Romans wären: Kirche, Zensur und – vor allem – Macht. Denn weniger die Entdeckung dieses nicht die “Ausmaße eines Nagelkopfes” übersteigenden Organs als vielmehr die Motivation für die Suche danach war für den Autor von Interesse. Es war das Verlangen nach Macht, das Männer wie Colombo zu Alchimisten werden ließ, immer auf der Suche nach einem “Werkzeug, dem der Flatterwille des Weibes sich unterwirft”. Die Frau als fremder, bedrohlicher Kontinent, den es zu bezwingen und beherrschen galt. Doch gerade die Entdeckung Colombos, mit der er glaubt, das andere Geschlecht beherrschen zu können, könnte den Frauen Kurzweil mit dem eigenen Körper verschaffen: “Was geschähe, wenn die Töchter Evas selbst entdeckten, daß sie zwischen ihren Beinen die Schlüssel des Himmels und der Hölle trugen?”

Im Namen Gottes

Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß die Frauen diesen nicht kannten. Noch unglaubwürdiger ist Inés‘ Reaktion auf die Erklärung Colombos, daß ihre Liebe zu ihm rein körperlich und auf ihren Amor Veneris zurückzuführen sei. Ob Andahazi männliche Machtphantasien ins Lächerliche ziehen wollte oder doch Machoallüren verfallen ist, könnte Stoff für hitzige Diskussionen bieten und soll sich jede/r selbst überlegen. Aber eins ist klar: Er versucht sich hier nicht als Feminist, schlägt keine Bresche für die Lust der Frau. Vielmehr porträtiert er die Männerwelt in einer Zeit des Umbruchs, in der “der Wirkungskreis der Frauen sich allmählich und kaum merklich ausweitete”. Noch konnten bedrohliche Entwicklungen durch Repression, wie z.B. die Inquisition, gebannt werden. Schließlich waren Frauen dafür da, den Samen des Mannes zu empfangen und ihm gesunde – männliche – Nachfolger zu gebären. Weibliche Sexualität beschränkte sich auf diese eheliche Pflicht. Ein Organ, das keinem anderen Zweck als der sexuellen Befriedigung der Frau dient, konnte deshalb nur Sitz des Teufels sein; seine Entdeckung und Bekanntmachung war Ketzerei. Genau dies hat Colombo versucht, deshalb steht er vor dem Inquisitionsgericht. Doch er zeigt allen, was ein wahrer Christ ist und hält eine flammende Verteidigungsrede, als deren Dreh- und Angelpunkt die “Nichtexistenz der weiblichen Seele” dient. Der Prozeß über Matteo Colombo in der Mitte des Romans führt einen philosophischen Diskurs in aristotelischer Manier vor, bei dem Sprache als Handwerkszeug einer Überzeugungskunst dient, mit der die absurdesten Vorstellungen plausibel erscheinen können.
Was da alles “im Namen Gottes” gehetzt, geheuchelt und gelogen wird, scheint nun eben Anstoß gewesen für das laute Geschrei im katholischen Argentinien, nicht die vermeintlich pornographischen Stellen. Denn die Kirche ist in dem Roman genauso eng mit dem Bordell verbunden wie mit der nahezu in Leichenfledderei ausartenden Wissenschaft des Anatoms. So wird zum Beispiel der Reichtum der venezianischen Bordells damit erklärt, daß es in der Stadt drei Dinge im Überfluß gab: “Edelleute, Priester und Päderasten; und natürlich alle möglichen Kombinationen dieser drei Elemente.” Fühlt sich in Argentinien da jemand auf den Schlips getreten?

Federico Andahazi: Im Land der Venus. Aus dem argentin. Spanisch von Peter Martyr, Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/Main 1999, 39,80 DM
(ca. 20 Euro).

Ja, Literatur soll Politik machen

Vor 10 Monaten hatten wir an dieser Stelle eingeladen, einmal nicht nur über literarische Einzelerscheinungen – Bücher, SchriftstellerInnen, Kongresse – zu reden, sondern sich in einer Debatte Gedanken über den Zustand und die Aufgaben der Literatur heute zu machen. Genauer: über das Verhältnis der lateinamerikanischen Literatur zur Politik, das viele Jahrzehnte hindurch ein sehr besonderes, mit Absichten beladenes Verhältnis war. Wir hatten die Vermutung formuliert, daß das Engagement von Schriftstellern für politische Projekte und Programme geradezu ein Markenzeichen für lateinamerikanische Literatur war, und daß dies auch die Erwartungen der europäischen LeserInnen an Bücher von dort geprägt hat.
All dies wäre kaum des Fragens wert gewesen, wenn sich nicht in den vergangenen zehn Jahren Entscheidendes verändert hätte. Viele der Projekte, denen das Engagement gegolten hatte, sind mit dem Zusammenfall der bipolaren Weltordnung verschwunden oder korrumpiert, gleichzeitig haben die klassischen Gegner dieser Projekte an Identifizierbarkeit verloren. Das konnte für politisch engagierte Literatur nicht ohne Folgen bleiben.
Wir fragten nach Deutungen für ein literarisches Jahrzehnt, das wenigstens nach dem deutschen Übersetzungsbuchmarkt zu urteilen von der Wiederholung einiger Erfolgsmuster, von Seichtigkeit und „riesiger Langeweile“ (Hermann Schulz, LN 295) geprägt gewesen ist. Gute Neuerscheinungen bleiben erfreuliche Ausnahmen.

Diesem Eindruck ist in den diversen Debattenbeiträgen kaum widersprochen worden. Allerdings kam mehrfach ein Aspekt ins Spiel, der hoffen läßt: In einem Land wie Nicaragua wird gute, originelle Literatur durchaus geschrieben. Das Problem besteht darin, daß sich keine Verlage finden, die diese Texte publizieren (Cristina Nord, LN 289/90). Und es bleiben noch Schätze älteren Jahrganges zu heben wie Carlos Martínez Rivas, ebenfalls Nicaraguaner und vom Verleger Hermann Schulz favorisiert.
Es gibt durchaus AutorInnen, die auf Klischees und Preise lieber verzichten als auf das Schreiben dessen, was ihnen wirklich wichtig ist. Wenn das so ist, dann müssen sich eher die LeserInnen fragen, ob sie Anspruchsvolles überhaupt lesen wollen, und die VerlegerInnen, ob sie zu Risiken bereit sind. Wenn Literatur mehr ist als Markt und Auflage, dann steht es um die lateinamerikanische Literatur derzeit nicht ganz schlecht auch wenn die durchschlagenden Bücher, denen das Publikum in Massen zu Füßen liegt, nicht in Sicht sind.
Wie die nicaraguanischen Textbeispiele in LN 289/90 gezeigt haben, beantwortet sich die Frage nach politischem Gehalt gleich mit. Die Erzählungen von Juan Sobalvarro und Marisela Quintana, in denen es um Wunden, Verletzungen, Narben, Schwachheit geht, weichen politischen Implikationen nicht aus.

Im Unterschied zu einer Literatur, die sich eindeutig für politische Formationen und Ideen und gegen gewisse, quasi personifizierbare Feinde engagierte, bleibt es bei neueren Texten jedoch oft bei Fragen. Auch darüber bestand in den Beiträgen zur Debatte Konsens. Zum einen ist der Begriff „engagierte Literatur“ diskreditiert, da das Engagement vielfach mittels Intoleranz und Zensur erzwungen wurde und zu Lasten der ästhetischen Qualität der Werke ging. Zum anderen ist das „platte“ Engagement abgelöst worden durch eines, das einer „ethischen Haltung… gegenüber der Wirklichkeit“ verpflichtet ist (Delgado Aparaín, LN 287), das brennende Themen und universelle Werte nicht ignoriert (Monsiváis, LN 286). Obwohl man sich expliziter Normenvorgaben enthält, wird trotzdem für eine – durchaus auch politische – Literatur plädiert, die sich darauf konzentriert, Fragen und Widersprüche zu formulieren, statt „Dienstleistung“ zu sein (Nord, LN 289/90), eine Literatur, die nicht narzistisch aus der Wirklichkeit in die Verantwortungslosigkeit flüchtet (Roque Baldovinos, LN 291/92).

So viel Konsens hat uns überrascht. Die Meinungsunterschiede lagen eher in Glaubensfragen – ob letztlich alles Politik sei und es somit Illusion sei, unpolitische Literatur schreiben zu können, wurde von Monsiváis und Roque Baldovinos unterschiedlich bewertet. Wenn man sich darüber einig ist, daß Literatur moralische Werte zu wahren und zu stützen habe, dann ist die Diskussion zweitrangig, ob man damit Politik macht oder nicht. (Für welche Werte sich nun einzusetzen wäre, blieb hingegen weitgehend offen.)
Überraschend ist der Konsens vor allem aus einem Grund. Wenn Literatur heute eigentlich aufklärend, infragestellend, aufrüttelnd und wertbewußt sein soll, dann verliert die spielerische, unterhaltsame, den Menschen in seinem So–Sein bestätigende und bestärkende Tendenz an Gewicht. Natürlich schließt das eine nicht das andere aus, nur: In den Beiträgen hat es niemand eingefordert.

Es hat hingegen den Anschein, als sei gerade dies, als sei die Lust an gut erzählten Geschichten, an Leichtigkeit, Überraschung, ja Spannung derzeit viel mehr gefragt als das Richtungweisende, das man gerade an den Engagierten so schätzte. Ricardo Roque Baldovinos hatte darauf hingewiesen, daß „Literatur… eine immer nebensächlichere Rolle bei der Erweiterung des Horizontes der LeserInnen“ spielt.
Wenn das so ist – und der Blick auf Bestsellerlisten und viele Verlagsprogramme kann das bestätigen –, soll dann Literatur tatsächlich noch vor allem überzeugend sein, in dem Sinne von: die LeserInnen von mehr als der literarischen Qualität des Buches überzeugend? Ist gute Literatur, die Veränderungen fordert und den Blick auf die „wirklichen“ Verhältnisse schärfen will, nicht eine Donquichotterie?
Wir meinen die Frage nicht rhetorisch und haben keine Antwort im Futteral. Die angestoßene Debatte wollen wir dennoch mit dieser Ausgabe beenden. Es sei denn, Sie melden zu dem versammelten Konsens Ihren Widerspruch an.

“Lateinamerika hat sein Charisma verloren“

Du hast in diesem Jahr die Hermann-Kesten-Medaille vom PEN Deutschland verliehen bekommen, weil Du für die Freiheit des Wortes gekämpft hast. Was ist für Dich „Freiheit des Wortes“?

Ich habe mich ein bißchen geniert, als ich mir die Persönlichkeiten und die Leistungen der bisherigen Preisträger angesehen habe. Hinterher stand in der Begründung, daß ich sie für den „vorbildlichen Umgang mit Autoren aus der Dritten Welt erhalten habe“.

Der Peter Hammer Verlag hat Engagement als Verlagsauftrag begriffen. Aber geht politisches Engagement nicht noch weiter als für die Freiheit des Wortes einzutreten?

Ich denke schon. Ich glaube auch, daß man die Formel „Freiheit des Wortes“ sehr schnell instrumentalisieren kann. Das hört sich immer gut an, und man kann sicher sein, daß man Applaus bekommt. Nur, was heißt das schon in Ländern, wo Autoren nie die Chance bekommen, ihr Geschriebenes jemals zu veröffentlichen. Das passiert in Lateinamerika, und noch schlimmer in Schwarzafrika, wo aus ökonomischen Gründen Bücher nicht erscheinen. Oder das gesamte Verlagswesen ist in den Händen der intellektuellen Oberschicht, die manchmal absolut nichts mit dem zu tun hat, was an der Basis gedacht und auch erlitten wird. Das hat mich am meisten frappiert. Alle Appelle zur Beteiligung der Bevölkerung sind mehr oder weniger Lippenbekenntnisse gewesen.

Also auch bezogen auf die sandinistischen Intellektuellen, die verlegt wurden?

Das ist gar keine Frage, auch da! Natürlich wurden Anfang der 80er Jahre in Heftchen des Kulturministeriums auch die Volkspoesie und die Ergebnisse aus den Werkstätten der Poesie gedruckt. Aber das wurde schnell wieder eingestellt, und damit waren diese kleinen Pflänzchen verdorrt. Der Verlag „Neues Nicaragua“ ist da ein weiteres Beispiel (vgl. Debattenbeitrag von Cristina Nord, LN 289/290). Es ist nie wieder gutzumachen, was da kaputt gemacht worden ist. Das empört mich ein bißchen, nicht zuletzt deswegen, weil da auch unheimlich viel Spendengelder hineingeflossen sind.

Hat vielleicht diese Enttäuschung dazu geführt, sich mehr auf Afrika zu konzentrieren?

Das auf keinen Fall. Der Grund, warum wir in den letzten Jahren relativ wenig lateinamerikanische Bücher gemacht haben, ist einfach die riesige Langeweile, die sich bei den Autoren und ihren Büchern breit gemacht hat.

Hast Du das Gefühl, daß das fehlende Interesse an lateinamerikanischer Literatur auf diese Langeweile zurückzuführen ist?

Nicht nur. Lateinamerika hat sein Charisma verloren. Das, was mal hunderte von Solidaritätsgruppen auf die Beine gestellt haben — diese Flamme ist ausgeblasen. Die Nachfrage ist nicht mehr da, weil Lateinamerika politisch kein Thema mehr bietet, was bei den Leuten das Herz entzündet.

Was könnte denn heute den Leuten das Herz entzünden, was könnte heute das Besondere sein an lateinamerikanischer Literatur?

Das ist schwer zu sagen. Und ich kann den lateinamerikanischen Autoren auch nicht vorwerfen, daß sie nicht so schreiben, wie die Europäer es von ihnen erwarten. Wenn diese Modebewegung, diese Nachfolge von García Márquez, endlich ein Ende hätte, und es würden wieder handfeste Geschichten erzählt, ohne den Magischen Realismus!
Ich bin sicher, daß es in Lateinamerika eine ganze Menge wichtiger und neuer Bücher gibt, aber bisher sind sie mir nicht bekannt geworden. Früher hatte ich überall Leute sitzen, die mich informierten. Heute ist davon nur noch Galeano geblieben und der sagt: „Laß die Finger davon, es ist alles schrecklich langweilig, zur Zeit kannst du hier nichts erwarten!“ Die anderen Berater, die früher Soziologie oder Politologie unterrichteten, haben heute Reitställe und unterhalten sich lieber darüber, wo es den besten Käse gibt oder den besten Wein.

In den letzten Jahren sind durch Globalisierung und Mediatisierung Asien und Afrika verstärkt in unser Blickfeld gerückt. Könnte man sich das Desinteresse der Leser in Deutschland mit einer solchen Konkurrenz erklären?

Ich glaube nicht, daß es eine Konkurrenzsituation gibt. Eher ist, seit man den Imperialismus nicht mehr für alles verantwortlich machen kann, eine bestimmte Beruhigung eingetreten. Das Gefühl, daß unser Wohlstand mit der Armut der Länder der „Dritten Welt“ zu tun hat, ist nicht mehr präsent. Wir müssen uns nicht mehr schuldig fühlen. Die persönliche Verantwortung, etwas für die Gerechtigkeit auf dieser Welt zu tun, ist nicht mehr da. Das äußert sich vielleicht nochmal in Spenden, wenn ein Hurrikan über Zentralamerika hinwegfegt, aber es ist kein explizit politisches Interesse mehr.
Ich glaube, die Zeiten sind vorbei, wo die Leserschaft so eingeschworen war auf eine bestimmte politische Haltung. Heute ist die literarische Qualität der Bücher wichtiger. Wenn Gioconda Belli ein Buch schreibt wie „Bewohnte Frau“, erreicht es 800.000 Exemplare. Wenn sie aber dann im Nachschlag hingeht und ein Buch schreibt wie „Waslala“, das politisch korrekt ist von der ersten bis zur letzten Zeile, da kann ich das Publikum verstehen, wenn es sich abwendet und sagt: „Das wollen wir jetzt nicht mehr.“ Diese Frau hat so geschrieben, wie sie meint, daß die Europäer sie lesen wollen.

Wie würdest Du die Situation des Literaturbetriebs in Kuba einschätzen?

Vor drei Jahren habe ich in Kuba mit Christoph Links (Verleger aus Berlin; Anm. d. Red.) zusammen ein Seminar gemacht für junge Verleger. Eigentlich war dieses Seminar gedacht für 30 Teilnehmer, es kamen aber 90. Die hatten ein Riesenbedürfnis, ihre Isolation zu durchbrechen, zu erfahren, was anderswo gemacht wird. So als wollten sie sich vorbereiten auf eine Zeit, wo Kuba bessere finanzielle Möglichkeiten hat, die Buchproduktion anzukurbeln. Das war im gleichen Jahr, als in Kuba nur fünf, sechs neue Bücher erschienen waren, weil kein Papier da war. Die Leute saßen in den Verlagen und bereiteten Neuerscheinungen vor, die bis heute wahrscheinlich nie gedruckt worden sind. Ich bin in Buchhandlungen gewesen, die im Tauschverfahren aus Mexiko und Nicaragua Bücher bekommen hatten. Die Leute standen Schlange, um diese Bücher zu bekommen. Es ist ein Jammer, daß Kuba zur Zeit in einer solchen Isolation und Stagnation steckenbleibt, und gleichzeitig eine Bevölkerung hat, die so phantastisch auf das Lesen vorbereitet ist.

Aber ist diese Stagnation ausschließlich auf finanzielle Probleme zurückzuführen, oder auch auf politische Enge, im Sinne von Zensur?

Diese Zensur gibt es sicher noch, doch im Moment diskutiert das niemand. Die Intellektuellen rechnen ohnehin damit, daß es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Fidel abgelöst wird und sie selbst die Zukunft Kubas in die Hand nehmen können.

Viele fragen sich, wo es in Lateinamerika literarisch hingeht, suchen vergeblich nach Strömungen, nach neuen Sternen am Himmel. Wie würdest Du dieses Phänomen erklären?

Ich glaube, daß jede Bewegung auch eine Gegenbewegung hervorbringt. Es würde mich nicht wundern, wenn in Nicaragua nach diesem ungeheuer aufgedröhnten Aufbruch der 70er, 80er Jahre eine Generation einfach beiseite schiebt, was gewesen ist, und sagt: „Wir wollen jetzt was ganz Neues machen.“
Es gibt da zum Beispiel den kürzlich verstorbenen Dichter Carlos Martínez Rivas. Leider hat er notariell festgelegt, daß seine Verse niemals in eine andere Sprache übersetzt werden dürfen. Meiner Meinung nach steht dieser Dichter viel mehr für die nicaraguanische Literatur als Cardenal. Seine Durchdringung von Religiosität, Erotik und Geschichte des Kontinents ist einmalig. Mich würde sehr interessieren, wie die junge Generation zu einem solchen Poeten steht, der ein wirklicher Revolutionär war, viel mehr als diejenigen, die dann bei den Sandinisten oben auf dem Treppchen standen.

Wenn er hier verlegt worden wäre, hätte er auf Grund politischer Interessen trotz höherer literarischer Qualität weniger Leser gefunden, oder was meinst Du?

Auf lange Sicht hätte er sicher mehr Leser gefunden, obwohl Cardenal mit seiner Gebrauchslyrik natürlich viel breitere Schichten anspricht. Dennoch wäre eine Sammlung mit den besten Gedichten von Rivas für mich als Verleger und für die Literatur viel wertvoller. Dafür hätte ich jeden ideologischen Beweggrund beiseite gelassen und hätte ihn verlegt.

Was bedeutet heute für Dich engagierte Literatur?

Das Prinzip, Romane und Sachbücher aus der Dritten Welt zu verlegen, hatte vor allem mit mir und meiner mangelnden Intellektualität zu tun: Sie mußte verständlich sein für jemanden, der mittlere Reife hat, sie mußte unterhaltsam sein, und sie mußte informieren über die Art und Weise, wie Menschen leben. Damit ist der Verlag gut gefahren. Ich habe mich nie für die ganz hohe Literatur interessiert, und ich würde sie nicht gerne im Programm haben. Das nicht, weil die Trauben zu hoch hängen, sondern weil diese Bücher viel weniger bewegt haben als zum Beispiel die „Bewohnte Frau“ von Gioconda Belli. Es ist literarisch sicher kein hervorragendes Buch, aber es trifft nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz. Auch bei Galeano erfährt man immer etwas über die Visionen und die Kultur der einfachen Menschen. Das ist für mich engagierte Literatur.

Sind die neueren Autoren nicht mehr engagiert?

Das letzte politische Buch, das wir gemacht haben, ist „Nachrichten aus dem Imperium“ von Fernando del Paso. Ein Schlüsselroman und ein Werk der Weltliteratur. Dieses Buch ist in Deutschland total durchgefallen. In Mexiko hat es eine Auflage von 180 000 Exemplaren und gehört zur Pflichtlektüre. Die Europäer sind also an dem, was ihre eigene Geschichte angerichtet hat, gar nicht so interessiert. Die Art und Weise, wie die Europäer in diesem Buch dargestellt werden, stört eher die gute Laune.

Könnte es sein, daß mit der „einschläfernden Demokratisierung“ der letzten Jahre auch das Kulturelle eingeschläfert wurde?

Ja, ich glaube, daß die Lateinamerikaner im Augenblick Probleme haben, ihre Identität neu zu formulieren. Che Guevara und die Kubanische Revolution waren Ausdruck einer ganzen Generation von Intellektuellen, aber auch von Taxifahrern. Jetzt ist das plötzlich weg und muß sich irgendwie neu formulieren. Das kann ein sehr spannender Prozeß sein, nur müssen wir vielleicht noch eine Weile darauf warten.

Gringo loco im Land der Vorväter

Molotov hat sich in kürzester Zeit von einem mexikanischen Geheimtip zum international etablierten Act gemausert. Hast Du eine plausible Erklärung für diesen rasanten Erfolg?

Natürlich nicht. Wir sind erst in Mexiko, in Monterrey, wo wir auch herkommen ein wenig bekannt gewesen. Plötzlich ging alles ganz schnell: Die Platte, Musikvideos, Tourneen, Preise. Und jetzt bin ich hier in Deutschland, im Land meiner Vorväter. Das ist schon verrückt.

Moment mal. Was heißt hier „Land Deiner Vorväter“, ich dachte Du seist US-Amerikaner?

Mein Urgroßvater ist Deutscher. Geboren bin ich aber in New Orleans, und später nach Michigan gezogen. Das war eine grauenhafte Zeit. In der Schule wollte niemand etwas mit mir zu tun haben. Da habe ich angefangen, Schlagzeug zu spielen. Ich habe mich jeden Tag in den Musikraum gesetzt und habe drauf los gespielt. Das hat mir geholfen, den ganzen Frust und die Unzufriedenheit, die ich in mir hatte, zu vergessen. Ich war also nie der basketballspielende US-Teenager.

Musik als Heilung – trifft das auch auf das zu, was Du mit Molotov machst?

In gewisser Weise schon. Unsere Konzerte sind wie ein Ventil für angestaute Emotionen, positiver wie negativer Art. In Mexiko begegnet man derzeit sehr viel Gewalt, die aus der angestauten Frustration über die Armut und die miserablen Lebensbedingungen herrührt. Nach einem Konzert fühle ich mich frei und erleichtert; so geht es den Besuchern hoffentlich auch.

Ihr seid zu Beginn Eurer Karriere aufgrund Eurer „anzüglichen“ Texte in vielen Ländern Lateinamerikas der Zensur zum Opfer gefallen, und das Album „Dónde jugarán las niñas?“ durfte offiziell nicht verkauft werden. War das eine große Promo-Aktion oder steckt mehr dahinter?

Wir sagen das, was wir mit unseren Texten ausdrücken wollen, so wie wir es für richtig halten. Als die Single „Puto“ herauskam, haben alle aufgeschrien. Mittlerweile läuft das Lied in den
Supermärkten. Promo war es auf jeden Fall nicht, da sich ja dadurch auch die Platte nicht verkaufen konnte. Auch haben wir festgestellt, daß viele Länder sehr viel toleranter mit uns umgegangen sind als Mexiko selbst. Jetzt wo wir bekannt sind, schmückt sich Mexiko mit unseren Lorbeeren, geholfen, dahin zu kommen, wo wir jetzt sind, hat es uns aber nicht, im
Gegenteil. Wie verkauft sich die Platte eigentlich in Deutschland?

Soweit ich weiß ganz gut. Ihr seid in den großen Musikkanälen präsent und auch die Printmedien haben Eure Platte gut besprochen. Von der Tour hat man aber so gut wie nichts gehört. Wie kommt das?

Nun ja, das liegt wohl einfach an mangelnder Werbung. Einige Leute kommen auch wegen der Vorgruppe (Anm. d. Red.: Keilerkopf), die im
Moment hier recht bekannt zu sein scheint. Aber trotzdem lief die Tour bisher besser als erwartet. Es kommen viele Latinos, die die Texte kennen, aber auch eine ganze Menge deutsches Publikum. Als nächstes spielen wir mit den Deftones eine Tour durch Österreich und die Schweiz. Darauf freue ich mich besonders.

Es gibt noch sehr viele andere Bands aus Lateinamerika, die Musik auf internationalem Standard machen, aber in Europa vollkommen unbekannt sind. Seht Ihr Euch diesbezüglich in einer Vorreiterrolle?

Wir sind vielleicht die lateinamerikanische Band, die hier in Europa im Moment am meisten von sich Reden macht, uns aber als Vorreiter zu bezeichnen halte ich für übertrieben. Es gibt so viele Künstler in Lateinamerika, die schon jahrelang gute Platten produzieren. Ich denke dabei an die „Fabulosos Cadillacs“ oder auch „Soda Stereo“. Sie hätten schon längst die Aufmerksamkeit des europäischen oder nordamerikanischen Marktes verdient. Ein Manko hierbei ist sicherlich die Sprache. Ich wünsche mir natürlich, daß durch uns das europäische Publikum auf all die anderen Bands aus Lateinamerika aufmerksam wird, doch sind wir nur ein ganz kleiner Teil der Bandbreite lateinamerikanischer Rockmusik.

Die meisten Newcomer, die mit ihrem Debütalbum sehr erfolgreich gewesen sind, haben Probleme, ein mindestens ebenso gutes Nachfolgewerk abzuliefern. Setzt Ihr Euch diesbezüglich unter Druck? Wann soll die neue Platte überhaupt erscheinen, und was kann man musikalisch erwarten?

Wir werden Anfang 1999 in Los Angeles mit der Produktion beginnen und hoffentlich gegen Ende des Jahres die neue Platte vorstellen. Der Druck ist natürlich da, was aber ganz normal ist. Wichtig ist, daß wir uns mit der Platte identifizieren können. Musikalisch wird es auf jeden Fall wieder ein hartes, aber melodiöses Rockalbum mit Latino-Sounds in spanischer und englischer Sprache, wobei wir aber sicherlich auch die Eindrücke der letzten Monate verarbeiten werden.

Das heißt, Ihr gönnt Euch auch keine größeren kreativen Pausen?

Wenn wir zurückkommen, werden wir u.a. mit den „Fabulosos Cadillacs“ sowie Enrique Bunbury (Anm.d.Red.: ehem. Sänger der Heroes del Silencio) auftreten und dann an neuem Material arbeiten. Bisher haben wir vier neue Stücke, die wir auch auf der jetzigen Tour spielen werden. Wir werden uns sicherlich nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen, denn wie Du siehst, sind wir hier in Deutschland nicht bekannter als eine lokale Band.

JournalistInnen unter Beschuß

Am 20. Mai 1998 beging Alfredo Yabrán, ein führender argentinischer Geschäftsmann und der Hauptverdächtige in einer die Regierung unter Präsident Carlos Menem erschütternden polizeilichen Ermittlung, auf einer seiner Fincas Selbstmord. Fünf Tage zuvor hatte der Richter José Luis Macchi gegen ihn Haftbefehl erlassen, nachdem die Ex-Frau eines ehemaligen Polizeibeamten ausgesagt hatte, daß Yabrán hinter dem Mord an dem Fotografen José Luis Cabezas stecke. Dessen Leiche wurde am 25. Januar 1997 in einem ausgebrannten Auto im Badeort Pinamar entdeckt. Cabezas hatte für Editorial Perfíl gearbeitet, einem nationalen Pressegiganten, dessen Hochglanz-Nachrichtenmagazin Noticias über die politischen Skandale im Land berichtet, wobei in vielen Fällen die Politiker und Wirtschaftsmagnaten schlecht davonkommen. Cabezas stellte Nachforschungen über eine Feier in Pinamar an, woraufhin er entführt, gefesselt, erschossen und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt wurde. Dieser brutale Mord erinnerte an die schrecklichsten Tage während des schmutzigen Krieges in Argentinien.
Von Anfang an verdichteten sich die Verdachtsmomente um Yabrán, der sein Vermögen mit Unternehmungen im Frachtwesen machte und dabei direkten Nutzen aus seinen engen Beziehungen zu Präsident Carlos Menem zog. Vom damaligen Finanzminister Domingo Cavallo, wurde er 1995 als Mafiaboss bezeichnet. Im darauffolgenden Jahr erschien der durchtriebene Geschäftsmann auf einem unverfänglichen, von Cabezas aufgenommenen Strandfoto auf dem Titelblatt von Noticias. Yabrán war davon nicht begeistert und soll gesagt haben: „ein Foto von mir zu machen, ist, wie mir in den Kopf zu schießen.“ Nach dem Tod des Fotografen erschien Yabráns Konterfei auf den Titelblättern mehrerer Noticias-Ausgaben. Auf einem davon taucht hinter einer Maske Yabráns das Gesicht des Präsidenten auf, mit dem Untertitel „Ist Yabrán Menem?“
Die Aufklärung dieses Mordfalles gestaltet sich durch die Verwicklungen in der aktuellen argentinischen Politik und dem scharfen internen Machtkampf in der politischen Elite schwierig. Cabezas’ Leiche wurde unweit des Hauses von Eduardo Duhalde, dem amtierenden Gouverneur der Provinz Buenos Aires und einem aussichtsreichen Kandidaten für die anstehenden Präsidentschaftswahlen, gefunden. Der Mord an Cabezas und Yabráns Selbstmord haben sowohl Fragen über die Verflechtung politischer und ökonomischer Macht auf höchster Ebene in Argentinien aufgeworfen, aber auch zur Rolle der Medien und zu den nur allzu realistischen Gefahren, denen JournalistInnen unter der neoliberalen Demokratie in ganz Lateinamerika ausgesetzt sind.

Mord an JournalistInnen

Mit der Wiedereinführung von Zivilregierungen und dem Ende der Bürgerkriege in Zentralamerika schien die Anzahl von Übergriffen auf JournalistInnen anscheinend zurückzugehen. Jedoch tauchte in letzter Zeit ein beunruhigendes Phänomen auf. Trotz der gefeierten Wiederherstellung der Demokratie und dem angeblichen Schutz der Pressefreiheit nehmen Bedrohung und Gewalt gegenüber JournalistInnen in ganz Lateinamerika wieder zu. Obwohl die in Berichten von Presserechtsgruppen angegebenen Zahlen weit voneinander abweichen, läßt sich für 1997 ein alarmierender Anstieg von Angriffen auf MitarbeiterInnen der Medien erkennen.
Vom Committee to Protect Journalists (CPJ) und der Organisation Reporters sans Frontiers (Reporter ohne Grenzen) mit Sitz in Paris wurden für das letzte Jahr weltweit 26 Morde dokumentiert. Zehn davon wurden in Lateinamerika verübt: vier in Kolumbien, drei in Mexiko und jeweils einer in Brasilien, Guatemala und Argentinien. Presserechtsgruppen untersuchen gegenwärtig den Tod von zehn JournalistInnen, die bis Anfang Juni diesen Jahres in Brasilien, Kolumbien, Mexiko und Peru ermordet wurden.
Die gewalttätigen Übergriffe und die steigende Zahl der gegen JournalistInnen angestrengten Prozesse sind keine Einzelphänome. Mit der Durchsetzung der neoliberalen Demokratie konzentriert sich politische und ökonomische Macht und gleichzeitig verlieren Kontrollinstanzen – Gesetzgebung, Gerichte und andere Institutionen wie z.B. Parteien – an Macht oder Glaubwürdigkeit. In dieses Vakuum sind JournalistInnen als wichtige Akteure getreten und decken Fälle von Korruption, Machtmißbrauch und die politische und finanzielle Macht der Drogenhändler auf. Im Jahresbericht 1997 des CPJ schreibt Joel Simon, der Direktor des Komitees für Amerika, über die Angriffe auf die Presse: „Regierungsbehörden, einflußreiche Wirtschaftsakteure und kriminelle Elemente reagieren auf die Versuche der Presse, ihre Aktivitäten aufzuklären, mit Prozessen oder Gewalt.“

Tödliche Kolumne

Kolumbien galt lange Zeit für JournalistInnen in Lateinamerika als das gefährlichste Land. Allein in diesem Jahr wurden in Kolumbien mindestens fünf Journalisten ermordet, im letzten Jahr waren es vier. Einer davon war Gerardo Bedoya, der Redakteur der Meinungsseite der in Cali erscheinenden Tageszeitung El País. Wenige Tage nachdem er eine Kolumne verfaßt hatte, in der er die Auslieferung der Drogenhändler an die USA befürwortete, wurde er durch einen Kopfschuß getötet.
Zusätzlich sind viele JournalistInnen einer ständigen Bedrohung und Schikanierung ausgesetzt. So auch Richard Vélez, ein Kameramann für ein täglich ausgestrahltes TV-Nachrichtenprogramm. Sieben Jahre lang hat Vélez im Nachrichtenprogramm „Colombia: 12:30“ über Polizisten, Sonder-Sicherheitskräfte und das Militär berichtet. Vélez galt schlechthin als Kriegsberichterstatter. Im August 1996 wurde er nach Südkolumbien geschickt, um dort über die Proteste der Campesinos gegen die Vernichtung ihrer Coca-Anpflanzungen zu berichten. Die Armee sollte angeblich nur mit einigen Tränengas-Granaten ausgerüstet sein, doch Vélez filmte Soldaten, die mit Macheten und Gewehren auf die Menschenmenge losgingen. Plötzlich wurde er von einer Gruppe Soldaten angegriffen und zur Herausgabe seiner Kamera aufgefordert. Vélez wurde brutal niedergeschlagen und mußte zwei Wochen im Krankenhaus behandelt werden. Seinen Kollegen gelang es, die Kassette aus der Kamera zu retten; die Bilder wurden landesweit ausgestrahlt und von Organisationen für Menschenrechte und Pressefreiheit auch weltweit verbreitet.
Die Probleme für Vélez fingen damit aber erst an. Bald nach Veröffentlichung der Berichte über diesen Vorfall, erhielt er Drohanrufe, mysteriöse Hausbesuche, und Briefe, in denen ihm „Ruhe in Frieden“ gewünscht wurde. Im Oktober 1997 verließ Vélez mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuz Kolumbien. Er lebt jetzt in New York City und erwartet die Entscheidung über seinen Asylantrag.

Mexiko auf Kolumbiens Spur

Auch in Mexiko haben die Übergriffe auf Journalisten zugenommen. Nach Aussage vom CPJ wurden 1997 drei mexikanische Journalisten als direkte Reaktion auf ihre Berichterstattung getötet.
Weit häufiger sind dagegen Fälle der Bedrohung und Einschüchterung. Maribel Gutiérrez erlangte 1995 internationale Anerkennung für ihre Berichterstattung über das Massaker an 17 Bauern in Aguas Blancas, im Bundestaat Guerrero, das den Rücktritt des Gouverneurs zur Folge hatte. Sie ist ständiger Bedrohung ausgesetzt und wurde von den Staatsbehörden angeklagt, dem Revolutionären Volksherr (EPR) anzugehören. Ihr Name fiel bei Folterverhören, bei denen die Opfer eine Verbindung Gutiérrez’ mit den Aufständischen eingestehen sollten.

Im Zeichen des Geheimdienstes

Die peruanische Presserechtsgruppe Instituto Prensa y Sociedad (IPYS) hat in ihrem Jahresbericht über Presse und Demokratie (Annual Report on the Press and Democracy) 1997 festgestellt, daß nahezu alle in diesem Jahr auf JournalistInnen verübten Angriffe in diesem Land das „Zeichen des peruanischen Geheimdienstes tragen, der sich die Überwachung unabhängiger Journalisten zur Aufgabe gemacht hat.“ Vergangenen April wurde die Radiojournalistin Isabel Chumpitaz Panta und ihr Ehemann, der Moderator José Amaya Jacinto, in ihrem Haus in der nordperuanischen Stadt Piura brutal ermordet. Chumpitaz war die Vorsitzende einer lokalen Journalistenvereinigung, das Ehepaar arbeitete für ein Programm mit dem Namen La Voz del Pueblo. Die Motive für den Mord bleiben unklar. Der Bruder Chumpitaz’, ebenfalls Journalist, wurde bei diesem Überfall schwer verletzt.
Die Quote der Morde und Überfälle ist allerdings nur die eine Seite. Die JournalistInnen, die den Schleier des Schweigens und der Straflosigkeit aufdecken, in deren Schutz sich die politische wie wirtschaftliche Elite wiegt, sollen durch restriktive Immigrations-, Lizenz- und Verleumdungsgesetzgebung ausgeschaltet werden.

Gesetz gegen Kritik

So wurde in Kolumbien ein umstrittenes Gesetz zur Fernsehlizensierung verabschiedet, um Kritiker an Präsident Ernesto Samper unter Strafe stellen zu können. Samper hat diesen Eingriff in die Medien persönlich initiiert. Im August 1997 hielt Samper eine Rede auf der in ihrer Art erstmaligen Konferenz in Guatemala-Stadt, die von der “Interamerikanischen Pressevereinigung” (IAPA) mit Sitz in Miami organisiert wurde. Darin informierte Samper die Versammelten, daß die Medien in Kolumbien dafür verantwortlich seien, ein Klima der Gewalt gefördert zu haben. Im Rahmen der Guatemala-Konferenz kann dieser Kommentar nur als äußerst perverser Zynismus interpretiert werden.
Auch von anderen lateinamerikanischen Regierungen wurden mittels restriktiver Gesetze „problematische“ JournalistInnen verfolgt. Als der Enthüllungsjournalist Gustavo Gorriti mit dem Verfassen von Berichten begann, in denen er eine Beziehung zwischen Geldern aus dem Drogenhandel und der Wahlkampagne des Präsidenten Ernesto Pérez Balladares in Panama aufdeckte, versuchte die Regierung ihn auszuweisen. Gorriti war nach dem Staatsstreich von 1992 und Fujimoris hartem Vorgehen gegen die Presse bereits aus seinem Heimatland Peru geflohen. Durch internationalen Druck mußte die Regierung in Panama einlenken, doch nun wird Gorriti der Verleumdung angeklagt, worauf eine sechsjährige Haftstrafe droht.
Die vielleicht heimtückischste Bedrohung der Pressefreiheit in Lateinamerika besteht in der zunehmenden Konzentration der Medien in den Händen einiger weniger mächtiger Konglomerate. Dieser Trend konnte durch die unendliche Kette von physischen und rechtlichen Übergriffen nicht unbemerkt vonstatten gehen. Für den einzelnen Journalisten ergibt sich daher ein zweifaches Problem: Während er/sie aufgrund seiner/ihrer Arbeit bedroht wird, arbeitet er/sie in zunehmendem Maße für Zeitungen, Zeitschriften und TV-Stationen, die im Besitz mächtiger Wirtschaftsvereinigungen stehen, die die Tagesordnung des jeweiligen Mediums diktieren, und somit zu einem großen Anteil auch die politische Ausrichtung in der gesamten Region bestimmen können.
Eines der aufsehenerregendsten Beispiele ist der Fall der kolumbianischen Zeitung El Espectador, eine der angesehensten Tageszeitungen des Landes. Die Herausgeber und Reporter sind schon seit langem die Opfer von Gewalt. So auch Guillermo Cano, der 1986 im Auftrag von Pablo Escobar ermordet wurde. Im Dezember letzten Jahres verkaufte die Familie Cano ihren Mehrheitsanteil an die kolumbianische Wirtschaftsvereinigung Santo Domingo, die sich seitdem Grupo Bavaria nennt. Der neue im März diesen Jahres ernannte Herausgeber ist ein ehemaliger Regierungsbeamter, der während der umstrittenen Wahlkampagne Ernesto Sampers Chef für Kommunikation war. Die meisten Angestellten kündigten als Zeichen ihres Protests gegen diese Entwicklung. Der Kolumnist Fabio Castillo entschied sich, für die Zeitung weiterzuarbeiten und äußerte – gemeinsam mit zwei weiteren Kollegen – in einem Schreiben an den neuen Herausgeber und Verleger seine Zweifel darüber, daß die neue Geschäftsleitung sich für Pressefreiheit einsetzen wird. Sie schrieben darin auch, daß sie ihre weitere Arbeit für die Zeitung von der Beibehaltung der Verlagsautonomie abhängig machen würden. Am nächsten Tag erschien dieser Brief, der als vertrauliches Schreiben intendiert war, unter der Rubrik „Briefe an den Herausgeber“ und war mit der unheilverkündenden Überschrift „Bedauernswerte Kündigungen“ versehen.
Das Thema der Pressefreiheit in Lateinamerika findet aber auch in US- und europäischen Organisationen, wie in der von der Europäischen Union finanzierten Reporters sans Frontiers größere Beachtung. Die Knight Foundation, die von der Muttergesellschaft des Miami Herald und anderen Knight-Ridder-Zeitungen finanziert wird, hat eine umfangreiche Untersuchung der ungestraften Morde an JournalistInnen in Lateinamerika in Auftrag gegeben, die von der „Interamerikanischen Pressevereinigung“ (IAPA) durchgeführt wird. Aufgrund dieser Untersuchung wurde die IAPA-Konferenz letztes Jahr in Guatemala-Stadt organisiert. Auf dieser Konferenz gab es eine öffentliche Verhandlung, in der Zeugen zu den Morden an den sechs JournalistInnen in Kolumbien, Guatemala und Mexiko vernommen wurden. Diese Fälle werden jetzt auch in der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und am Interamerikanischen Gerichtshof diskutiert, wo ein Amt für Sonder-Berichterstattung in Sachen Meinungsfreiheit eingerichtet werden soll.
Als Reaktion auf die jüngste Gewaltwelle sind auch in Lateinamerika neue Journalistenvereinigungen entstanden. Dazu gehören IPYS in Peru und Periodistas in Argentinien, deren Gründungsmitglieder so prominente Journalisten wie Jacobo Timerman, Horacio Verbitsky und der Schriftsteller Tomás Eloy Martínez sind. Die Möglichkeiten dieser Organisationen sind jedoch eher bescheiden. Bestenfalls haben sie denselben Stellenwert und unterliegen denselben Einschränkungen wie die Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) und Menschenrechtsgruppen. Sie können die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf bestimmte Fälle lenken, sie sind aber keinesfalls ein Ersatz für eine funktionierende Rechtssprechung. Da sie auf Fremdfinanzierung angewiesen sind, wird ihnen eine Untersuchung des Problems der wachsenden Medienkonzentration kaum möglich sein.

Der Mord an José Luis Cabezas

Der Vereinigung Periodistas und einzelnen JournalistInnen ist es zu verdanken, daß der Fall José Luis Cabezas’ ein derartiges Aufsehen erregt hat. Im Gegensatz zu jedem anderen Mord an einem Journalisten hat sich in diesem Fall ein ganzer Berufsstand zur Verteidigung der Pressefreiheit zusammengeschlossen. Der Tod Yabráns bringt dagegen nur noch mehr Verwirrung und Skepsis in eine bereits skeptische Gesellschaft. Nach dem Selbstmord des Geschäftsmanns war die argentinische Presse voller Berichte von einem „vermeintlichen Suizid“ und offenen Fragen wie: War Yabrán wirklich tot? Hat er sich wirklich selbst umgebracht, oder wurde er ermordet, weil er zu viel wußte? Tomás Eloy Martínez sagt dazu: „Der Fall Cabezas und der Suizid Yabráns zeigen den tiefen moralischen Verfall in Argentinien. Die Institutionen haben einen immensen Vertrauensverlust zu verzeichnen. Keiner kann auch nur irgend jemandem mehr glauben.“
Die Medien in Lateinamerika stellen natürlich kein einheitliches Ganzes dar. Jedes Land hat seine eigene Mediengeschichte, die einen Teil der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Geschichte ausmacht. Außerdem gibt es auch innerhalb der Medien eines Landes beträchtliche Differenzen. Umfassend kommentierte Fälle, wie der von José Luis Cabezas, sind noch die Ausnahme. Für den einzelnen Journalisten, der außerhalb der Großstädte und nicht im Rahmen der großen Medienorganisationen arbeitet, bleibt es unvergleichlich gefährlicher. Denn dort operieren die Lokalpatriarchen in einem größeren straffreien Raum, die JournalistInnen sind von ihren KollegInnen in den Großstädten isoliert, und nicht selten werden sie von ihnen sogar ignoriert. Übergriffe auf JournalistInnen sind zudem symptomatisch für ein chronisch schwaches Justizsystem, kafkaeske Gesetzesüberwachung und endemische Straflosigkeit. Sie erinnern schmerzhaft an das Versagen der neoliberalen Demokratie in Lateinamerika.

gekürzt aus: NACLA Juli/August 1998
Übersetzung: Susan Aderkas

„Voto Latino“

Es ist Samstag, die Sonne brennt. Tausende ecuadorianische Jugendliche drängen sich in tropischer Hitze vor den Eingangstoren zu Quitos gra- ziös wirkender Stierkampfarena, um eine der begehrten Eintrittskarten zu bekommen. Anlaß hierfür ist allerdings nicht die Darbietung einer alten spanischen Tradition, sondern ein Gastspiel der mexikanischen Cross-over Formation Molotov. In kürzester Zeit avancierte das Quartett aus Monterey von einem Geheimtip zu absoluten lateinamerikanischen Superstars. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit der Zensur, welche den Verkauf des Debüt-Albums Donde jugaran las niñas? (Universal/ BMG) nur unter der Ladentheke zu immensen Preisen erlaubte, schlugen die vier Mexikaner ein wie eine Bombe, und das Album wurde in kürzester Zeit mit Platin ausgezeichnet.

Der Latino-Cocktail

Dabei ist die Musik, die sie machen, eigentlich nichts Neues: Brachiale Gitarren, 2 (!) verzerrte Bässe, ein blechernes Schlagzeug und Rap-Gesang. Crossover eben! Wäre da nicht immer wieder der mal stärker, mal schwächer hörbare lateinamerikanische Einfluß. Hier ein wenig Salsa, (Voto Latino) da ein Mariachi-Bläsersatz (Use it or lose it) oder ein paar traurig schluchzende Mandolinen. Auch was den Gesang angeht unterscheiden sich Molotov stark von ihren musikalischen Kollegen der harten Musik. Es gibt keinen expliziten Frontmann. Jedes Mitglied ist gleichwertig an dem aus spanischer aber auch aus englischer Sprache bestehenden Gesang beteiligt. Die derzeitig aktuell auf dem deutschen Markt erschienene Single Gimme tha power ist für diese auch als “Spanglish” bezeichnete Mischung bestes Beispiel.
Doch wer sind die vier eigentlich? Obwohl Molotov als mexikanischer Export gehandelt werden, stimmt dies nur bedingt, da der Schlagzeuger mit dem wohlklingendem Pseudonym el loco Gringo ursprünglich aus Nordamerika stammt. Auf die Frage, ob es einen Grund dafür gebe, antwortet Bassist Tito in einem Interview lapidar: „Er ist ein Freund und spielt gut Schlagzeug. Da ist es doch egal was in seinem Paß steht.“ Nicht so egal ist es dem Latino-Quartett mit der derzeitigen politischen und sozialen Situation in ihrem Land. Molotov verstehen sich zwar nicht als eine politische, wohl aber als eine gesellschaftskritische Band, die das, was ihnen nicht paßt, offen und unmißverständlich kundgibt. So fungieren Molotov wohl auch ungewollt als Sprachrohr für viele frustrierte lateinamerikanische Jugendliche, denen die alltäglichen Probleme und Mißstände in ihren Ländern nicht passen, aber auch das ständige Schielen nach Nordamerika zuwider ist. Voto Latino, ich stimme für mich.

Die Latino-Band der Zukunft?

Auch wenn Molotov nicht der innovative Offenbarungseid sind: Es ist eine Band, auf die man gespannt sein darf. Denn bis jetzt gibt ihnen der Erfolg Recht. Nachdem lateinamerikanische Bands wie die brasilianischen „Sepultura“ oder aber die „Fabulosos Cadillacs“ aus Argentinien erste internationale Erfolge feiern durften, ist nun das explosive Quartett aus Mexiko die große Hoffnung.
Für den 14jährigen Jorge mit verschmiertem Che- Shirt ist nach dem eineinhalbstündigen Konzert in Quito eins aber schon klar: „Molotov, es lo maximo!“

Das Dilemma mit der Solidarität

Am Anfang war es einfach, mit Nicaragua solidarisch zu sein. Nach den Grauen der Somoza-Diktatur und des Bürgerkrieges wurde Nicaraguas Entwicklung unter sandinistischer Führung weitgehend wohlwollend, enthusiastisch und voller Hoffnung verfolgt. KritikerInnen und SkeptikerInnen wurden als „ewige Unken“ verdammt. Komplizierter wurde es, als der Alltag einkehrte und die Sandinisten, von der US-Blockade und dem Contra-Krieg in die Enge getrieben, anders reagierten, als wir von ihnen erwartet hatten oder schlichtweg andere Vorstellungen hatten, ihre politischen Ziele zu verwirklichen, als wir hofften. Die Probleme mit den Misquitos an der Atlantikküste und Gerüchte über Menschenrechtsverletzungen zum Beispiel wollten viele von uns nicht wahrnehmen. Sie paßten nicht in unser Idealbild der sandinistischen Politik.
Die Solidaritätsbewegung reagierte verunsichert. Einige wandten sich enttäuscht ab. Andere ignorierten die Kritik oder taten sie als CIA-Propaganda ab. Wieder andere entschuldigten wohlwollend unpopuläre Entscheidungen mit dem Lernprozeß der Sandinisten (Demokratie will gelernt sein) und riefen zur Geduld auf. Vorwürfe über Zensur wurde (gleich dem Nica-Originalton) mit der politischen Unmündigkeit der Bevölkerung entschuldigt, die der Gefahr der Verhetzung ausgesetzt würden. Wir EuropäerInnen hätten keine Ahnung und kein Recht, uns einzumischen und unsere Visionen von Revolution auf Nicaragua zu übertragen. KritikerInnen liefen Gefahr, als Contras beschimpft zu werden und dem schwierigen Prozeß der sandinistischen Politik in Nicaragua zu schaden.
Für solidarisch-kritische BeobachterInnen wurde es Mitte der achtziger Jahre immer schwieriger, über die geschmacklosen Witze in der Barricada und die überwiegend sexistischen Anspielungen auf die Vertreter der Kirche zu lachen. Die endlosen Diskussionen über die Vorzüge der DDR (und die Rechtfertigung, im kapitalistischen Teil Deutschlands zu leben) konnten einem angesichts der blinden Unterstützung und schwarz-weiß-Malerei auf die Nerven gehen. (Aus welchem Deutschland kommst du? Aus dem guten oder dem bösen?)
Fruchtbare Diskussionen darüber, daß die Welt komplexer ist, waren kaum möglich. Spätestens nach der Tschernobyl-Katastrophe im April 1986, als die Barricada behauptete, die kommunistischen Atomkraftwerke seien nicht so gefährlich wie die kapitalistischen, und die westlichen Warnungen als hysterisch abtat, bekamen mehr und mehr Solimenschen Zweifel an der Glaubwürdigkeit einiger sandinistischer Führer. Interviews mit sandinistischen Politikern oder Experten wurden immer frustrierender. Unisono wurden interne Probleme oder Unmut in der Bevölkerung ignoriert. Selbstkritische Analysen gab es kaum. Sündenböcke waren der CIA und die USA.
Veranstaltungen wie die mit Ernesto Cardenal in der Berliner Kunstakademie 1987, auf der er vor einem wohlinformierten Publikum, das Nicaragua und die prekäre Wirtschaftslage des Landes und den Unmut der Bevölkerung kennengelernt hatte, in einem Gedicht die Bevölkerung seines Landes pries, die angesichts der leeren Regale in den Supermärkten trotzdem stolz auf die Fortschritte der Revolution sind, waren eher peinlich und machten das Klima der Verunsicherung in der Solibewegung nicht besser.
Was war politisch korrekt zu veröffentlichen und was nicht? Solidarität um jeden Preis? Mit wem? Ist Kritik Verrat, Eurozentrismus oder wichtig und lehrreich? Heißt Kritik üben, den Rechten in die Hände zu arbeiten und den Nicas zu schaden?
In diesem Solidaritätskonflikt war die Redaktion der LN für mich sehr wichtig. Hier war Raum für offene Diskussionen und die geheimsten Kritiken und Befürchtungen konnten geäußert werden. Den meisten Redaktionsmitgliedern waren diese Probleme aus eigener Erfahrung bekannt. Die Auseinandersetzung mit anderen Ländern des Kontinents relativierten die Probleme und ließen sie mit mehr Abstand und in einem historischen Gesamtkontext sehen. Die Lernprozesse aus der Geschichte des Kontinents (zum Beispiel die teilweise bitteren Erfahrungen aus der Chilebewegung mit tiefen Gräben zwischen verschiedenen Fraktionen) waren hilfreich in der Suche nach dem richtigen Maß an Solidarität.
Die LN war nie ein Sprachrohr der FSLN oder irgendeiner Partei oder Organisation. Ihre Philosophie ist die der Unabhängigkeit und kritischen Solidarität. Sie hat die Verpflichtung ihren LeserInnen gegenüber, ausgewogen zu informieren. Nachlässige Recherchen, Ignorieren von wesentlichen Fakten, überoptimistische Artikel (zumal in einer Zeit, in der viele LeserInnen selbst das Land bereist und die Realität erlebt hatten) kann sich die Zeitschrift nicht leisten, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Was also tun mit Informationen, die kritisches Licht auf die Politik der ohnehin von Problemen gebeutelten Sandinisten werfen und vielleicht den reaktionären Kräften in die Hände arbeiten? Ignorieren, weglassen? Den Finger auf die Wunde legen? Diplomatisch verschönern? Kritisch dokumentieren? Die LN hat immer einen Mittelweg gefunden und ihre Unabhängigkeit und Integrität behalten.
Die LN wird neben aktuellen Ereignissen auch von den Menschen, die in der Redaktion mitarbeiten, geprägt. Mit dem Wechsel von Redaktionsmitgliedern ändert sich auch der Blickwinkel.

Mucho Machismo

Das Thema „Frauen“ zum Beispiel war lange Zeit unterrepräsentiert. Mit der Nicabewegung Anfang der Achtziger wurden mehr Artikel über Frauen aus Nicaragua, aber auch aus Chile, Peru und anderen Ländern abgedruckt. Anfangs war bei vielen Redaktionsmitgliedern eine gewisse Zurückhaltung zu spüren, neben den wesentlichen Themen aus Politik, Wirtschaft und Gewerkschaft Platz zu machen für banalere Themen von Frauen, wie Gewalt und Machismus. Aber diese Widersprüche sind uns hinreichend bekannt. Wer kennt schon Jenny von Westphalen?
Doch nachdem sogar Tomás Borge die Frauenfrage auf seine Fahnen schrieb: „Wir werden niemanden als revolutionär ansehen, der nicht bereit ist, gegen die Unterdrückung der Frau zu kämpfen“, schien es politisch korrekt und zeitgemäß zu sein, sich auch diesen Themen zu widmen.
Doch damit gab es ein weiteres Problem mit der Solidarität. Wer gibt schon gerne zu, daß ein geschätzter Politiker, der vielleicht eine clevere, fortschrittliche Politik betreibt und wesentliche gesellschaftliche Veränderungen eingeleitet hat, privat ein „hijo de puta“ sein könnte, der seine Frau hintergeht, nicht respektiert, unterdrückt oder gar übelst schlägt – und damit an Glaubwürdigkeit verliert? Andererseits, auch wenn viele Politiker die Frauenfrage aufgriffen, beweist das nicht viel. „Participación de la mujer“ ist leicht zu fordern. Schwierig wird es dann, wenn es um die eigene Frau geht.
Auch wir Frauen hatten unsere Probleme mit der Solidarität mit einigen unserer nicaraguanischen Schwestern. Das Bild der kämpfenden, sich für die Revolution und ihre Kinder aufopfernden Mutter, die noch am Grab ihres gefallenen Sohnes eine Lobeshymne auf die Sandinisten anstimmt und zum Kampf gegen die Contra aufruft, ist schwierig nachzuvollziehen. Wir mögen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen angesichts einer gestandenen Frau, die selbstbewußt ihr Leben meistert und ihre fünf Kinder alleine aufzieht, hart arbeitet, finanziell unabhängig ist, nebenbei vielleicht noch eine Ausbildung macht, sich dann doch wieder auf den (nach unserer Sicht) nächstbesten hoffnungslosen Trunkenbold einläßt, in der Hoffnung, ihn durch ein gemeinsames Kind an sich zu binden, um endlich die gewünschte gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen, die ihr als ledige Mutter verwehrt wird, obwohl mehr als siebzig Prozent der Nica-Frauen alleinerziehende Mütter sind.

Probleme mit der Solidarität

Dann noch das Bild, das die Nicaraguanerinnen von uns Europäerinnen haben. Da ist die Angst vor Konkurrenz, daß wir ihr ihren Mann wegschnappen, vielleicht auch insgeheim Bewunderung, daß wir frei und unabhängig sind, zu gehen, wohin wir wollen, meist jedoch Unverständnis, wenn wir mit 30 noch keine Kinder haben (was sich in Mitleid verwandelt ab Mitte 30, wenn Unfruchtbarkeit als die Ursache vermutet wird).
Zwei Welten stoßen hier aufeinander und begegnen sich mit viel Unverständnis und wenig Toleranz für das Andere auf beiden Seiten. Eine ausgewogene solidarische Berichterstattung ist auch hier schwierig.

Sich treu bleiben und zur Wandlung fähig zu sein

Auch hier hatte die LN eine wichtige Funktion inne. Die bunte Mischung der Redaktion in Alter, Geschlecht, Erfahrung und Meinung hat interessante Diskussionen und Entwicklungen ermöglicht, die gleichzeitig die gesellschaftlichen Diskussionen und Entwicklungen widerspiegeln. Sind Anfang der achtziger Jahre Artikel über Frauen nur zögerlich veröffentlicht und als unwesentlich abgetan worden, sind Genderfragen jetzt integraler und unbestrittener Bestandteil der Berichterstattung. Eine Sondernummer zu Bevölkerungspolitik wie im Jahr 1993 wäre früher kaum möglich gewesen.
Die Entwicklung der LN zeigt, daß sie fähig ist, flexibel auf die aktuellen gesellschaftlichen Erfordernisse zu reagieren, ohne sich selbst untreu zu werden und sich in einem permanenten Veränderungsprozeß befindet, was sich nicht zuletzt an ihrem Outfit zeigt. Ich bin stolz darauf, zehn Jahre lang in der LN mitgearbeitet zu haben. In diesem Sinne „Feliz cumpleaños“und ein Hoch auf die nächsten 25 Jahre!!

“Es lebe die internationale Solidarität“

Die Akte DDR wurde vor acht Jahren geschlossen und seither verstaubt sie im Archiv der Geschichte. Hin und wieder wird sie nochmal aufgeschlagen, um darin zu lesen und Rechtfertigungen für ihre restlose Einäscherung zu suchen. In dieser Ausgabe soll ein relativ kleiner und ganz spezieller Ausschnitt der DDR-Geschichte aus der Versenkung geholt, entstaubt und mit dem Licht der fast ein Jahrzehnt alten Distanz beleuchtet werden. Es geht nicht um Geschichtsbewältigung oder -aufarbeitung. Auch soll es kein Ostalgietrip in eine Vergangenheit ohne Zukunft werden. Der Anspruch liegt einzig darin, Momentaufnahmen aus der DDR-Beziehungskiste aufzuzeichnen und dabei persönliche Erfahrungen ebenso wie offiziell verordnete Richtlinien einzubeziehen.
In der Tat war Lateinamerika, von Kuba und Nicaragua abgesehen, für die DDR politisch eher zweitrangig, in wirtschaftlicher Hinsicht sogar drittrangig. Beim näheren Hinsehen aber fördert das Thema sowohl spannungsgeladene Ost-West und deutsch-deutsche Konflikte als auch Konflikte innerhalb der DDR zutage und blendet Teile (gelebter) DDR-Geschichte ein. Und gerade für jene, die die 40 Jahre westlich der „großen Mauer“ verbrachten, enthalten die anschließenden Beiträge einiges Unbekanntes, aber durchaus Erfahrenswertes.
Wie kann man die jüngste Geschichte Lateinamerikas entschlüsseln, wenn man den Ost-West-Konflikt – den die DDR mitprägte – ausklammert? Wenn wir uns bezüglich lateinamerikanischer Außenbeziehungen immer nur auf die USA oder die Bundesrepublik stürzen, unterschlagen wir den wichtigen Einfluß, den ein untergegangenes System über Jahrzehnte hinweg in Lateinamerika ausübte, ein Einfluß, der noch immer nachwirkt.
Die acht Beiträge zeigen ein komplexes Gebilde ostdeutscher Beziehungen zu Lateinamerika. Bis auf die Analyse der 40jährigen Story der DDR Außenpolitik aus der Sicht von Raimund Krämer, eines ehemaligen Mitarbeiters der kubanischen Botschaft, spiegeln die Artikel eher kurze, aber prägnante Momente dieses Kapitels der DDR-Geschichte wieder.
So wirft Sabine Zimmermann einen Blick auf und hinter die Kulisse des Prestige-Entwicklungsprojekts Krankenhaus „Carlos Marx“ in Managua. Erfahrungen vor Ort, gepaart mit SED-Rhetorik, malen ein sehr differenziertes Bild von offizieller Entwicklungshilfe. Von „unten,“ aus der Perspektive inoffizieller Solidaritätsarbeit in Kirchengruppen, erzählt Willi Volks die Geschichte unabhängigen Engagements und der Schwierigkeiten in einem von Kontrolle besessenen Staat eigene Projekte, übers „Päckchenpacken“ hinaus, zu entwickeln. Christoph Links beschreibt seine ganz persönlichen Erinnerungen an die Vor- und Nachwendezeit – und wie diese sich auf sein Interesse für Lateinamerika auswirkten.
„Tania – la guerrillera“ zeichnet das Porträt der berühmten Nachkriegspartisanin, die nach Lateinamerika ging, „um den unterdrückten Völkern den Sozialismus zu bringen“ und wie Che Guevara zur Märtyrerin wurde. Daran anschließend schwenkt die Kamera vom letzten Schauplatz DDR-Politbüro nur einige Meter weiter in die Friedrichstraße. Dort überquerten zwischen 1973 und 1975 hunderte politische Flüchtlinge aus Chile die Westberliner Grenze Richtung Osten, um sich in der DDR – so gut es ging – erstmal ein neues zu Hause einzurichten. Der Artikel beleuchtet Ängste, Freude und Alltagsprobleme des Exils aus Perspektive der ChilenInnen und das Funktionieren staatlicher Solidaritätspolitik in diesem speziellen Fall.
Wer hat schon einmal von der Existenz eines Lateinamerikainstituts im Osten gehört? Nun, mittlerweile ist es mitsamt der DDR und mit der energischen Hilfe einiger Politiker eingeäschert worden. „Lichter aus!“ beschreibt Aufstieg und Fall des Lateinamerika-Instituts in Rostock. Und für Literaturfreunde, die wissen wollen, welche lateinamerikanischen Bücher die staatliche Zensur passierten und in der DDR gelesen werden durften, bringt der Beitrag von Hans Otto Dill abschließend das eine oder andere Licht ins Dunkel.

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